Tōkai-mura, Japan

Produktion / Herstellung
Luftbild der Anlage von 1974. 1956 entstand hier das japanische Atomenergie-Forschungsinstitut, gefolgt von Fabriken zur Herstellung von atomarem Brennstoff, Anlagen zur Wiederaufbereitung von Brennelementen und Japans erstem Atomkraftwerk. Heute stehen in Tokai-mura insgesamt 15 Atomanlagen. Foto: National Land Image Information (Color Aerial Photographs), Ministry of Land, Infrastructure, Transport and Tourism

Bei einem Atomunfall in der Wiederaufbereitungsanlage von Tokai-mura im Jahr 1999 wurden 667 Personen verstrahlt. Zwei von ihnen starben kurze Zeit später infolge akuter Strahlenschäden. Der Unfall von Tokai-mura war vor Fukushima die größte Katastrophe der japanischen Atomindustrie und zeigte schon damals die Gefahren auf, die in jedem Schritt der atomaren Kette stecken.

Foto: Luftbild der Anlage von 1974. 1956 entstand hier das japanische Atomenergie-Forschungsinstitut, gefolgt von Fabriken zur Herstellung von atomarem Brennstoff, Anlagen zur Wiederaufbereitung von Brennelementen und Japans erstem Atomkraftwerk. Heute stehen in Tokai-mura insgesamt 15 Atomanlagen. Foto: National Land Image Information (Color Aerial Photographs), Ministry of Land, Infrastructure, Transport and Tourism

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Hintergrund

Tokai-mura, eine kleine Stadt 120 km nordöstlich von Tokio, wird oft als das Herz von Japans Atomindustrie bezeichnet. 1956 entstand hier das japanische Atomenergie-Forschungsinstitut, gefolgt von Fabriken zur Herstellung von atomarem Brennstoff, Anlagen zur Wiederaufbereitung von Brennelementen und Japans erstem Atomkraftwerk. Heute stehen in Tokai-mura insgesamt 15 Atomanlagen einschließlich einer Brennstoffkonversionsfabrik. Hier wurde am 30. September 1999 Mischoxid-Brennstoff für den experimentellen Schnellen Brüter in Joyo hergestellt. Normalerweise wird dabei zunächst Uran in Form von „Yellowcake“ in Salpetersäure gelöst. Um den Prozess zu beschleunigen und so Geld zu sparen, füllten an diesem Tag Arbeiter der Anlage den Präzipitationsbehälter mit 16,6 kg Uran statt der erlaubten 2,4 kg. Die so entstandene kritische Masse löste eine atomare Kettenreaktion aus, die über einen Zeitraum von 20 Stunden große Mengen an Neutronen- und Gamma-Strahlung freisetzte. 161 Menschen mussten evakuiert werden; etwa 310.000 Einwohner im Umkreis von zehn Kilometern um die Anlage wurden aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben, da eine radioaktive Wolke mit strahlenden Partikeln wie Jod-131 durch das Belüftungssystem in die Atmosphäre geblasen worden war.

Folgen für Umwelt und Gesundheit

Drei unmittelbar am Unfall beteiligte Arbeiter wurden Strahlendosen von 16 bis 20, 6 bis 10 und 1 bis 4,5 Sievert ausgesetzt. Trotz intensivmedizinischer Behandlung starben die ersten beiden jedoch in den nächsten Monaten. Der dritte Arbeiter erholte sich von den akuten Strahlenfolgen und konnte entlassen werden. Die Geschichte eines der verstorbenen Arbeiter wird in dem Buch „Ein langsamer Tod – 83 Tage der Strahlenkrankheit“ erzählt. Er starb trotz modernster medizinischer Behandlung an inneren Blutungen, Immunschwäche und Multiorganversagen. Laut dem offiziellen Bericht der Japanischen Wissenschafts- und Technologieagentur wurden insgesamt 169 weitere Mitarbeiter mit bis zu 48 mSv verstrahlt. Dies entspricht dem Strahlenäquivalent von etwa 2.400 Röntgenuntersuchungen (0,02 mSv pro Untersuchung). 235 Anwohner erhielten Strahlendosen von bis zu 16 mSv, 260 Rettungskräfte und Journalisten bis zu 9,2 mSv. Die Internationale Strahlenschutzkommission empfiehlt als Grenzdosis für die Öffentlichkeit maximal 1 mSv an zusätzlicher Strahlendosis. Die natürliche Hintergrundstrahlung beträgt in Japan etwa 1,5 mSv im Jahr.

In einer Studie der Bürgerinitiative „Nuclear Information Center“ wurden im Jahr 2001 insgesamt 1.182 Haushalte in der Region um Tokai-mura befragt. Es zeigte sich, dass 35 % der Einwohner unter neu aufgetretenen physischen oder psychischen Symptomen wie Kopfschmerzen, Schwächeanfällen, Schlafstörungen oder Angstzuständen litten. Die Korrelation zwischen dem Abstand des Wohnorts zur Atomanlage und der Ausprägung der Symptome erwies sich als statistisch signifikant. Der Unfall in Tokai-mura mag Japans größter Atomunfall vor dem Super-GAU von Fukushima gewesen sein, aber er war keine Ausnahme. Unfälle treten in Japans unterregulierter Atomindustrie mit einer alarmierenden Regelmäßigkeit auf. So kam es in den 1980er Jahren im Atomkraftwerk von Tsuruga zu zahlreichen radioaktiven Lecks, die zur Verstrahlung von mehr als 200 Menschen führten. Zwei Jahre vor dem Unglück in Tokai-mura, am 11. März 1997, war es auf derselben Anlage bereits zu einer Explosion und einem ausgedehnten Brand gekommen, in dessen Folge 37 Personen einer hohen radioaktiven Verstrahlung ausgesetzt waren.

Ausblick

Die Untersuchungen in Tokai-mura enthüllten, dass die Betreiberfirma unsichere Verfahren zuließ, um Geld und Zeit zu sparen. Auch wurde festgestellt, dass es den Arbeitern an entsprechenden Qualifikationen und Ausbildung mangelte. Notfallsituationen waren mit der Belegschaft nicht geprobt worden, Katastrophenpläne existierten nicht, da Unfälle vonseiten des Betreibers als unrealistische Szenarien abgetan wurden. Das unzureichende Krisenmanagement und die restriktive Informationspolitik wurden von Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten kritisiert. Zu einer wirklichen Veränderung der Sicherheitskultur in der Atomindustrie kam es jedoch nicht, wie die Kernschmelzen der Atomanlage von Fukushima 2011 schmerzlich zeigten. In Tokai-mura haben die Anwohner mittlerweile begonnen, an der Sicherheit der alten Reaktoren zu zweifeln. Nach der Katastrophe von Fukushima forderte Bürgermeister Murakami von der japanischen Regierung die Stilllegung des verbliebenen Atomreaktors von Tokai-mura und berief sich dabei auf die mangelnde Sicherheit für die Bürger seiner Stadt. Er will verhindern, dass noch mehr von ihnen zu Opfern der Atomindustrie werden – zu Hibakusha.

Quellen

36.479681, 140.553578