Folter frei - Abu Ghraib in den Medien

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Danke, dass Sie das Ausbildungsprojekt FOLTER FREI von Medienstudenten der Hochschule Mittweida unterstützen... ... durch Kauf und intensive Lektüre dieses Buches ... durch Empfehlung bei Verwandten, Freunden und Kollegen (verzichten Sie auf die Dummköpfe) ... durch Hinweise und Rezensionen in Ihrer Zeitung, Zeitschrift oder Sendung (journalistische Größe zeigen Sie vor allem, wenn Sie über unser Buch berichten, auch wenn wir Sie, bzw. Ihr Medium kritisiert haben sollten) ... durch Ihre Hinweise, Anmerkungen und Kritiken, die Sie einfach an medien-student@email.de schicken ... durch Ihre Anregungen für unsere nächsten journalistischen Forschungs- und Ausbildungsprojekte

Der Titel FOLTER FREI hat nichts mit Legitimation von Misshandlungen, Entwürdigungen und Demütigungen zu tun. Vielmehr soll „Folter frei“ den Medienhype charakterisieren, der nach Veröffentlichung der Bilder aus Abu Ghraib entstanden ist.


FOLTER FREI – Abu Ghraib in den Medien ISBN:

3-9809598-1-3

Verlag:

HVM - Hochschulverlag Mittweida Technikumplatz 3, 09648 Mittweida www.amak-online.de

Verlagsort:

Mittweida

Jahr:

1. Auflage 2004

Autor:

Horst Müller

Reihentitel:

medien-student.de - Band 1

Herausgeber:

Otto Altendorfer / Ludwig Hilmer (HVM) Inge Seibel-Müller (medien-student.de)

Umfang:

208 Seiten

Preis:

14,90 Euro

Das Werk ist in allen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

HVM - Hochschulverlag Mittweida


Horst M端ller und Medienstudenten der Hochschule Mittweida (FH)

FOLTER FREI Abu Ghraib in den Medien Beobachtet, recherchiert und dokumentiert von Medienstudenten der Hochschule Mittweida

medien-student.de - Band 1


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Mitarbeiter

Co-Autoren, Recherchen und Texte Danuta Baberowski, Marlen Böhme, Tatiana Böhne, Mark Henning Diekneite, Anja Fischer, Sebastian Kath, Claudia Kullick, Christian Ludwig, Falk Menzel, Achim Meyer, Ines Mittag, Manja Peschel, Claudia Peter, Christian Plötner, Susen Pusch, Claudia Radeck, Belinda Reg´n, Isabell Schmutzler, Danny Staigys, Andreas Szabo, Michaela Wied und Kirstin Wille (weitere Mitarbeiter beim Projekt „Folter frei“ - siehe Anhang A - Das Projektteam). Produktion Korrektorat: Umschlag: Herstellung: Druck:

Inge Seibel-Müller und Michaela Wied Martin Pohl Christian Greim Hubert & Co, Göttingen

Weitere Informationen Email: Internet:

medien-student@email.de www.medien-student.de

medien-student.de - Band 1

FOLTER FREI


Inhaltsübersicht 1. Einführung: Brauchen wir Bilder, um zu weinen?

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2. Infos zum Projekt: Wir hatten Fragen

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3. Zeitraffer: Der Irakkonflikt in den Medien

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4. Abu Ghraib: Zum Tatort erklärt

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5. CBS zeigt die Hölle: „Abuse in Abu Ghraib“

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6. US-Medien: „Extrem sensible Inhalte“

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7. Britische Medien: „Wir wurden angeführt“

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8. Arabische Medien: „Schlimmer als der Diktator“

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9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“

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10. Warnung: Uncle Sam ist nicht immer lieb

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11. Geheimmission: Rotes Kreuz in Abu Ghraib

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12. Hilferufe: amnesty international wurde überhört

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13. Berichte vor dem 28. April 2004: Und es gab sie doch!

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14. Reaktionen aus Redaktionen: „Thema nicht beweisbar“

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15. Reaktionen von der „Front“: „Voll mit Gerüchten“

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16. Kritik: „Das ging eindeutig zu weit“

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17. Fazit: Viele haben zu früh aufgegeben

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Anhänge A Das Projektteam

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B Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis

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C Beitrag „Folter frei“ aus NOVUM

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D Weitere Informationen und Kontakte

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FOLTER FREI


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Autor

Horst Müller ist Professor für Redaktionspraxis im Fachgebiet Medien an der Hochschule Mittweida. Die wichtigsten beruflichen Stationen zuvor: Korrespondent und Chefreporter für Radio Schleswig-Holstein (R.SH), Inforadio Berlin und das Flensburger Tageblatt; Geschäftsführer und Programmdirektor des Privatsenders Antenne MV (1993-1998) und Verlagsleiter Playboy. Der 52-Jährige lebt mit Ehefrau Inge Seibel-Müller (Journalistin und Medientrainerin) und Tochter Julia (6) in Stephanskirchen/Oberbayern. Weitere Infos unter www.medien-student.de; Kontakt: medien-student@email.de FOLTER FREI


9 1. Einführung: Brauchen wir Bilder, um zu weinen? Topmeldungen, Aufmacher und Titelstorys sind ohne Sensationsbilder kaum mehr möglich. Die Folterer von Abu Ghraib sorgten selbst für medientaugliche Fotos und Videoclips.

Gefangener Iraker mit 4-jährigem Sohn, März 2003 (AP)

Als ich dieses Bild das erste Mal sah, trieb es mir unweigerlich Tränen in die Augen. Ein gefangener Iraker kauert hinter Stacheldraht auf dem Sandboden, hält schützend seinen vierjährigen Sohn im Arm. Der Mann ist selbst hilflos, scheint Trost bei dem eigenen Kind zu suchen. Ihm wurde eine schwarze Kapuze über den Kopf gestülpt, um seine Flucht zu verhindern. Weil das Kind völlig verängstigt war, hatte ein Soldat wenigstens so viel Mitleid und nahm dem Vater die ins Fleisch einschneidenden Plastikfesseln ab. Entstanden ist die Aufnahme am 31. März 2003 in einem improvisierten Gefangenenlager der US-Streitkräfte in Nadschaf. FOLTER FREI


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1. Einführung: Brauchen wir Bilder, um zu weinen?

Das Bild ist anklagend, es zeigt die ganze Grausamkeit eines Krieges, der zu unrecht geführt wurde. Und – aus heutiger Sicht ist es ein Vorbote der Grausamkeiten, die weitergingen, als US-Präsident George W. Bush längst das Ende des Waffengangs gegen den Irak am 1. Mai 2003 verkündet hatte. Mit seiner Aufnahme hat der Fotograf Jean-Marc Bouju, Mitarbeiter der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press (AP)1, weltweit Emotionen ausgelöst, Mitleid erzeugt und auch Wut über diesen Krieg geschürt. Wohl kein anderes Foto ist im Jahr 2003 häufiger in den Medien erschienen. Zurecht wurde das Bild zum World Press Photo 2003 gewählt. Bilder, wie die des AP-Fotografen, standen nicht zur Verfügung, als die Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai)2 im Juni 2003 erstmals von Übergriffen der Besatzer gegen irakische Gefangene berichtete. Detailliert, glaubhaft und scheußlich. Nur – amnesty konnte den Medien keine Digitalfotos oder Videoclips bieten und somit waren die Misshandlungen, ausgeführt von denjenigen, die angeblich an den Golf gekommen waren, um das unmenschliche Regime des Saddam Hussein zu vertreiben, damals noch kein „Folterskandal“. Zumindest nicht für die so genannten Leitmedien in Deutschland, von Bild bis ZDF. Aufmacherqualität erhielt der Schreckensknast Abu Ghraib erst, als das amerikanische TV-Network CBS3 in der Magazinsendung 60 Minutes II am 28. April 2004 Bilder von US-Soldaten zeigte, die in Iraks größtem und schlimmstem Kerkerkomplex einheimische Häftlinge misshandelten, erniedrigten und demütigten. „Wenn wir z.B. die Fotos gehabt hätten, wäre ein Titel die Folge gewesen“, antwortete Stefan Aust4, Chefredakteur des Wochenmagazins Der Spiegel, geradeaus auf die Frage, warum sein Magazin nicht schon vor dem 28. April 2004 über Abu Ghraib berichtet habe. Die Deutsche Presse-Agentur (dpa)5, immer noch wichtigster Nachrichtenlieferant deutscher Medien, gab im März 2004 den zaghaften Versuch schnell wieder auf, über Misshandlungen im Irak zu berichten, weil man bei der Kundschaft in FOLTER FREI


1. Einführung: Brauchen wir Bilder, um zu weinen?

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den Redaktionen mangels passender Folterfotos nur geringes Interesse registrierte. Hubert Burda6, Chef des gleichnamigen Medienkonzerns7, hat den WortJournalismus ohnehin schon weitgehend abgeschrieben: „Seit Gutenberg haben wir eine einseitig text-getriebene Kultur. Weite Teile unserer Alltagswirklichkeit sind hoffnungslos übertextet. Die großen Medien-Innovationen der Zukunft kommen aus der Bildkultur“, zitiert das Autorenmagazin Cicero im Sommer 2004 den deutschen Medienzar, der sich gern auch als Visionär sieht. Zur Bekräftigung dieser durchaus radikalen Ansicht legte Burda gleich noch eins drauf: „Wenn heute einer noch eine neue Zeitung macht, dann ist er selber schuld.“8 Zumindest sind die Folterer von Abu Ghraib „innovativ“ ans Werk gegangen. Die US-Soldaten Garner, England und Co. haben mit dem Einsatz moderner digitaler Technik von vornherein dafür gesorgt, dass ihre Bilder multimedial verwertbar sind: Im Fernsehen als so genannte „Einspieler“, um Beiträge aufzupeppen, in Zeitungen und Zeitschriften als vermeintlich lukrative Aufmacher und im Internet in Form von „Slideshows“ oder Videoclips, angeboten zumeist auch noch in mehreren Qualitätsstufen, die je nach Schnelligkeit der Internetverbindung und Leistungsfähigkeit des eigenen Computers frei wählbar sind. Was können Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international mit ihren „einseitig text-getriebenen“ Berichten über unvorstellbare Grausamkeiten schon dagegenhalten? Wohl nicht viel, wie das Beispiel Irak zeigt. Für die fundierten schriftlichen Aussagen der Geschundenen hatte sich fast ein Jahr lang kaum jemand interessiert, auf die Bilder der Folterer stürzten sich alle – sofort. Es klingt furchtbar makaber – vielleicht sollten Delegationen des Roten Kreuzes oder anderer Organisationen bei ihren Besuchen in FoltergefängnisFOLTER FREI


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1. Einführung: Brauchen wir Bilder, um zu weinen?

sen darauf drängen, dass die Insassen ebenfalls mit digitaler Aufnahmetechnik ausgestattet werden. So wäre zumindest ein mediales Gleichgewicht zwischen Tätern und Opfern herstellbar. Da Folterknechte und Unrechtssysteme solchen Vorschlägen vermutlich kaum offen gegenüber stehen werden, brauchen wir auch weiterhin das Wort im Journalismus, damit diese schlimmen Dinge rechtzeitig verbreitet werden. Und wir brauchen gute und engagierte Journalisten, die solche Informationen seriös und nachvollziehbar aufbereiten können. Wir brauchen auch verantwortungsbewusste Medienmacher in den Chefetagen von Verlagen und Sendern, die dafür sorgen, dass wichtige Informationen – wie im Fall Abu Ghraib – rechtzeitig gesendet oder gedruckt werden und nicht darauf warten, dass Folterbilder unter der Hand verteilt werden. Die Nutzer von Informationsmedien haben Anspruch darauf, wahrhaftig unterrichtet zu werden, auch dann, wenn gerade mal nicht „aufmachertaugliches Bildmaterial“ vorliegt. Dieser Anspruch der Medienkonsumenten ist nach dem Pressekodex sogar „oberstes Gebot“ für Blattmacher und gilt demnach als unumstößlicher publizistischer Grundsatz.9 Zur „wahrhaftigen Unterrichtung“ zählt der für die Einhaltung und Fortschreibung des Pressekodex zuständige und verantwortliche Deutsche Presserat10 vor allem die „gründliche und faire Recherche“. Die Recherche wiederum sei die „Kür des Journalismus“ meinen Wolf Schneider und PaulJosef Raue in ihrem Neuen Handbuch des Journalismus: „Nur so erfahren die Menschen von Ereignissen, die ohne die Mühe des Journalisten niemals ans Licht gekommen wären. Keine journalistische Aufgabe ist schwieriger, aber auch so abhängig von Zufällen, vom Glück und von einer detektivischen Kleinarbeit. Nur der Fleißige und Couragierte nimmt sie auf sich.“11 Allerdings zeigt sich zunehmend, dass die hehren Grundsätze des Pressekodex und die ambitionierten Definitionen von Fachbuchautoren in der FOLTER FREI


1. Einführung: Brauchen wir Bilder, um zu weinen?

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journalistischen Wirklichkeit kaum noch Bestand haben. In den Redaktionen wird immer mehr redigiert und immer weniger recherchiert. Nachrichten, Beiträge, sogar ganze Features werden aus verschiedenen Quellen zusammengebaut, ohne dass Redakteure jemals am Ort des Geschehens waren, mit Beteiligten sprachen oder Dokumente selbst in Augenschein nahmen. „Schreibende Journalisten sind seltener als redigierende“, behaupten Schneider und Raue und unterstellen Redakteuren gleich pauschal, dass sie „bequem“ seien.12 Für diese vermeintliche „Bequemlichkeit“ gibt es durchaus unterschiedliche Ursachen, die in den einzelnen Mediengattungen zudem verschieden stark ausgeprägt sind: Ü die vielfältigen Möglichkeiten heutzutage vom Schreibtisch aus auf unzählige Informationsquellen via. Internet, Datenbanken, elektronische Medien etc. zugreifen zu können; Ü die offensichtlich immer geringer werdende Bedeutung von journalistischen Beiträgen und Sendungen, insbesondere in Radio und TV; Ü die angeblich wirtschaftlich bedingte – und vielfach drastische – Reduzierung von journalistischen Arbeitsplätzen in Redaktionen sowie der enorme wirtschaftliche Druck, der von Medienunternehmen auf externe publizistische Dienstleister wie Redaktionsbüros, Bilderdienste etc. und freie Journalisten ausgeübt wird; Ü mangelnde Fach- und Führungsqualitäten von Chefredakteuren, Programmchefs, Redaktionsleitern und weiteren leitenden Mitarbeitern in den journalistischen Unternehmenseinheiten. Die Trägheit, vielfache Arroganz oder Feigheit von Publizisten hat dazu geführt, dass Kaufleute, Controller, Buchhalter und Anwälte die Führung von Verlagen und Medienunternehmen gänzlich übernommen haben. Diese FOLTER FREI


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1. Einführung: Brauchen wir Bilder, um zu weinen?

verstehen es zwar meistens, den „Rotstift“ wirkungsvoll einzusetzen, um Kosten zu sparen; gegen die inhaltlich konzeptionelle Krise haben Sie jedoch nur selten probate Mittel zur Hand. Es ist so – die deutschen Medien stecken in der Krise, längst nicht nur ökonomisch. Während die wirtschaftlichen Gründe häufig beklagt und diskutiert werden, spielt die journalistische Dimension zumindest in der öffentlichen Diskussion bislang kaum eine Rolle. Auch der Medienwissenschaftler Siegfried Weischenberg, bis November 2001 Bundesvorsitzender des Deutschen Journalistenverbands (DJV), geht davon aus, dass die Medienkrise nicht ausschließlich ökonomisch, sondern auch „strukturell“, und „konzeptionell“ begründet ist. Mit anderen Worten – Medienmanager und -macher sind selbst für die eigene Krise zu einem Teil mit verantwortlich.13 Deswegen fordert Michael Haller von der Universität Leipzig als Fazit seines Aufsatzes „Die Zukunft der Zeitung hat schon begonnen“: „Verleger, die sich ernsthaft um die Zukunft der Zeitung sorgen, sollten keine Controller in ihre Redaktionen schicken, sondern gut ausgebildete Journalisten: Fachleute, die das Nachrichtengeschäft und das Reportagenhandwerk gelernt haben. Leute, die wissen, wie man die Gattung Zeitung stärkt und ein interessant zu lesendes Blatt gestaltet“.14 Doch es sind nicht nur die vermeintlich geldgierigen Verleger oder die gewinnorientierten Manager bei Radio- und Fernsehstationen, die für die verbreitete publizistische Krise in den deutschen Medien verantwortlich sind. Es liegt durchaus auch an den Journalisten selbst. In kaum einem anderen Gewerbe ist so viel Dilettantismus anzutreffen, klaffen Anspruch und berufliche Wirklichkeit weiter auseinander. Ohnehin kann sich jeder, der sich dazu berufen fühlt, als „Journalist“ bezeichnen. Arbeits- oder gar Ausbildungsnachweise sind dafür nicht erforderlich. „Wer eine Dauerwelle legen FOLTER FREI


1. Einführung: Brauchen wir Bilder, um zu weinen?

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will, muss drei Jahre lernen und in einer Prüfung vor einer staatlichen Stelle beweisen, ob er‘s kann. Wer seine Mitbürger informieren und den Mächtigen auf die Finger klopfen will, kann zwei Jahre lernen, aber er muss es nicht; und geprüft wird er überhaupt nicht“, beklagen denn auch Wolf Schneider und Paul-Josef Raue.15 Die Folgen des journalistischen Dilettantismus sind täglich zu hören, zu sehen oder zu lesen. So berichtete ein Reporter des inzwischen wieder eingestellten FAZ-Business-Radios Anfang Mai 2002 von der Trauerfeier für die Opfer des Mordanschlags im Erfurter Gutenberg-Gymnasiums: „Ja die Lehrer sind heute nicht ganz vollzählig – aus der einen Tatsache halt, dass einige erschossen wurden - leider“. Besonders schlimm war, dass der Beitrag nicht etwa nur einmal live über den Sender ging, sondern wiederholt ausgestrahlt wurde, ohne dass es einem Redakteur aufgefallen wäre. Glück im Unglück – der Reporter hatte diese fatalen Sätze im Radio gesagt, einem Medium, dass publizistisch inzwischen zur vollständigen Bedeutungslosigkeit verkommen ist. Und – es gab keine direkt begleitenden Bilder zu den dümmlichen Äußerungen, die die Medienkonsumenten wütend gemacht – oder zum Weinen gebracht hätten. Der Medienhype, der nach der Ausstrahlung der CBS-Bilder aus Abu Ghraib entstand, ist auch mit dem zunehmend um sich greifenden „HurraJournalismus“ zu erklären. Die Prozedur ist jedes Mal vergleichbar und durchaus nicht ganz neu: „Wenn wir früher in Sachsen eine tolle Exklusivgeschichte hatten, interessierte sich bundesweit kein Mensch dafür. Wenn allerdings ‚Der Spiegel’ am darauf folgenden Montag die Geschichte brachte, wurde das garantiert zum Thema für die Medien in ganz Deutschland“, erinnert sich Günther Grassau16, Medienprofessor an der Hochschule Mittweida und zuvor Programmbereichsleiter Fernsehen beim Mitteldeutschen Rundfunk.

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1. Einführung: Brauchen wir Bilder, um zu weinen?

Ein nachvollziehbares Beispiel für das so genannte „Nachdrehen“ der Geschichten anderer, ist der „Fall Filbinger“. Im Mai 2004 wurde die Teilnahme des früheren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger17 an der Bundesversammlung zum Skandal – zumindest von Medien zum Skandal gemacht. „Kritik an Filbingers Nominierung“, meldete die Tagesschau am 21. Mai. Tags darauf registrierte auch die in München erscheinende Abendzeitung „Protest von allen Seiten“ und für die Süddeutsche Zeitung wurde die Wahl von Horst Köhler zum Bundespräsidenten gar zum „Staatsakt mit Schönheitsfehlern“ (24. Mai 2004). Was war passiert? Der inzwischen über 90-jährige CDU-Politiker musste schon 1978 das Amt als Stuttgarter Regierungschef aufgeben, weil damals seine Vergangenheit als Marine-Richter im zweiten Weltkrieg öffentlich bekannt geworden war. Filbinger hatte im März 1945 – wenige Wochen vor Kriegsende – den Matrosen Walter Gröger wegen angeblicher Fahnenflucht zum Tode verurteilt und der Exekution selbst beigewohnt. Es wäre also durchaus nachvollziehbar gewesen, wenn Politiker und Journalisten Anstoß daran genommen hätten, dass Filbinger als Wahlmann der baden-württembergischen CDU über den Bundespräsidenten mitentscheidet. Nur – der nahm diesmal keinesfalls zum ersten Mal an einer Bundesversammlung teil. Insgesamt sechs Mal durfte der Ex-Marinerichter bereits einen Bundespräsidenten mitwählen, davon allein drei Mal nach seinem eher unfreiwilligen Ausscheiden aus der großen Politik. Doch während 1979, 1994 und 1999 offensichtlich niemand Anstoß an Filbinger nahm, brachte es der Greis diesmal sogar bis zum „Aufmacher“. Alle diejenigen, die Anfang Mai 2004 reißerisch oder pseudokritisch über Filbinger berichteten, müssen sich fragen lassen, ob sie bei dessen Bundesversammlungsteilnahmen zuvor „gepennt“ haben oder sich diesmal von irgendwelchen Parteistrategen instrumentalisieren ließen.

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1. Einführung: Brauchen wir Bilder, um zu weinen?

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Es gibt eine weitere – ganz banale – Erklärung, die sich schlichtweg mit dem Begriff „Hurra-Journalismus“ beschreiben lässt: Viele Redakteure haben einfach das abgeschrieben oder nachgeplappert, was einige so genannte Leitmedien für wichtig hielten. Frei nach dem Motto: „Wenn‘s Der Spiegel schreibt oder die Tagesschau sendet, wird’s schon wichtig sein, da können wir uns eigene Recherchen, Beurteilungen oder gar Meinungen gleich sparen.“ „Hurra-Journalismus“ konnte sich nur entwickeln, weil viele Medienmacher zu bequem (geworden) sind, selbst Details zu prüfen und Fakten zu analysieren. Dieser fatale Trend wird auch deutlich, wenn man die Medienberichterstattung über den unerträglichen Folterskandal im irakischen Gefängnis „Abu Ghraib“ auswertet und analysiert. Fast ein Jahr lang haben führende deutsche – aber auch internationale – Zeitungen, Zeitschriften, Radio- und Fernsehsender ignoriert, dass im Irak systematisch gefoltert wird – und zwar von den alliierten Besatzungstruppen unter Führung der USA, die angeblich gekommen waren, um das Land zu befreien. Die Gründe sind aus heutiger Sicht nachvollziehbar: Es hat niemand laut „Hurra“ gerufen, sodass die Meute der Medienmacher aufgescheucht worden wäre – und es gab bis zum 28. April 2004 offensichtlich keine Bilder, die gedruckt oder gesendet werden konnten. Vermutlich brauchen wir Bilder, um zu weinen.

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19 2. Infos zum Projekt: Wir hatten Fragen Michaela Wied, stellvertretende Projektleiterin, über Entstehung, Vorgehensweise und Ziele der studentischen Projektarbeit, aus der dieses Buch entstand. Die Entstehungsgeschichte des Ausbildungsprojekts „Folter frei“ ist schnell erzählt. Anfang Mai 2004 wurden dringend Themen für „Novum“ gesucht. Dies ist eine Zeitung, die von Studenten im Rahmen ihrer Ausbildung erstellt wird. Sie erscheint wöchentlich und wird in Mittweida lokal vertrieben. Die Themensuche fand im Rahmen einer offiziellen Lehrveranstaltung statt. Wie häufig bei solchen so genannten Brainstormings rauchten die Köpfe. Während der sich entwickelnden Diskussion kam schließlich die Frage auf, ob man nicht „irgend etwas über den Folterskandal im Irak“ machen solle. Und jemand fragte weiter: „Wieso ist das jetzt erst alles rausgekommen?“ – „Ja, wieso eigentlich?“ fragten sich bald alle Teilnehmer. Also einigten wir uns darauf, die Gründe für diesen plötzlichen „Folter-Hype“ in den Medien zu recherchieren. Schon beim nächsten Treffen eine Woche später hatten engagierte Medienstudenten und -studentinnen zahlreiche Hinweise und Material zusammengetragen, woraus hervorging, dass es bereits vor der Ausstrahlung der CBSBilder am 28. April 2004 zahlreiche Erkenntnisse über Folter in Abu Ghraib und anderen Kerkern im Irak gab. Nur – fast alle hatten den Eindruck, dass die großen deutschen Medien wie ARD, ZDF, Spiegel etc. dieses brisante Thema einfach ignoriert hatten. Warum? Wir fragten nach: Zum Beispiel bei Stefan Aust (Spiegel), Kai Diekmann (Bild) und Anderen – und bekamen von allen, die wir angeschrieben hatten, Antworten. Ein Kommilitone wollte wissen, warum unsere „TVFOLTER FREI


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2. Infos zum Projekt: Wir hatten Fragen

Starreporter an der Front“ nicht früher über Abu Ghraib informiert hatten. Also kontaktierte er die Korrespondenten Antonia Rados (RTL), Natalia Cieslik (ZDF) und Ulrich Tilgner (ZDF). Alles, was wir bis Mitte Juni 2004 recherchiert und zusammengetragen hatten, stellten wir in einer Gemeinschaftsvorlesung mit Prof. Horst Müller interessierten Studenten der Hochschule vor. Wir hatten bislang schon manches Wissenswerte und einiges Ungeheuerliche herausgefunden. Allen Beteiligten liegt es am Herzen, dass wir unsere Erkenntnisse an die Öffentlichkeit bringen – schließlich sind wir ja Medienstudenten und einige von uns möchten später als Journalisten arbeiten. Wir beschlossen weiterzumachen. Zuerst mit diesem Buch. Bis zum Jahresende 2004 soll dann noch eine ausführliche Audiodokumentation folgen. Das sind die Ziele und Inhalte unserer Arbeit: Am Beispiel der Berichterstattung über Folterungen im Irak nach Ende des Kriegs im Jahr 2003 wird dargestellt, wie – auch einflussreiche deutsche – Medien wichtige Themen manchmal behandeln. Brisantes wird anscheinend teilweise entweder ignoriert und Informationen werden zurückgehalten. Auch kommt es vor, dass erst dann über einige Vorkommnisse berichtet wird, wenn der wirtschaftliche Druck durch die Berichterstattung andere Medienmacher dazu zwingt. In diesem Fall zeigte 60 Minutes II, ein Nachrichtenmagazin des USamerikanischen TV-Networks CBS, erstmals am 28. April 2004 Bilder von grausamen Übergriffen amerikanischer Besatzungstruppen im berüchtigten Gefängnis Abu Ghraib in der Nähe von Bagdad. Erst im Anschluss an diese Ausstrahlung wurde der so genannte „Folterskandal“ zum beherrschenden Thema in deutschen und internationalen Medien. Es gab jedoch spätestens seit Juni 2003 Anhaltspunkte, deutliche Hinweise und Zeugenaussagen über Folterungen durch Besatzungstruppen in FOLTER FREI


2. Infos zum Projekt: Wir hatten Fragen

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Abu Ghraib und anderen irakischen Gefängnissen. Was wussten Chefredaktionen, Korrespondenten und Auslandsressorts der sogenannten „Leitmedien“ wie ARD-Aktuell, ZDF heute, RTL-Aktuell, Stern, Der Spiegel, Focus, Süddeutsche Zeitung, Bild und dpa über Abu Ghraib – und warum haben sie zumeist erst nach 60 Minutes II auf die Foltervorwürfe journalistisch reagiert? Warum wurden Berichte von Organisationen wie amnesty international (ai) entweder ganz ignoriert oder zu selten genutzt? Aus diesen Fragen sind die Inhalte dieser Dokumentation direkt abzuleiten: Ü Die zusammenfassende Darstellung der Medienberichterstattung nach der CBS-Sendung am 28. April 2004 in den USA, Großbritannien, arabischen Medien und schließlich in Deutschland. Ü Die Dokumentation von Hinweisen, Zeugenaussagen, Medienberichten und Informationsquellen über Misshandlungen in Abu Ghraib, die vor dem 28. April 2004 zur Verfügung standen. Ü Auskünfte und Meinungen führender deutscher Medienmacher (Chefredakteure, Redaktions- und Ressortleiter sowie Irak-Korrespondenten) zur jeweils eigenen Berichterstattung über Abu Ghraib. Ü Das vorläufige Fazit zur Berichterstattung deutscher Leitmedien über Abu Ghraib. Zur besseren Verständlichkeit der dargestellten Rechercheergebnisse werden in einem „Zeitraffer“ die wichtigsten Ereignisse während des IrakKonflikts dargestellt. Danach folgt ein Hintergrundkapitel zum „Tatort“ Abu Ghraib. Es ist ausdrücklich nicht Absicht und Anspruch dieses Buches, die Foltervorwürfe an sich zu untersuchen oder zu bewerten – so schwer dieses den Beteiligten angesichts der grauenvollen Umstände auch immer wieder FOLTER FREI


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2. Infos zum Projekt: Wir hatten Fragen

gefallen ist. „Folter frei“ – das Ausbildungsprojekt von Studenten des Studiengangs Medienmanagement im Sommersemester 2004 an der Hochschule Mittweida (FH) dokumentiert, wie Medien, insbesondere deutsche Leitmedien, über Abu Ghraib berichteten – und was sie letztlich übersehen bzw. ignoriert haben. Der Titel „Folter frei“ hat nichts mit Legitimation von Misshandlungen, Entwürdigungen und Demütigungen zu tun. Vielmehr soll „Folter frei“ den Medienhype charakterisieren, der nach Ausstrahlung der CBS-Bilder entstanden ist.

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23 3. Zeitraffer: Der Irakkonflikt in den Medien Die wichtigsten Ereignisse vor, während und nach dem Irak-Krieg 2003 unter besonderer Berücksichtigung der Darstellung in den Medien. Marlen Böhme und Kirstin Wille haben für dieses Kapitel recherchiert. 1990: Saddam Hussein überfällt Kuwait Der irakische Diktator Saddam Hussein18 beschuldigt im Juli 1990 Kuwait und weitere Emirate durch Steigerung ihrer Ölförderung einen Preisverfall herbeizuführen. Zwei Wochen später rückt die irakische Armee am 2. August 1990 im benachbarten Öl-Emirat Kuwait ein. Der UN-Sicherheitsrat beschließt umgehend ein Handelsembargo gegen den Irak. US-Präsident George Bush19 fordert von Saddam Hussein vergeblich den Rückzug der irakischen Truppen aus Kuwait. Daraufhin beordert Bush US-Truppen an den persischen Golf. Hussein, der in den 80er Jahren während des Kriegs zwischen dem Irak und dem benachbarten fundamental islamisch geführten Iran noch verbreitet Sympathien in westlichen Medien hatte, wird nun einhellig als „unmenschlicher Diktator“ dargestellt.Um die USA und ihre Verbündeten von Angriffen abzuhalten, werden im Irak Ausländer als Geiseln festgehalten. Der frühere Bundeskanzler Willy Brandt20 erreicht im November 1990 in Verhandlungen mit der irakischen Führung die Freilassung deutscher Geiseln. Brandt wird dabei von Fernsehteams und Journalisten begleitet. 1991: Kuwait befreit – Saddam bleibt Gestützt auf militärische und finanzielle Hilfe der Alliierten, darunter auch Deutschlands, beginnen die USA am 17. Januar 1991 mit Luftangriffen auf Bagdad den militärischen Feldzug. Berühmt werden die Reportagen von CNN-Reporter Peter Arnett21, der sich während des Bombenhagels live vom Dach des Al Rashid-Hotels in Bagdad meldet. FOLTER FREI


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3. Zeitraffer: Der Irakkonflikt in den Medien

Ende Februar wird Kuwait befreit und der Irak stimmt einem Waffenstillstand zu. Das Ziel – Saddam Hussein zu vernichten – wird von George Bush und den US-Truppen nicht erreicht – der Diktator bleibt im Amt und baut seine Macht in den kommenden Jahren demonstrativ aus. Aufstände von Schiiten22 im Süden des Landes und Kurden23 im Norden lässt er grausam niedermetzeln und setzt dabei auch Giftgas ein. USA, Großbritannien und Frankreich erklären daraufhin ein 19.000 qkm großes Gebiet im Nordirak zur Schutzzone für die kurdische Bevölkerung. Irakische Flugzeuge dürfen den 36. Breitengrad nicht mehr überqueren. Ab August 1992 wird auch eine so genannte „No-Fly-Zone“ im Süden zum Schutz der Schiiten eingerichtet. Nach dem ersten Golfkrieg 1991 wird der Irak durch eine UN-Resolution zur bedingungslosen Vernichtung seiner Massenvernichtungswaffen verpflichtet. Gleichzeitig wird eine UN-Kommission eingesetzt, die die Abrüstung überwachen soll (UNSCOM). Im April 1991 gibt es in den USA erste Medienberichte über angebliche Massenvernichtungswaffen im Irak.

1994 - 1997: Sanktionen und vorsichtige Annäherungen Die Handelssanktionen gegen den Irak führen zur völligen Verarmung weiter Teile der irakischen Bevölkerung; Saddams Familie und deren Günstlinge werden dagegen immer reicher, nicht zuletzt durch Schmuggel. Mitte der 90er Jahre bemüht sich das Regime um Lockerung der Sanktionen, zunächst durch offizielle Anerkennung des Kuwait als souveräner Staat (1994). In den Medien gibt es Berichte über Armut und medizinische Unterversorgung. Ausländische Journalisten dürfen im Irak nur unter strenger Aufsicht des Propagandaministeriums arbeiten. Die Medienpolitik des Diktators zeigt international Wirkung. Im Dezember 1996 erlauben die Vereinten Nationen eine begrenzte Lockerung des Handelsboykotts. Der Irak darf Öl gegen humanitäre Güter, Medizin und Lebensmittel tauschen.

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3. Zeitraffer: Der Irakkonflikt in den Medien

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Dezember 1998: Operation Wüstenfuchs Im Dezember 1998 verweist Saddam die UN-Waffeninspektoren wegen angeblicher Spionage des Landes. Seit Ende des Irak-Kriegs 1991 hatten sie vor allem mehrere Anlagen zum Bau von Atomwaffen entdeckt und zerstört. Wenige Tage nach der Ausweisung der Kontrolleure beginnen die US- und die britische Luftwaffe am 17. Dezember 1998 mit einem viertägigen Bombardement Bagdads. Nach dem Vorbild von Peter Arnett berichten auch diesmal Reporter während der Bombenangriffe aus Bagdad. Ein Redakteur der Bild-Zeitung wird bei den Angriffen verletzt. Diktator Hussein besucht ihn demonstrativ im Krankenhaus und tätschelt dabei seinen Kopf – diese Bilder werden weltweit verbreitet.

1999: Angriffe auf den Irak und Mobilmachung Im Januar und Juni bombardieren US-Kampfflugzeuge wiederholt irakische Flugabwehrstellungen im Norden und Süden des Landes. Parallel beginnt im Irak eine generelle Mobilmachung. Nach Berichten irakischer Medien werden hunderttausende Männer für die Abwehr etwaiger Angriffe der Alliierten ausgebildet. Der UN-Sicherheitsrat stimmt im Dezember für die Wiederaufnahme der seit einem Jahr unterbrochenen Rüstungsinspektionen. Als Gegenleistung wird der irakischen Regierung die Aussetzung der Sanktionen angeboten.

2000: US-Wahl führt zu Stillstand bei Irak-Verhandlungen Im März 2000 wird der schwedische Jurist und Diplomat Hans Blix zum Leiter der UN-Überwachungskommission (UNMOVIC) im Irak ernannt. Verschiedene internationale Bemühungen, den weiterhin schwelenden IrakFOLTER FREI


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3. Zeitraffer: Der Irakkonflikt in den Medien

Konflikt zu entschärfen, bleiben weitgehend erfolglos. Ein Grund sind die amerikanischen Präsidentschaftswahlen, aus denen der Republikaner George W. Bush24 erst nach wochenlangen Auszählungsprozeduren und schließlich nach einer Entscheidung des obersten US-Gerichtshofs äußerst knapp als Sieger hervorgeht. 11. September 2001: Der Tag, der die Welt veränderte Zwei von Terroristen gekaperte Flugzeuge rasen in das World Trade Center in New York; eine Passagiermaschine stürzt auf das US-Verteidigungsministerium „Pentagon“ in Washington; ein viertes Flugzeug stürzt über Pennsylvania ab. Insgesamt kommen 2.976 Menschen ums Leben; allein im World Trade Center sterben 2.605 Menschen. Zu den Mutmaßungen über die Täter meldet die Tagesschau in ihrer 20-Uhr-Ausgabe: „Nach Angaben ranghoher Politiker sprechen Anzeichen dafür, dass Personen, die mit dem Extremisten bin Laden25 in Verbindung stehen, für die Terrorakte verantwortlich sein könnten.“ Mitglieder der irakischen Führung, darunter der stellvertretende Ministerpräsident Tarik Aziz26, erklären mehrfach, dass der Irak weder direkt noch indirekt – durch finanzielle Unterstützung der Terroristen – an den Anschlägen beteiligt gewesen sei. Insgesamt hatte der Irak in den deutschen Medien im Jahr 2001 eine – im Vergleich zu den Vorjahren – geringe Bedeutung; mögliche Verbindungen des Hussein-Regimes zu den Terroranschlägen in den Vereinigten Staaten wurden in den Berichten nur selten unterstellt. 2002: Schuldzuweisungen und Kriegsvorbereitungen In seiner Rede zur Lage der Nation vor dem US-Kongress am 29. Januar 2002 bezichtigt Präsident Bush den Irak – zumindest indirekt – der Mitschuld an den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Er wirft NordkoFOLTER FREI


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rea, dem Iran und dem Irak vor, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln und bezeichnet die drei Länder als „Achse des Bösen“. Die Rede des Präsidenten wird von internationalen Medien in der Folge immer wieder als der Zeitpunkt des Beginns der amerikanischen Kriegsvorbereitungen gegen den Irak interpretiert. Am 5. Juli veröffentlicht The New York Times27 einen Bericht, in dem die Planungen des Pentagon für einen Krieg gegen den Irak detailliert aufgezeigt werden. Die Zeitung wird daraufhin von der amerikanischen Regierung scharf attackiert. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld28 erklärt, dass solche Veröffentlichungen vor allem dem Terrornetzwerk Al Qaida29 nützten. In einer Rede vor der UN-Vollversammlung fordert Bush am 12. September alle Staaten zu einer harten und kompromisslosen Haltung in der Frage der Waffeninspektionen gegenüber dem Irak auf. Nur vier Tage später lenkt der Irak offensichtlich ein. In einem Brief an UN-Generalsekretär Kofi Annan30 erklärt die Führung in Bagdad ihre Bereitschaft, erneut Waffeninspektoren ins Land zu lassen. Von der US-Regierung wird dieses Angebot als „taktisches Manöver“ abgetan. Bush holt sich vom US-Kongress im Oktober 2002 die Genehmigung, notfalls mit militärischen Mitteln gegen den Irak vorzugehen, um das Land zu zwingen, chemische und biologische Waffen zu vernichten und nukleare Programme einzustellen. Nachdem in Medienberichten immer stärker von einem Waffengang der USA gegen den Irak ausgegangen wird, gründen sich weltweit Friedensinitiativen. Am 26. Oktober finden auch in deutschen Städten Protestveranstaltungen statt. In Berlin gehen rund 8.000 Menschen für den Frieden auf die Straße. Die Medien berichten umfangreich über die Anti-Kriegsbewegungen. FOLTER FREI


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Am 8. November 2002 verabschiedet der UN-Sicherheitsrat die IrakResolution 1441. Dem Irak wird darin eine letzte Chance gegeben, doch noch mit den UN-Waffeninspektoren zusammenarbeiten. Zwei Tage vor Ablauf der Frist akzeptiert Saddam Hussein am 13. November die Bedingungen. Die deutsche Bundesregierung bleibt bei ihrer Ablehnung einer militärischen Unterstützung im Falle eines etwaigen Angriffs auf den Irak, erklärt Bundeskanzler Schröder in der ZDF-Nachrichtensendung heute am 21. November 2002. Im Januar 2003 wird Schröder auch jegliche finanzielle Unterstützung für einen Irak-Feldzug kategorisch ablehnen. Am 7. Dezember legt der Irak das von der UN geforderte Dossier über Waffenentwicklungen im eigenen Land vor – die Dokumente umfassen insgesamt 12.000 Seiten. Zwölf Tage später werden die Inhalte der Dokumente vom amerikanischen UN-Botschafter John Negroponte als „schwerwiegende Verletzung der Resolution 1441“ bezeichnet. Die Äußerung wird von vielen Medien als Kriegserklärung der USA gegen den Irak gewertet. Januar – März 2003: Das „alte Europa“ verweigert sich dem Krieg Im Januar 2003 kritisiert auch der UN-Waffenchefinspekteur Hans Blix31 die mangelnde Kooperationsbereitschaft der irakischen Behörden. Allerdings hat sein Team bislang keine Hinweise auf Massenvernichtungswaffen gefunden. Während die US-Regierung immer mehr Truppen in die Golf-Region schickt, protestieren in amerikanischen Großstädten Hunderttausende gegen den kaum noch vermeidbar scheinenden Krieg. Wegen ihrer konsequenten Anti-Kriegshaltung werden Frankreich und Deutschland von US-Verteidigungsminister Rumsfeld abschätzig als das „alte Europa“ bezeichnet. Bei seinem Auftritt vor dem UN-Sicherheitsrat blamierte sich US-Außenminister Colin Powell32 – zumindest aus Sicht der meisten westlichen Medien. Zuvor hatte die Regierung in Washington noch angekündigt, dass FOLTER FREI


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man am 5. Februar 2003 „Beweise für die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak“ vorlegen werde. Was Powell schließlich begleitet von einer PowerPoint-Präsentation vorstellte, waren verbale Attacken gegen den Irak und nicht verifizierbare Ton- und Bildaufnahmen aus den Beständen des USGeheimdienstes CIA33. Den drohenden Krieg wollen Deutschland, Frankreich und Russland im Februar 2003 durch eine gemeinsame Initiative für eine Verlängerung der Waffeninspektionen im Irak abwenden. Condoleezza Rice34, Sicherheitsberaterin von US-Präsident Bush, weist die Initiative im US-Fernsehsender NBC zurück: „Es ist Zeit, die Sache zu beenden, genug ist genug“. UN-Waffenchefinspekteur Hans Blix erklärt am 14. Februar 2003 bei Vorlage eines neuen Berichts im Sicherheitsrat, dass bisher keine Massenvernichtungswaffen gefunden worden seien. Bagdad habe über zahlreiche verbotene Materialien allerdings noch keine zufrieden stellende Auskunft gegeben. Einen Tag später gehen weltweit Millionen auf die Straße, um gegen den immer näher rückenden Krieg zu demonstrieren. In Berlin kommt es mit rund 500.000 Teilnehmern zu der wahrscheinlich größten Friedensdemonstration in der Geschichte Deutschlands. Die Proteste werden „Aufmacher“ in den Medien. Im Februar und März 2003 scheitern mehrere politische Bemühungen, unter anderem auch von Russland und China, den Konflikt noch friedlich beizulegen. Das offiziell als „Krisengipfel“ angekündigte Treffen von USPräsident George W. Bush mit dem britischen Premier Tony Blair35 und Spaniens Regierungschef José María Aznar36 am 16. März 2003 bezeichnen internationale Medien als „Kriegsrat“. In einer Fernsehansprache an die amerikanische Nation fordert US-Präsident Bush tags darauf Saddam Hussein und seine beiden Söhne Udai und Kusai ultimativ auf, innerhalb von 48 Stunden den Irak zu verlassen – nur so wäre ein Krieg noch zu verhindern.

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März – April 2003: Der (Medien-) Krieg im Irak Weniger als zwei Stunden nach Ablauf des Ultimatums an Saddam und seine Söhne, beginnen die USA in den frühen Morgenstunden des 20. März 2003 mit Luftangriffen auf Bagdad. Die Kampfmaschinen bombardieren zunächst Ziele, an denen sich Mitglieder der irakischen Führung angeblich aufhalten sollen. In einer Fernsehrede erklärt Bush, dies sei der Beginn einer militärischen Operation zur „Entwaffnung des Iraks und zur Befreiung seines Volkes“. Mit dem Krieg beginnt auch eine Schlacht der Medien um die aufregendsten Bilder und vermeintlich exklusivsten Storys. In einer im Herbst 2003 veröffentlichten Analyse der Kriegsberichterstattung von ARD und ZDF sowie in den Privatsendern RTL, Sat.1, n-tv und N24 ist nachzulesen, dass an keinem anderen Tag soviel über den Irak berichtet wird, wie am 20. März 2003, dem Tag der ersten US-Bombenangriffe. Allein die sechs zuvor genannten Programme bringen an diesem Tag knapp 3.000 Minuten (50 Stunden) Nachrichten, Reportagen, Dokumentationen, Interviews und Hintergrundgespräche im Fernsehen. Bis zum Ende der Kämpfe nach Einnahme Bagdads (9. April 2004) wird das Interesse der Fernsehmacher jedoch deutlich – auf etwa die Hälfte des Umfangs – zurückgehen.37 Fernsehteams und Journalisten begleiten als so genannte „embedded journalists“ die US-Truppen auf dem Vormarsch nach Bagdad. Das war eine neue Form in der Kriegsberichterstattung, behauptet der Kommunikationswissenschaftler Prof. Ulrich Sarcinelli38 und vergleicht in einem Interview mit der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)39 den Irak-Krieg 2003 mit vorherigen Konflikten: Wenn man so will gab es drei Modelle: Das eine war das Vietnam-Modell, wo im Grunde eine extrem freie Berichterstattung stattfand, das Militär sogar großzügig Infrastruktur zur Verfügung stellte, dann aber doch im Laufe der Jahre merkte, dass mit dieser Art von völlig freier BerichterstatFOLTER FREI


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tung die Heimatfront bröckelt. Dann gab es das Berichterstattungsmodell Nummer zwei, der erste amerikanisch-irakische Golfkrieg. Da hat man versucht, durch exklusive Briefings der Militärs die Berichterstattung völlig unter Kontrolle zu halten. Das führte natürlich dazu, dass mit der Zeit die Glaubwürdigkeit leidet, weil eben doch auch andere Berichte bekannt werden. Dieses Modell hatte man auch noch im Kosovokrieg zu praktizieren versucht: mit den entsprechenden Briefings und Videoeinspielungen. Vermittelt werden sollte das Bild eines ‚klinisch‘ sauberen Krieges – punktuell, ganz präzise feindliche Stellungen treffend. Wir wissen, dass bei aller neuen Waffentechnologie das so ‚sauber‘ nicht war. Und jetzt hat man in der Tat ein neues Modell, den „eingebetteten Journalismus“, bei dem im Grunde Journalisten schon wie Kommunikationskombattanten in die Kriegsmaschinerie ein- und angebunden wurden. Mit der Maßgabe, dass sie direkt live von der Front Bericht erstatten dürfen, aber nur in einem Rahmen, den das Militär vorgibt. Doch man kann Gebiete in der Regel nicht völlig abdichten. Es gibt immer wieder Leute, die sich durchschlagen und mit einem Satellitentelefon in der Lage sind, entsprechende Berichte oder Gegenbilder zu bringen. 40 Von den deutschen Fernsehsystemen wird der „eingebettete Journalismus“ vor allem von RTL praktiziert. Reporter Ulrich Klose erscheint fast täglich auf dem Bildschirm, vor Panzern stehend und umgeben von US-Soldaten. Auch das Phänomen des furchtlosen CNN-Kriegsreporters Peter Arnett wirkt noch immer nach. Diesmal berichten auch deutsche Fernsehkorrespondenten wie Antonia Rados (RTL) und Ulrich Tilgner (ZDF) mitten aus dem Krieg. Andere, so der ARD-Reporter Jörg Armbruster, verlassen Bagdad, noch bevor die ersten Bomben fallen. Später rechtfertigt Armbruster in einem Interview mit dem Online-Magazin „Die Gegenwart“ seinen Entschluss: „Ich bin kein Kriegsberichterstatter und es ist für mich kein übermäßiger Reiz, aus Kriegs- und Krisengegenden zu berichten“.41

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Der Focus-Reporter Christian Liebig42 hatte nicht den Ruf eines verantwortungslosen Draufgängers, sondern galt unter Berufskollegen eher als besonnen und umsichtig. Nach Darstellung seines Chefredakteurs Helmut Markwort43 war der 35-Jährige „als ‚embedded journalist’ mit der 3. amerikanischen Infanteriedivision unterwegs und hatte sich am Sonntagabend entschieden, nicht mit anderen Journalisten zusammen ein Kommando ins Zentrum von Bagdad zu begleiten, sondern im Hauptquartier zu bleiben. Dies hielten er und sein spanischer Kollege für weniger riskant.“44 Liebig und der Spanier starben am 7. April 2003 bei einem Raketenangriff auf das USLager. Insgesamt werden mindestens 10 Journalisten bis Anfang Mai 2003 ums Leben kommen. (dpa, 02.05.03) Zu Bild- und Informationslieferanten aus dem Irak für die internationalen Medien werden immer häufiger die beiden arabischen Nachrichtensender Al Jazeera45 und Al Arabia46. Das im Emirat Qatar stationierte Al Jazeera zeigt erstmals auch von den Irakern gefangen genommene US-Soldaten. Die Bilder der offensichtlich misshandelten Armeeangehörigen werden nur zögernd von den amerikanischen Fernsehstationen übernommen, weil sie nicht in das Bild der heldenhaften Kämpfer am Golf passen. Obwohl die US-Truppen Anfang April schon bis zum Stadtrand von Bagdad vorgedrungen sind, lädt Informationsminister Said el Sahhaf die internationalen Journalisten täglich zu skurril wirkenden Pressekonferenzen ein. Am 8. April steht er vor den Trümmern seines Informationsministeriums und spricht auf offener Straße den berühmten Satz in die Mikrofone: „Ich versichere Ihnen, es gibt keine Amerikaner in Bagdad.“ Und im Hintergrund, einige Straßenzüge weiter, rollen die ersten amerikanischen Panzer ins Bild. Unglaublich: das Sprachrohr des Menschenschlächters Saddam Hussein wird als „Comical Ali“ zur „Kultfigur“ und soll nach Kriegsende sogar Plattenstar werden (ARD Aktuell, 2. Mai 2003).

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Das Zentrum von Bagdad wird von den US-Streitkräften schließlich am 9. April 2003 eingenommen. Die ARD-Tagesthemen melden dazu: „Panzer rollten ohne nennenswerte Gegenwehr ins Zentrum Bagdads. Viele Iraker jubelten den Soldaten zu. Die irakische Regierung, Polizisten und andere Ordnungskräfte waren wie vom Erdboden verschwunden.“ Bilder vom symbolischen Sturz des Diktators werden durch das organisierte Einreißen von Saddam-Statuen vermittelt – von Hussein selbst fehlt allerdings jede Spur. Ab Mai 2003: Der Krieg nach dem Krieg Es wirkt wie eine Hollywood-Inszenierung, als George W. Bush am 1. Mai 2003 mit einem Kampfjet auf dem Flugzeugträger „Abraham Lincoln“ vor der kalifornischen Küste landet und „die großen Kampfhandlungen“ im Irak für beendet erklärt. Die Deutsche Presseagentur (dpa) veröffentlicht am 2. Mai eine vorläufige Bilanz des Kriegs: Kurzstatistik Irak-Krieg 2003 (Quelle dpa) Kriegspartei

Alliierte

Irak

Soldaten im Einsatz

ca. 300.000 gesamt (ca. 255.000 USA ca. 45.000 GB)

ca. 380.000

Opfer/Soldaten

171 Tote 495 Verwundete

mind. 2.300 Soldaten

Zivile Opfer

keine Angabe

bis zu 2.600 Tote und mindestens 5.000 Verletzte

In einem später am 18. März 2004 – veröffentlichten Memorandum geht die Menschenrechtsorganisation amnesty international von 10.000 zivilen Opfern in der irakischen Bevölkerung aus. Die Führung der US-Truppen war nicht in der Lage, diese Angabe entweder zu bestätigen oder zu dementieren. FOLTER FREI


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Der stellvertretende Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte im Irak, Brigadegeneral Mark Kimmit, erklärte lapidar: „Wir haben nicht die Kapazität, um alle Zivilunfälle zu verfolgen.“ Die breite Zustimmung in den USA für die Irak-Politik des Präsidenten schwindet, als schon bald nach Einstellung der offiziellen Kampfhandlungen deutlich wird, dass der Krieg längst noch nicht gewonnen ist. Ab Mitte des Jahres 2003 erschüttern Terroranschläge in Bagdad und anderen Großstädten des Landes das Bild von den souveränen Besatzern. Am 7. August sterben 19 Menschen bei einem Anschlag vor der jordanischen Botschaft. 22 Todesopfer sind zu beklagen, als am 19. August ein LKW am US-Hauptquartier in Bagdad in die Luft fliegt. Im Oktober kommen bei Anschlägen auf das Rote Kreuz und eine Polizeistation in Bagdad 40 Menschen ums Leben. Immer wieder sind auch US-Soldaten und Angehörige der Alliierten unter den Todesopfern. Erfolge können die USA lediglich bei der Verfolgung von führenden Mitgliedern des vertriebenen Regimes vorweisen. Am 22. Juli werden die beiden berüchtigten Hussein-Söhne Kusai und Udai nach einem anhaltenden Schusswechsel beim Versuch der Festnahme getötet. Schließlich gelingt am 13. Dezember die Festnahme von Saddam Hussein in Adwar, 10 Kilometer südlich von dessen Heimatstadt Tikrit. Im Fernsehen ist zu sehen, wie USSoldaten im Hof eines einfachen Bauernhauses ein Erdloch öffnen. Dann wird das verlaust wirkende Gesicht des Ex-Diktators in Richtung Kamera gedrückt. Doch die Genugtuung über das Ende des Hussein-Clans kann nur kurzzeitig die schier unerschöpflichen Probleme der USA und ihrer Alliierten im Irak aus den Schlagzeilen verdrängen. Ab Januar 2004 werden die Zweifel an den Kriegsgründen immer stärker. Schließlich wurden bis zu diesem Zeitpunkt immer noch keine Massenvernichtungswaffen gefunden. Die Berichte des US-Geheimdienstes CIA, die im Jahr zuvor vermeintliche Kriegsgründe FOLTER FREI


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lieferten, werden im Nachhinein immer unglaubwürdiger. Schließlich kommt im Juni 2004 die von US-Präsident Bush eingesetzte Kommission zur Untersuchung der Terroranschläge vom 11. September 2001 (9/11 Commission) zum Ergebnis, dass es überhaupt keine Hinweise für eine direkte oder indirekte Beteiligung des Irak gab. Zu diesen Erkenntnissen kommen nahezu tägliche Meldungen über Terroranschläge, Entführungen und Ermordungen von Ausländern sowie Berichte von Häuserkämpfen zwischen Besatzern und Aufständischen. Es gilt als unwahrscheinlich, dass die am 28. Juni 2004 hektisch eingesetzte irakische Übergangsregierung diesen anhaltenden Terror und die schwelenden Konflikte lösen kann. Schließlich ist da noch Abu Ghraib...

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37 4. Abu Ghraib: Zum Tatort erklärt Das Gefängnis bei Bagdad ist längst zum Synonym für Unmenschlichkeit, Grausamkeiten, Misshandlungen und Folter im Irak geworden – nicht erst seit dem 28. April 2004. Seit das amerikanische TV-Network CBS am 28. April 2004 Fotos veröffentlichte, die amerikanische Soldaten – fröhlich lächelnd und in Siegerposen – bei der Misshandlung und Erniedrigung von irakischen Häftlingen zeigen, hat Abu Ghraib weltweit eine schreckliche Berühmtheit erlangt. Für die Iraker war Abu Ghraib, zu deutsch „Vater des Raben“, rund 30 Kilometer westlich von Bagdad, schon lange der schlimmste Ort des Landes. Gemeint war damit nicht die gleichnamige ärmliche Vorstadt der irakischen Metropole mit etwa einer Million Einwohner. Wer von Abu Ghraib sprach, dachte an den wahrscheinlich größten und schlimmsten Kerker, den es jemals im Nahen Osten gab. Geplant von der britischen Besatzungsmacht, wurden die ersten Gebäude jedoch erst in den 60er Jahren – nach dem Abzug der Briten (1958) – unter irakischer Führung fertig gestellt. Im Laufe der Jahre entstand ein riesiger Gefängniskomplex, der von einer 5 km langen Mauer und 24 Wachtürmen gesichert wird. Unter der Gewaltherrschaft Saddam Husseins wurden ab Beginn der 80er Jahre vor allem politische Gegner in Abu Ghraib inhaftiert, viele von ihnen exekutiert oder grausam zu Tode gefoltert. Die Menschenrechtsorganisation amnesty international hat in ihren Berichten einige Massenexekutionen in dem berüchtigten Gefängnis dokumentiert: Ü 1994 – im Januar wurden an nur zwei Tagen in Folge mehr als 150 Gefangene hingerichtet. FOLTER FREI


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Ü 1996 – Hunderte Mitglieder von Oppositionsgruppen (eine genauere Zahl ist nicht bekannt) starben im November. Ü 1998 – im Juni wurden 60 Menschen hingerichtet, die meisten von ihnen hatten sich an den Aufständen der Schiiten im Jahr 1991 beteiligt. Ü 1999 – mindestens 100 Häftlinge wurden am 12. Oktober getötet. Ü 2001 – Im Oktober wurden 23 politische Gefangene, zumeist Schiiten, hingerichtet. Wer die Hölle überlebte, wagte es kaum, nach der Entlassung über das Erlebte zu sprechen. amnesty international gelang es dennoch immer wieder, Informationen aus Abu Ghraib und anderen Gefängnissen des Irak zu veröffentlichen. Im ai-Jahresbericht 2001 wird unter anderem über Hinrichtungen berichtet: Der wegen Spionage verurteilte Jordanier Dawud Salman al-Dallu wurde im Juni im Abu-Ghraib-Gefängnis in Bagdad hingerichtet. Er hatte sich seit 1993 in Haft befunden. Datum und Einzelheiten des Prozesses waren nicht bekannt. Sieben Angestellte der Zentralen Computerabteilung der Regierung wurden im Juli wegen Verrats hingerichtet. Sie sollen Berichten zufolge ein Computersystem importiert haben, das den Versand von Daten ins Ausland ermöglicht. amnesty nannte im selben Bericht auch Details über die grausamen Foltermethoden in der Hussein-Ära: Politische Gefangene und Häftlinge wurden besonders brutalen Formen der Folter ausgesetzt. An den Körpern vieler Hinrichtungsopfer waren, als man die Leichen den Familien aushändigte, offensichtliche Spuren FOLTER FREI


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von Folterungen zu erkennen, unter anderem ausgestochene Augen. Zu den üblichen Methoden der körperlichen Folterungen zählten Elektroschocks oder Verbrennungen mit Zigaretten an verschiedenen Körperteilen, das Ausreißen von Fingernägeln, Vergewaltigung, das Aufhängen an den Gelenken über lange Zeiträume hinweg, Schläge mit Kabeln, die falaqa (Schläge auf die Fußsohlen) und das Durchbohren der Hände mit Bohrmaschinen. Zu den psychologischen Folterungen gehörten neben Scheinhinrichtungen und lang andauernder Einzelhaft die Androhung, Angehörige des Gefangenen festzunehmen oder weibliche Angehörige vor den Augen des Gefangenen zu vergewaltigen. Während des Saddam Regimes waren in Abu Ghraib ständig etwa 15.000 Häftlinge zusammengepfercht. In Zellen von 4 x 4 Metern mussten bis zu 40 Häftlinge oft jahrelang ausharren, berichtete die britische BBC im Mai 2003. Es gab mehrere getrennte Bereiche für einfache Kriminelle, Kapitalverbrecher, Ausländer und schließlich den Bereich für „Spezialhäftlinge“. Hier wurden vor allem politische Gegner besonders grausam malträtiert. Der örtlich ansässige Händler Yehiye Ahmed berichtete im April 2003, kurz nachdem Saddams Schergen Abu Ghraib aufgegeben hatten, von furchtbaren Schreien der Gefangenen, die ständig über die Mauern des Gefängniskomplexes auch nach draußen gedrungen seien. Als er eines Tages im Inneren des Gefängnisses Brote und Zigaretten verkaufte, musste er mit ansehen, wie Wachen drei Männer mit Stöcken und Kabeln zu Tode geprügelt haben. „Ich habe das ungefähr eine Minute lang mit eigenen Augen gesehen, bevor ich verscheucht wurde. Die Schreie hörte ich aber mindestens noch eine Stunde lang“, sagte der Iraker der amerikanischen Zeitschrift Newsweek. Bei einer Generalamnestie im Oktober 2003 wurden allein aus Abu Ghraib 10.000 Gefangene entlassen. Landesweit ging man damals von 40.000 Amnestierten aus. Die meisten waren Kriminelle. Allerdings kamen auch junge Männer frei, die den Militärdienst verweigert hatten.

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Nach dem Einmarsch in Bagdad besetzten die US-Truppen auch das ehemalige Gefängnis. Zunächst hatten die Besatzer Abu Ghraib zur Besichtigung freigegeben, um die Grausamkeiten des Hussein-Regimes zu dokumentieren. Nach und nach füllte es sich jedoch wieder mit neuen Häftlingen. Festgenommen von den Amerikanern, warteten Iraker oft monatelang auf eine Anklage. Ihre Angehörigen wussten häufig nicht, in welchen Gefängnissen sie aus welchen Gründen festgehalten wurden. Schon im Juli 2003 kritisierte die Menschenrechtsorganisation amnesty international die entwürdigende Behandlung der irakischen Gefangenen durch die Besatzungsmächte. Obwohl schon wieder mit Häftlingen gefüllt, wurde das Gefängnis erst im August 2003 von der US-Militärverwaltung offiziell neu eröffnet – diesmal unter der Bezeichnung „Baghdad Correctional Facility. Leiterin wurde eine Frau, US-Brigadegeneral Janis Karpinski47, die für mehrere Militärgefängnisse im Irak zuständig war. Sechs Monate später, Ende Februar 2004, dokumentierte der mit der Untersuchung von Übergriffen in Abu Ghraib beauftragte Generalmajor Antonio M. Taguba in einen 53-seitigen armeeinternen Report die rüden „Erziehungsmethoden“ der amerikanischen Bewacher. Zusammenfassend wurden folgende Misshandlungen in dem Report aufgeführt: Ü Das Schlagen, Boxen und Treten von Häftlingen; insbesondere auch das Treten auf nackte Füße der Häftlinge; Ü die Anfertigung von Videoaufnahmen und Fotos von nackten männlichen und weiblichen Gefangenen; Ü Häftlinge wurden gezwungen, in verschiedenen sexuellen Stellungen für Fotoaufnahmen zu posieren; Ü Häftlinge wurden gezwungen, ihre Kleidung vollständig abzulegen und mussten mehrere Tage nackt verbringen; FOLTER FREI


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Ü männliche Gefangene mussten Frauenunterwäsche tragen; Ü männliche Gefangene wurden gezwungen, sich selbst und gegenseitig zu befriedigen, während sie dabei fotografiert – und auf Video aufgenommen wurden; Ü männliche Gefangene wurden auf einen Haufen geworfen und anschließend ist man auf ihnen herumgesprungen; Ü ein nackter Gefangener wurde auf eine Kiste gestellt, mit einer Kapuze über dem Kopf; Finger, Zehen und Penis wurden mit Kabeln verbunden, um elektrische Folterungen zu simulieren; Ü auf das Bein eines Häftlings wurde „ich bin ein Vergewaltiger“ geschrieben und behauptet, er habe einen 15-jährigen Mithäftling vergewaltigt; Ü einem nackten Häftling wurde eine Hundeleine um den Hals gelegt und anschließend mit einer Soldatin fotografiert; Ü männliche Militärpolizisten hatten Sex mit weiblichen Insassen; Ü Militärhunde ohne Maulkörbe wurden dazu benutzt, um Häftlinge einzuschüchtern; in mindestens einem Fall wurde der Gefangene gebissen und verletzt. Nachdem durch die Ausstrahlung des CBS-Beitrags am 28. April 2004 der Skandal bekannt geworden war, kündigte US-Präsident George W. Bush an, das Gefängnis abreißen zu lassen. Ein amerikanisches Militärgericht hat jedoch im Juni 2004 Abu Ghraib zum Tatort erklärt und den Abriss untersagt.

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43 5. CBS zeigt die Hölle: „Abuse in Abu Ghraib“ Schilderung eines der wichtigsten und schockierendsten Beiträge, der jemals im amerikanischen Fernsehen lief. US-Topmanager wählen meistens sehr edel klingende Formulierungen, wenn sie ihre Unternehmen auf Kongressen, in Imagebroschüren oder im Internet vorstellen. Leslie Moonves, Vorstandsvorsitzender des TV-Networks CBS, macht da keine Ausnahme. Grundsatz des Unternehmens sei es, dass sich vor allem die Interessen der Zuschauer in den Programmen wieder finden. CBS, so Moonves auf der Unternehmenshomepage weiter, verstehe sich in erster Linie als „Vertreter der amerikanischen Öffentlichkeit“. Natürlich erfüllen längst nicht alle Programme, die das Network für seine mehr als 200 angeschlossenen TV-Stationen in allen Teilen der USA produziert, diese hehren Ansprüche. Tagsüber werden die Zuschauer mit billig wirkenden soap operas und Talkshows versorgt. Die TV-Peepshow „Big Brother“, in Deutschland längst in der RTLII-Versenkung verschwunden, läuft gleich drei mal wöchentlich in der Hauptsendezeit (prime time). Ein Aushängeschild des Networks ist David Letterman. Seine werktägliche „Late Show“ erzielt immer wieder breite Aufmerksamkeit, führt zu Schlagzeilen, sorgt für Aufreger oder lautes Gelächter. Die Letterman Show lässt sich am besten als amerikanische Version – richtiger wohl als Vorbild – der Harald Schmidt Show beschreiben, die bis Ende 2003 erfolgreich auf SAT.1 lief. Die journalistischen Angebote des nationalen Networks unter der Marke CBS News konzentrieren sich auf die Abendnachrichten CBS Evening News sowie auf die jeweils zweimal wöchentlich ausgestrahlten Nachrichtenmagazine 48 Hours und vor allem 60 Minutes. „Aushängeschild“ der CBS News ist Anchorman Dan Rather48. Der inzwischen weit über Siebzigjährige ist in seiner zweiten Funktion eine Art Chefreporter. Die wichtigen Interviews und Aufsehen erregenden Beiträge kommen zumeist von dem „am härteFOLTER FREI


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sten arbeitenden CBS-Mitarbeiter“, wie er in der offiziellen Vita bezeichnet wird. Rather ist in den USA längst nicht unumstritten. Bei den republikanischen Parteigängern von Präsident Bush gilt er als Sympathisant der Demokraten. Insbesondere den früheren Präsidenten Bill Clinton habe er zu rücksichtsvoll behandelt, so der Vorwurf der Konservativen. Für Aufsehen und Ärger insbesondere in der Bush-Administration sorgte Dan Rather, als er im Februar 2003 wenige Wochen vor Kriegsbeginn Saddam Hussein interviewte. Es war seit 1991 das erste Interview, das der irakischen Diktator einem amerikanischen Journalisten gab. Nach Meinung vieler Amerikaner schaffte Rather dem Diktator damit ein Forum, ohne wirklich kritisch zu fragen. „Er geht mit Diktatoren freundlicher um, als mit gewählten amerikanischen Politikern“, kritisierte beispielsweise Tim Graham in der National Review. Trotz solcher Kritiken – Dan Rather findet stets große Aufmerksamkeit, insbesondere wenn so genannte „Special Reports“ von CBS News angekündigt werden. So auch am 28. April 2004, einem Mittwochabend. Auf Kanal 2 läuft der Vorspann von 60 Minutes II: „Im vergangenen Monat (Anmerkung des Autors: März 2004) hat die USArmee mitgeteilt, dass 17 Soldaten, einschließlich eines Generals im Irak von ihren Aufgaben entbunden wurden, weil der Verdacht besteht, dass sie irakische Gefangene misshandelt haben. Die Hintergründe wurden bislang geheim gehalten – bis jetzt. Inzwischen sind Fotos aufgetaucht, die zeigen, dass amerikanische Soldaten Iraker in einem Gefängnis bei Bagdad erniedrigen und beschimpfen. Die Armee ermittelt und hat einen vorläufigen Bericht veröffentlicht. Jetzt wird wohl die lange militärische Karriere einer Generalin und ihrer Untergebenen zu Ende gehen. Sechs Soldaten müssen mit einem Kriegsgerichtsverfahren im Irak und wahrscheinlich auch mit einer Gefängnisstrafe rechnen.“

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Nach der üblichen Werbepause beginnt dann der Bericht von Dan Rather. Seine sonst so souverän und beruhigend wirkende Stimme klingt diesmal ein wenig verunsichert. Vermutlich war auch der erfahrene Fernsehmann beim Kommentieren der Bilder geschockt, die nun erstmals in 60 Minutes II veröffentlicht werden: „Amerikaner haben das irakischen Gefangenen angetan” sagt Dan Rather, während das Bild eingeblendet wird, das inzwischen weltweit traurige Berühmtheit erlangt hat. Bei der Beschreibung bezieht sich der Fernsehjournalist auf Angaben, die dazu die US-Armee gemacht hat: „Einem irakischen Gefangenen wurde befohlen, sich mit verdecktem Kopf und Kabeln an den Händen auf eine Kiste zu stellen. Ihm wurde gesagt, dass er einen Stromschlag erhält, wenn er von der Kiste fällt. Es war dieses und dutzende anderer Bilder, die eine Untersuchung der US-Armee ausgelöst haben.“ Dann die Frage an den per Satellit aus Bagdad zugeschalteten Brigadegeneral Mark Kimmit, stellvertretender Oberbefehlshaber über die Alliierten Streitkräfte im Irak: „Was ist falsch gelaufen?“ Kimmit antwortet ausweichend: „Ehrlich, ich glaube, dass wir alle von den Taten einiger weniger enttäuscht sind. Wir lieben unsere Soldaten, aber ehrlich – an manchen Tagen sind wir nicht nur stolz auf sie“. Da der Brigadegeneral in seinem Statement offensichtlich versucht, die fürchterlichen Ereignisse zu verharmlosen und die Schuld einigen wenigen Soldaten in die Schuhe zu schieben, rückt Rather in seinem Bericht die Bedeutung des Geschehens zurecht: „Über Jahrzehnte unter Saddam Hussein wurden unzählige Gefangene nach Abu Ghraib gebracht und kamen dort nie wieder raus. Es war der Mittelpunkt in Saddams Schreckensherrschaft. Die Gefangenen, die schließlich doch freikamen, erzählten nach Ende der Diktatur grausame Geschichten über Folter, die jede Vorstellung übertreffen und sie berichteten von Hinrichtungen ohne jeglichen Grund.“

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60 Minutes II befragt dann zwei Verhörspezialisten mit Irak-Erfahrung – den früheren Marine-Oberst Bill Cowan und den ehemaligen Chef des CIA-Büros Bob Baer. „Ich habe Abu Ghraib einige Tage nach der Befreiung besucht. Es war das Schlimmste, das ich jemals gesehen habe. Ich sagte mir seinerzeit‚ wenn es jemals einen Grund gab, Saddam Hussein loszuwerden, dann ist es Abu Ghraib“, berichtet Baer und ergänzt: „Da waren Körper, die von Hunden gefressen wurden. Elektroden kamen aus den Wänden. Es war ein furchtbarer Ort.“ Cowan geht auf die moralische Dimension der jetzt bekannt gewordenen Verfehlungen ein: „Wir sind in den Irak gekommen, um solche schrecklichen Dinge zu beenden und jetzt passiert das unter unserem Kommando.“ Es werden weitere Aufnahmen von unmenschlichen Demütigungen in Abu Ghraib gezeigt. Dan Rather berichtet, dass diese Bilder von amerikanischen Soldaten aufgenommen wurden, die in Abu Ghraib als Militärpolizisten eingesetzt waren: „Die Untersuchungen begannen, nachdem ein Soldat die Bilder von einem Freund bekommen hatte und sie an seinen Kommandanten weiterleitete. 60 Minutes II hat ein Dutzend solcher Bilder, die amerikanische Männer und Frauen in Militäruniformen mit nackten irakischen Gefangenen zeigen. Es gibt Aufnahmen von Gefangenen, die als Pyramide gestapelt wurden und ein Bild mit einer Beleidigung, die in englischer Sprache auf seine Haut geschrieben wurde. Auf einigen Bildern sind männliche Gefangene zu sehen, die sexuelle Handlungen mit anderen Gefangenen simulieren.“ Die Stimme des erfahrenen Fernsehjournalisten Rather wirkt niedergeschlagen, als er das Verhalten der Peiniger zusammenfassend so beschreibt: „Auf den meisten Bildern lachen die Amerikaner, posieren für die Kamera oder halten den Daumen nach oben.“

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Dan Rather fragt nochmals bei US-General Kimmit über Satellit in Bagdad nach: „Was kann die Armee speziell Irakern und allen, die sich davon betroffen fühlen, sagen?“ Kimmit antwortet diesmal ausführlicher: „Zunächst will ich sagen, dass wir ebenso entsetzt sind. Das sind unsere Soldaten. Das sind Leute, mit denen wir täglich zusammenarbeiten und die uns repräsentieren. Sie tragen dieselben Uniformen wie wir – aber sie haben ihre Kameraden schwer enttäuscht.“ Der Brigadegeneral geht – zumindest ansatzweise – auch auf die möglichen Konsequenzen ein, die das Verhalten der Bewacher in Abu Ghraib auf amerikanische Soldaten generell haben könnte: „Auch unsere Soldaten können in Gefangenschaft geraten. Wir erwarten, dass unsere Soldaten von Feinden ordentlich behandelt werden. Aber, wenn wir selbst nicht vormachen, wie man Menschen mit Würde und Anstand behandelt, können wir auch nicht erwarten, dass das andere Länder so mit unseren Soldaten machen.“ Schließlich wendet sich General Kimmit in seinem Statement an die irakische und amerikanische Bevölkerung: „Was kann ich den Menschen im Irak sagen? Das ist falsch. Das ist verwerflich. Aber es ist nicht repräsentativ für 150.000 Soldaten die hier (Anmerkung des Autors: im Irak) sind. Ich sage dasselbe den Menschen in Amerika: ‚Verurteilen Sie nicht unsere Armee wegen der Verfehlungen einiger weniger’.“ Der Redaktion von 60 Minutes II gelang es schließlich mit einem der beschuldigten Soldaten per Telefon im Irak Kontakt aufzunehmen. Der Staff Sergant der Reserve Ivan Chip Frederick wird beschuldigt, an Misshandlungen beteiligt gewesen zu sein. Er soll sich unter anderem für ein Foto auf einen Häftling gesetzt, Gefangene selbst geschlagen und befohlen haben, dass sich Gefangene gegenseitig verprügeln. Frederick berichtet, dass er im bevorstehenden Militärgerichtsprozess auf “nicht schuldig” plädieren wolle. Er begründete das mit der Art der GefängFOLTER FREI


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nisführung durch die Armee – das habe unweigerlich zur Misshandlung von Häftlingen geführt: „Wir hatten keine Vorbereitung, kein Training, gar nichts. Ich habe immer wieder meine Vorgesetzten nach Regeln und Bestimmungen gefragt und die gab’s einfach nicht.“ Der Beschuldigte schien für die Aufgaben in Abu Ghraib besonders gut geeignet zu sein. Im Zivilberuf war er zuvor Erzieher in einem Gefängnis in Virgina. Der dortige Direktor bezeichnete Frederick gegenüber CBS als „einer der Besten“. Frederick berichtet weiter, dass verschiedene amerikanische Organisationen ins Gefängnis Abu Ghraib gekommen seien: „Wir hatten den militärischen Geheimdienst, alle staatlichen Dienste wie FBI und CIA. Solche, die ich vorher nicht gekannt oder beachtet habe.“ Auch aus den Briefen und Emails, die Frederick nach Hause schickte, ließen sich die Probleme im Gefängnis erkennen. Er schrieb unter anderem, dass er den Vernehmungsbeamten geholfen habe: „Der militärische Geheimdienst hat sie ermutigt und lobte uns für den ‚guten Job’. Normalerweise erlauben die anderen nicht, bei Verhören dabei zu sein. Aber weil sie mochten, wie ich das Gefängnis führte, machten sie eine Ausnahme.“ 60 Minutes II belegt auch, dass der beschuldigte Frederick “Erfolgsmeldungen” nach Hause geschickt hatte, die Misshandlungen offenbaren: „Wir haben ihnen (Anmerkung des Autors: dem militärischen Geheimdienst) geholfen, sie (Anmerkung des Autors: die irakischen Gefangenen) zum Sprechen zu bringen. Wir hatten eine hohe Erfolgsquote mit unserer Art sie zu behandeln. Wir haben sie normalerweise in wenigen Stunden gebrochen.“ Die Untersuchungen der US-Armee kamen schließlich zu dem Ergebnis, dass genau das passiert ist, was Fredrick zuvor bereits in seinen Briefen und Emails in die Heimat berichtet hatte. Vernehmungsbeamte hatten Reservisten der Armee in Abu Ghraib aufgefordert, die irakischen Gefangenen phyFOLTER FREI


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sisch und mental auf die Verhöre vorzubereiten. Dan Rather fragt in seinem Bericht weiter, ob und wie man die Vernehmungsbeamten zur Rechenschaft ziehen würde. Dazu kommt von Brigadegeneral Kimmit eine ausweichende Antwort: „Ich hoffe, dass sich die Untersuchungen nicht nur auf diejenigen beziehen, die die Straftaten zugegeben haben, sondern auch auf einige der Leute, die sie zu den Straftaten ermutigt haben.“ Bei Ausstrahlung des Beitrags am 28. April 2004 war noch keine Untersuchung gegen beteiligte Vernehmungsbeamte eingeleitet worden. Tatsächlich waren ein Teil dieser Leute zivile Mitarbeiter und unterstanden nicht den militärischen Gesetzen. Einer der Vernehmungsbeamten wurde von der Armee verhört. Er berichtete, dass er während der Verhöre einige Male Tische zerbrochen habe, um den Gefangenen Angst zu machen. Dabei habe er allerdings niemanden verletzt. In dem Telefonat mit CBS wird der beschuldigte Soldat Frederick auch gefragt, ob er gesehen habe, dass Gefangene geschlagen wurden: „Ich habe solche Sachen gesehen. Wir mussten manchmal Gewalt anwenden, um die Insassen dazu zu bringen, nach unseren Regeln mit uns zu kooperieren. Wir lernten etwas arabisch, Grundkommandos und wenn sie nicht zuhören wollten, haben wir ihnen einen kleinen Stups oder so etwas verpasst, um zu erreichen, dass sie mit uns zusammenarbeiten und wir unseren Auftrag erfüllen konnten.“ 60 Minutes II befragt auch Fredricks Anwalt Gary Myers. Der geht davon aus, dass sein Mandant niemals angeklagt werden dürfte, weil dessen Vorgesetzte ihn nicht korrekt ausgebildet und auf den Einsatz im irakischen Gefängnis vorbereitet hätten: „So kommt es, dass gute Jungs manchmal Dinge aus Hilfsbereitschaft für Leute tun, die sie als wichtig ansehen.“ Frederick sagt bei seinem Telefonat mit CBS, dass er erst die Genfer Konvention zur Behandlung von Kriegsgefangenen zu Gesicht bekommen habe, als FOLTER FREI


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er wegen Abu Ghraib angeklagt wurde. Die Untersuchungskommission der Armee bestätigte gegenüber „60 Minutes II“, dass die in Abu Ghraib eingesetzten Soldaten nicht zu den Regeln der Genfer Konvention ausgebildet worden seien. Zudem seien die meisten Reservisten, die im Gegensatz zu regulären Einheiten nie in der korrekten Behandlung von Kriegsgefangenen ausgebildet worden waren. Frederick berichtet weiter, dass die Zahl der Soldaten im Gefängnis im Vergleich zur Anzahl der Insassen viel zu gering gewesen sei: „Da waren als ich aus Abu Ghraib wegging über 900. Und es gab nur fünf Soldaten plus zwei Unteroffiziere für 900 Insassen.“ Reporter Rather fragt General Kimmit auch nach der Unterbesetzung in Abu Ghraib. Kimmits Reaktion: „Das begründet keine strafbaren Handlungen von Einzelnen, ganz gleich wie ermüdet wir sind. Ganz gleich wie gestresst wir sind, das gibt uns kein Recht das Gesetz zu brechen. Das kann nur ein begleitender Faktor gewesen sein. Unterm Strich ist es wahrscheinlich die Führung, Kontrolle und Vorgabe von Standards auf Grundlage der Werte der Armee und das Verständnis dafür, was richtig ist, was fehlte.“ In dem CBS-Beitrag wird weiterhin darauf hingewiesen, dass die Brigadegeneralin Janice Karpinski Abu Ghraib und drei weitere Gefängnisse mit Tausenden irakischen Insassen für die US-Armee geleitet hatte. Die Untersuchung der Armee ergab, dass ihre mangelnde Führung und die versäumte Vorgabe von klaren Standards zu den Problemen geführt haben. Im Oktober 2003, lange bevor die Misshandlungen in Abu Ghraib öffentlich bekannt wurden, hatte Karpinski gegenüber dem 60 Minutes Mitarbeiter Steve Kroft noch erklärt: „Das sind internationale Standards. Es ist die bestmögliche Versorgung in einer Gefängniseinrichtung.“ Die Untersuchungen der Armee ergaben jedoch, dass es hinter den Gefängnismauern tatsächlich große Probleme gab. Die Armee hat Fotos, die einen FOLTER FREI


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Gefangenen zeigen, an dessen Genitalien Kabel angeschlossen sind. Ein weiteres zeigt einen Hund, der einen irakischen Häftling attackiert. Reservist Frederick erklärt gegenüber CBS, dass die Hunde zur „Einschüchterung von Gefangenen“ benutzt wurden. Im Untersuchungsbericht der US-Armee ist nach CBS-Angaben auch die Aussage eines irakischen Häftlings enthalten, der einen Übersetzer im Gefängnis beschuldigt, einen männlichen jugendlichen Gefangenen vergewaltigt zu haben: „Sie deckten alle Türen ab. Ich hörte die Schreie... und ein weiblicher Soldat nahm Bilder auf.“ 60 Minutes II zeigt das Bild eines Mannes, der tot zu sein scheint – und fürchterlich geschlagen wurde. „Es ist verwerflich, dass irgendjemand in dieser Situation ein Bild macht“, sagt dazu General Kimmit im Interview. „Und was ist mit der Situation an sich?“ fragt Dan Rather nach. Kimmits Antwort: „Ich kenne die Fakten und Umstände nicht, die zu den Druckstellen und Blutungen geführt haben. Wenn das auch die Verantwortung von Soldaten ist, so ist das völlig unakzeptabel und vollständig außerhalb von dem, was wir von unseren Soldaten und den Wachen im Gefängnis erwarten.“ Rather will von dem General weiterhin wissen, ob es Anzeichen dafür gibt, dass es auch in anderen Gefängnissen zu ähnlichen Übergriffen gekommen ist. Kimmit bestätigt solche Befürchtungen: „Ich würde gern hier sitzen und sagen, dass dieses der einzige Fall von Missbrauch in Gefängnissen war, aber wir wissen, dass es auch noch weitere gegeben hat, seitdem wir hier im Irak sind.“ Der CBS-Mann schildert dann die Eindrücke von den Dreharbeiten am Gefängnis in der Nähe von Bagdad: „Als Saddam das Abu Ghraib Gefängnis betrieb, waren die Iraker zu verängstigt dort hinzukommen und nach ihren Familienangehörigen zu fragen. Als 60 Minutes II im letzten Monat dort war, FOLTER FREI


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hatten sich Hunderte vor dem Tor versammelt, weil sie besorgt waren, was dort drinnen passiert.“ Schließlich kommt in dem Beitrag auch amerikanischer Patriotismus durch. Der erfahrene Fernsehmann Rather weiß, wie man einen großen Teil der Zuschauer emotional erreicht. Er lässt deswegen den früheren MarineOberst Bill Cowan noch einmal zu Wort kommen: „Wir werden für das bezahlen müssen. Diese Menschen werden irgendwann entlassen. Dann werden ihre Familien und ihre Freunde davon erfahren.“ Rather wusste, dass es keine einfache Sache sein würde, diesen Beitrag im Fernsehen zu einem Zeitpunkt zu senden, an dem Amerikaner immer noch im Irak kämpfen und sterben. Für Cowan war es auch eine persönliche Sache. Sein Sohn diente seinerzeit schon vier Monate lang als Infanteriesoldat im Irak. Rather wollte wissen, was Cowan jemandem sagen würde, der im Wohnzimmer sitzt und jetzt meint: „Ich wünschte, die würden das nicht bringen. Das untergräbt nur das Ansehen unserer Truppen und die sollten das nicht tun.“ „Wenn wir darüber nicht berichten, werden solche Dinge immer weiter gehen. Und wir werden am Ende 100 oder 1000fach dafür bezahlen müssen“, antwortet der Ex-Offizier und ergänzt, jetzt ganz patriotisch: „Amerikaner wollen stolz sein auf alles, was unsere Soldaten im Irak machen. Wir wollen stolz sein. Wir wissen, dass die dort hart arbeiten. Keiner von uns darf solche Vorfälle einfach geschehen lassen; nicht vor, während und auch nicht nach dem Konflikt.“ Kimmit sagt, dass er das, was in Abu Ghraib passiert ist, nicht einfach durchgehen lasse. Dan Rather fragt den General schließlich noch, was denn das wichtigste gewesen sei, was die Amerikaner über das Geschehene wissen sollten. Seine Antwort: „Ich glaube, es sind zwei Dinge. Erstens – das ist eine kleine Minderheit in unserem Militär und zweitens – dass das nicht die FOLTER FREI


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Armee ist. Die Armee ist eine Organisation, die auf Werten basiert. Wir leben für unsere Werte. Jeden Tag sterben einige Soldaten für unsere Werte. Die Dinge, die Sie auf den Bildern gesehen haben, mögen die Handlungen von Individuen zeigen, aber bei Gott zeigen sie nicht meine Armee.“ Zum Schluss informiert Dan Rather die Zuschauer, dass die Ausstrahlung des Beitrags um zwei Wochen verschoben wurde. 60 Minutes II kam damit der dringenden Bitte des US-Verteidigungsministeriums und schließlich von Generalstabschef General Richard Myers nach, die Sendung aus Rücksicht auf Spannungen und Gefahren für amerikanische Soldaten im Irak zu verschieben. Als schließlich Fotos aus Abu Ghraib anderswo auftauchten und mehrere Journalisten damit begannen, ihre eigenen Versionen über Abu Ghraib zu veröffentlichen, stimmte das US-Verteidigungsministerium einer Zusammenarbeit für die Ausstrahlung am 28. April 2004 zu. Das Pentagon49 und CBS gaben damit das Kommando „Folter frei“ für die Medien weltweit. Abu Ghraib wird zur „Headline News“ international genauso wie zum „Aufmacher“ in Deutschland. Und – Dan Rather hat als 73-Jähriger vermutlich die wichtigste Story in seiner langen und erfolgreichen Karriere abgeliefert – er zeigte die Hölle im Irak.

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55 6. US-Medien: „Extrem sensible Inhalte“ Eine Zusammenstellung und Analyse wichtiger Medienberichte in den USA nach Ausstrahlung des CBS-Beitrags „Abuse in Abu Ghraib“ mit Recherchen von Tatiana Böhne. „Die US-Presse ignoriert die Folter-Fotos“, meldete am 30. April 2004 Julian Borger, Washingtoner Korrespondent der britischen Tageszeitung The Guardian50, seiner Redaktion in London. Das war durchaus zutreffend, zumindest in den ersten Tagen nach der Ausstrahlung des CBS-Beitrags. Konservative Medien wie Fox News51 mit dem Hardliner Bill O‘Reilly52 als Aushängeschild beschworen, die amerikanischen Truppen im Irak nicht moralisch zu schwächen, indem an der Heimatfront die Verfehlungen einzelner zu sehr aufgebauscht werden. ABC53, neben NBC54 und CBS die dritte große Fernsehkette in den Vereinigten Staaten, brachte am 30. April 2004 abends fast so etwas wie ein „Kontrastprogramm zu Abu Ghraib“. In der renommierten Nachrichtensendung Nightline verlas Moderator Ted Koppel55 die Namen aller bis dahin im Irakkrieg und in der anschließenden Besatzungszeit umgekommenen US Soldaten. Die Leser der renommierten Washington Post56 mussten nahezu zwei Tage warten, bevor sie am 30. April 2004 einen Artikel über Abu Ghraib in ihrem Blatt fanden. Fast versteckt – auf Seite 24 – war ein Beitrag mit dem Titel „Behauptungen über Missbrauch führen zur Reorganisation irakischer Gefängnisse“ zu lesen. Von investigativem Journalismus, der die Hauptstadtzeitung spätestens seit Enthüllung der Watergate Affäre57 berühmt gemacht hatte, konnte in dem Artikel allerdings nicht die Rede sein. Der Bericht enthielt weder die Ergebnisse eigener Recherchen, noch besonders kritische Anmerkungen zu den Vorgängen im Irak.

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Das übernahm zunächst der New Yorker58, in dem zwei Tage nach dem CBS-Bericht am 30. April 2004 der Beitrag „Torture in Abu Ghraib“ erschien und die Emotionen in den USA deutlich anheizte. Das wöchentlich erscheinende liberale Magazin liegt mit einer Auflage von knapp einer Million Exemplaren zwar nur auf Platz 93 unter den 100 größten amerikanischen Publikumszeitschriften59, die publizistische Bedeutung ist jedoch weitaus höher. Ein Grund dafür ist der Washingtoner Korrespondent des Blattes, Seymour M. Hersh60. Der brachte es schon in den 60er und 70er Jahren zu journalistischer Anerkennung auch deshalb, weil er über Verbrechen von USTruppen im Vietnamkrieg schonungslos offen berichtet hatte. Hersh hatte unter anderem das brutale Massaker von My Lai61 im Detail geschildert. Damals – 1968 – das vietnamesische Dorf ohne jeglichen militärischen Grund niedergemetzelt worden. Hunderte Frauen, Kinder und Greise kamen seinerzeit ums Leben. Der inzwischen weit über sechzigjährige Hersh macht überhaupt kein Geheimnis daraus, dass er entschiedener Gegner der Bush-Administration ist. Im Irak-Konflikt hatte er schon für Zündstoff gesorgt, indem er im Frühjahr 2004 öffentlich gemacht hatte, dass US-Vizepräsident Dick Cheney62 und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Berichte des Geheimdienstes so manipulieren ließen, dass der Krieg gegen den Irak im Jahr zuvor gerechtfertigt erschien. Hersh hatte im Frühjahr 2004 parallel zu den Redakteuren von 60 Minutes II für seinen Beitrag über Abu Ghraib recherchiert. Er wusste, dass CBS ebenfalls „an der Sache dran ist“, wie er später dem ZDF-Reporter Uwe Kröger63 verriet. Im Gegensatz zu den Fernsehleuten wurde Hersh vom USVerteidigungsministerium allerdings nicht bedrängt, die Veröffentlichung der brisanten Informationen und Bilder zu verschieben oder gar ganz zu unterlassen. Den Grund sieht der Washingtoner Korrespondent in seinem „Nichtverhältnis“ zu den regierenden Republikanern: „Ich habe ohnehin keinen Zugang zu diesen Leuten. Die reden nicht mit mir“, sagte er im ZDF. FOLTER FREI


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Hersh zitierte in seinem Artikel ausführlich aus dem 53-seitigen Report der US-Armee, der Ende Februar 2004 von Generalmajor Antonio M. Taguba erstellt worden war – aber niemals veröffentlicht werden sollte. Der Korrespondent des New Yorker erhielt das brisante Papier nach eigenen Angaben von Leuten aus der Regierung, aus Geheimdienst und dem Militär, die daran interessiert gewesen seien, dass solche Dinge nicht länger verschwiegen werden dürften. Was Hersh zunächst nicht hatte, war Bildmaterial, das die in dem Untersuchungsbericht gemachten Angaben hätte belegen können. Zwar verfügte zumindest die Führung der US-Armee im Irak seit spätestens Anfang Februar 2004 über Fotos und Videos, die Folterungen und Demütigungen von Gefangenen in Abu Ghraib zeigen, jedoch wurde das Material zunächst nicht dem offiziellen Untersuchungsbericht beigefügt. Wegen der „extrem sensiblen Inhalte“, so zitiert Hersh den untersuchenden General Taguba. Aufgrund dieses Berichts hatte der Oberbefehlshaber der Streitkräfte im Irak, General Ricardo S. Sanchez im März 2004 General Janis Karpinski vom Armeedienst suspendieren lassen. Der einzige weibliche General in der Golfregion war für die von den USA nach Kriegsende 2003 eingerichteten Militärgefängnisse im Irak seit Mitte 2003 verantwortlich. Im Dezember 2003 hatte sie noch in einem Interview mit der Regionalzeitung The St. Petersburg Times (Florida) behauptet, dass die Lebensumstände für die Iraker in den Gefängnissen unter amerikanischer Führung besser seien, als zu Hause bei deren Familien. Der Zeitungsbericht gipfelte in der Aussage Karpinskis, dass es den irakischen Gefangenen so gut erginge, dass sie vermutlich gar nicht mehr die Gefängnisse verlassen wollten. Während die Generalin an der amerikanischen „Heimatfront“ solche Aussagen machte, ereigneten sich in Abu Ghraib und anderen Gefängnissen jedoch Übergriffe des amerikanischen Wachpersonals in einer ungeahnten Brutalität verbunden mit menschenverachtenden Perversitäten. In dem von Hersh im New Yorker zitierten Untersuchungsbericht der Armee heißt es, FOLTER FREI


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dass es von Oktober bis Dezember 2003 „zu zahlreichen Fällen von sadistischen und offensichtlichen und lüsternen strafbaren Missbräuchen“ gekommen sei. Während CBS 60 Minutes II in dem zwei Tage zuvor ausgestrahlten Beitrag noch weitgehend von Einzeltätern aus den Reihen des US-Militärs ausgegangen war, fand Hersh in dem Untersuchungsbericht der Armee durchaus Anhaltspunkte dafür, dass die Übergriffe schon fast so etwas wie Routine gewesen seien. Zumindest hätten sich die direkt an der Folter beteiligten Soldaten keine Mühe gegeben, ihre Taten vor Kameraden aus anderen Einheiten zu verbergen. Zur Untermauerung dieser Feststellung zitierte Hersh die Aussage eines Militärpolizisten im Verfahren gegen den wegen Misshandlung von Häftlingen angeklagten Staff Sergeant Frederick. Matthew Wisdom, so der Name des Augenzeugen, berichtete dem Militärgericht von einem Vorfall, nachdem er sieben Gefangene auf der so genannten „harten Seite“ von Abu Ghraib abgeliefert hatte. Die Iraker waren beschuldigt worden, einen Aufstand in der Haftanstalt angezettelt zu haben. Wisdom: „Specialist Snider schnappte meinen Häftling und warf ihn auf einen Stapel. Ich sah Staff Sergeant Frederick, Sergeant Davis und Specialist Graner wie sie um den Stapel von Menschen herumgingen und Gefangene schlugen. Ich erinnere mich, dass ein Häftling Schläge von der Seite in die Rippen bekam. Von dem Häftling ging keine Gefahr für Staff Sergeant Frederick aus. Danach bin ich gegangen...“ Wisdom kam später zurück. Was er dann beobachtete, sagte er ebenfalls vor dem Militärgericht aus: „Ich sah zwei nackte Häftlinge, einer masturbierte, der andere hatte seinen Mund offen... Ich sah Staff Sergeant Frederick auf mich zukommen und er sagte: ‚Schau Dir an, was diese Tiere tun, wenn man sie nur für zwei Sekunden allein lässt.’ Ich hörte die Militärpolizistin England schreien: ‚Er wird hart!’“

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Der Militärpolizist sagte auch aus, dass er seine Vorgesetzten unterrichtet habe und davon ausgegangen sei, dass man sich um die Sache kümmern werde. Tatsächlich – das ergaben die Recherchen von Hersh – hat sich im Herbst 2003 offensichtlich niemand in der US-Armee ernsthafte Gedanken darüber gemacht, ob die Gefangenen in Abu Ghraib und in den anderen US-verwalteten Gefängnissen im Irak entsprechend der Genfer Konvention64 behandelt werden. Tatsächlich kam der “Folterskandal” nur heraus, weil den Militärpolizisten Joseph M. Darby, der nicht an den Übergriffen beteiligt war, das schlechte Gewissen plagte. Der hatte von Specialist Charles A. Graner eine CD-ROM mit Aufnahmen von nackten Häftlingen erhalten; fühlte sich schlecht dabei, als er die Bilder betrachtete und beschloss nach dem ersten anonymen Hinweis, auch eine offizielle Aussage zu machen. Der erste Kontakt, der schließlich die Aufdeckung der Verbrechen einleitete, lief am 13. Januar 2004 über den Spezialagenten Scott Bobeck von der für die Untersuchung von Kriminalfällen in der Armee zuständigen Abteilung. Darby hatte dem Agenten zunächst anonym einen Zettel unter der Tür durchgeschoben, sich dann aber doch zu einer offiziellen Aussage durchringen können. Ein weiteres Argument dafür, dass die Bewacher in Abu Ghraib nicht nur mit Duldung sondern auf Befehl höherer Stellen in der Armee handelten, lieferte Gary Myers, der Verteidiger des beschuldigten Sergeants Frederick. Gegenüber Seymour M. Hersh vom New Yorker führte er an, dass es nicht nachvollziehbar sei, dass einige „Kids aus Virginia“ die Übergriffe allein angezettelt hätten: „Die wissen doch gar nicht, dass man Araber dadurch erniedrigt und zum Sprechen bringt, indem man sie nackt herumlaufen lässt.“ Ergänzend zu den Informationen, die CBS zuvor schon verbreitet hatte, erfuhren die Leser in dem Hersh-Artikel erstmals auch Einzelheiten über die Herkunft der Häftlinge, die die US-Armee in Abu Ghraib und weiteren VerFOLTER FREI


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liesen gefangen hielt. Hersh berichtete, dass es drei Kategorien von Gefangenen gegeben habe: Die gewöhnlichen Kriminellen, Leute, die bei Straßenkontrollen und Durchsuchungsaktionen des Militärs eher zufällig festgenommen wurden und eine kleine Anzahl offensichtlich militanter Gegner der Besatzungsmächte. Seymour M. Hersh ist ein investigativer Journalist mit großer Erfahrung, was die Umsetzung von Themen und vor allem den dramaturgischen Aufbau exklusiver Storys auch über mehrere Ausgaben hinweg angeht. Das mag auch im Fall Abu Ghraib so gewesen sein. Längst nicht alle Informationen, die dem Washingtoner Korrespondenten des New Yorker für seinen ersten – am 30. April 2004 verbreiteten – Artikel über den Folterskandal zur Verfügung standen, veröffentlichte er auch zu diesem Zeitpunkt. Hersh legte eine Woche später nach, als er unter der Headline „Chain of Command“ – was soviel wie „Befehlskette“ bedeutet – die Fehler des US-Verteidigungsministeriums aufs Korn nahm. Akribisch wies Hersh, gestützt auch auf Hinweise von Informanten aus der Armee und den Geheimdiensten, nach, dass das US-Verteidigungsministerium und der Generalstab zu lange versucht hatten, die schlimmen Ereignisse in Abu Ghraib zunächst zu vertuschen und später herunterzuspielen. Aber es waren nicht nur Fehler und Schlamperei, die Hersh in seinem zweiten Artikel über Abu Ghraib der amerikanischen Führung vorwarf – er bezichtigte sie der Mittäterschaft. Hersh schilderte in diesem zweiten Beitrag, dass im Spätsommer 2003 ausgerechnet der Kommandeur des berüchtigten Gefangenenlagers Guantánamo Bay auf Kuba, Generalmajor Geoffrey Miller, beauftragt wurde, die von den Besatzern kontrollierten Gefängnisse im Irak neu zu organisieren. Die Empfehlung, die der umstrittene General aussprach, interpretiert Hersh als das Fundament für die späteren Übergriffe der Wachen in Abu Ghraib und anderswo. Die wichtigste Funktion von Militärgefängnissen sei es, dass in FOLTER FREI


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Verhören notwendige Informationen erlangt würden. Miller empfahl deshalb dringend, dass die als Gefängniswachen abgestellten Soldaten die Häftlinge auf Verhöre vorbereiten sollten. Der damalige Oberbefehlshaber der US-Truppen im Irak, General Sanchez, stimmte diesen Vorschlägen zu und veranlasste per förmlichem Befehl, dass ab November 2003 der militärische Geheimdienst die Kontrolle über die Militärgefängnisse im Irak erhielt. In seinem Bericht aus dem Februar 2004 kritisierte der mit der Untersuchung der Foltervorwürfe beauftragte General Taguba im Nachhinein diese Maßnahme: „Guantánamo unterscheidet sich erheblich von den Häftlingen und Internierten in Abu Ghraib und anderen Gefangenenlagern im Irak. In Abu Ghraib gibt es eine große Anzahl irakischer Krimineller, die nicht verdächtigt werden, internationale Terroristen oder Mitglieder der Al Qaida zu sein.“ Schließlich wies Hersh in seinem Artikel noch darauf hin, dass im März 2004 – noch vor Veröffentlichung der Folterbilder – Guantánamo-Chef Miller von Verteidigungsminister Rumsfeld zum Leiter aller Militärgefängnisse im Irak ernannt worden war. Der Mann, der zumindest für die organisatorischen Voraussetzungen verantwortlich war, die zu den unmenschlichen Übergriffen führten, sollte nun alles besser machen. Anfang Mai 2004 gab sich der umstrittene Generalmajor auf einer Pressekonferenz äußerst optimistisch: „Glauben Sie uns, wir haben das geändert!“ Neben CBS hatte der New Yorker besonders investigativ über Abu Ghraib berichtet. Natürlich bemühten sich auch andere US-Medien um exklusive Aussagen von Folterern und deren Opfer, bislang nicht veröffentlichtem Bildmaterial aus dem irakischen Kerker oder Hintergrundinformationen aus der Bush-Administration. The New York Times veröffentlichte am 5. Mai 2004 in einem Artikel von Ian Fisher die erschütternde Aussage eines ehemaligen Abu Ghraib Häftlings. Der 34jährige Hayder Sabbar Abd, ein früherer irakischer Soldat, berichtete, dass er sechs Monate lang von den AmeriFOLTER FREI


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kanern in dem berüchtigten Gefängnis bei Bagdad festgehalten wurde, ohne jemals verhört oder gar wegen eines Verbrechens angeklagt worden zu sein. Nach Angaben der New York Times war Abd einer der sieben Häftlinge, die auf den zuerst von CBS veröffentlichten Folterbildern zu sehen waren. Die Misshandlungen seien Bestrafung für Prügeleien unter Gefangenen gewesen, berichtete der Ex-Häftling. Zunächst wurden den sieben Männern Kapuzen übergestülpt. „Sie schlugen unsere Köpfe gegen Wände und Türen“, sagte Abd. Dabei wurde ihm der Kiefer gebrochen. Als die Männer sich nicht ausziehen wollten, wurde ihnen die Kleidung zerschnitten. In dem erschütternden Bericht beschrieb Abd auch, wie er gezwungen wurde, vor einer Soldatin zu masturbieren. „Ich sagte ihnen, dass ich das nicht tun könne, da schlugen sie mich, also nahm ich meinen Penis und tat so, als ob ich masturbiere.“ Als die Soldaten mit ihnen fertig waren, brachten sie die Betten aus den Zellen und schütteten kaltes Wasser auf den Boden. Die Kapuzen nahmen sie den Gefangenen nicht ab. „Ich war so müde, dass ich einschlief“, sagte Abd. „Wir dachten, wir werden hingerichtet.“ Zehn Tage lang haben nach Angaben des früheren irakischen Soldaten diese Misshandlungen angedauert; nach etwa vierstündiger Folter und Demütigungen in der Nacht, wurden die Männer regelmäßig in ihre überfluteten Zellen gestoßen und am nächsten Morgen sogar medizinisch versorgt. Anführer der perversen Wachtruppe sei der Specialist Charles A. Graner gewesen, den die Gefangenen „Joiner“ nannten. Bemerkenswert war an dem Beitrag aus der New York Times, dass die Aussagen des ehemaligen Häftlings im Hinblick auf die Gründe für die Anwendung der Folter von den Erkenntnissen aus dem Untersuchungsbericht der US-Armee abwichen. General Taguba war in seinem Report noch davon ausgegangen, dass die Gefangenen misshandelt worden seien, um entweder aus ihnen Aussagen herauszupressen oder sie zumindest für bevorstehende Verhöre einzuschüchtern. Die Aussage des irakischen Zeugen warf nun ein FOLTER FREI


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anderes Licht auf die Vorgänge in Abu Ghraib. Zumindest im Fall der sieben gequälten Gefangenen hatte man ganz offensichtlich nur nach Vorwänden gesucht, um drakonische Strafen zu verhängen und diese dann in Form von unglaublich perversen Spielen umzusetzen. Dennoch – die Medien blieben in ihren Berichten dabei, dass in Abu Ghraib nicht etwa aus „perverser Lust“, sondern „rational“ gefoltert wurde, um Aussagen zu erlangen. Nur – welche Aussagen erhofften sich die Besatzer von ihren Gefangenen? Hinweise auf den seinerzeit noch nicht gefassten Saddam Hussein? Die Namen von Anführern örtlicher Widerstandsgruppen gegen die Okkupanten? Oder war man gar immer noch auf der Suche nach Massenvernichtungswaffen, die ja schließlich Grund für den 2003er Krieg am Golf waren – bis heute jedoch nicht gefunden wurden? Antworten auf diese Fragen vermisste man – nicht nur – in den amerikanischen Medien. Wichtiger waren den Programmchefs und Blattmachern dagegen immer grausamere Details der Misshandlungen, die dann auch regelmäßig ausführlich dargestellt wurden. Die konservativen TV-Sender, allen voran Fox News, aber auch NBC, fanden ihren „amerikanischen Märtyrer“ in dem Geschäftsmann Nicholas Berg. Der 26-Jährige war am 11. Mai 2004 im Irak von seinen Geiselnehmern brutal – vor laufender Videokamera enthauptet worden. Die Mörder bezeichneten ihr Verbrechen als Vergeltungsaktion für die Übergriffe der Amerikaner in Abu Ghraib und anderswo. Tagelang brachten Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften in Amerika Interviews mit den trauernden Hinterbliebenen. In den Talksendungen der Radiostationen gingen Beileidsbekundungen aus dem ganzen Land ein. Doch der abscheuliche Mord an Nicholas Berg konnte die Taten der amerikanischen Besatzer im Irak nicht vergessen machen, zumal immer neue Details bekannt wurden. Die Washington Post veröffentlichte am 21. Mai 2004 neben den Aussagen von 13 Abu-Ghraib-Häftlingen auch weitere Fotos aus der Gefangenenhölle. Nach Angaben des Blattes lagen der Redaktion FOLTER FREI


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insgesamt rund 1.000 digitale Bilder und Videoclips aus Abu Ghraib vor, die als noch grausamer, brutaler und perverser geschildert wurden, als das bislang öffentlich verbreitete Material. Zwar erklärte die Redaktion, dass man die schlimmsten Darstellungen nicht abgedruckt bzw. im Internet nicht dargestellt habe, dennoch verschlug das, was schließlich in das Blatt und auf die Homepage gelangte, dem Betrachter den Atem. Neben Abbildungen waren auf der Internetseite der Zeitung auch Videoclips zu sehen, die die perversen Wachsoldaten von Abu Ghraib unter anderem dabei zeigten, wie sie wehrlose Gefangene zu menschlichen Pyramiden aufschichteten. Die Washington Post zitierte Häftlingsaussagen, die aus dem Januar 2004 stammten, kurz nachdem der Militärpolizist Joseph M. Darby die Ermittlungen in Gang gesetzt hatte. Nach übereinstimmenden Angaben der Zeugen hatten die Übergriffe im Fastenmonat Ramadan65 stattgefunden, der im Jahr 2003 am 27. Oktober begann und 30 Tage dauerte. Sie schilderten, dass sie wie Tiere geritten und von Soldatinnen sexuell unsittlich berührt worden waren. Man hatte sie gezwungen, ihre Nahrung aus Toiletten herauszuholen. Heftige Prügel und sexuelle Demütigungen seien in Abu Ghraib die Regel gewesen. Als besonders verwerflich bezeichneten die Muslime, dass sie von ihren Bewachern gezwungen wurden, Schweinefleisch zu essen und Alkohol zu trinken. Geschichten in den Medien brauchen Personen und Gesichter, damit sie für den Leser, Hörer oder Seher glaubhaft und nachvollziehbar werden. Diese – häufig unfreiwilligen „Hauptdarsteller“ – journalistischer Storys sind entweder Helden oder Buhmänner, eine Position in der Mitte darzustellen, erscheint dagegen wenig attraktiv. Plötzlich werden Menschen zu Berühmtheiten, weil sie am falschen Ort waren, das Falsche taten oder sich wie Lynndie England bei der Ausübung von Verbrechen auch noch fotograFOLTER FREI


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fieren ließen. Die 21-Jährige aus dem Provinzkaff Fort Ashby in West Virgina ist längst weltberühmt geworden, weil sie mit ihrem rundlichen dunklen Bubikopf auf Bildern deutlich zu erkennen ist, die in Abu Ghraib im Spätherbst 2003 entstanden. Unvorstellbar erschien, dass die Tochter eines Eisenbahners aus einem nicht mal 1.500 Einwohner zählenden Nest irgendwo in der Mitte Amerikas als Bestie auf digitalen Fotos in perversen Szenarien erschien. Mit ihrem Freund – und Vater ihres ungeborenen Kindes – dem Feldwebel Charles A. Graner – posierte sie Arm in Arm mit hoch gestreckten Daumen hinter einer Pyramide, aufgeschichtet aus unsagbar gedemütigten Menschenleibern. Ein Foto aus der Horrorserie wurde jedoch zum medialen Sinnbild für die Misshandlungen in Abu Ghraib: Lynndie England zerrt einen Gefangenen wie einen Hund an einer Leine über den steinigen Gefängnisflur. Schon am Tag nachdem die ersten Bilder aus Abu Ghraib verbreitet worden waren, machten sich amerikanische Reporter auf in Richtung Fort Ashby mit dem Auftrag „Homestorys“ zu produzieren. Fernsehstationen zeigten tagelang, wo Lynndie aufgewachsen war. Reporter sprachen mit Mutter Terrie, Schwester Jessica, mit Freunden und mit Wichtigtuern aus dem Dorf, die auch mal im Fernsehen auftreten – zumindest aber von irgend einer Zeitung oder Zeitschrift zitiert werden wollten. Fast alle bedauerten Lynndie, sie sei nicht wirklich schlecht und sie habe im Irak schließlich nur die Befehle ihrer Vorgesetzten ausgeführt. Doch die Stimmen der Dorfbewohner von Fort Ashby und selbst Stellungnahmen der Anwälte, die reichlich die Medien mit Hinweisen auf einen vermeintlichen Befehlsnotstand ihrer Mandantin bedienten, waren nichts wert im Vergleich zu einem Interview mit Lynndie England selbst. Fast zwei Wochen lang machten die großen Networks ABC, NBC und CBS, die Nachrichtenkanäle CNN und Fox, unzählige kleine Stationen und eine ganze Armada von schreibenden Journalisten regelrecht Jagd auf die der Folter beschuldigten Reservistin. Doch während die großen Sender noch recherFOLTER FREI


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chierten oder mit Englands Anwälten die Bedingungen für Interviews oder wenigstens einige Stellungnahmen zu den Vorwürfen aushandelten, kündigte die lokale Fernsehstation KCNC-TV in Denver am 11. Mai 2004 ein erstes Exklusiv-Interview mit dem neuen und viel umworbenen „Medienstar“ Lynndie England an. Der Reporter Brian Maass, eine lokale journalistische Größe, berichtete später dem Mediendienst Poynter Online, wie er zu dem Interview kam, hinter dem unzählige hochbezahlte und namhafte Berufskollegen seit Tagen vergeblich hinterhergejagt waren.66 Maass hatte Kontakt zu der in Denver niedergelassenen Anwältin Rose Mary Zapor, die zusammen mit weiteren Anwälten die Verteidigung von Lynndie England übernommen hatte. Er kannte die Verteidigerin aus einem einige Monate zurückliegenden Fall, in dem es – Ironie des Schicksals – um Misshandlungen in einem amerikanischen Gefängnis ging. Nur, seinerzeit war der Klient von Mary Zapor Opfer und nicht Täter. Der Reporter von KCNC hatte sich mit seiner Berichterstattung über den Fall offensichtlich ein so großes Vertrauen bei der Anwältin erworben, dass sie sich bei ihren Kollegen innerhalb des England-Verteidigerstabes nachhaltig für das Zustandekommen des Interviews einsetzte. Schließlich flog Maass am 11. Mai 2004 nach Ft. Bragg in North Carolina, wohin Lynndie England versetzt worden war, und verbrachte mit ihr vier Stunden, ging mit ihr Einkaufen, stoppte am Burger King, wo sie zwei Cheeseburger mit Bacon, Pommes Frites und Sprite orderte. Dann konnte er endlich mit der Aufzeichnung des Interviews beginnen. Zuvor war noch vereinbart worden, dass ein Anwalt während des Interviews anwesend war und England von der Beantwortung einzelner Fragen abhalten konnte, wenn sich ihre Auskünfte möglicherweise später strafrechtlich negativ gegen sie auswirken würden. Weitere inhaltliche Absprachen oder gar finanzielle Zusagen habe es nicht gegeben, versicherte Brian Maass. Nach Angaben des Reporters war das aufgezeichnete Material knapp eine Stunde lang. Noch am selben Abend wurden die ersten Auszüge in den 22:00 Uhr Nachrichten FOLTER FREI


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seines Heimatsenders in Colorados Hauptstadt Denver ausgestrahlt. Am nächsten Morgen folgte die nationale Verbreitung in der CBS Early Show und anschließend gingen die Bilder von der kaltschnäuzig wirkenden Lynndie England auch schon um die ganze Welt. Auszüge aus dem Interview veröffentlichte in Deutschland die Tageszeitung Die Welt am 14. Mai 200467: Maass: Wollten Sie auf diesen Fotos sein? England: Ich wollte eigentlich auf gar keinen Fotos sein. Maass: Wie kam es zu diesem Bild, auf dem sie einen nackten irakischen Häftling an der Leine haben? England: Man hat mich angewiesen, dort zu stehen, die Leine in den Händen. Dann wurde fotografiert. Maass: Und das, wo sie lachend auf einen nackten Iraker zeigen? England: Auch das wurde angeordnet: Daumen nach oben, lächeln. Und auch, hinter der Pyramide nackter Iraker zu stehen. Maass: Wer hat das angeordnet? England: Personen, die oberhalb von mir in der Befehlskette stehen. Maass: Was dachten Sie dabei? England: Ich fand das merkwürdig. Maass: Wissen Sie, warum diese Fotos gemacht wurden? England: Damit sollte psychologischer Druck auf die Gefangenen ausgeübt werden. Und das funktionierte. Ich meine für uns. Wir haben unseren Job erledigt, das bedeutet, wir haben das getan, was uns gesagt wurde, und das Ergebnis war das, was sie erreichen wollten. Sie schauten sich die Bilder an und sagten: ‚Das ist eine gute Taktik. Macht weiter so. So bekommen wir, was wir brauchen’. Maass: Warum wurden Sie dafür ausgesucht? FOLTER FREI


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England: Weil ich eine Frau bin. Man wollte anderen Häftlingen mit den Bildern drohen. In der arabischen Welt ist es erniedrigend für einen Mann, sich nackt vor einer Frau zeigen zu müssen. Besonders vor einer Amerikanerin. Maass: Sind noch schlimmere Dinge passiert als die auf den Fotos? England: Ja. Maass: Können Sie sagen, was? England: Nein. Maass: Warum hat es so lange gedauert, bis die Vorkommnisse publik wurden? England: Ich denke, das Militär wollte nicht, dass die Untersuchung öffentlich bekannt wird. Die Sache sollte schnell erledigt werden. Im Beitrag von Poynter Online sagte Maass, dass er in den sehr langen Vorgesprächen mit Lynndie England immer wieder versucht hatte, Namen von Vorgesetzten herauszubekommen, die in die Misshandlungen involviert gewesen waren oder solche Praktiken gar angeordnet hatten. Ähnlich wie vor der Kamera verwies die Reservistin immer wieder auf die Befehlskette. Allerdings ergänzte sie „off air“, dass es sich um Mitarbeiter des militärischen Geheimdienstes und ähnlicher staatlicher Organisationen wie CIA und FBI gehandelt habe. Sie habe die Gesichter zwar gekannt, die Namen jedoch niemals erfahren. Diese Darstellung von der durch Geheimdienstmitarbeiter angeordneten Brutalität erscheint im Fall England erneut dubios, wenn man weitere Aussagen der Beschuldigten heranzieht, die sie nur in den Vorgesprächen mit dem Fernsehjournalisten Maass – jedoch nicht in dem aufgezeichneten Interview selbst machte. Die von Präsident Bush als Teil vom „Bösen in unserer Mitte“ bezeichnete Reservistin sagte dem Reporter, dass sie überhaupt nicht in dem Gefängnisteil eingesetzt gewesen sei, wo die dokumentierten ÜberFOLTER FREI


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griffe geschahen. Sie sei lediglich abends nach ihrer Schicht gegen 22:00 Uhr in die Blöcke gegangen, um mit ihren Freunden zusammen zu sein, Filme zu sehen und einfach nur so „abzuhängen“. Mit anderen Worten – England vermittelte den Eindruck, dass Sie abends nach getaner Arbeit mangels anderer Freizeitmöglichkeiten in Abu Ghraib, 30 Kilometer westlich von Bagdad, irakische Häftlinge foltern half, sie erniedrigte und anschließend mit den Opfern vor den Kameras posierte. Es seien viele Kameras bei den Exzessen im Einsatz gewesen und viele Fotos wären noch gar nicht aufgetaucht, war sich die angeklagte Soldatin, zumindest am 11. Mai 2004, noch sicher. Später, Anfang August 2004, bei der Anhörung vor einem Militärausschuss in Fort Bragg, der über die Anklageerhebung zu befinden hatte, war die Darstellung von einem Ermittler, dass Lynndie England „aus Langeweile“ bei den Folterungen mitgewirkt habe, bestätigt worden. Es gab in Amerika durchaus auch vielfach Verständnis für die 21-jährige werdende Mutter, nicht nur in ihrem Heimatort Fort Ashby. Tenor mehrerer Medienberichte war, dass Lynndie England von Spezialist Charles A. Graner zu diesen schlimmen Dingen angestiftet worden war. Von Graner waren Fotos aufgetaucht und verbreitet worden, die ihn zumeist lachend oder gar triumphierend vor menschlichen Pyramiden aus geschundenen Körpern irakischer Häftlinge zeigten. So genannte „Homestorys“ wie von Lynndie England gab es von ihm nur wenige. Aus einem Beitrag, den CBS-News am 4. Mai ausstrahlte, war zu erfahren, dass Graner 35 Jahre alt ist, aus Uniontown in Pennsylvania stammt, von seiner Frau und den beiden Söhnen, 11 und 13 Jahre alt, getrennt lebt. Vor seinem Eintritt in die Armee im Frühjahr 2003 war er Aufseher im Staatsgefängnis von Greene County, ebenfalls in Pennsylvania.

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Die zweite Soldatin, die auf den Fotos aus Abu Ghraib zu erkennen war und wie Lynndie England unter anderem wegen der Teilnahme am Missbrauch von Häftlingen angeklagt wurde, ist Sabrina Harmann. Die Washington Post veröffentlichte Anfang Mai eine Art Homestory aus Alexandria im Bundesstaat Virginia, dem Heimatort der Reservistin. Hier ist die inzwischen 26-jährige aufgewachsen, offenbar unter starkem Einfluss ihres Vaters, der als Detektiv arbeitete und eigentlich schon immer Bilder mit brutalen Inhalten mit nach Hause brachte. Ihre Mutter Robin sagte der Washington Post, dass Sabrina die Bilder aus Abu Ghraib seit November 2003 gesammelt habe, um später dokumentieren zu können, was dort geschehen sei. In einem per Email geführten Interview mit einem Redakteur der Zeitung nannte die beschuldigte Militärpolizistin dieselben Gründe für die Misshandlungen, die auch von ihren Komplizen immer wieder angeführt wurden. Man habe sie angewiesen, die Gefangenen zu brechen: „Sie brachten uns einen oder mehrere Häftlinge gefesselt rein. Aufgabe der MPs (Militärpolizisten) war es dann, sie wach zu halten und ihnen die Hölle zu bereiten, damit sie aussagen.“ Sabrina, die vor ihrem Einsatz im Irak bei „Papa John’s Pizza“ als Assistentin des Geschäftsführers arbeitete, träume weiterhin davon, genau wie ihr Vater eines Tages Detektiv zu werden, erzählte Mutter Robin den Reportern und: „sie weiß noch nicht wie die Menschen wirklich sind, sie denkt, dass jeder gut ist.“ An dem Wettlauf um Exklusivinterviews mit Folterschergen, der Veröffentlichung weiterer, zumeist noch grausamerer Bilder und Videos aus den Verliesen der Besatzer hatten sich Medien aller Gattungen in den Vereinigten Staaten mit großem Einsatz beteiligt. Dem in erster Linie für Wirtschaftsund Finanzfragen kompetenten The Wall Street Journal68 kann man allerdings keine „Sensationsmache“ bei der Berichterstattung über Abu Ghraib vorhalten. Immerhin hatte das weltweit wohl bedeutendste Finanzblatt selbst FOLTER FREI


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schon einen Mitarbeiter durch einen brutalen Terrorakt verloren. Im Februar 2002 war der Journalist Daniel Pearl in Pakistan von fanatischen Islamisten vor laufender Kamera getötet worden. Am 10. Mai 2004 veröffentlichte The Wall Street Journal Auszüge aus einem internen Bericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK)69, der rund drei Monate zuvor erstellt – jedoch seinerzeit nicht veröffentlicht worden war. Sprecher der Organisation wiesen nach bekannt werden des Folterskandals darauf hin, dass es nicht die Aufgabe des IKRK sei, die Öffentlichkeit zu unterrichten, sondern die Situation von Kriegsgefangenen anhand der Bestimmungen der Genfer Konvention zu prüfen und die jeweiligen Kriegspartner auf Verstöße hinzuweisen. Warum sich Internationales- und auch Deutsches Rotes Kreuz nach dem CBS-Bericht plötzlich vehement in die Öffentlichkeit drängten, blieb indes unklar. Die erschreckenden Inhalte des IKRK-Berichts werden später noch Thema dieses Buches sein. Den Kapiteln 11 bis 13 sind eine Reihe von Hinweisen, Aussagen und Dokumenten zu entnehmen, die beweisen, dass es schon vor dem 28. April 2004 eine Vielzahl von Indizien auf Folter in Abu Ghraib gab – auch öffentlich. Aus dem Beitrag im Wall Street Journal wurde vor allem deutlich, dass nach Erkenntnissen des IKRK Ü die Misshandlungen durch die Besatzer schon während des Irak-Kriegs im März 2003 begannen und bis Ende November 2003 andauerten; Ü die Übergriffe längst nicht nur in Abu Ghraib stattfanden, sondern in allen vom IKRK besuchten Militärgefängnissen und Gefangenenlagern sowie in irakischen Polizeistationen; Ü zwischenschen 70% und 90% der Gefängnis- und Lagerinsassen zu Unrecht festgehalten wurden. FOLTER FREI


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Schließlich ging aus dem Bericht hervor, dass die Führungen der Koalitionstruppen keinesfalls ahnungslos waren. Sie wurden seit März 2003 immer wieder über die Missstände informiert. Im August 2003 ging ein Bericht sogar direkt an die höchsten Ebenen der alliierten Streitkräfte im Irak. „Wir haben es hier mit einem breit angelegten System zu tun und nicht mit individuellen Handlungen“, bestätigte denn auch IKRK-Direktor Pierre Krähenbühl im Wall Street Journal. Doch nichts änderte sich. Im Gegenteil – die Übergriffe sollten in den folgenden Monaten noch schlimmere Ausmaße annehmen, wie die inzwischen weltweit verbreiteten Digitalaufnahmen aus Abu Ghraib in schrecklicher Weise dokumentierten. Nicht zuletzt durch die Veröffentlichung von Auszügen aus dem Bericht des Roten Kreuzes im Wall Street Journal wurde in den amerikanischen Medien ab Mitte Mai 2004 die Möglichkeit, dass es sich bei den Folterern in Abu Ghraib um einzelne „bad Apples“ in einer sonst charakterlich untadeligen Truppe handelte, immer mehr an die Seite gedrängt. Es steckte wohl doch eine Art System hinter den Beleidigungen, Demütigungen, sexuellen Herabwürdigungen und brutalen Misshandlungen – so die zunehmend vorherrschende Meinung in unzähligen Berichten, Beiträgen, Talkshows und Interviews. Doch wer aus dem Generalstab der US-Armee oder gar aus der Bush-Administration hatte die Weisung zum Einsatz von Foltermethoden gegeben? Als „Favoriten“ wurden zumeist hinter vorgehaltener Hand General Ricardo Sanchez, Befehlshaber der US-Truppen im Irak, Donald Rumsfeld, der hemdsärmlige Verteidigungsminister und sein als Hardliner bekannter Stellvertreter Paul Wolfowitz gehandelt. Oder hatten Dick Cheney, der erfahrene und verschlagene Vizepräsident, oder gar George W. Bush höchstpersönlich ihre Einwilligung dazu gegeben, dass die einzige verbliebene Weltmacht ihre Gefangenen an Hundeleinen über Kerkerflure schleifen lässt? FOLTER FREI


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Zunächst geriet General Ricardo Sanchez in den dringenden Verdacht, nicht nur von den Folterungen in Abu Ghraib gewusst zu haben, sondern bei Misshandlungen auch selbst dabei gewesen zu sein. Die Washington Post bezog sich in ihrem am 23. Mai 2004 veröffentlichten Beitrag auf Informationen von Captain Robert Shuck, dem militärischen Verteidiger von Staff Sergeant Ivan Frederick, einem der sieben angeklagten Militärpolizisten. Dessen ehemaliger Kompaniechef Captain Donald Reese hatte bei einer militärischen Anhörung ausgesagt, er könne bezeugen, dass Sanchez bei Verhören und Missbrauch von Gefangenen in Abu Ghraib persönlich anwesend war. Captain Reese sei bereit gewesen, diese Aussage vor dem Militärgericht zu wiederholen, wenn man ihm im Gegenzug Straffreiheit zugesichert hätte, berichtete die Washington Post. Bei den folgenden Anhörungen durch die Militärjustiz berief sich Captain Reese auf sein Recht, die Aussage zu verweigern. Nach Darstellung des Militäranwalts wurde er inzwischen anderswo im Irak eingesetzt und ihm sei Immunität vor der Strafverfolgung im Zusammenhang mit den Ereignissen in Abu Ghraib zugesichert worden. Zudem wurde auch Janis Karpinski, die inzwischen suspendierte Brigadegeneralin, beschuldigt, bei Misshandlungen von Häftlingen persönlich anwesend gewesen zu sein. Der ehemalige Häftling Saddam Saleh Abud sagte im Juli 2004 vor einem amerikanischen Gericht aus, dass er Karpinski gesehen habe, als ihm die Kapuze während eines Verhörs abgenommen wurde. Auch Verteidigungsminister Rumsfeld hatte sich offensichtlich intensiv mit dem Thema Folter befasst, berichtete The Wall Street Journal in seiner Ausgabe vom 7. Juni 2004. Akribisch hatte Redakteur Jess Bravin vorliegende Dokumente und Erkenntnisse analysiert und die logischen Schlussfolgerungen daraus gezogen. Bravin wusste von einem Rechtsgutachten, das im Auftrag des Verteidigungsministeriums im März 2003 erstellt worden war. Danach war US-Präsident Bush nicht an internationale Gesetze und Verträge FOLTER FREI


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zum Verbot von Folter gebunden. Die Konsequenz wäre gewesen, dass diejenigen, die auf Weisung des mächtigsten Mannes der Welt foltern, künftig nicht mehr juristisch belangt hätten werden können. Die vom Pentagon beauftragten Zivil- und Militärjuristen hatten internationale Vereinbarungen gegen Folter mit US-Gesetzen verglichen und dargelegt, wie diese unter Hinweis auf die nationale Sicherheit zu umgehen sind. Nicht nachzuweisen war letztlich, ob Bush das Papier jemals gesehen - oder sogar selbst in Auftrag gegeben hatte. In jedem Fall war jedoch klar, dass das Thema Folter in hohen Regierungskreisen durchaus eine Rolle spielte und die Anwendung von Gewalt gegenüber Gefangenen zumindest teilweise wohl auch gebilligt wurde. 22. Juli 2004: Unter großer Anteilnahme der Medien wurde in Washington der offizielle Bericht der Untersuchungskommission zu den Terroranschlägen am 11. September 2004 vorgestellt. Der über 550 Seiten starke „9/11 Report“70 versuchte vor allem zu klären, was vor, während und nach der Kette der größten Terroranschläge, die jemals die Vereinigten Staaten erschütterten, schief gelaufen ist. Die Hauptschuld gaben die Ermittler den US-Geheimdiensten, die offensichtlich die Warnungen vor islamitischen Anschlägen zu leichtfertig behandelten, gewonnene Erkenntnisse falsch deuteten, wichtige Informationen schlicht verschluderten und vor allem eher gegeneinander als miteinander auf Terroristenjagd gegangen waren. Aber auch die Regierung Bush, Vorgänger Bill Clinton71, die US-Air force, die zivilen Fluggesellschaften, Flughafenverwaltungen, Polizei und Feuerwehren wurden in dem Bericht schonungslos kritisiert. Allerdings konnte die Kommission keine Hinweise auf eine Verwicklung des Iraks in die Anschläge vom 11. September feststellen. Weiter noch – auch die gesichteten Dokumente der US-Geheimdienste ergaben keine HinFOLTER FREI


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weise auf irgend eine Zusammenarbeit zwischen der Terrororganisation Al Qaida und deren Anführer bin Laden mit dem Regime des früheren irakischen Diktators Saddam Hussein. Zurück zum 22. Juli 2004 – da wurde in Washington ein zweiter Report veröffentlicht, allerdings fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Nicht zufällig, sondern mit voller Absicht, ließ Verteidigungsminister Rumsfeld am selben Tag an dem Medien und Politik auf den 9/11-Report fokussiert waren, den Abschlussbericht über Folter und Misshandlungen durch USBesatzungstruppen in Afghanistan und im Irak72 veröffentlichen, mutmaßte die Washington Post. Amerikas einflussreichste politische Publikationen, The New York Times und Washington Post waren sich in der Beurteilung des 300-seitigen Pamphlets nahezu einig: „An Army Whitewash“, sinngemäß „eine weiße Weste für die Armee“ schrieb die „Post“, während die „Times“ ein Übertünchen der Ereignisse von Abu Ghraib mit der Originalüberschrift „Abu Ghraib, Whitewashed“ registrierte. Beide Berichte waren ohne Autorenangabe, nicht besonders lang, wirkten weder kämpferisch noch besonders kritisch, wie sonst so oft, sondern eher resignierend angesichts der dürftigen Inhalte, die Verteidigungsministerium und Armeeführung nach monatelangen Untersuchungen präsentierten. Die Untersuchungskommission hatte ermittelt, dass einzelne Soldaten niederer Dienstränge für die Fälle von Misshandlungen verantwortlich gewesen seien, keinesfalls hohe Offiziere oder gar das System. „Wirklich kein Fehler im System?“, fragte die New York Times bitter, obwohl selbst der „weißgewaschene“ Bericht genügend Anhaltspunkte für systembedingte Fehler in der US-Armee hergab. Immerhin waren selbst der Untersuchungskommission 94 Fälle von Übergriffen gegen Kriegsgefangene bekannt geworden. Es gab mindestens 20 Todesfälle durch Gewalteinwirkung. Nur vier von 16 besuchten Gefängnissen verfügten über Exemplare der Genfer Konvention. In Abu FOLTER FREI


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Ghraib hausten Häftlinge zumeist in erbärmlichen Löchern, 50 Gefangene mussten sich eine Dusche teilen. Bitterböse – und nicht ironisch – wird in dem Artikel der New York Times schließlich noch vermerkt, dass die Inspektoren des Pentagons notiert hätten, dass die Gefangenen während der Kontrollbesuche in den irakischen Gefängnissen nicht misshandelt worden seien.

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Auswahl von Medienberichten ab 28.04.04 in den USA Datum

Medium

Inhalte

28.04.04

CBS TV-Network

TV-Network Beitrag „Abuse in Abu Ghraib“ im Magazin 60 Minutes II; erste Ausstrahlung der so genannten Folterbilder

30.04.04

New Yorker Zeitschrift

Beitrag „Torture in Abu Ghraib“ von Seymour M. Hersh mit ausführlichen Zitaten aus dem Untersuchungsbericht der US-Army

05.05.04

The New York Times Tageszeitung

Aussagen eines Häftlings aus Abu Ghraib über Misshandlungen, Erniedrigungen und allgemeine Haftbedingungen

10.05.04

Wall Street Journal Wirtschaftszeitung

Zitate aus dem im Februar 2004 erstellten Bericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) über die Haftbedingungen in irakischen Militärgefängnissen und Lagern

10.05.04

New Yorker Zeitschrift

Der Journalist Seymour M. Hersh deckt Fehler und Vertuschungsversuche der US-Regierung im Fall Abu Ghraib auf

11.05.04

KCNC-TV Denver/Colorado

Lokalreporter Brian Maass führt ein Exklusivinterview mit der beschuldigten Reservistin Lynndie England

23.05.04

Washington Post Tageszeitung

Der ehemalige Kompaniechef der Wachmannschaften in Abu Ghraib wirft dem Befehlshaber der US-Truppen im Irak, General Sanchez, vor, persönlich bei Misshandlungen von Häftlingen anwesend gewesen zu sein

07.06.04

Wall Street Journal Wirtschaftszeitung

Zitate aus einem Rechtsgutachten, das das USVerteidigungsministerium im März 2003 erstellen ließ; Fazit: Der US-Präsident kann Folter an Kriegsgefangenen erlauben

24.07.04

The New York Times Washington Post Tageszeitungen

Die politisch bedeutendsten US-Zeitungen bezeichnen den Bericht des Verteidigungsministeriums über untersuchte Misshandlungen im Irak und Afghanistan als „Whitewash“ FOLTER FREI



79 7. Britische Medien: „Wir wurden angeführt“ In wohl keinem anderen Land sind die Medien im Zusammenhang mit ihrer Irak-Berichterstattung selbst so heftig unter Beschuss geraten, wie in Großbritannien – das hat unter anderem Tatiana Böhne bei ihren Recherchen herausgefunden. Der 29. Mai 2003 gilt inzwischen als einer der schwärzesten Tage in der über 80-jährigen Geschichte der altehrwürdigen BBC73. An diesem Donnerstag sendete das vierte Hörfunkprogramm BBC 4 in seiner Morgensendung Today einen Beitrag des Reporters Andrew Gilligan, der eine breite journalistische Krise auslöste, den Rücktritt der BBC-Führungsspitze zur Folge hatte und schließlich die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt an den Rand ihrer Auflösung brachte. Gilligan hatte in dem Bericht die britische Regierung der Manipulation bezichtigt. Er warf ihr vor, Informationen über irakische Massenvernichtungswaffen bewusst aufgebauscht zu haben, um den Krieg und den Einsatz britischer Truppen zu rechtfertigen. Blairs damaliger Kommunikationsberater Alistair Campbell soll zudem wider besseren Wissens behauptet haben, dass Saddam Hussein innerhalb von 45 Minuten eine Rakete mit chemischen Kampfstoffen abschießen könne. Als Hauptquelle für den BBC-Bericht wurde später im Zuge von Ermittlungen der Bio-Waffenexperte David Kelly vom britischen Verteidigungsministerium öffentlich genannt. Der hatte zwischen April und Juni 2002 für das Ministerium an dem Massenvernichtungswaffen-Dossier gearbeitet, das von Gilligan im Radio zitiert worden war. Die BBC hatte mit der Verpflichtung des Reporters Andrew Gilligan zunächst das erreicht, was sich das Programmmanagement zuvor davon versprochen hatte. Man wollte mehr „scoops“ landen, mehr Aufmerksamkeit für die quotenmäßig dahin siechende Radiosendung erlangen. Tatsächlich löste der Reporter mit seinem Beitrag die schwerste Regierungskrise in der FOLTER FREI


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bis dahin sechs Jahre andauernden Amtszeit von Premierminister Tony Blair aus. Gleichzeitig geriet jedoch die BBC selbst wegen ihrer vielfach als einseitig kritisierten Irak-Kriegsberichtserstattung im Allgemeinen und wegen der zitierten Kelly-Dossiers im Besonderen in die öffentliche Schusslinie. Reporter Gilligan habe journalistisch unsauber gearbeitet, Behauptungen und Unterstellungen als Tatsachen „verkauft“, so lauteten die Vorwürfe selbst von liberalen Berufskollegen, die ähnlich wie die meisten BBC-Redakteure gegen den Waffengang am persischen Golf waren. Im Laufe der Untersuchungen räumte Gilligan schließlich selbst ein, Kelly einige Aussagen in den Mund gelegt zu haben. Nachdem der Waffenexperte Kelly am 15. und 17. Juli 2003 vor dem eingesetzten Untersuchungsausschuss ausgesagt hatte und tagelang von Reporterteams verfolgt worden war, nahm er sich am 18. Juli das Leben. In dem Abschlussbericht der Kommission unter Vorsitz von Richter Lord Brian Hutton, die die Todesumstände des Waffenexperten zu untersuchen hatte, wurde schließlich die Regierung Blair vom Vorwurf entlastet, die irakische Bedrohung im Jahr zuvor aufgebauscht zu haben. Gleichzeitig enthielt der am 28. Januar 2004 veröffentlichte Bericht schwere Vorwürfe gegen die Berichterstattung der BBC. Hutton nannte Gilligans Radiobeitrag völlig unhaltbar und warf der Anstalt vor, in ihrer Berichterstattung wichtige Fakten nicht überprüft und dieses Versäumnis später nicht eingestanden zu haben. Daraufhin entschuldigte sich die BBC offiziell bei Premier Blair; Generaldirektor Greg Dyke und der Vorsitzende des höchsten Aufsichtsgremiums der BBC, Gavyn Davies, traten zurück. Zwei Tage nach Vorlage des HuttonBerichts quittierte schließlich auch Reporter Andrew Gilligan seinen Dienst bei der BBC. „Meine Kündigung erfolgt aus eigenen Stücken“, sagte er am 30. Januar in der Financial Times74. Er beklagte sich darüber, dass die BBC kollektiv das Opfer einer großen Ungerechtigkeit geworden sei. Er habe sich zum Rücktritt entschlossen, um den Sender zu schützen. Zugleich übernehme er die Verantwortung für seinen Anteil an dieser Krise. FOLTER FREI


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Keine Frage, die Kelly-Affäre wurde zum Desaster für die „Mutter aller öffentlich-rechtlichen Rundfunksysteme“, wie die BBC wegen ihrer Vorbildfunktion beim Aufbau von Radio und Fernsehen in anderen Ländern häufig bezeichnet wurde. Auch die ARD-Anstalten in Deutschland waren nach dem Zweiten Weltkrieg dem öffentlich-rechtlichen Grundmuster der BBC folgend aufgebaut worden. Komplimente und Auszeichnungen hatte die BBC auch immer wieder für herausragende journalistische Leistungen erhalten. Umsichtige Recherchen, präzise Dokumentationen, exakte Informationen und die hohe Glaubwürdigkeit waren stets die Tugenden der Rundfunkanstalt. Das alles wurde nun plötzlich in Frage gestellt, auch in den eigenen Reihen. David Dimbleby, populärer Moderator und Redakteur politischer Fernsehsendungen, beklagte generell die „Verflachung der BBC-Programme“. Der Einschaltquote komme immer mehr Bedeutung zu, als der journalistischen Qualität. Auch der inzwischen abgelöste Ex-Leiter der Radiosendung Today, Rod Liddle, der selbst den Reporter Andrew Gilligan angeheuert hatte, ging auf Distanz zum ehemaligen Arbeitgeber, indem er der BBC öffentlich „Einseitigkeit in der Berichterstattung“ vorwarf. Während des Irak-Kriegs kritisierten sogar Kolumnisten liberaler Blätter wie The Guardian und The Observer75, dass bei der BBC immer stärker mit „liberalen Vorurteilen“ berichtet würde. Simon Jenkins, ehemaliger Chefredakteur von The Times76, selbst ein entschiedener Kritiker des Irak-Kriegs, nannte den Tenor der Berichterstattung der BBC „aggressiv kritisch“. Die geballte Kritik über die bisherige Irak-Berichterstattung wirkte sich zunächst offenbar lähmend auf die Darstellung des Folterskandals in den BBC-Programmen aus. Während der Sender sonst mit eigenen Recherchen und ergänzendem Hintergrundgrundmaterial auch bei internationalen Themen glänzt, beschränkte man sich in Sachen Abu Ghraib zunächst auf die Übernahme des Bildmaterials von CBS. Erste Radiomeldungen wurden am Vormittag des 29. April 2004 verbreitet, gegen Mittag folgten im Fernsehen FOLTER FREI


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dann Beiträge auf Basis der verkürzten Nachrichtenversion des 60 Minutes II-Beitrags mit Bildern von gefolterten Häftlingen und Statements von General Kimmett, dem Sprecher der US-Truppen im Irak. Es war nahe liegend, dass britische Journalisten nach bekannt werden der Übergriffe amerikanischer Soldaten im Irak sofort auch die eigenen Truppen kritisch beäugten. Immerhin hatte die ‚Armee Ihrer Majestät‘ rund 45.000 Soldaten in den Golfkrieg geschickt und vor allem nach Kriegsende bei Anschlägen von irakischen Extremisten zahlreiche Opfer zu beklagen gehabt. Zudem waren bereits im Mai und Juni 2003 britische Soldaten beschuldigt worden, Häftlinge misshandelt und erniedrigt zu haben. Durch die Folterungen war seinerzeit mindestens ein irakischer Gefangener ums Leben gekommen. Weitere Fälle von Gewalt durch britische Okkupanten im Südirak waren dann im Laufe des Jahres 2003 und im Februar 2004 bekannt geworden. Am 1. Mai 2004 hatte dann die britische Armee – und damit auch die Medien in Großbritannien – den „eigenen“ Folterskandal, ausgelöst vom Daily Mirror77. Das linksorientierte Londoner Boulevardblatt hatte im Jahr 2003 regelmäßig mit wütenden Schlagzeilen gegen den Irak-Krieg angeschrieben. Im April 2003 war der amerikanische „Irak-Veteran“ Peter Arnett, der im 91er Krieg vom Dach des Bagdader Al Rashid Hotels für CNN den US-Bombenhagel live kommentiert hatte, von der Zeitung eingestellt worden. Der berühmte Reporter stand damals zur Verfügung, weil er von seinen bisherigen Arbeitgebern, der US-Zeitschrift National Geographic und dem TV-Network NBC kurz zuvor gekündigt worden war. Arnett hatte im Frühjahr 2003 vor Kriegbeginn in einem Interview mit dem irakischen Fernsehen prophezeit, dass die amerikanischen Angriffspläne wegen des großen Widerstands der Iraker scheitern werden. Als er dann seinen Job beim Mirror antrat, schrieb das Blatt auf der Titelseite: „Von Amerika gefeuert, weil er die Wahrheit sagte ... vom Daily Mirror eingestellt, damit er sie weiterhin sagt.“ FOLTER FREI


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„Vile, but this time it’s an british soldier degrading an iraqi“ (Abscheulich, aber dieses Mal ist es ein britischer Soldat, der einen Iraker erniedrigt) stand in großen Lettern auf der Titelseite des Daily Mirror am 1. Mai 2004. Über die gesamte Fläche war das Bild eines Gefangenen auf dem Boden eines Armeefahrzeugs kauernd zu sehen, dessen Kopf verhüllt war und auf den ein britischer Soldat offenkundig herab urinierte. Im Inneren des Blattes wurden weitere brutale Fotos gezeigt: Britische Soldaten prügelten, traten und schlugen mit Gewehrkolben auf einen wehrlosen Häftling ein. Die dazu gehörende Story wirkte unter dem Eindruck der kurz zuvor veröffentlichten Schreckensbilder aus Abu Ghraib einleuchtend. Die Bilder seien der Redaktion von zwei besorgten Soldaten übergeben worden, die damit zeigen wollten, dass die Koalitionstruppen vor allem wegen ihres brutalen Vorgehens im Irak auf so heftigen Widerstand stoßen würden. Nach Angaben des Mirror waren die Schwarz-Weiß-Fotos im August 2003 aufgenommen worden. Die Bewohner der Ölstadt Basra stöhnten damals unter der Bruthitze, wegen Strommangels liefen die Ventilatoren nicht, das Wasser war knapp, die Kloaken stanken, der Zorn entlud sich in Demonstrationen gegen die Besatzer. Zu dieser Zeit war das Queen‘s Lancashire Regiment in Basra stationiert, bevor es nach dem Rotationsprinzip ausgetauscht und nach Zypern verlegt wurde. Zwei Soldaten erlebten mit, wie ein junger Iraker, als Dieb verdächtigt, gequält wurde. Der Gefangengenommene sei 18 bis 20 Jahre alt gewesen und acht Stunden lang von sechs britischen Soldaten gepeinigt worden. Mit Gewehrkolben und Knüppeln hätten sie ihm den Kiefer gebrochen und Zähne ausgeschlagen. Anschließend sei der Mann vom fahrenden LKW geworfen worden, ohne dass sich jemand darum gekümmert hätte, ob er noch am Leben ist. So die Darstellung im Daily Mirror. Die britischen Medien, einschließlich der BBC, übernahmen zunächst die Geschichte und die Bilder. Auch politisch zog die Geschichte bald weite Kreise. „Falls die Vorwürfe stimmen, sind die Täter nicht würdig, die UniFOLTER FREI


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form der Königin zu tragen“, wetterte Generalstabschef Mike Jackson noch am Abend vor der offiziellen Veröffentlichung, nachdem er einen Andruck der Zeitung erhalten hatte. Das Verteidigungsministerium kündigte sofort eine schnelle und strenge Untersuchung der Vorfälle an. Premierminister Tony Blair äußerte sich am 1. Mai im BBC-Fernsehen: „Lassen Sie mich es ganz klar sagen, dass, wenn diese Dinge wirklich geschehen sind, sie völlig unakzeptabel sind. Wir sind in den Irak gegangen, um solche Dinge abzuschaffen und nicht, um sie selbst zu tun.“ Doch es kamen bald Zweifel an der Echtheit der Fotos und der Wahrhaftigkeit der dazu gehörenden Geschichte auf. Während der Chefredakteur des Daily Mirror, Piers Morgan, auf Nachfragen von Berufskollegen noch stoisch antwortete „Wir haben die Fotos genauestens geprüft und sind davon überzeugt, dass sie echt sind“, hatte der BBC-Verteidigungsexperte Paul Adams längst Ungereimtheiten ausgemacht. Aus Militärkreisen hatte er erfahren, dass die im Mirror abgebildeten Waffen- und Militärfahrzeugtypen von den britischen Truppen im Irak überhaupt nicht eingesetzt wurden. Erfahrene Journalisten hatten zudem bemerkt, dass das T-Shirt des angeblich misshandelten Irakers blütenweiß war und auch nach vermeintlich stundenlangen Quälereien nicht einmal Schweißränder aufwies, obwohl zu dieser Zeit in Basra Temperaturen von annähernd 40 Grad Celsius geherrscht haben müssen. Layoutern in den Redaktionen war ohnehin schon die brillante Qualität der Digitalbilder aufgefallen, die auf professionelle Fotografen schließen ließ. Als der Daily Mirror von anderen Medien schon offen der Fälschung bezichtigt wurde, ließ Chefredakteur Piers Morgan sein Blatt noch an den folgenden Tagen mit Aufmachern wie „Wir haben die Wahrheit gesagt“ (Montag, 3. Mai 2004) erscheinen. Am Freitag, 7. Mai, stürzten sich dann fast alle britischen Tageszeitungen auf den Mirror. Konkurrent The Daily Express78 hatte keinen Zweifel mehr, das die Soldaten des Queen‘s Lancashire Regiments „falsch beschuldigt“ wurden. Marktführer Sun79 forderte FOLTER FREI


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gleich offen eine Entschuldigung der Mirror-Chefetage. Es sollte aber noch eine weitere Woche dauern, bevor der Daily Mirror einräumen musste, Fälschungen veröffentlicht zu haben. Am 14. Mai hatte Oberst David Black, der ehemalige Befehlshaber des Queen‘s Lancashire Regiments, aus dessen Reihen die Folterer nach Informationen des Mirror angeblich stammten, in einer spektakulären Pressekonferenz detailliert nachgewiesen, dass die Beschuldigungen zu Unrecht bestanden. Anhand von Uniformstücken, Fahrzeugen, Ausrüstungsgegenständen und Waffen hatte er demonstriert, dass die angeblichen Folterbilder nur gestellt sein konnten. Auch gab es stichhaltige Beweise dafür, dass die Aufnahmen gar nicht im irakischen Basra, sondern in der britischen Provinz Lancashire entstanden waren. Die Regierung in London hatte die Fotos von den angeblichen Misshandlungen bereits zuvor auf Grund von Untersuchungen der Militärpolizei als Fälschungen entlarvt. In Fernsehinterviews sagte Black, ein Militäroberst alter Schule, mit Blick auf Piers Morgan, es sei an der Zeit, „dass das Ego eines Chefredakteurs an dem Leben eines Soldaten gemessen wird“. Die gestellten Fotos hätten Soldaten im Irak in Gefahr gebracht und dienten als „Rekrutierungsplakate für die Terrororganisation Al Qaida“, schimpfte Oberst David Black vor der Presse. Noch am selben Tag wurde Piers Morgan als Chefredakteur des Daily Mirror von seiner Verlagschefin Sly Bailey gefeuert. Die Londoner Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), Gina Thomas, beschrieb in ihrem am 17. Mai 2004 veröffentlichten Beitrag Morgans Abgang so: „Nach einem zwei Minuten dauernden Gespräch mit Sly Bailey wurde Morgan kurzerhand von einem Sicherheitsbeamten aus dem Hochhaus in Canary Wharf abgeführt. Seine Jacke hing noch über dem Stuhl seines Büros im zweiundzwanzigsten Stock. Er durfte sie nicht holen.“80 In den folgenden Tagen war in englischen Zeitungen zu lesen, dass Morgan die fristlose Kündigung mit einer Abfindung von umgerechnet rund 2 1⁄2 Millionen Euro zumindest finanziell erträglich gemacht wurde. FOLTER FREI


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Am nächsten Tag, Samstag, 15. Mai 2004, erschien der Daily Mirror schon unter dem neuen Redaktionsleiter Des Kelly mit der Headline „Sorry...we were hoaxed“ – „Entschuldigung, wir wurden angeführt.“ In der Titelgeschichte hieß es weiter „die uns ausgehändigten Bilder über die Misshandlung irakischer Kriegsgefangener waren Fälschungen“ und „wir bedauern dem Ansehen der britischen Truppen im Irak geschadet zu haben und sichern eine vollständige Zusammenarbeit bei der Untersuchung des Betrugs zu“. Doch mit der Entschuldigung des Mirror und dem Rauswurf des Chefredakteurs ist die Sache längst noch nicht zu Ende. Die entscheidenden Fragen Ü Ü

wer denn die Zeitung „angeführt“ hatte? was mit Veröffentlichung der Fotos beabsichtigt wurde?

blieben bislang weitgehend unbeantwortet. Es gab zwar Spekulationen in britischen und internationalen Medien, aber eben keine überzeugenden Antworten. Redakteure, die über den Fall rätselten, hätten sich selbst besser einige der zur journalistischen Grundausbildung zählenden so genannten „W-Fragen“81 stellen sollen, bevor sie mit haarsträubenden Spekulationen an die Öffentlichkeit gingen. Dabei kommt zunächst der Frage Wann? eine herausragende Bedeutung zu. Wann sind die Bilder von der angeblichen Misshandlung des Irakers an den Daily Mirror gelangt? Vom ehemaligen Chefredakteur Morgan und von der Verlagsleitung gab es dazu bislang keine Auskünfte. Fest steht allerdings, dass die Folterfotos aller spätestens bis zum Mittag des 30. April beim Mirror vorgelegen haben müssen, schließlich wurden sie in der Ausgabe vom 1. Mai veröffentlicht und der Andruck lag schon am Vorabend unter anderem auch bei der BBC vor. Da Morgan später angab, Bilder und Angaben genauestens geprüft zu haben, ist sogar fest davon auszugehen, dass FOLTER FREI


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diese bei der Redaktion mindestens schon einen weiteren Tag vorher, also am Donnerstag, 29. April 2004, eingegangen sein müssen. Es ist auch kaum nachvollziehbar, dass ein erfahrener Blattmacher wie Morgan solch brisantes Material sofort nach Erhalt veröffentlichen lässt. Viel wahrscheinlicher ist indes, dass die Bilder schon Tage beim Mirror vorgelegen haben, bevor sie veröffentlicht wurden. Es kann durchaus sein, dass die CBS-Berichterstattung über Abu Ghraib den Chefredakteur zur Veröffentlichung der vermeintlichen Folterbilder erst ermutigt oder animiert hatte. Folglich wurden die aufwendigen Fälschungen zu einem Zeitpunkt produziert, als die CBS-Bilder aus Abu Ghraib in England noch nicht verbreitet – und deren Wirkungen bei weitem noch nicht einzuschätzen waren. Wie zuvor schon erwähnt, strahlte die BBC die ersten Meldungen über den 60 Minutes II-Beitrag erst am Mittag des 29. April aus. Das führt zum Ausschluss etwaiger „Trittbrettfahrer“ des CBS-Berichts bei der „Tätersuche“. Selbst wenn man unterstellt, dass die Mirror-Redaktion die Fälschungen selbst inszeniert hat, würde man an der „Wann-Frage“ scheitern, zumindest dann, wenn man den 60 Minutes II-Bericht als „Vorbild“ dieser Aktion ansehen würde. Wenn dagegen Ex-Chef Morgan mit einigen seiner Leute die Aktion von langer Hand vorbereitet hätte, um die (Anti-) Kriegs- und Besatzungsberichterstattung in seinem Blatt interessanter zu machen, wäre das späte Erscheinungsdatum ungewöhnlich. Immerhin waren nach einem Bericht des konkurrierenden Boulevardblatts Sun schon im Juni 2003, also 11 Monate zuvor, Foltervorwürfe gegen britische Soldaten im Irak laut geworden. Seitdem gab es immer wieder Berichte und auch Beweise für solche Übergriffe. Fazit: Die „Wann-Frage“ kann journalistisch nur sauber beantwortet werden, indem „Nachahmer“ bzw. „Trittbrettfahrer“ des CBS-Berichts, einschließlich der Mirror-Redaktion selbst, von der „Liste der Verdächtigen“ gestrichen werden. FOLTER FREI


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Wenn nun „Trittbrettfahrer“ des 60 Minutes II-Berichts und die Redaktion selbst als Initiatoren der Fälschungen ausscheiden, könnten zwei weitere „W-Fragen“ bei Annäherung an die tatsächlichen Hintermänner weiterhelfen: Wer hat dem Daily Mirror die Folterbilder zugespielt und was wurde mit der Veröffentlichung bezweckt? Owen Gibson, Chefreporter der renommierten englischen Tageszeitung The Guardian, hatte sich in einem am 18. Mai 2004 veröffentlichten Beitrag ausführlich diesen Fragen angenommen. Der erfahrene Journalist wollte herausgefunden haben, dass weder der gefeuerte Chefredakteur des Daily Mirror, Piers Morgan, noch sein Nachfolger Des Kelly die Identität der beiden angeblichen Soldaten kannten, die als Informanten aufgetreten und die Folterbilder der Redaktion überlassen hatten. Nach Gibsons Informationen kannten drei Mirror-Mitarbeiter die geheimnisvollen Informanten: Der Journalist Paul Byrne, der die Geschichte geschrieben hatte, Stephen White, der für Nordengland zuständige Regionalredakteur und Nachrichtenchef Connor Hanna. Trotz intensiven Befragungen durch Verlagschefin Sly Bailey rückten sie die Namen ihrer Informanten nicht heraus und beriefen sich dabei auf den Informantenschutz, über den die britische „Press Complaints Commission“ noch stärker wacht, als in Deutschland der vergleichbare Presserat über die Einhaltung der Regelungen des Pressekodex. Gibson – und andere britische Kommentatoren begrüßten das Verhalten ihrer Berufskollegen und wiesen dabei auch auf die erst zehn Monate zurückliegende Tragödie um den Waffenexperten David Kelley hin. Bei Beantwortung der „Wer-Frage“ sind grundsätzlich mehrere Varianten ins Kalkül zu ziehen. Militante Kriegsgegner in England oder islamitische Fundamentalisten könnten durchaus ein Interesse daran gehabt haben, durch Veröffentlichung von Folterbildern die Stimmung gegen die Besetzung des Iraks weiter anzuheizen. In britischen Medien wurde zudem viel darüber spekuliert, dass die Fälscher auch aus der eigenen Truppe kommen könnten, FOLTER FREI


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so genannte „Whistleblower“. Gemeint sind dabei Leute, die mit solchen „Aktionen“ auf schlimme Zustände in der Armee aufmerksam machen wollen. Die BBC meldete denn auch am 15. und 19. Mai, dass mehrere Soldaten vorläufig festgenommen wurden. Die weiteren Ermittlungen verliefen jedoch im Sande, die Verdächtigen mussten wieder freigelassen werden. Alle diese Gruppen von möglichen Verdächtigen mussten allerdings damit rechnen, dass der Schwindel rasch auffliegen würde und die britischen Truppen – trotz anderer nachgewiesener Vergehen im Irak – plötzlich wieder als „Saubermänner“ dagestanden hätten. Interesse an einem solchen Szenario könnten aber durchaus die britische Regierung und die ‚Streitkräfte ihrer Majestät der Königin‘ gehabt haben. Nachdem die Kriegsteilnahme auf der Insel ohnehin auf breite Ablehnung gestoßen war, sorgten Berichte von Übergriffen englischer Soldaten seit Juni 2003 zusätzlich für schlechte Stimmung an der „Heimatfront“. Es gab bereits eine Reihe Beweise dafür, dass britische Truppen im Irak gefoltert – und Häftlinge getötet hatten. Die Tageszeitung Economist meldete am 13. Mai 2004 unter Bezugnahme auf Berichte des Roten Kreuzes, dass bis zu diesem Zeitpunkt mindestens 37 Zivilisten im Irak durch englische Soldaten ums Leben gekommen seien. Die Londoner Regierung und die Militärführung einschließlich der Geheimdienste dürften auch einen entscheidenden zeitlichen Vorsprung vor möglichen „Trittbrettfahrern“ des CBS-Beitrags gehabt haben. Es ist davon auszugehen, dass die USA ihrem getreuesten Verbündeten im Irak spätestens Mitte April Kopien der Aufnahmen aus Abu Ghraib zukommen ließen. Zur Erinnerung: CBS hatte auf ausdrücklichen Wunsch des US-Verteidigungsministeriums die Erstsendung des Beitrags um zwei Wochen bis zum 28. April 2004 hinausgezögert. Das gab auch den Verantwortlichen in der britischen Regierung und in der Militärführung genügend Zeit, sich auf die Situation am Tag X – mit Veröffentlichung der Abu Ghraib Bilder – vorzubereiten. FOLTER FREI


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Die Mitteilung aus Washington muss in der britischen Regierung Hektik ausgelöst haben. Schließlich war die eigene Armee bislang wesentlich stärker mit Foltervorwürfen im Irak belastet worden, als das etwa siebenfach so große Truppenkontingent der Amerikaner. Es war zu erwarten, dass sich englische Journalisten sofort auf die Suche nach weiteren Verfehlungen in der eigenen Truppe begeben – und vermutlich auch fündig würden. Immerhin – am Sonntag, 2. Mai 2004, also nur einen Tag nach Veröffentlichung der vermeintlichen Folterszenen im Daily Mirror, zitierte der durch und durch als seriös angesehene Independent on Sunday82 Veteranen des Queen‘s Lancaster Regiments, aus dessen Reihen die Folterer von Basra stammen sollten. Sie erinnerten sich angewidert an die Prahlereien ihrer aktiven Kameraden, die sich mit derartigen Misshandlungen im Irak gebrüstet und ähnliche Fotos herumgereicht hätten. Die Veteranen wurden – im Gegensatz zu den Informanten des Daily Mirror – namentlich zitiert. Weitere Vermutungen legen nahe, dass die britische Regierung bzw. die Militärführung hinter den Fälschungen beim Mirror gestanden haben könnten: Englische Journalisten wurden zuerst aus Militärkreisen „unter der Hand“ darüber informiert, dass mit den Folterbildern etwas nicht stimmen könne. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Timing, mit dem diese „vertraulichen Informationen“ an die Redaktionen gingen. Zunächst wurde sichergestellt, dass neben dem Mirror möglichst alle wichtigen Medien an diesem Samstag, 1. Mai 2004, über den vermeintlichen Folterskandal berichten. Im Anschluss gab es dann erste Gerüchte aus Militärkreisen, die die Echtheit der Aufnahmen in Frage stellten. Es bleibt unlogisch, dass die Pressestellen des Verteidigungsministeriums und/oder der britischen Armee nicht sofort reagierten und die Öffentlichkeit umfassend über die gewonnenen Erkenntnisse unterrichteten. Die Militärs hatten Gelegenheit dazu, seitdem ihnen der Andruck des Daily Mirror vom 1. Mai 2004 am Abend zuvor, also FOLTER FREI


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am 30. April, vorgelegen hatte. In dieser brisanten Situation kann es unmöglich Tage gedauert haben, um falsche Uniformen, falsche Waffen oder falsche Militärlastwagen am falschen Platz zu identifizieren und dieses auch offiziell mitzuteilen. Die dem Daily Mirror untergeschobenen Folter-Fotos entsprachen zudem genau dem Klischee, dass auch die von CBS gezeigten Bilder aus Abu Ghraib vermittelten: Brutal prügelnde Besatzungssoldaten, die ihre abartigen Handlungen auch noch mit offenkundiger Lust zur Schau stellten. In Abu Ghraib mussten sich muslimische Häftlinge gegenseitig mit dem Mund vor feixenden Bewachern befriedigen – in Basra urinierte angeblich ein Soldat auf den Gefangenen vor ihm. Nur wer genügend Zeit hatte, die Abu Ghraib Bilder zu sichten und ein auf die britische Armee angepasstes Szenario zu entwickeln, kann für die Fälschung verantwortlich sein. Es ist durchaus denkbar, dass – wenn die britische Regierung tatsächlich Drahtzieherin gewesen sein sollte – die „operative Durchführung“ bei einem der englischen Geheimdienste lag. Zumindest ist die zufallsfreie Inszenierung ein deutliches Anzeichen für diese These. Was hätten nun Regierung und Militärführung erreicht, wenn sie tatsächlich hinter den Mirror-Fälschungen steckten. Die Frage nach Motiven und Ergebnissen der „Aktion“ lässt sich schnell beantworten: Ü Mit Enttarnung der Fälschung ist von tatsächlichen Übergriffen der Engländer im Irak abgelenkt worden. Ü Die Glaubwürdigkeit der Medien wurde nachhaltig untergraben. Bei weiteren Berichten über Verbrechen britischer Soldaten im Irak würden Zweifel aufkommen. Ü Journalisten und ganze Redaktionen wurden nachhaltig verunsichert und wie im Fall des Daily Mirror vollständig diskreditiert. FOLTER FREI


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Wie weit diese Verunsicherung unter den englischen Journalisten inzwischen gehen muss, zeigt allein die Tatsache, dass es bislang keinen Beitrag in den Inselmedien gab, die die Regierung Blair mit den Mirror-Fälschungen in Verbindung brachte. Für Owen Gibson, den Chefreporter des Guardian, sind die falschen Folterbilder, die der Daily Mirror am 1. Mai 2004 veröffentlichte, der schlimmste Medienskandal in Großbritannien seit 1983. Damals hatte die Sunday Times die angeblichen Hitler-Tagebücher veröffentlicht.

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Überblick: Falsche Folterbilder in Großbritannien Datum

Medium

Inhalte

29.04.04 vormittags

BBC und andere

Erste Meldungen und Berichte über Abu Ghraib in Großbritannien auf Basis des CBS-Materials

30.04.04

Daily Mirror

Verbreitung des Vorabdrucks mit angeblichen Foltermotiven

30.04.04 abends

BBC und andere

Vorabmeldung des Daily Mirror über Abdruck von Fotos folternder britischer Soldaten

01.05.04

Daily Mirror

Veröffentlichung angeblicher Foltermotive auf dem Titel und im Innenteil; weitere Medien übernehmen Bilder und Story

01.05.04

BBC

Premierminister Blair nennt das (vermeintliche) Vorgehen der Soldaten „völlig unakzeptabel“

02.05.04

Independent on Sunday Sonntagszeitung

Veteranen des Queen‘s Lancaster Regiments bestätigen, von vergleichbaren Folterbildern gewusst zu haben

03.05.04

Daily Mirror

Aufmacher: „Wir haben die Wahrheit gesagt“, nachdem Zweifel aufkamen

04.05.04

BBC und andere

Armeeminister Adam Ingram kündigt Untersuchung an: „Jeder Stein wird umgedreht“

10.05.04

BBC und andere

Premierminister Tony Blair entschuldigt sich im französischen Fernsehen pauschal für alle Über griffe britischer Truppen im Irak

13.05.04

BBC TV

Aussagen von britischen Offizieren: Folterbilder wurden nicht in Basra, sondern in Preston, Lancashire, aufgenommen

14.05.04

alle Medien

Pressekonferenz mit Colonel Black, Ex-Kommandant des Queen‘s Lancashire Regiments; präsentiert Beweise für Fälschung; Daily Mirror entschuldigt sich und entlässt Chefredakteur Pierce Morgan

15.05.05

Daily Mirror

Erscheint mit dem Aufmacher „Entschuldigung, wir sind angeführt worden“ FOLTER FREI



95 8. Arabische Medien: „Schlimmer als der Diktator“ Beispiele für die Berichterstattung im Nahen Osten haben unter anderem Manja Peschel und Claudia Kullick zusammengestellt. Falk Menzel beschäftigte sich mit den Medien im Irak. Abdel-Bari Atwan wurde 1950 in einem palästinensischen Flüchtlingslager in Gaza geboren. In Kairo studierte er Journalismus und seinen ersten Job als Reporter fand er bei einer Zeitung in Saudi Arabien. 1978 ging Atwan als Korrespondent nach London, wo er elf Jahre später sein eigenes Blatt gründete, weil er sich mit der saudi-arabischen Heimatredaktion wegen der ständigen Bevormundungen vollständig zerstritten hatte. Al-Quds al Arabi heißt das Blatt, was zu deutsch „Arabisches Jerusalem“ bedeutet. Atwan ist längst nicht der einzige, der in London eine arabischsprachige Zeitung verlegt. Rund 50 Blätter werden dort produziert, vorwiegend für Saudi Arabien und die kleinen und reichen Scheichtümer, die zu den Vereinigten Arabischen Emiraten gehören. London gilt inzwischen als „Hauptstadt der arabischen Medienwelt“. Doch Atwans Blatt unterscheidet sich von den meisten Mitbewerbern. Die Leser der zwischen 50.000 und 75.000 verkauften Exemplare leben überwiegend in Europa und den USA, nicht am Persischen Golf oder in Nord-afrika. In einigen arabischen Ländern gibt’s Al-Quds al Arabi entweder nur selten oder gar nicht zu kaufen. Grund sind die kritischen Berichte, häufig über Korruption oder Vetternwirtschaft, die den Zensoren aufstoßen und zum zeitweisen oder kompletten Verbot des Blattes führen. Bekannt ist auch, dass Atwan Kontakte zum weltweit meistgesuchtesten Terroristenführer Osama bin Laden hat. Kurz nach dem Aufruf zum „Heiligen Krieg gegen die USA“ hatte der Al-Quds-Herausgeber den zum Terroristen mutierten saudischen Milliardärssohn 1996 exklusiv in den Bergen Afghanistans interviewt. In der Wochenzeitung Die Zeit sagte Atwan später FOLTER FREI


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8. Arabische Medien: „Schlimmer als der Diktator“

über sein Treffen mit bin Laden, dass ihn „die Ruhe und die sanfte Sprache“ beeindruckt hätten und „er ist darüber verbittert, dass er nicht gegen die Sowjets gefallen ist“. 84 „Trotz aller Beteuerungen der Ausgewogenheit ist Al-Quds nicht so neutral, wie Atwan sie gern beschreibt“, stellte Zeit-Autor Hans Kundnani in einem 2001 veröffentlichten Beitrag über den arabischen Selfmade-Verleger fest. Grund ist die einseitige Berichterstattung gegen Israel. „In puncto Israel kann ich nicht neutral sein“, hatte Atwan sogar selbst wiederholt eingeräumt. Allerdings nimmt er auch die Palästinensische Führung in die Pflicht: „Ich will keinen palästinensischen Staat, wenn er nicht konsequent auf Menschenrechte gebaut wird.“ In seinem Bestreben, Demokratie und Selbstbestimmung aller arabischen Länder zu fördern, hatte Atwan stets auch gegen die Gewaltherrschaft des Saddam Hussein angeschrieben. Selbst westliche Berufskollegen, die sich dem irakischen Diktator publizistisch zu sehr näherten, nahm der Al-QudsHerausgeber öffentlich aufs Korn: „Als Peter Arnett für CNN Saddam Hussein interviewte, nannte niemand ihn einen Helfer des Diktators. Für mich gelten dieselben Regeln. Auch ich bin Journalist.“ Abdel-Bari Atwan ist ein gefragter Gesprächspartner, wenn westliche Medien möglichst unabhängige arabische Stimmen für ihre Berichte brauchen. Das war auch so, nachdem die Folterbilder aus Abu Ghraib Entsetzen und Wut vor allem in den arabischen Ländern ausgelöst hatten. Weltweit wurde Anfang Mai 2004 eine Aussage Atwans als erste „wichtige Reaktion aus der arabischen Welt“ zitiert: „Die Befreier sind schlimmer als der Diktator. Ich glaube, das war der letzte Schlag. Das wird den Amerikanern das Rückgrat brechen. Jetzt können sie es vergessen, die Herzen und die Sympathie der Iraker, der Araber, ja der ganzen moslemischen Welt zu gewinnen.“ Atwans Kommentar charakterisiert die Reaktionen in den arabischen FOLTER FREI


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Medien insgesamt. Fernsehsender zwischen Beirut im Libanon und Casablanca in Marokko sendeten tagelang und nahezu rund um die Uhr die Folterbilder aus Abu Ghraib. Zeitungen zitierten ehemalige Häftlinge aus den Kerkern der Besatzer und schrieben wütende Kommentare gegen die amerikanischen „Menschenschinder“. An der Spitze – zumindest der im Westen – zitierten arabischen Medien standen auch diesmal die Nachrichtenkanäle Al Arabia aus Dubai und vor allem Al Jazeera aus Qatar. Beide Stationen hatten schon während des Golfkriegs im Jahr zuvor den großen amerikanischen Nachrichtenkanälen wie CNN und Fox News international heftige Konkurrenz als Lieferanten von Nachrichtenbildern gemacht. Vor allem Al Jazeera bot seinerzeit den Fernsehstationen weltweit immer wieder exklusives Material aus dem Irak an, während die US-Kollegen vor allem Bilder ihrer bei der Army „eingebetteten“ Reporter produzierten. Auch diesmal setzte Al Jazeera vor allem auf die Macht der Bilder, nur dass diese jetzt von CBS aus den Vereinigten Staaten kamen und grausame Übergriffe gegen irakische Gefangene dokumentierten, dazu noch besonders obszöne Erniedrigungen, die sich offen gegen den islamischen Glauben richteten. Wie die Fernsehzuschauer in arabischen Ländern darauf reagierten, schilderte der Deutschland-Korrespondent von Al Jazeera, Aktham Suliman, später in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: „Man war also weniger überrascht als mehr schockiert, weil man hat ja nichts Positiveres erwartet von den Amerikanern. Aber doch wiederum nicht in dieser Form, das ist jetzt die eine Sache. Die andere ist dieser Selbsthass, Selbstenttäuschung vielleicht, man ist enttäuscht über sich selbst, dass man so was erleben musste, ohne was machen zu können. Vor allem die arabischen Bürger, also innerhalb aber auch außerhalb des Iraks. Sprich, viele haben dann die arabischen Herrscher beschuldigt, dass sie nichts tun, dass sie Schuld daran sind, dass so was stattfindet, ohne dass so was bestraft FOLTER FREI


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8. Arabische Medien: „Schlimmer als der Diktator“

wird, weil sie ihr eigenes Volk gar nicht schützen, weil sie auch in ihren eigenen Gefängnissen in den anderen Ländern außerhalb Iraks so was ähnliches haben, weil sie Angst vor Amerika haben. Also es ist schon eine Art Selbstpeitsche gewesen und hat auch die Gemüter sehr berührt, vor allem auch, weil die Bilder sexuelle Handlungen mehr oder weniger zeigen, sexuelle Erniedrigungen zeigen, die in der arabischen Welt so öffentlich normalerweise nicht gezeigt werden“.85 Und wie reagierten die Iraker selbst? Um diese Frage beantworten zu können, muss man zunächst wissen, wie sich die Iraker heute überhaupt informieren können: „Die Informationsfreiheit – im westlichen Sinne verstanden – im Irak ist mit Sicherheit nicht gegeben, aber im Laufe der vergangenen anderthalb Jahre hat sich auf dem Informationssektor einiges verbessert“, so kommentierte im Februar 2003, also noch zu Zeiten des Saddam-Regimes, HansChristoph von Sponeck86 in einem Beitrag für ZDF-Online die Mediensituation im Irak.87 Der ehemalige Koordinator der UN-Hilfsprogramme schilderte, dass das irakische Staatsfernsehen zwar weiterhin weitgehend auf Hussein eingestellt sei, aus dem Ausland importierte Sport- und Unterhaltungssendungen jedoch regelmäßig ausgestrahlt würden. Höhere Beamte, so wusste von Sponeck seinerzeit zu berichten, würden aufgrund ihrer allgemein guten Sprachkenntnisse häufiger auch mal BBC, die Deutsche Welle oder – ganz heimlich – den US-Propagandasender Voice of America88 abhören. Das einfache Volk, zumeist ausländischer Sprachen nicht mächtig, hörte höchstens mal in das auch auf arabisch sendende Radio Monte Carlo rein. In vier oder fünf Internetcafes konnte man für einen US-Dollar eine Stunde lang surfen; allerdings waren politisch unerwünschte Angebote von vornherein gekappt worden. Die Zeitungsverkäufer hatten ausschließlich fünf einheimische Blätter im Angebot. Das Bild hat sich seitdem gründlich geändert. „Die Presse ist eine der FOLTER FREI


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wenigen Branchen, die im Nachkriegsirak florieren“, schrieb die Nachrichtenagentur AP am 22. Juli 2004 zu Beginn eines Hintergrundbeitrags über die Situation der irakischen Medienlandschaft 15 Monate nach Ende des 2003er Golfkriegs. Inzwischen werden nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 140 und 200 Tageszeitungen angeboten. Manche haben Auflagen von nur einigen hundert Exemplaren, andere erreichen bis zu 25.000. Probleme gibt es für die Zeitungen im Irak der Nachkriegszeit allerdings genügend: Die hohe Kriminalität und Gewaltbereitschaft, der auch Journalisten ausgesetzt sind, Engpässe bei der Material- und Energieversorgung, fehlende Vertriebsstrukturen und Willkürakte der Besatzer, die angeblich auch schon mal ohne Angabe von Gründen eine Zeitung einfach dichtmachen. Zudem werden viele Blätter von ihren Sponsoren, radikalen politischen Gruppierungen oder islamitischen Organisationen, so stark dominiert, dass von freiem Journalismus kaum die Rede sein kann. „Die meisten Neugründungen sind Sprachrohr der Schiiten, der Kurden, der Kommunisten oder Exil-Iraker. Sie widmen sich ausschließlich den Aktivitäten der eigenen Partei oder Gruppe, propagieren die Parteilinie und versuchen, die Konkurrenz zu diffamieren“, schreibt AP in dem Bericht. Zudem werden Zeitungen, von den Besatzern selbst herausgegeben – und demzufolge auch inhaltlich vollständig kontrolliert. As Sabah und Sumer drucken vor allem Anweisungen der Militärs und der Zivilbehörden. Typische Beispiele sind Dekrete, die Aufwiegelung gegen die Besatzungstruppen verbieten. Aber auch bei den vermeintlich unabhängigen Blättern ist das journalistische Niveau eher niedrig, wofür Natalia Cieslik89, ZDF-Korrespondentin in Bagdad, eine nachvollziehbare Erklärung hat: „Das liegt daran, dass es hier nie wirklich unabhängige Reporter gab. Das war unter Saddam verboten, und woher sollte eine freie Presse so schnell kommen? Allerdings nehmen Iraker ihre Meinungsfreiheit sehr aktiv wahr, auch wenn dabei nicht die Art von Journalismus herauskommt, die wir schätzen.“

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100 8. Arabische Medien: „Schlimmer als der Diktator“ Die engagierte Journalistin hat ohnehin festgestellt, dass die ausländischen Satellitenprogramme längst zur wichtigsten Informationsquelle der Iraker geworden sind: „An vielen öffentlichen Plätzen wird ferngesehen, vor allem ‚Al Arabia’ und ‚Al Jazeera’. Zwar sind Satellitenschüsseln Luxus. Doch selbst in der Wüste sieht man manchmal eine Schüssel über einem Nomadenzelt angetrieben von Generatoren.“ Nach Erhebungen der damaligen irakischen Zivilverwaltung, verfügten gegen Ende des Jahres 2003 rund 41% der Iraker über Satellitenempfangsanlagen und sahen vor allem ausländische Programme. Das von den amerikanischen Besatzern installierte und mit großem finanziellen Aufwand betriebene Iraqi Media Network (IMN) erreicht die meisten Iraker. Zum IMN-Angebot gehört Al-Iraqiyah TV, das als einziges Fernsehprogramm im ganzen Land mit Antenne empfangen werden kann. Das Nachfolgeprogramm von Husseins Staatsfernsehen bringt heute eine Mixtur aus Mitteilungen der Koalitionstruppen, ägyptischen Seifenopern, arabischen Musikvideos, Fußballspielen und ausländische Filmen.90 Dafür erhalten die Besatzer keinesfalls großen Beifall, sondern ernten zunehmend Proteste. Immer wieder demonstrieren vor allem Schiiten öffentlich gegen das Programm, weil es religiös zu unsensibel sei. Gegen die im Irak beliebten – bei der US Regierung jedoch verpönten – Satellitenprogramme aus Qatar und Dubai platzierte die USA im Februar 2004 mit Al Hurra („Der Freie“) einen vermeintlichen Wettbewerber. Produziert wird das aus US-Steuern finanzierte Programm allerdings nicht im Irak oder einem anderen arabischen Land, sondern in Springfield in der Nähe von Washington.91 Mehrere amerikanische Zeitungen berichteten, dass für das Jahr 2004 allein 62 Millionen US-Dollar bewilligt wurden. Präsident George W. Bush wollte mit dem neuen Satellitenprogramm „die hasserfüllte Propaganda zerstreuen, die in der muslimischen Welt den Äther füllt“.

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8. Arabische Medien: „Schlimmer als der Diktator“ 101 Über die Foltervorwürfe in Abu Ghraib hatten auch Al Hurra und die Programme des Iraqi Media Network berichtet, ganz im Sinne der Besatzer mit erheblicher Verspätung und mit großer Rücksichtnahme – nicht auf die irakischen, sondern auf die amerikanischen Gefühle. In den arabischen Satellitenprogrammen wurden dagegen die Folterbilder aus Abu Ghraib rund um die Uhr gezeigt. Natalia Cieslik beobachtete die Reaktionen im Irak für das ZDF: „In den Cafés in Bagdad wächst der Hass auf die Befreier. Ein Passant sagt: ‚Sie sprechen immer von Terrorismus, aber wenn sie selbst so etwas tun, was glauben Sie, wie die andere Seite reagiert? Was würden Sie von mir erwarten, wenn ich einen US-Soldaten sehe und ich eine Waffe hätte, um ihn anzugreifen?’“92 Es scheint fast so, dass Bush schon beim Sendestart von Al Hurra am 14. Februar geahnt haben muss, dass er bald ein weiteres Propagandainstrument für den Nahen Osten brauchen sollte. Als der Präsident nach Veröffentlichung der Schreckensbilder gedrängt wurde, sich mit einer Entschuldigung an die Iraker zu wenden, gab er am 5. Mai 2004 seinem „Haussender“, als – vermeintlich – erstem arabischen Medium ein Interview zu Abu Ghraib. Ganze 13 Minuten, laut Protokoll des Weißen Hauses94 von 10:18 Uhr bis 10:31 Uhr, dauerte das Frage- und Antwortspiel und – brachte nichts Neues, vor allem nicht die erwartete Entschuldigung. Auch im anschließenden Interview mit dem gemäßigten Al Arabia, dem Satellitenkanal aus Dubai, verurteilte Bush zwar die Misshandlungen, entschuldigte sich jedoch nicht ausdrücklich dafür. Dies überließ er vorerst seiner Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice, die sich über Al Arabia an die Iraker wandte: „Es tut uns sehr Leid, was mit diesen Menschen geschehen ist.“ Dem wachsenden Druck – wohl auch aus den eigenen Reihen – musste Bush schließlich am 6. Mai 2004 nachgeben. Nach einem Treffen mit dem jordanischen König Abdullah II trat er im Weißen Haus vor die internationale Presse und sagte: „Es tut mir sehr Leid.“

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103 9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“ Ein Überblick über Medienreaktionen in Deutschland nach der Erstausstrahlung des CBS-Beitrags „Abuse in Abu Ghraib“ mit Recherchen von Mark Henning Diekneite. Während der Beitrag von Dan Rather am 28. April 2004 um acht Uhr abends amerikanischer Ostküstenzeit vom TV-Network CBS in der Magazinsendung 60 Minutes II erstmals ausgestrahlt wird, liegt Deutschland an diesem anbrechenden Donnerstag im Tiefschlaf. Auch die Korrespondenten der aktuellen deutschen Medien in Washington und New York scheinen zu dieser Zeit tief und fest zu pennen. Anders ist es wohl kaum zu erklären, dass am Morgen des 29. April in deutschen Radios und in den TV-Frühstückssendungen kein Hinweis auf Abu Ghraib zu hören oder zu sehen ist. Dabei hatte CBS am Tag zuvor in unzähligen Trailern die Ausstrahlung des Beitrags angekündigt. Aufmerksamen und verantwortungsbewussten Auslandskorrespondenten hätte der Bericht eigentlich nicht entgehen dürfen. Die meisten deutschen Radiohörer mussten sich auch an diesem Donnerstag anhören, was sie ohnehin jeden Morgen vorgedudelt bekommen: Fröhliche und immer gut gelaunte Moderatoren mit vermeintlich attraktiven Gewinnspielen („Das geheimnisvolle Geräusch“) und unentwegte Eigenwerbung der Sender wie „Wir spielen den besten Musikmix – das Beste von heute und die Hits der 80er und 90er“. Auch im Frühprogramm des mit großem journalistischen Aufwand betriebenen Deutschlandfunks, der stets mit seiner hohen Informationskompetenz wirbt, waren offensichtlich andere Themen wichtiger. In den „Informationen am Morgen“ ging es unter anderem um Mäkeleien der CDU-Opposition an „Hartz IV“ und Schulprobleme in BerlinWedding. Der Washingtoner Korrespondent des Senders, Siegfried Buschschlüter, beschäftigte sich mit einem Verfahren vor dem amerikanischen „Supreme Court“95. Zwei Häftlinge aus Guantánamo hatten wegen Menschenrechtsverletzungen die USA verklagt. FOLTER FREI


104 9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“ In den Frühsendungen des Fernsehens freute man sich einhellig auf die kurz bevorstehende EU-Erweiterung am 1. Mai 2004 und pöbelte kräftig gegen die deutsche Fußballnationalmannschaft, die am Abend zuvor 1:5 gegen Rumänien verloren hatte. Auch für die deutschen Frühstückfernsehmacher war zu diesem Zeitpunkt „Abu Ghraib“ noch ein Fremdwort. Es sollte bis zum Abend des 29. April 2004 dauern, bevor deutsche Medien über die unglaublichen Übergriffe amerikanischer Soldaten in dem Gefängnis bei Bagdad berichteten. Rund 19 Stunden brauchte die Deutsche Presse-Agentur (dpa), um den Inhalt des kurz nach zwei Uhr nachts (MEZ) an der amerikanischen Ostküste gesendeten CBS-Beitrags „Abuse in Abu Ghraib“ in deutsche Worte zu fassen. Um 21.04 Uhr meldete dpa schließlich: „US-Soldaten wegen Misshandlung irakischer Gefangener vor Gericht“ – und damit an sich keine wirkliche „News“. Von den Beschuldigungen gegen die US-Soldaten hatte die Nachrichtenagentur bereits rund sechs Wochen zuvor, nämlich am Nachmittag des 21. März berichtet. Dieser – aus Sicht der verantwortlichen dpa-Redakteure – offensichtlich geringe News-Wert, führte wohl dazu, dass die Meldung am 29. April mit der geringen Dringlichkeitsstufe 4, bei einer Skala zwischen 1 (hoch) und 6 (niedrig), über die „Ticker“[96] lief. Warum dpa so lange für die Erstellung und Aussendung benötigte, ist kaum nachvollziehbar, zumal die Meldung nur das wider gibt, was CBS bereits um 2 Uhr nachts berichtet hatte. Ergebnisse eigener Recherchen sind der dpa-Nachricht nicht zu entnehmen. Eine mögliche Erklärung für die Zurückhaltung der Nachrichtenagentur mit Hauptsitz in Hamburg mag das Desinteresse der dpa-Kundschaft, also der deutschen Medien, bis zu diesem Zeitpunkt gewesen sein. Später wird der stellvertretende Chefredakteur Thomas v. Mouillard auf unsere Anfrage hin mitteilen, dass erst nach Veröffentlichung der schockierenden Fotos “bei unseren Kunden das Interesse an dem Thema gewaltig anstieg“. FOLTER FREI


9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“ 105 „Folter frei“ gab im Fernsehen zuerst das ZDF. Im heute-journal um 21:00 Uhr lief eine knapp 90 Sekunden lange Kurzfassung des Beitrags von Dan Rather. CBS hatte das Nachrichtenstück97 international den Fernsehstationen angeboten. Neben einigen Folterbildern waren vor allem Auszüge aus den Aussagen von General Kimmit enthalten. Der Beitrag enthielt zwar die wichtigsten Rechercheergebnisse der 60 Minutes II-Redaktion. Im Gegensatz zum US-Original wirkte der deutsche Kommentar jedoch emotionslos abgelesen und war diesem bedeutenden Thema keinesfalls angemessen. Am selben Abend stieg auch die ARD auf das Thema Abu Ghraib ein. Moderator Ulrich Wickert präsentierte den Beitrag von Christiane Meier als Aufmacher der Tagesthemen um 22:30 Uhr. Die Mitarbeiterin des Washingtoner ARD-Büros hatte dem CBS-Material noch einige Archivbilder beigefügt. Die Zuschauer wurden am Ende des knapp 21⁄2 Minuten langen Berichts darüber informiert, dass das US-Verteidigungsministerium versucht hatte, die Ausstrahlung der Folterbilder zu verhindern aus Sorge vor gewalttätigen Reaktionen im Irak. Schleppend entwickelte sich die Berichterstattung in deutschen Tageszeitungen. Weil dpa und das Fernsehen am 29. April erst nach Redaktionsschluss der meisten Blätter über die Foltervorwürfe informiert hatten, waren in den Freitagsausgaben vom 30. April nahezu keine Berichte über Abu Ghraib zu finden. Wegen des Feiertags (1. Mai) erschienen die nächsten Zeitungen erst am Montag, 3. Mai 2004 und da taten sich die meisten Chefredakteure offensichtlich schwer, das ungenehme Thema als „Aufmacher“ auf die Titelseite zu nehmen. Höheren Stellenwert in Deutschlands Medien erhielt der Folterskandal erst, nachdem Der Spiegel an diesem Montag mit Abu Ghraib als Titelgeschichte erschien. Chefredakteur Stefan Aust erkannte nach dem CBSBericht offensichtlich Nachholbedarf für sein Magazin und schmiss die bisherige Titelplanung kurzfristig über den Haufen. Aus gutem Grund. FOLTER FREI


106 9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“ Am 19. April – also nur 10 Tage bevor in 60 Minutes II die schockierenden Bilder veröffentlicht wurden – war Der Spiegel mit dem Aufmacher „Die Falle Irak – Bushs Vietnam“ erschienen. Sehr ausführlich, wie es sich für Titelgeschichten in dem Hamburger Nachrichtenmagazin geziemt, wurde das Thema über 15 redaktionelle Seiten aufbereitet. Es ging um die Schwierigkeiten der US-Truppen am Golf, um die schlechter werdende Stimmung an der amerikanischen Heimatfront sowie um Opfer unter Besatzern und Besetzten im Irak. Schließlich wurden auch Parallelen zur letzten großen Kriegsschlappe der Weltmacht in Vietnam98 gezogen. Allerdings wurden in der journalistisch aufwendig aufbereiteten Titelgeschichte mit keinem Wort im Nachkriegsirak folternde US-Soldaten erwähnt. Stattdessen vermittelte die szenarische Darstellung von der Rückführung getöteter US-Soldaten das Bild von der erneut geprügelten Nation. „Sie kommen nach Hause. Nicht als strahlende Sieger ferner Schlachten, von begeisterten Landsleuten als Helden umjubelt, Konfetti-umweht. Sie kommen in aller Heimlichkeit, meist nachts, Fotografieren streng verboten. Sie kommen in Leichensäcken. Alle im Irak-Krieg gefallenen amerikanischen Soldaten müssen nach den Vorschriften der amerikanischen Streitkräfte zuerst in die Dover Air Force Base im US-Staat Delaware gebracht werden, nicht später als 48 Stunden nach ihrem Tod. Riesige C-5-Galaxy Transportflugzeuge spukken die Särge mit den menschlichen Überresten aus, mit Sternenbannern geschmückt. Kleinlaster transportieren sie über das weite Rollfeld hinüber zum nahen Leichenschauhaus. Dort spricht einer der sechs Priester des Luftwaffenstützpunkts ein kurzes Gebet, bevor die Identifizierung beginnt, dann das Herrichten für die letzte Reise zu den trauernden Familien.“99 Haben die Spiegel-Redakteure sorgfältig genug recherchiert? Haben Sie wirklich alle ihnen zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden InformaFOLTER FREI


9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“ 107 tionen in ihrem Aufmacher berücksichtigt? Wohl kaum. Fest steht zumindest, dass über Abu Ghraib und/oder über Übergriffe amerikanischer Besatzungssoldaten in der Spiegel-Ausgabe vom 19. April 2004 nichts zu finden ist. Aust hat später auf Anfrage des Ausbildungsprojekts „Folter frei“ mitgeteilt, dass es vor dem 28. April 2004 „keine konkreten Vorgänge“ gegeben habe. Oh doch, die gab es – auch beim Spiegel. Im eigenen Internet-Angebot Spiegel Online wurde bereits am 20. März 2004, um 18:55 Uhr die Meldung verbreitet: „Die US-Armee hat Anklage gegen sechs Militärpolizisten erhoben. Sie sollen irakische Häftlinge misshandelt haben“. In dem Bericht wird auch das „Gefangenenlager Abu Ghraib bei Bagdad“ genannt. Einen Tag später geht die Meldung auch bei dpa über die „Ticker“. Doch der Skandal wird von den deutschen Medien zunächst weitgehend ignoriert. Es mag sein, dass den erfahrenen und engagierten Blattmacher Stefan Aust auch ein gewisses schlechtes journalistisches Gewissen gepackt hat, als er – nach eigenen Angaben – am 30. April 2004 gegen neun Uhr morgens von Abu Ghraib erfuhr. Er muss in seiner Redaktion wohl mächtig „Dampf“ gemacht haben – anders wäre es kaum möglich gewesen, dass der Spiegel am darauf folgenden Montag (3. Mai 2004) bereits mit dem Aufmacher „Die Folterer von Bagdad erschien“. Für die Titelseite wählte das Nachrichtenmagazin das Bild, das auch Dan Rather in seinem Beitrag vier Tage zuvor bei CBS zuerst gezeigt hatte: ein Mann auf einer Kiste stehend, mit einer schwarzen Kapuze über dem Kopf und an den Händen mit Elektrokabeln verbunden. Der Spiegel setzte deutlich auf die Wirkung der schockierenden Bilder. Im Heftinneren sind vier weitere Fotos abgedruckt, die „sexuelle Nötigung und Erniedrigung durch die amerikanische Wachmannschaft“ (Bildunterschrift) belegen. Der sich über 14 Seiten erstreckende Bericht mit ergänzendem Hintergrund über Gewalt von US-Truppen in anderen Kriegsgebieten und die stärFOLTER FREI


108 9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“ ker werdende Rolle privater Einsatztruppen in Krisenregionen, beginnt mit dem bemerkenswerten Satz: „Genau das hätte nie geschehen dürfen: amerikanische Besatzer als Folterer im Irak.“ Und Der Spiegel sah sogar historische Parallelen: „Es gibt eine grausame Kontinuität des Gefängnisterrors, wann immer Eroberer die alten Machtinstrumente eines gestürzten Regimes für sich nutzen. Das war nicht anders, als die Sowjets das Nazi-Zuchthaus Bautzen übernahmen oder die Gotteskrieger des Ajatollah Chomeini das Foltergefängnis Evin, in dem die Geheimpolizei des Schahs gewütet hatte. Das waren totalitäre Systeme. Doch nun führten auch die Amerikaner das Monstergefängnis Abu Ghraib sofort seiner alten Bestimmung zu.“100 In der Spiegel-Titelgeschichte wurde frühzeitig die Dimension aufgezeigt, die die Übergriffe der Besatzer im Irak in den kommenden Wochen und Monaten erhalten sollte. Es ging nicht um die Verfehlungen einzelner Militärpolizisten, es ging um das Ansehen der führenden Weltmacht, die sich allzu häufig als Weltpolizei aufspielt. Diese Tragweite hatte man beim direkten Wettbewerber Focus damals offensichtlich noch nicht erkannt. Kein Wunder – Auslandsressortleiter Ulrich Schmidla hatte nach eigenen Angaben bis zum 28. April 2004 noch nie von den Foltervorwürfen gegen die US-Truppen im Irak gehört. Auch nach Veröffentlichung der ersten Schreckensbilder war das brisante Thema für das in München erscheinende Magazin offensichtlich so wenig bedeutsam, dass man in der folgenden Ausgabe, die genau wie Der Spiegel am 3. Mai erschien, keinen einzigen Satz über Abu Ghraib verlor. Vielmehr wurde auf dem Titel gewarnt: „Vorsicht, wütende Lehrer!“ und das Auslandsressort beschäftige sich im hinteren Teil des Heftes mit dem Herzog von York, landläufig als Prinz Andrew bekannt. Immerhin durfte eine Focus-Mitarbeiterin seine königliche Hoheit und Spross der britischen Queen, höchst persönlich interviewen. FOLTER FREI


9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“ 109 Die dritte große und bedeutende aktuelle Wochenzeitschrift Deutschlands, der stern, begann die Abu Ghraib-Berichterstattung am 6. Mai 2004 gleich mit Selbstvorwürfen: „Wir haben zu früh aufgegeben“, hieß es zu Beginn des Beitrags von Reporter Christoph Reuter in einer Mischung aus Trotz (wir vom stern hatten schon eine heiße Spur) und Resignation (und irgendwie haben wir sie doch nicht journalistisch genutzt).101 Und irgendwie hatte Chefredakteur Thomas Osterkorn102 die Bedeutung des Folterskandals wohl auch noch nicht richtig einordnen können. Im Editorial der Ausgabe 20/2004 ging er zumindest mit keinem Satz inhaltlich auf die schlimmen Vorfälle in Abu Ghraib ein. Vielmehr würdigte er den scheidenden Irak-Korrespondenten Reuter nebst Freundin, der seinen Posten in Bagdad nach rund 14 Monaten abgab: „Nun kehren sie zurück aus einer Welt, die oft so ganz anders ist als jene, mit der uns das Fernsehen vertraut macht.“ In seinem letzten Stück aus dem Irak hatte sich der abrückende Reporter neben den Selbstzweifeln inhaltlich vorwiegend auf das konzentriert, was CBS und die US-Zeitschrift New Yorker einige Tage zuvor ebenfalls schon berichtet hatten. Den ersten „Aufmacher“ zum Thema Abu Ghraib brachte der stern erst zwei Wochen später. Am 19. Mai erschien das Heft mit einem großen Bush-Portrait neben drei inzwischen hinlänglich bekannten Folterbildern und der Überschrift „George W. Bush: Moralisch bankrott“. Im Editorial der Ausgabe vermutete der zweite stern-Chefredakteur, Andreas Petzold,103 dass die „Unmenschlichkeiten vermutlich auf höheren Befehl“ geschahen.104 Der stern-Aufmacher markierte eine neue Dimension in der Berichterstattung. Es ging jetzt nicht mehr allein um die Verantwortung für die schlimmen Taten in Abu Ghraib und anderen Gefängnissen im Irak. Jetzt wurden immer mehr die Schattenseiten der Vereinigten Staaten aufgezeigt und an den Pranger gestellt. „Es steht mehr auf dem Spiel, als den Regierenden in Washington bewusst sein mag“, schreibt der stern in seiner verspäteten Titelgeschichte. Es gehe nicht nur um Ansehen, sondern auch Werte: „Der Respekt vor den USA, amerikanischer Kultur, amerikanischen Produkten FOLTER FREI


110 9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“ und amerikanischem way of life schwindet rapide.“ Ohnehin, so ist es in der stern-Titelgeschichte mit Hinweis auf eine Erhebung des Washingtoner Meinungsforschungsinstituts The PEW Research Center aus dem März 2004 weiter zu lesen, sei „das Ansehen der USA in Europa und in der arabischen Welt zu diesem Zeitpunkt bereits auf einen historischen Tiefstand gefallen“.105 Im selben Beitrag kommt auch der Republikaner Tom Cole, ein gemäßigter Abgeordneter aus Oklahoma zu Wort, der US-Verteidigungsminister Rumsfeld ins Gesicht gesagt haben soll: „Wir sollten uns nichts vormachen. Dies ist unser politisches PR-Pearl-Harbor.“106 Noch vernichtender fallen laut stern die Urteile unter den Demokraten aus: „In den nächsten 50 Jahren wird das Foto eines Amerikaners, der einen nackten Iraker an der Leine über den Boden zerrt, das Image der Vereinigten Staaten sein“, wird Senator Jack Reed aus dem Bundesstaat Rhode Island zitiert. Passend zu dieser Aussage stellte der stern in einem ergänzenden Beitrag der selben Ausgabe unter dem Titel „Wenn sich Menschen an der Macht berauschen“, die Bilder der inzwischen zur schrecklichen Berühmtheit gelangten Lynndie England sowei ein Motiv aus dem Vietnamkrieg direkt nebeneinander: Während die Wachsoldatin in Abu Ghraib einen Gefangenen an einer Hundeleine neben sich her schleift, zerren auf dem zweiten Bild aus dem Herbst 1967 US-Marinesoldaten einen gefangenen Vietkong zum Verhör. Die Berichterstattung war längst hoch gekocht. Immer mehr Details über die Übergriffe der Besatzer im Irak wurden bekannt. Immer grausamere Bilder und jetzt auch Videoszenen wurden veröffentlicht und auch im deutschen Fernsehen gezeigt. So auch am Abend des 22. Mai 2004. Sowohl in den SAT.1-Nachrichten, als auch in RTL-Aktuell sind Bilder zu sehen, die am Tag zuvor von der Washington Post vor allem im Internet veröffentlicht worden waren. Ein Gefangener im roten Overall von einem Hund attackiert und zu Tode verängstigt, war noch das harmloseste der gezeigten Motive aus einer Reihe unmenschlichster Perversionen. FOLTER FREI


9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“ 111 Berichtet wurde jetzt auch über Folterpraktiken in US-Haftanstalten. „In unseren Gefängnissen geschehen ähnliche Dinge wie in Abu Ghraib. Den Gefängnisleitern sind Brutalität und Erniedrigung nicht fremd. Und sie wissen, wie man sich der Verantwortung dafür entzieht“, sagte der amerikanische Anwalt und Menschenrechtler Antonio Ponvert im RTL-Nachtjournal vom 22. Mai 2004. Zur Untermauerung dieser Behauptung wurde der Fall des Lane McCotter auf Basis des von der US-Fernsehgesellschaft ABC recherchierten Materials dargestellt. Auch diesmal reagierten Massenmedien erst, als Bilder vorlagen. Die sichere Information, dass der geschasste Gefängnisdirektor McCotter aus Utah wenige Jahre später im Irak die Gefängnisse neu organisieren sollte, war schon länger bekannt. Bereits am 10. Mai berichtete die taz107 unter der Überschrift „Wie man den Krieg der Ideen verliert“ in einem ausführlichen Beitrag von Andrea Böhm über diesen weiteren Skandal: „Dass England und die anderen bestraft werden müssen, steht außer Zweifel. Aber für den Hergang der Ereignisse im Abu-Ghraib-Gefängnis ist weniger die Biografie der Lynndie England aufschlussreich als die von Lane McCotter, den die New York Times am Wochenende in einem Porträt vorstellte: McCotter trat 1997 als Leiter des Strafvollzugs im Bundesstaat Utah nach dem Tod eines geisteskranken Insassen zurück, der zur Ruhigstellung 16 Stunden lang nackt an einen Stuhl gefesselt worden war. Er wechselte zu einer privaten Gefängnisfirma, die 2003 vom Bundesjustizministerium für unsichere Haftbedingungen und mangelhafte ärztliche Versorgung von Häftlingen abgemahnt wurde.“108 Dem taz-Beitrag waren auch Einzelheiten über Zustände in US-Gefängnissen zu entnehmen, die tatsächlich Parallelen zu Abu Ghraib nicht ausschließen:

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112 9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“ „Die Einzigen, die in den USA angesichts der Fotos aus dem AbuGhraib-Gefängnis weder überrascht sind noch so tun, sind Anwälte, Sozialarbeiter und Geistliche, die von Berufs wegen mit dem amerikanischen Strafvollzug zu tun haben. Man muss nur im Internet www.hrw.org eingeben und auf der Webseite von Human Rights Watch die Rubrik „United States“ und „prison conditions“ anklicken, um Folgendes zu erfahren: ‚Jeder zehnte männliche Gefängnisinsasse wird einer Studie zufolge im Verlauf seiner Haftzeit vergewaltigt – meist von Mithäftlingen, meist mit dem Wissen der Wärter. In einigen Frauenhaftanstalten sind ein Viertel aller Gefangenen Opfer einer Vergewaltigung durch Vollzugsbedienstete geworden.’ Gefangene zwecks Disziplinierung stundenlang nackt stehen zu lassen, ist im amerikanischen Strafvollzug herrschende Praxis. In manchen Haftanstalten werden neuen Häftlingen Säcke über den Kopf gezogen – angeblich um zu verhindern, dass sie Aufseher anspucken. Ende der Neunzigerjahre war in Texas ein Trainingsvideo für Vollzugsbedienstete in Umlauf, auf dem Häftlinge bei einer Drogenrazzia nackt über den Boden kriechen mussten, von Hunden gebissen und von Wärtern an Füßen zurück in ihre Zellen geschleift wurden. Ein Bundesrichter stellte den texanischen Strafvollzug für mehrere Jahre unter Bundesaufsicht, weil Wärter Gefangene systematisch misshandelten oder duldeten, dass Insassen von Mithäftlingen wiederholt vergewaltigt und als „Sexsklaven“ von Trakt zu Trakt verkauft wurden. Der Gouverneur in dem betreffenden Zeitraum war George W. Bush. Im Strafvollzug von Illinois sitzen bis heute Gefangene aufgrund von Mordgeständnissen ein, die sie vor über 20 Jahren auf einem Chicagoer Polizeirevier nach Schlägen, Elektroschocks und Scheinexekutionen unterzeichnet haben. Der Tatbestand der Folter wurde in einem Untersuchungsbericht der Chicagoer Polizei aktenkundig gemacht. Doch kein Gericht hat es bislang für nötig befunden, die Urteile aufzuheben.“ FOLTER FREI


9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“ 113 Im Gegensatz zu Spiegel, stern und anderen deutschen „Meinungsführern“, wirkte die Berichterstattung in Bild über Abu Ghraib fast zurückhaltend. Zumindest wenn man vor Augen hat, mit welch reißerischen Aufmachern Europas auflagenstärkste Tageszeitung andere – vermeintliche – Skandale ins Blatt hievt. Mit der Kritik an amerikanischer Regierungspolitik, zumal wenn sie aus dem konservativ republikanischen Lager kommt, tat man sich bei Bild schon immer schwer. Nach dem Motto, die USA haben uns von den Nazis befreit und den Aufbau der freiheitlich demokratischen Grundordnung nach dem Krieg entscheidend befördert, gab und gibt’s am „Großen Bruder“ nicht viel herumzukritteln. Als der US-Geschäftsmann Nicholas Berg allerdings im Irak entführt und schließlich graumsam hingerichtet wurde, hatte auch die Bild-Zeitung ihren Aufmacher. Am 12. Mai 2004 veröffentlichte das Blatt drei Aufnahmen, die die Exekution des Amerikaners verschwommen dokumentierte. Das Material stammte aus einem Video, das die Entführer über das Internet verbreitet hatten. Auf einem Foto war deutlich zu erkennen, wie ein Terrorist den abgeschnittenen Kopf des Opfers triumphierend nach oben hält. Die Beschreibung des Todeskampfes des 26-jährigen Amerikaners lieferte Bild einen Tag später nach – mit der Überschrift „62 Sekunden lang schnitten sie ihm den Kopf ab.“ Die schonungslose Darstellung der angeblichen Vergeltung für amerikanische Folterpraktiken im Irak führte Mitte Mai 2004 zu heftigen Reaktionen unter Medienmachern und -kritikern. Als „widerwärtig und geschmacklos“ bezeichnete der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV) Michael Konken die Veröffentlichung der Hinrichtungsfotos in Bild: „Mit dieser zur Schau gestellten Art von Sensationsjournalismus, der alle Grundsätze von Menschlichkeit und Menschenrechten hinter sich gelassen hat, trägt Bild die Medienethik zu Grabe.“

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114 9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“ Schließlich rügte der Presserat am 16. Juni 2004 Bild insbesondere für den Abdruck des Motivs mit dem abgetrennten Kopf von Nicholas Berg als „unangemessen sensationell“. Die Fotos aus dem Tötungs-Video seien kein journalistisches Produkt. Es handele sich vielmehr um Aufnahmen der Mörder, die den Mord gezielt begingen, um mit den Aufnahmen davon Angst zu schüren und Propaganda für ihre Ziele zu machen. Die Veröffentlichung habe daher die Absichten der Mörder fördern können und hätte unterbleiben müssen. So die Begründung für die Maßregelung. Während Bild-Chefredakteur Kai Diekmann109 die regelmäßigen Rügen des Presserats sonst eher gelassen abhakt, bildete sich diesmal Schaum vor seinem Mund – zumindest verbal. Wenn große internationale Zeitungen diese Fotos brächten, könne man das Bild nicht verbieten, wetterte er und warf dem Presserat gleichzeitig vor, dass er sich durch DJV-Chef Konken beeinflussen ließ. Die offensichtliche Aufgeregtheit des sonst eher cool wirkenden BildChefs mag auch damit zusammenhängen, dass das Boulevardblatt das Thema Abu Ghraib einfach nicht in den Griff bekam. Während andere Medien regelmäßig mit dem Folterskandal „aufmachten“, suchte Bild schon fast verzweifelt nach dem Guten in unserem wichtigsten Verbündeten – und stets auf der Titelseite: Mal retteten US Soldaten todesmutig einen schwer verletzten Kameraden nach einem „feigen Attentat von Heckenschützen“ (26. Mai 2004). Zwei Tage zuvor war schon „der mächtigste Mann der Welt“ auf Seite 1 bedauert worden, weil sich George W. Bush bei einem Ausflug mit dem Fahrrad „auf die Nase“ gelegt hatte. „Der US-Präsident zog sich Kratzer an Kinn, Oberlippe, Knien und der rechten Hand zu“ – so lautete die Ferndiagnose von Bild. Zum Glück waren die Verletzungen schließlich doch nicht so schwer, sodass Bush in der Ausgabe vom 1. Juni einen „martialischen Auftritt“ gemeinsam mit dem „Boss des Biker-Clubs ‚Rolling Thunder’ Artie Muller (Spitzname: Der Diktator)“ und Ex-Sängerin Nancy Sinatra („These boots are made for walking“) hinlegen konnte. Die beiden waren ins Weiße FOLTER FREI


9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“ 115 Haus gekommen, um Bush an die Vietnamveteranen zu erinnern. Weil es weder im Irak noch in den USA für Bild eine packende Story gab, half das Massenblatt bereitwillig bei der Verbreitung von Gerüchten über einen angeblichen Folterskandal bei der Bundeswehr nach. Unter der Überschrift „Bundeswehr untersucht Gerüchte über Folter-Fotos“ berichtete Bild am 27. Mai 2004 über Aufnahmen, „die angeblich Bundeswehr-Soldaten im Kosovo bei Folterungen zeigen sollen“. Schon die tags zuvor verbreitete Vorabmeldung sorgte sowohl in der Politik als auch an den Stammtischen für große Aufregung. Umsonst – wie sich schnell zeigen sollte. Bild hatte weder eines der angeblich brisanten Fotos noch eine Aussage von Zeugen vorliegen. Die dennoch eingeleiteten Untersuchungen der Bundeswehr brachten keine Erkenntnisse.

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116 9. Deutsche Medien: „Es gab keine konkreten Vorgänge“ Auswahl Medienberichte nach dem 28.04.04 in Deutschland Datum

Medium

29.04.04

dpa Nachrichtenagentur Erste Meldung – bezieht sich ausschließlich auf CBS-Sendung am Vortag

29.04.04

Heute Journal, ZDF

Erster Beitrag im ZDF, ausschließlich mit Bildmaterial von CBS, News-Version

29.04.04

Tagesthemen, ARD

Erster Beitrag von ARD-Aktuell; Bildmaterial von CBS in Verbindung mit eigenem Material über Situation im Irak

30.04.04

Süddeutsche Zeitung

Thema wird in Bericht unter dem Titel „USTruppen ziehen aus Falludscha ab“ erst an zweiter Stelle erwähnt

03.05.04

Der Spiegel

14 Seiten Bericht auf Basis CBS mit eigenem Hintergrundmaterial

03.05.04

Focus

ohne Erwähnung der Themen Irak/Folter

06.05.04

stern

8 Seiten Bericht vorwiegend auf Basis von CBS- und New Yorker-Material

10.05.04

taz

Hintergrund zu Gewalt in US-Gefängnissen

12.05.04 13.05.04

Bild

Veröffentlichung von Bildmaterial von der Ermordung des US-Bürgers Nicholas Berg im Irak

19.05.04

stern

Titelgeschichte – George W. Bush: Moralisch bankrott

22.05.04

Nachtjournal RTL

Foltervorwürfe im Irak werden mit Praxis in amerikanischen Gefängnissen in Verbindung gebracht

01.06.04

Journalist Zeitschrift des DJV

Hintergrund zur Bedeutung von Bildern in der Berichterstattung über Abu Ghraib

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Inhalte


117 10. Warnung: Uncle Sam ist nicht immer lieb Es gab Vorwarnungen auf das, was Menschen drohen könnte, wenn die Besatzer sie in Abu Ghraib einkerkern. Die Spuren amerikanischer Gewalt von My Lai in Vietnam bis nach Guantánamo Bay auf Kuba werden mit Hilfe der Recherchen von Claudia Peter aufgezeigt. Kritik an Amerika war tabu in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg – zumindest im Westen. Uncle Sam110 war der freundliche, reiche und weiße Onkel aus Übersee, der uns unsere Kriegsschuld verziehen hatte und sogar beim Aufbau der nagelneuen Bundesrepublik mithalf. Er verteilte Schokolade an die Kinder, Zigaretten an die Väter und machte deutsche Fräuleins endlich wieder zu Müttern. Wenn die Russen stänkerten, wie bei der Berlin-Blockade 1948/49, schickte uns der gute Onkel „Rosinenbomber“ und half uns dabei. die letzte demokratische Enklave in Richtung Osten aus der Luft am Leben zu erhalten. In Kriegsgefangenenlagern schwang Uncle Sam schon mal den Knüppel, aber nur um zu zeigen, wie Demokratie richtig funktioniert. Trotzdem – wir hatten ihn richtig lieb, den guten Onkel aus Amerika. Doch die große Zuneigung war endlich. Sie hielt so lange an, bis in der zweiten Hälfte der 60er Jahre Bilder aus dem fernen Vietnam auftauchten, auf denen US-Marinesoldaten einen gefangen genommenen Vietkongkämpfer an einem Strick um den Hals zum Verhör zerrten. Die Szenerie ließ erahnen, dass Uncle Sam in Südostasien längst nicht mehr so lieb war, wie die meisten von uns immer geglaubt hatten. Aus Enttäuschung darüber zogen diejenigen, die noch vor wenigen Jahren als kleine Kinder bei Uncle Sam Cola-Chocolate „abgestaubt“ hatten, durch die Straßen deutscher Großstädte und schrieen lauthals „Ho-Ho-Ho Chi Minh“111 – das war 1968. Es dauerte allerdings noch über ein weiteres Jahr, bis die ganze Wahrheit über den schmutzigen Krieg am Mekong öffentlich bekannt wurde. Im FOLTER FREI


118 10. Warnung: Uncle Sam ist nicht immer lieb November 1969 verbreitete der kleine und linksorientierte Nachrichtendienst Dispatch News Service einen Beitrag des Journalisten Seymour M. Hersh über das Massaker amerikanischer Soldaten im südvietnamesischen Dorf My Lai. Als kurze Zeit später das Life Magazine112 die Bilder des Militärfotografen Ron Haeberle über den grauenvollen Mord an 500 Frauen, Greisen und Kindern abdruckte, war der Wendepunkt im Vietnamkrieg markiert. Hersh, damals 31 Jahre alt, hatte sich gerade aus Protest gegen die wiederholte inhaltliche Kürzung seiner zumeist brisanten Beiträge von der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) getrennt. Anschließend arbeitete er kurze Zeit für den damaligen Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, Eugene McCarthy, bevor er sich in Washington als freier Journalist niederließ und zumeist für die renommierte New York Times Artikel über die Gefahren von Chemie- und Biowaffen schrieb. Von einem Informanten aus dem US-Verteidigungsministerium hatte der aufstrebende Journalist Hinweise über ein geheim gehaltenes Verfahren gegen den amerikanischen Leutnant William Calley jr. erhalten. Der ehemalige Kommandant einer Kampfeinheit war wegen Mordes an Zivilisten in Vietnam angeklagt. Hersh besuchte den beschuldigten Offizier und der schilderte – angeblich „nach reichlich Bierkonsum“ – im Detail, mit welcher Brutalität seine Einheit am 16. März 1968 das gesamte Dorf niedergemetzelt hatte. Seymour Hersh schrieb die grauenvolle Dokumentation auf und bot sie mehreren Zeitungen zur Veröffentlichung an. Doch die Sache war den amerikanischen Blättern zu heiß, sie scheuten sich davor, an der so genannten „Heimatfront“ schlechte Stimmung gegen die kämpfende Truppe im fernen Vietnam zu machen. Schließlich erklärte sich ein befreundeter Journalist, der den unscheinbaren Dispatch News Service betrieb, die brisante Story zu veröffentlichen. Jetzt druckten auch andere Zeitungen den Artikel ab, Hersh musste Fernseh- und Radiointerviews geben, wurde ein bekannter Journalist in den Vereinigten Staaten und schließlich auf der ganzen Welt bekannt. Im Jahr 1970 wurde er mit dem Pulitzer Preis113, der weltweit wahrscheinFOLTER FREI


10. Warnung: Uncle Sam ist nicht immer lieb 119 lich wichtigsten publizistischen Auszeichnung, für seine Arbeit geehrt. Der weltweite Schock über die Verbrechen von My Lai setzte allerdings erst ein, nachdem das Life Magazin Anfang Dezember 1969 die Bilder des Militärfotografen Ron Haeberle abgedruckt hatte. Der hatte am 16. März 1968 die von Leutnant Calley geführte Einheit in das Dorf Son My nahe der nordvietnamesischen Grenze begleitet, das von den Amerikanern „My Lai“ genannt wurde. Ziel der Aktion war es, den kleinen Ort einzunehmen und nach Guerillas des Vietcong zu durchsuchen. Haeberle sagte später aus, er habe schnell gemerkt, dass dieser Einsatz, den er offiziell dokumentieren sollte, über die üblichen Aktionen der Armee hinausging, die als „search and destroy“ (suchen und vernichten) bezeichnet wurden. Sofort nach Landung der neun Hubschrauber bei My Lai eröffneten die US-Soldaten ohne jede Vorwarnung das Feuer auf die Dorfbewohner. Marcus Hammerschmitt schrieb aus Anlass des 35-jährigen Jahrestags im Internetmagazin Telepolis: „Die Geschichte des Massakers und seiner Aufdeckung ist aber nicht nur wegen seiner historischen Bedeutsamkeit interessant, sondern auch, weil es sich um ein Lehrstück über die Funktion respektive Nichtfunktion der Medien im modernen Krieg handelt.“114 In seinem Feature schilderte er die damaligen grauenvollen Ereignisse und zitierte auch den Augenzeugen Haeberle: „Ich sah, wie eine Frau tot zusammenbrach und zwischen den Reispflanzen liegen blieb. Die GIs fuhren fort, auf sie zu schießen, zielten immer wieder auf sie. Sie hörten einfach nicht auf. Man konnte sehen, wie ihre Knochen durch die Luft flogen.“ Von mehreren Einsätzen wohl schon abgestumpft und durch den Tod von Kameraden verbittert, entwickelte sich unter den Soldaten ein unvorstellbarer Blutrausch. „Die Gewalt hatte teilweise offen orgiastische und psychopathische Züge“, schrieb Hammerschmitt in seinem Beitrag. Die Soldaten misshandelten, vergewaltigten und erschossen schließlich fast alle BewohFOLTER FREI


120 10. Warnung: Uncle Sam ist nicht immer lieb ner des Dorfes: 182 Frauen, 172 Kinder, 89 Männer unter 60 Jahren und 60 Greise. Der Militärfotograf hatte die schrecklichen Ereignisse im Bild festgehalten. Er registrierte aber auch, dass sich einige wenige Soldaten gegen das Massaker auflehnten. Der Aufklärungspilot Hugh Thompson landete mit seinem Hubschrauber zwischen den Soldaten und einigen Zivilisten und befahl sogar, das Feuer auf die eigenen Leute zu eröffnen. Mit seinem Einsatz konnte er wenigstens 10 Menschen das Leben retten. Bekannt ist auch, dass sich einige Soldaten weigerten, Vietnamesen in einen Entwässerungsgraben zu werfen und zu erschießen. Ein farbiger Soldat schoss sich während des Massakers absichtlich selbst in den Fuß, um nicht mehr an den schlimmen Verbrechen teilnehmen zu müssen. Bevor die GIs115 abzogen, brannten sie das Dorf nieder, um Spuren zu vernichten. Bei späteren Untersuchungen kam heraus, dass in My Lai nicht ein einziger Vietcong entdeckt worden war. Fotograf Ron Haeberle übergab dem US-Militär 40 Schwarzweißbilder, die sie zur Dokumentation der „siegreichen Schlacht von My Lai“ nutzten. In konservativen amerikanischen Veteranenverbänden wird dieser Bericht bis heute als einziges wahres Zeitzeugnis über die Vorgänge von My Lai betrachtet. Darin heißt es unter anderem: „128 Vietcong wurden getötet, die eigene Truppe hatte keine Verluste.“ Der mutige Hubschrauberpilot Thompson machte anschließend eine offizielle Eingabe bei seinen Vorgesetzten und bezichtigte darin seine Kameraden des Kriegsverbrechens. Allerdings wurde die formal eingesetzte Untersuchung ohne Nachdruck geführt und bald wieder eingestellt. Auch Fotograf Haeberle fand für seine Anklagen, die er zudem mit einbehaltenen Farbfotos belegen konnte, kein Gehör. Nach seiner Entlassung aus der US-Armee hatte er versucht, in Dia-Vorträgen auf das Verbrechen aufmerksam zu machen. FOLTER FREI


10. Warnung: Uncle Sam ist nicht immer lieb 121 Die amerikanischen Medien allerdings ignorierten seine Bemühungen. Die wenigen Teilnehmer an seinen Veranstaltungen warfen ihm schon mal vor, Propaganda für die kommunistischen Vietcong zu machen. Vermutlich wäre das Massaker von My Lai bis heute ein Geheimnis der US-Armee geblieben, wenn nicht der damals 22-jährige Soldat Ron Ridenhour zufällig ehemaligen Kameraden begegnet wäre, mit denen er zusammen beim Militär ausgebildet worden war. Die erzählten ihm, dass sie das ganze Dorf My Lai einschließlich seiner Einwohner einfach „ausradiert“ hätten. Obwohl Ridenhour selbst nicht an dem Massaker beteiligt war, fühlte er sich mitschuldig: „Allein schon, dass ich es wusste, machte mich zu einem Komplizen, wenn ich nicht handelte.“ Nach seiner Entlassung vom Militär im Dezember 1968 schrieb er unentwegt Briefe an öffentliche Entscheidungsträger und prominente Politiker, solange bis schließlich ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Nach Veröffentlichung des Berichts von Seymour M. Hersh und der Bilder von Ron Haeberle wurde der öffentliche Druck so stark, dass einige Verantwortliche vor Gericht gestellt wurden. Der damalige Einsatzleiter Leutnant William Calley jr. wurde 1971 zu lebenslanger Haft verurteilt, 1974 allerdings schon wieder begnadigt. Er wird von Teilen der Amerikaner bis heute als Held verehrt. Das nächste Beispiel für Uncle Sams Liebesentzüge führt in die Karibik. Die brutale Besetzung der Urlauber- und Gewürzinsel Grenada ist jetzt nach reichlich 20 Jahren schon fast wieder in Vergessenheit geraten. Grenada liegt 160 Kilometer vor der Küste Venezuelas und wurde 1498 von Kolumbus entdeckt. In den folgenden Jahrhunderten gehörten die Hauptund einige Nebeninseln mal zu Frankreich und mal zu Großbritannien. Wie alle Kolonialherren behandelten diese ihre Besitzungen einschließlich der meisten als Sklaven eingeschleppten Bewohner nicht besonders pfleglich. Im FOLTER FREI


122 10. Warnung: Uncle Sam ist nicht immer lieb Februar 1974 entließen die Briten den Inselstaat schließlich in die Unabhängigkeit. Ob das tatsächlich ein so glückliches Ereignis war, wie es den meisten der knapp 100.000 Einwohner zunächst schien, muss wohl aus heutiger Sicht bezweifelt werden. Denn plötzlich fühlte sich Uncle Sam berufen, auf die Insulaner aufzupassen. Als die sich ab 1979 auch noch von einer linksorientierten Regierung unter dem Marxisten Maurice Bishop regieren ließen, gab’s Zoff. Zunächst beschränkte sich Washington auf verbale Attakken. Nachdem Ronald Reagan116 1981 für die konservativen Republikaner als 40. Präsident ins Weiße Haus eingezogen war, ging’s richtig zur Sache. Nach dem Motto „wer nicht hören will, muss fühlen“ wurde zunächst der Handel mit der winzigen Inselrepublik lahm gelegt. Dann beteiligte sich der amerikanische Geheimdienst CIA an Umsturzversuchen. Als das alles nichts half, kam Uncle Sam am 24. Oktober 1983 – völlig unangemeldet – persönlich vorbei, um die sturen Inselbewohner zur Raison zu bringen. Offiziell hatte die Regierung in Washington die Invasion mit dem Schutz von US-Bürgern auf der Insel begründet, nachdem es auf Grenada zu einem Militärputsch gekommen war, bei dem auch Präsident Bishop getötet wurde. Die Vereinten Nationen sahen das allerdings nur als Vorwand und verurteilten die Invasion. Augenzeugen berichteten, dass die US-Streitkräfte zunächst aus für sie sicherer Distanz von Flugzeugen, Hubschraubern und Kriegsschiffen das Eiland bombardierten. Als ohnehin kaum noch Widerstand der maximal 1.500 einheimischen Verteidiger, unterstützt von kubanischen Bauarbeitern, zu erwarten war, fielen am dritten Tag die bis zu 6.000 Mann starken Bodentruppen, bestehend aus Soldaten der US-Armee und Nachbarstaaten Grenadas, auf der Hauptinsel ein. Einzelne Anhänger des marxistischen Regimes zogen sich daraufhin als Guerillakämpfer in das Inselinnere zurück. Wochenlang durchkämmten die Besatzer den Dschungel und pferchten Gefangengenommene in Lagern zusammen.

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10. Warnung: Uncle Sam ist nicht immer lieb 123 Als die US-Truppen Mitte Dezember 1983 wieder abzogen, hinterließen sie bis zu 200 Tote. Nach Berichten verschiedener internationaler Organisationen ist seitdem der Lebensstandard der Bevölkerung auf Grenada erheblich gesunken. amnesty international musste noch bis Mitte der 90er Jahre die Einhaltung der Menschenrechte regelmäßig bei der Regierung des Inselstaates anmahnen. Auch Uncle Sam hat es mit der Einhaltung der Menschenrechte nicht immer ganz genau genommen, dabei hatten sich seine Vorfahren schon 1791 in den „Bill of rights“ ausdrücklich dazu bekannt. Amerikaner sind in vielen Dingen pragmatische Leute, offenbar auch, wenn es um die Auslegung der eigenen Verfassung geht. Im Laufe der Jahrhunderte wurden in der Praxis immer wieder großzügige Ausnahmen geduldet, weil man Gründe dafür zu haben glaubte: Ü

Sklaverei bis 1865 – um die Baumwollplantagen in den Südstaaten bewirtschaften zu können;

Ü

Ausrottung der Indianer bis 1890 – weil die Ureinwohner Amerikas den Weißen Siedlern nicht freiwillig ihr Land überließen;

Ü

Atombomben auf Hiroshima117 und Nagasaki 1945118 – um die Japaner endgültig in die Knie zu zwingen, obwohl der Krieg militärisch längst zu Gunsten der Amerikaner entschieden war.

Nach den furchtbaren Terroranschlägen vom 11. September 2001 setzten die USA praktisch alle internationalen völkerrechtlichen Vereinbarungen außer Kraft und fanden dafür im eigenen Land zunächst breite Unterstützung, auch in den Medien. Der Schock über die Zerstörungen in den Zentren des mächtigsten Landes der Welt und die Trauer über annähernd 3.000 Tote waren so groß, dass Bush praktisch keinen Widerspruch erhielt, als er am 7. Oktober 2001 seinen „Krieg gegen den Terror“ mit Bombenangriffen auf Afghanistan begann. Die USA hatten allerdings kein Mandat der Vereinten FOLTER FREI


124 10. Warnung: Uncle Sam ist nicht immer lieb Nationen für diesen Waffengang – das hinderte sie jedoch nicht daran, diesen Krieg zu führen. Vorrangiges Ziel der Bush-Regierung war es, den Terroristen Osama bin Laden zu stellen, den man als Verantwortlichen für die Angriffe auf New York und Washington ansah und der sich vermutlich irgendwo in den Bergen Afghanistans versteckt hielt. Die Angriffe der Amerikaner trafen zuerst jedoch diejenigen, die in Kriegen immer die Hauptleidtragenden sind – die zivile Bevölkerung. „Mindestens 5.000 Tote“ schätzte im Februar 2002 der Chirurg Gino Strada, der für die italienische Organisation Emergency damals in Kabul war, in einem Beitrag der Wochenzeitung Die Zeit.119 In Afghanistan – wie in vielen Kriegen zuvor – konnten Gefangene nicht darauf hoffen, nach den Richtlinien der Genfer Konvention behandelt zu werden – auch nicht unter dem Kommando von US-Truppen. Der irische Fernsehjournalist Jamie Doran hatte Beweise dafür zusammengetragen, dass unter den Augen der Amerikaner etwa 3.000 Taliban-Kämpfer120 ermordet worden waren. Ihre Leichen – so zeigte er in seinem Dokumentarfilm – lagen in einem Massengrab in der afghanischen Wüste. Die Männer gehörten zu insgesamt 8.000 gefangen genommenen Taliban, die im November 2001 von der Festung Kalai Dschangi in das Gefängnis der Stadt Scheberghan überführt werden sollten. Doch viele kamen niemals dort an. Doran berichtete, dass die Gefangenen zu Hunderten bei 40 Grad Hitze in Containern zusammengepresst wurden. Ein afghanischer Soldat sagte dem Journalisten, dass er den Befehl erhielt, wahllos in die verschlossenen Container zu schießen, angeblich um Luftlöcher zu schaffen, tatsächlich wurden bei dieser Aktion wahrscheinlich Hunderte hilflose Männer getötet. Der anschließende stundenlange Transport durch die glühende Hitze forderte weitere Opfer. Ein Augenzeuge, der bei der Öffnung der Container in Shebergan anwesend war, berichtete, dass sich in den Todesfallen ineinander verschlungene, blutüberströmte Leichen türmten. FOLTER FREI


10. Warnung: Uncle Sam ist nicht immer lieb 125 Augenzeugen beschrieben in Dorans Bericht weiterhin, dass die toten Taliban gemeinsam mit noch lebenden, ohnmächtigen oder schwerverwundeten Gefangenen auf Lastwagen verladen und in die Wüste von Dasht Leili transportiert wurden. Dort kam es unter Aufsicht amerikanischer Soldaten zu weiteren Massakern. Diese Dokumentation des Schreckens führte schließlich zu einer offiziellen Untersuchung der Vereinten Nationen. Mindestens zwei afghanische Männer mussten anschließend mit ihrem Leben dafür bezahlen, weil sie bereit waren, als Zeugen bei der Aufklärung dieses Verbrechens mitzuhelfen. Für beteiligte amerikanische Armeeangehörige blieb der Massenmord dagegen ohne Konsequenzen. Im Gegenteil – das US-Außenministerium protestierte sogar lautstark, als die ARD die Dokumentation im Dezember 2002 ausstrahlte: „Uns ist rätselhaft, warum eine angesehene Fernsehanstalt eine Dokumentation zeigen will, deren Fakten vollständig falsch sind und die die US-Mission in Afghanistan auf unfaire Weise charakterisiert“, sagte Sprecher Larry Schwartz nach einem Bericht der Nachrichtenagentur dpa. Dabei mussten sich die Amerikaner zum Zeitpunkt der Ausstrahlung dieser Dokumentation eigentlich keine Sorgen machen – zumindest nicht, wenn sie die juristischen und moralischen Maßstäbe ihrer eigenen Regierung zu Grunde legten. Schon im Februar 2002 hatte George W. Bush erklärt, dass für in Afghanistan gefangen genommene Terroristen der Schutz der Genfer Konvention nicht gelte. Wer in Afghanistan festgenommen wurde, war aus Sicht der USA ohnehin Terrorist. Im Jahr 2002 begann Uncle Sam dann damit, angeblich besonders gefährliche Terroristen entweder an einen „befreundeten“ Geheimdienst in Ägypten, Jordanien oder Marokko zu übergeben – weil man dort über reichlich Erfahrung bei der Auspressung von Informationen verfügt – oder nach Guantánamo Bay auf Kuba auszufliegen. Die Militärbasis liegt zwar auf Kuba, wurde allerdings 1934 auf unbestimmte Zeit an die Vereinigten StaaFOLTER FREI


126 10. Warnung: Uncle Sam ist nicht immer lieb ten verpachtet. Ende der 90er Jahre wurden hier zeitweise Flüchtlinge aus dem Kosovo untergebracht. Jetzt war auf Teilen des Areals ein Hochsicherheitstrakt unter der Bezeichnung „Camp X-Ray“ entstanden, in dem zeitweise bis zu 1.000 Taliban und Al Qaida-Mitglieder unter menschenunwürdigen Umständen zusammengepfercht waren. Alle Welt kannte bald die Bilder von den Gestalten in orangenen Overalls, die an Händen und Füßen gefesselt zu Verhören geschleift wurden oder in Drahtverhauen mutlos blickend dahinvegetierten. Die meisten in Guantánamo Gefangenen stammten aus Afghanistan, arabischen und vorwiegend muslimischen Ländern. Doch es wurden auch Häftlinge aus westlichen Ländern auf dem Stützpunkt in der Karibik festgehalten, ohne Anklage, ohne Zugang zu Anwälten, ohne jegliche Menschenrechte. Asef Iqbal, Ruhal Ahmed und Shafiq Rasul, drei britische Staatsbürger aus Tipton in den West Midlands, wurden mehr als zwei Jahre ohne Grund zuerst in Afghanistan, dann in Guantánamo Bay festgehalten. Die drei hatten im Frühjahr 2002 eine Hochzeit von Verwandten in Pakistan, nahe der afghanischen Grenze besucht, wo sie unter Terrorverdacht festgenommen wurden. Aus Todesangst hatte einer der Männer bei seiner Verhaftung das falsche Geständnis abgelegt, auf einem Video mit Al Qaida Chef Osama bin Laden zu sehen gewesen zu sein. Erst im März 2004 durften die drei nach Großbritannien zurückkehren, wo sie freigelassen wurden, ohne noch mit einer Anklage rechnen zu müssen. Die Erlebnisse der drei Briten in dem Gefangenenlager hat ihr Anwalt in einem Bericht auf 115 Seiten dokumentiert, den die BBC am 4. August 2004 auszugsweise veröffentlichte: Ü Die Gefangenen wurden wiederholt geschlagen, geboxt und getreten. Ihnen wurde gewaltsam Rauschgift gegeben und Schlaf entzogen. Sie mussten sich wiederholt nackt fotografieren lassen und regelmäßigen FOLTER FREI


10. Warnung: Uncle Sam ist nicht immer lieb 127 Leibesvisitationen unterziehen. Sie waren sexuellen und religiösen Erniedrigungen ausgesetzt. Ü Eine amerikanische Wache sagte den Gefangenen: „Die Welt weiß nicht, dass ihr hier seid. Wir könnten Euch umbringen – und niemand würde etwas davon erfahren.“ Ü Asef Iqbal berichtete, dass ihm ein Soldat bei der Ankunft in Guantánamo sagte: “Du hast meine Familie in den Türmen (Anmerkung: Ausdruck für die beiden Türme des World Trade Centers) umgebracht. Nun ist es an der Zeit, dass Du das zurückbekommst.” Ü Shafiq Rasul berichtete, dass ihm ein Offizier des britischen Geheimdienstes MI 5 bei einem Verhör gesagt habe, er würde lebenslänglich in Guantánamo eingesperrt bleiben. Ü Die Männer sahen, wie geistig verwirrte Gefangene brutal geschlagen wurden. Ein weiterer Häftling wurde so brutal geschlagen, dass er schwere Kopfschäden erlitt, weil er versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Ü Wachen warfen Koranbibeln der Gefangenen in Toiletten und drängten sie, ihren Glauben aufzugeben. Schwere Vorwürfe erhoben die drei Briten insbesondere gegen den ehemaligen Kommandanten, Generalmajor Geoffrey Miller: Er veranlasste, dass muslimischen Häftlingen die Bärte abrasiert wurden und ließ laute Musik rund um die Uhr in den Zellen abspielen. Die Gefangenen wurden in hokkenden Positionen gefesselt und nackt eingesperrt. Wegen „der ausgezeichneten Arbeit, die Miller in Guantánamo Bay geleistet hat“, übertrug ihm US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im März 2004 die Verantwortung für die Militärgefängnisse im Irak – auch für Abu Ghraib. FOLTER FREI



129 11. Geheimmission: Rotes Kreuz in Abu Ghraib Im Jahr 2003 hat das Rote Kreuz 469.648 Gefangene in 1.923 Gefangenenlagern in rund 80 Ländern besucht und niemals öffentlich darüber berichtet – auch nicht über die misshandelten Häftlinge in Abu Ghraib. Warum eigentlich nicht? Die weltgrößte Finanz- und Wirtschaftszeitung The Wall Street Journal sorgte am 10. Mai 2004 mit einem Beitrag für Aufsehen und Aufregung, weil es Informationen aus einem internen und vertraulichen Bericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) enthielt. Das Rot-Kreuz-Papier war anhand von Erkenntnissen aus 29 Gefangenenbesuchen in insgesamt 14 Gefängnissen und Lagern im Irak im Zeitraum 31. März bis 24. Oktober 2003 erstellt worden. Und es bestätigte, dass Gefangene im Irak von den Besatzern systematisch gefoltert wurden – auch in Abu Ghraib. Der im Februar 2004 erstellte vertrauliche Report war nach Angaben des IKRK-Direktors Pierre Krähenbühl eine Zusammenfassung von Berichten, die im Laufe des Jahres 2003 erstellt – und auch an die alliierten Truppenführungen im Irak übermittelt wurden. Er bedauerte allerdings, dass die 24-seitige Dokumentation im Mai 2004 an die Öffentlichkeit gelangt war. Warum diese öffentliche Zurückhaltung des Roten Kreuzes, wo es doch schließlich um das Anprangern von Folter ging? Dr. Heike Spieker, beim Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuzes die zuständige Expertin für internationales Recht, bemühte sich in einem Interview mit der Zeitschrift Zivil121 um Erklärungen: Der Grund, warum die Gefangenenbesuche des IKRK im Regelfall vertraulich behandelt werden, ist schlicht und ergreifend die Absicht, Menschenleben zu schützen. Es ist eine traurige Erfahrungstatsache, dass, wann immer Berichte des IKRK veröffentlicht werden, in der Folge in FOLTER FREI


130 11. Geheimmission: Rotes Kreuz in Abu Ghraib dem betroffenen Land oder in einem anderen Land der Welt dann dem IKRK der Zugang zu den Gefangenen verwehrt wird. Das einprägsamste Beispiel lieferte der Krieg zwischen dem Iran und dem Irak, Anfang der 80er Jahre. Da sah sich das IKRK gezwungen, nachdem der Iran selbst bestimmte, für ihn positive Teile des Berichts veröffentlicht hatte, den gesamten Bericht zu veröffentlichen, damit einfach die Schieflage in der Darstellung korrigiert wurde. Die Folge war, dass unmittelbar darauf das IKRK des Landes verwiesen worden ist und eine ganze Reihe von iranischen Gefangenen dann für mehrere Jahre überhaupt keine Besuche mehr vom IKRK hatten und auch sonst keine Möglichkeiten, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Diese Auskunft erschien in Bezug auf die Vorgänge im Irak nicht einleuchtend. Gesprächspartner des IKRK in Sachen Menschenrechte war – und ist – dort schließlich kein nachweislich undemokratischer Staat wie der zuvor beispielhaft angeführte Iran. Für die Übergriffe in Abu Ghraib und anderen Gefangenenlagern waren doch schließlich die Vereinigten Staaten und Großbritannien verantwortlich, die selbst stolz auf die eigenen demokratischen Traditionen sind und sich als „Weltpolizisten“ sehen. Sie hatten doch den Irak auch deswegen angegriffen und besetzt, um die Menschen von den Folterknechten des Saddam Hussein zu befreien. Um ganz sicher zu gehen, dass der Interviewauszug aus Zivil nicht falsch interpretiert wird, fragten wir per Email bei Heike Spieker vom DRK nach: Frage: Wird die USA vom Roten Kreuz tatsächlich genau so wie irgendwelche „Schurkenstaaten“, die bekanntermaßen demokratische Grundrechte verweigern, behandelt? Um es noch konkreter auszudrücken – verlief die Zusammenarbeit mit den Besatzern grundsätzlich auf der selben Ebene wie zuvor mit dem Hussein-Regime? Heike Spieker: Grundsätzlich macht das IKRK – wie auch das humanitäre Völkerrecht im allgemeinen – keinen Unterschied danach, wer FOLTER FREI


11. Geheimmission: Rotes Kreuz in Abu Ghraib 131 durch Vorschriften des humanitären Völkerrechts verpflichtet ist. Die einzige Differenzierung erfolgt nach dem Maß der Not der Opfer und Hilfebedürftigen. Eine Besatzungsmacht ist insbesondere durch das IV. und im Hinblick auf Kriegsgefangene durch das III. Genfer Abkommen von 1949 zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet und muss sich an diesem Maßstab messen lassen. Frage: Müssen hinsichtlich der Vertraulichkeit nicht Unterschiede gemacht werden? Es ist nachvollziehbar, dass Presseveröffentlichungen das Leben von politischen Gefangenen beispielsweise in Birma direkt gefährden könnten. In den USA oder in Großbritannien sorgen die Medien doch längst für den notwendigen öffentlichen Druck, auch in Kriegszeiten (siehe My Lai)... Heike Spieker: Eine ganz besondere und jederzeit und an jedem Ort aktuelle und sich jederzeit aktualisierende Gefahr ist, dass – um in Ihrem Beispiel zu bleiben – durch die Veröffentlichung von Berichten im Zusammenhang mit Irak/USA/GB das Leben und Wohlergehen von Gefangenen an anderen Orten der Welt unmittelbar gefährdet wird. Im Klartext: Die US-Regierung ist für das IKRK kein vertrauenswürdiger Gesprächspartner in Sachen Menschenrechte. Und – das Rote Kreuz fürchtet um das Wohlergehen von Gefangenen der Amerikaner und Briten, wenn Berichte über Misshandlungen veröffentlicht werden. Ganz so, wie man das beispielsweise auch beim Iran befürchten müsste. Tatsächlich hatte die US-Führung allen Grund, die Veröffentlichung der Rot-Kreuz-Erkenntnisse aus den Besuchen im Jahr 2003 zu fürchten. Allein die aus Abu Ghraib beschriebenen Eindrücke der IKRK-Delegierten sind so etwas wie ein Blick in den Vorhof zur Hölle. Auszüge aus dem „Report des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz über die Behandlung von Kriegsgefangenen und anderer von den Genfer Konventionen geschützter Personen durch die KoalitionsFOLTER FREI


132 11. Geheimmission: Rotes Kreuz in Abu Ghraib truppen im Irak bei Verhaftung, Internierung und Verhören“, erstellt im Februar 2004; daraus der Bericht über den Besuch in der Abteilung des militärischen Geheimdienstes in Abu Ghraib: Mitte Oktober 2003 besuchte das IKRK Personen, die im isolierten Bereich von Abu Ghraib gefangen gehalten – und von Offizieren des militärischen Geheimdienstes verhört worden waren. Die meisten dieser ihrer Freiheit beraubten Personen waren Anfang Oktober verhaftet worden. Insbesondere wurde das IKRK selbst Zeuge der Umstände, unter denen Personen gefangen gehalten wurden – ganz nackt, in leeren Zellen bei völliger Dunkelheit über einen Zeitraum von mehreren Tagen. Nachdem das IKRK diese Fälle selbst gesehen hatte, unterbrach es seinen Besuch und forderte von dem verantwortlichen Offizier des militärischen Geheimdienstes eine Erklärung. Er erklärte, dass diese Praxis ein Teil des gesamten Prozesses sei. Diese Praxis schien eine Art „Geben- und Nehmen-Politik“ zu beinhalten, wobei Gefangene als Gegenleistung für ihre „Kooperation“ mit neuen Sachen wie Kleidung, Bettzeug, Hygiene-Artikeln, Licht in den Zellen etc. „belohnt“ wurden. Das IKRK besuchte auch Gefangene in völliger Dunkelheit. Andere bei schwachem Licht, denen man erlaubt hatte, Kleidung zu tragen, nachdem sie eine Zeit lang völlig nackt verbringen mussten. Mehrere hatten Frauenunterwäsche unter ihren Overalls (Männerunterwäsche wurde nicht ausgegeben), was sie als demütigend empfanden. Das IKRK dokumentierte auch andere Formen von Misshandlungen, die in der Regel mit den zuvor beschriebenen kombiniert wurden. Dazu gehörten Drohungen, Beleidigungen, Beschimpfungen, Schlafentzug, gleichbleibendes helles Licht in den Zellen, das Anlegen von Plastikfesseln um die Handgelenke, die Wunden und Verletzungen verursachten. Aus Strafe wurden Gefangene gefesselt und gezwungen nackt oder mit Frauenunterwäsche auf dem Kopf über die Flure zu gehen. Gefangene FOLTER FREI


11. Geheimmission: Rotes Kreuz in Abu Ghraib 133 wurden auch nackt oder bekleidet an Betten und Zellentüren gefesselt. Solche Aussagen wurden durch physische Spuren und psychologische Symptome bei mehreren Gefangenen bestätigt. Der medizinische Delegierte des IKRK untersuchte Gefangene die Anzeichen von Konzentrationsschwäche, Gedächtnisschwund, Schwierigkeiten beim zusammenhängenden Sprechen, akute Angst-Reaktionen, anomales Verhalten und selbstmörderischen Tendenzen aufwiesen. Diese Symptome waren mit Sicherheit durch die Art und Dauer der Verhöre hervorgerufen worden. Aus den Auskünften, die das IKRK erhielt, ging hervor, dass die Gefangenen während ihrer Haftzeit nicht darüber informiert wurden, aus welchen Gründen sie festgehalten wurden. Es war ihnen untersagt, Fragen zu stellen und ihnen wurden auch keine Erklärungen über die Gründe ihrer Haft gegeben. Die Haftbedingungen variierten und waren vor allem von der Kooperationsbereitschaft mit den Wächtern abhängig. Diejenigen, die kooperierten erhielten eine bevorzugte Behandlung wie die Erlaubnis mit anderen Gefangenen zu sprechen, ihre Familien anzurufen. Sie erhielten Kleidung, Bettzeug, Essen, Wasser und Zigaretten, durften duschen und bekamen Licht in ihren Zellen. Der insgesamt 24-seitige Rot-Kreuz-Report vermittelt zudem den Eindruck, dass es Häftlingen in anderen Lagern der Amerikaner und Engländer sowie auf den irakischen Polizeistationen häufig noch schlechter erging, als den brutal gepeinigten und entwürdigten Insassen von Abu Ghraib. Insbesondere bei Festnahmen seien die Besatzer mit hoher Brutalität vorgegangen, stellten die IKRK-Mitarbeiter in ihren Berichten fest und sie bestätigten auch, dass ihnen Offiziere des militärischen Geheimdienstes wiederholt bestätigt hätten, dass diese „Art der Behandlung“ durchaus so gewollt – als „Teil des Prozesses“ im Umgang mit Gefangenen war.

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134 11. Geheimmission: Rotes Kreuz in Abu Ghraib Und wer wusste – außer Tätern, Opfern und Rot-Kreuz-Delegierten – damals von den Übergriffen? „Wir haben es hier mit einem breit angelegten System zu tun und nicht mit individuellen Handlungen“, bestätigte der zuständige IKRK-Direktor Pierre Krähenbühl Anfang Mai 2004 im Wall Street Journal. Er wies ausdrücklich darauf hin, dass seine Organisation die amerikanische und britische Regierung von März bis November 2003 wiederholt über diese Vorfälle unterrichtet habe. Das – so Krähenbühl – sei in persönlichen Gesprächen und mit schriftlichen Berichten erfolgt. Die Informationen des IKRK gingen keinesfalls nur an Bürokraten in niederen Positionen, sondern bis ins Zentrum der Weltmacht. US-Außenminister Colin Powell und US-Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice sollen spätestens seit Mitte Januar 2004 von den Misshandlungen gewusst haben. IKRK-Präsident Jakob Kellenberger hatte beide während eines Besuchs in Washington eindringlich vor den US-Methoden gewarnt, bestätigte der Londoner Sprecher der Organisation, Roland Huguenin, gegenüber der BBC. Doch aus Washington kamen offenbar keine Reaktionen, die auf eine Verbesserung der Situation der Häftlinge im Irak hätten hoffen lassen können. Auch Dr. Heike Spieker, vom Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuzes, konnte im Interview mit Zivil keine konkreten Angaben über Verbesserungen für die Gefangenen im Anschluss an die „Geheimmissionen“ des IKRK machen: „Das IKRK hat in seinem Bericht, den es im Februar 2004 den Behörden der alliierten Streitkräfte übergeben hat, festgestellt, dass es in dem gesamten Berichtszeitraum immer wieder Verbesserungen gegeben hat. Allerdings gab es keine vollständig positive Beurteilung der Lage.“ Festzustellen ist allerdings, dass sich die Lage der Gefangenen – zumindest in Abu Ghraib – nach Ausstrahlung der CBS-Bilder durch den öffentlichen Druck verbesserte. Das IKRK muss nun in seinen „Geheimmissionen“ sicherstellen, dass das auch so bleibt.

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135 12. Hilferufe: amnesty international wurde überhört Was wusste die Menschenrechtsorganisation über Folter durch die Besatzer im Irak? Wer wurde wann darüber informiert? Andreas Szabo hat die Berichte von amnesty analysiert und Danuta Baberowski fragte bei der deutschen Sektion in Sachen Pressearbeit nach. Genau wie das Rote Kreuz, will auch amnesty international Menschen helfen, die verfolgt, gefoltert und gedemütigt werden. Menschen, die wegen ihrer politischen Haltung, ihrer Abstammung, häufig auch grundlos vom Tode bedroht sind. Die weltweit arbeitende Organisation bezeichnet sich selbst als „unabhängig von Regierungen, politischen Parteien, Ideologien, Wirtschaftsinteressen oder Religionen unabhängige Mitgliederorganisation. Auf der Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wendet sich ai gegen schwerwiegende Verletzungen der Rechte eines jeden Menschen auf Meinungsfreiheit, auf Freiheit von Diskriminierung sowie auf körperliche und geistige Unversehrtheit“. Allerdings setzt amnesty auf öffentlichen Druck insbesondere über die Medien und nicht auf verschwiegene Diplomatie wie das Rote Kreuz. Im Fall Abu Ghraib meldete sich die deutsche Sektion von amnesty wenige Tage nach Ausstrahlung des CBS-Beitrags „Abuse in Abu Ghraib“ am 5. Mai 2004 mit folgender Pressemitteilung zu Wort: Folter durch amerikanische und britische Soldaten ai: Koalitionstruppen foltern seit Monaten – nicht nur im Irak ai-Berichte belegen Folter im Irak seit Juli 2003 / ai berichtet auch von Folter und Misshandlungen in Afghanistan und in Guantánamo / Alles keine Einzelfälle / Alle Foltervorwürfe müssen sofort umfassend und unabhängig untersucht werden FOLTER FREI


136 12. Hilferufe: amnesty international wurde überhört Berlin, 5. Mai 2004 - Die Fotos von Folterungen im Irak durch Angehörige der Besatzungstruppen bebildern, was amnesty international seit Monaten öffentlich gesagt hat – und dies nicht nur zum Irak. ai hat auch dokumentiert, dass es auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Bagram in Afghanistan zu Todesfällen gekommen ist, die auf Folter hindeuten. Ehemalige Gefangene aus dem US-amerikanischen Lager Guantánamo auf Kuba berichten von folterähnlichen Verhörmethoden. Bereits im Juli 2003 – und erneut im März 2004 – hat ai öffentlich gemacht, dass sowohl US-amerikanische wie britische Angehörige der Besatzungstruppen im Irak wiederholt Gefangene gefoltert haben. Mindestens vier Gefangene sind in der Haft gestorben. In mindestens einem Fall scheint die Todesursache Folter und Misshandlung gewesen zu sein. Alle Berichte machen deutlich: Es geht um mehr als nur um Einzelfälle. Folter ist eine der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen und ist vom Völkerrecht in absoluter Form geächtet. ai fordert dringend eine umfassende unabhängige und unparteiische Untersuchung aller Foltervorwürfe gegen die Koalitionsstreitkräfte. Die Schuldigen müssen bestraft, die Opfer oder ihre Angehörigen entschädigt werden. Die Verantwortlichen müssen sicherstellen, dass sich alle Angehörigen ihrer Streitkräfte an die Genfer Konventionen halten. Allen Gefangenen müssen menschenwürdige Haftbedingungen garantiert sein. Ihnen muss Kontakt zu Anwälten und zu Familienangehörigen gestattet sein. Sie sind binnen angemessener Frist anzuklagen oder freizulassen.

Diese Information erweckte zunächst den Eindruck, dass die Menschrechtsorganisation, zu diesem Zeitpunkt – fünf Tage nach Ausstrahlung des CBS-Beitrags – als die meisten Medien bereits in großer Aufmachung über Abu Ghraib berichtet hatten, nach dem Motto „Folter frei“ populistisch auf den „fahrenden Zug aufspringen“ wollte. Diese Einschätzung mag auf die Pressearbeit der deutschen Sektion teilweise zutreffen, ganz bestimmt jedoch nicht auf die von amnesty international geleistete Arbeit im Irak an sich. Nach Angaben der Organisation waren Mitarbeiter bereits seit dem 24. April 2003 im Irak im Einsatz, um die Haftbedingungen in den Gefängnissen der Koalitionstruppen (USA und Großbritannien) und die Einhaltung der FOLTER FREI


12. Hilferufe: amnesty international wurde überhört 137 Menschenrechte zu überwachen. Mit einem Schreiben vom 27. Juni 2003 hatte amnesty beim damaligen Chef der US-Zivilverwaltung im Irak, Paul Bremer, die Einhaltung der Bestimmungen der Genfer Konvention dringend angemahnt: „Paragraph 4 der Genfer Konvention ist der einzige relevante Standard für Haftbedingungen, der von den Koalitionstruppen verbindlich anzuwenden ist.“ Am 23. Juli 2003 berichtete die Menschenrechtsorganisation zum ersten Mal öffentlich über die Zustände in irakischen Gefängnissen nach Vertreibung des Hussein-Regimes. In dem „Memorandum über Sorgen im Zusammenhang mit Recht und Ordnung im Irak“ wurde unter anderem die Zugangsverweigerung für Anwälte zu Gefangenen, auch in Abu Ghraib, angeprangert. Es gab aber auch schon damals deutliche Hinweise auf Folterungen, zumindest in dem Gefangenenlager Camp Cropper122 und in Abu Ghraib. Zu den Vorwürfen, die amnesty seinerzeit erhob, zählten unter anderem: Ü Verharren in schmerzhaften Positionen, Schlafentzug u.a. durch grelles Licht und laute Musik, Verhüllung mit Kapuzen; Ü verunreinigtes Wasser, Wasserrationierungen, extreme Hitze, keine Kleidungswechsel in einen Zeitraum von 2 Monaten; Ü fehlende Liegen zum Schlafen, Toilette war ein Loch im Sichtbereich aller Zelleninsassen. amnesty wies auch darauf hin, dass mehrfach Iraker unter ungeklärten Umständen von amerikanischen und britischen Soldaten getötet worden sind. So wurde konkret ein Fall aus Basra geschildert, wo am 8. Mai 2003 Radi Nu’ma in britischer Haft ums Leben kam. Das in englischer Sprache erstellte Memorandum fasste die Deutsche Sektion von amnesty international in einer am 24. Juli 2003 verbreiteten PresFOLTER FREI


138 12. Hilferufe: amnesty international wurde überhört semitteilung zusammen und kam zu dem zwischenzeitlichen Fazit: „Nach mehr als hundert Tagen Besatzung ist das Versprechen, dass die Menschenrechte im Irak eingehalten werden, nicht erfüllt.“ Wie aus heutiger Sicht bekannt ist, haben sich die Bedingungen für Häftlinge in den Gefängnissen der Besatzungstruppen in der zweiten Jahreshälfte 2003 nicht etwa verbessert, sondern verschlimmert. Diese Einschätzung geht auch aus einem zweiten Memorandum hervor, das amnesty international am 18. März 2004 unter dem Titel „One year on the human rights situation remains dire“ (frei übersetzt: „Nach einem Jahr weiterhin schlimme Situation bei den Menschenrechten“) veröffentlichte. Der englischsprachige Bericht enthielt Aussagen über Folterungen von Gefangenen durch Elektroschocks, Schlafentzug, Schlägen oder Fesselungen der Geschlechtsteile. Beispielhaft wurden die schlimmen Erlebnisse von Abdallah Khudhran al-Shamran geschildert. Der saudi-arabische Staatsbürger war im April 2003 von Syrien kommend auf dem Weg nach Bagdad von US-Soldaten und verbündeten Irakern festgenommen worden. Er wurde zu einem ihm unbekannten Ort verschleppt, dort geschlagen, an den Füßen aufgehängt, mit Elektroschocks gequält und am Schlafen gehindert. Insgesamt vier Tage dauerten die Misshandlungen, bevor er nach Um Qasr in ein Krankenhaus kam. Er wurde dort verhört und schließlich ohne Geld und Pass freigelassen. Kurze Zeit später begegnete er einem britischen Soldaten, der ihn zu einem Militärlazarett brachte. Hier wurde er wieder verhört und misshandelt. Diesmal musste er lange in der heißen Sonne sitzen, wurde in einem Container eingesperrt und mit dem Tode bedroht. Dass diese Praxis kein Ausnahmefall war, bestätigte unter anderem ein früherer US-Marinesoldat im Februar 2004 während der Anhörung zum Tod eines Irakers im Gefangenenlager Camp Whitehorse in der Nähe von Nassiriya. Im Juni 2003 hatte dort ein US-Marinereservist den Häftling Sa’doun Hattab, einen ehemaligen Offiziellen der Baath-Partei123, zu Tode geprügelt. FOLTER FREI


12. Hilferufe: amnesty international wurde überhört 139 amnesty ging auch auf die Brutalität der Besatzer bei Hausdurchsuchungen und Festnahmen ein. Zudem wurde geschildert, wie Menschen auf bloßen Verdacht hin sterben mussten – oder ihre Häuser zerstört wurden. So kamen drei Bauern ums Leben und drei weitere Personen wurden verletzt, als am 23. September 2003 amerikanische Truppen in dem nahe Falluja gelegenen Dorf al-Jisr ihr Haus mindestens eine halbe Stunde lang unter Sperrfeuer nahmen. Ein Vertreter der US-Armee erklärte, die Truppen seien angegriffen worden. Eine Version, die von den Angehörigen der Toten später strikt zurückgewiesen wurde. Noch am Tag des Vorfalls erschienen Berichten zufolge Vertreter der US-Armee bei dem Bauernhaus, machten Fotoaufnahmen und entschuldigten sich bei der Familie. Am 10. November 2003 befahlen US-Soldaten der Familie Najim innerhalb von 30 Minuten ihren Bauernhof südlich von Bagdad zu verlassen. Kurze Zeit später zerbombten zwei F-16-Bomber das Gehöft. Die Verwüstungsaktion war nach Erkenntnissen von amnesty eine reine Vergeltungsaktion. Einige Tage zuvor war in der Nähe ein US-Militärkonvoi von Aufständischen überfallen worden. In der Nähe des Bauernhofes wurden kurze Zeit später sechs verdächtige Männer verhaftet, die Waffen bei sich trugen. Beweise für eine Komplizenschaft der Familie Najim blieben die Besatzer indes schuldig. Zu den Opfern im Nachkriegsirak zählen auch Kinder, wie amnesty im zweiten Bericht dokumentierte. Am 26. Juni erschossen US-Soldaten den 12-jährigen Mohammad al-Kubaisi in der Nähe von Bagdad. Als der Junge von der Kugel getroffen wurde, war er gerade dabei, das Bettzeug der Familie auf das Dach des Hauses zu tragen. Nachbarn versuchten noch, ihn in das nahe gelegene Krankhaus zu bringen, wurden jedoch von US-Soldaten unterwegs angehalten und wieder zurückgeschickt. Gegenüber einer Delegation von amnesty international erklärten Vertreter der Koalitionstruppen, Mohammad al-Kubaisi habe eine Waffe getragen, als er getötet wurde.

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140 12. Hilferufe: amnesty international wurde überhört Am 17. September wurden ein 14-jähriger Junge erschossen und sechs Menschen verwundet, als US-Soldaten in Falluja das Feuer auf die Gäste einer Hochzeitsfeier eröffneten. Diese hatten zur Feier des Tages Freudenschüsse abgegeben, woraufhin die Soldaten glaubten, sie würden angegriffen. Im zweiten amnesty Memorandum seit Vertreibung Husseins gab es weitere grauenvolle Beispiele von Gewalt – häufig gegen Unschuldige oder wehrlose Gegner. Aus Abu Ghraib wurde über einen Aufstand im November 2003 berichtet, bei dem drei Häftlinge erschossen worden waren. Am Haupteingang des Kerkerkomplexes warteten im Herbst 2003 regelmäßig Hunderte Iraker, weil sie ihre Angehörigen hinter den Mauern vermuteten. Weiterhin – so bemängelte amnesty – wurden die Familien von Verhafteten über Monate hinweg von den Behörden über den Verbleib ihrer Verwandten nicht informiert. Auch waren Besuche von Angehörigen oder gar Anwälten in Abu Ghraib untersagt. Im Gegensatz zum ersten Lagebericht im Juli des Jahres 2003 versäumte es diesmal die deutsche Sektion von amnesty, die brisanten Informationen aus dem etwa 20 Seiten umfassenden Papier in englischer Sprache für die deutschen Medien aufzubereiten. Warum? War das Thema für deutsche Medien nicht brisant genug? Wir wollten es genauer wissen, um die Medienarbeit der Menschenrechtsorganisation insbesondere in Deutschland besser nachvollziehen zu können. Also schickte Danuta Baberowski am 11. Mai 2004 eine Anfrage per Email: Sehr geehrte Damen und Herren, ich wende mich an Sie, um weitere Informationen zur Berichterstattung über die Foltervorwürfe gegen die Besatzer des Iraks zu erhalten. Im Rahmen eines Ausbildungsprojektes wird von Medienmanagern der Hochschule Mittweida das Verhalten der „westlichen“ und der arabischen Medien untersucht. Wir wollen dazu in Erfahrung bringen, wann, in welchem Umfang und an wen ai Informationen im Zusammenhang mit den Vorwürfen übermittelt hat. FOLTER FREI


12. Hilferufe: amnesty international wurde überhört 141 Diese Nachforschung soll das Verhalten der Medien in dieser Sache erklären, im Speziellen, ob Zeitungen oder Sendern bereits vor dem Aufgriff durch CBS Berichte von amnesty international oder anderen Organisationen vorlagen. Ich hoffe, Sie können mir in dieser Angelegenheit und für diese Sache weiterhelfen. Vielen Dank für Ihre Bemühungen bereits im Voraus. Mit freundlichen Grüßen Danuta Baberowski

Diese Email und eine „freundliche Erinnerung“ wenige Tage später blieben ohne Beantwortung. Die telefonische Nachfrage in der Berliner Pressestelle von amnesty ergab, dass das Interesse der deutschen Medien an der Mitteilung vom 24. Juli 2003 „nicht gerade überwältigend“ gewesen sei. Immerhin – seinerzeit hatte die Menschenrechtsorganisation darüber informiert, dass die „Weltpolizei“ USA im Irak ihre Gefangenen misshandelt. Der von amnesty übermittelte Pressespiegel registrierte schließlich 12 Veröffentlichungen in national verbreiteten Zeitungen, darunter Süddeutsche Zeitung, Die Welt, Frankfurter Rundschau und Handelsblatt als Bedeutendste. Eine Durchsicht der genannten Beiträge ergab allerdings, dass das Thema „Misshandlungen“ zumeist in Artikeln über andere Irak-Themen nur am Rande behandelt wurde. Lediglich die Frankfurter Rundschau („Auf Kriegsfuß mit dem Recht“, 25.07.03), Neues Deutschland („Kritik am Umgang mit Gefangenen“, 25.07.03), Die Tageszeitung („Misshandlungen im Irak“, 28.07.03) und die Westdeutsche Zeitung („Amnesty wirft Irak-Besatzern Folter vor“, 24.07.03) widmeten den angeprangerten Übergriffen im Irak eigene Beiträge, wenn zum Teil auch nur von geringem Umfang. Warum amnesty in Berlin den am 18. März 2004 in London verbreiteten zweiten ausführlichen Bericht aus dem Irak nicht in Deutschland propagierte, blieb indes unbeantwortet. Es ist festzuhalten, dass die gute und wichtige Arbeit vieler Mitarbeiter von amnesty international offensichtlich nicht angemessen genug in der Öffentlichkeit dargestellt wird, zumindest nicht in Deutschland. Am Beispiel der schlimmen Vorgänge im Irak der NachFOLTER FREI


142 12. Hilferufe: amnesty international wurde überhört Hussein-Ära hat sich gezeigt, dass die Frequenz und die Qualität der von amnesty verbreiteten Informationen nicht ausreichten, um insbesondere die deutschen Leitmedien mit hoher Verbreitung und großem Einfluss für dieses wichtige Thema zu sensibilisieren. Um es deutlich zu machen – hier werden nicht die Leistungen der Menschenrechtsorganisation amnesty international an sich, sondern lediglich handwerkliche Fehler in der Kommunikation bemängelt. Allerdings muss Abhilfe geschaffen werden, sonst besteht die Gefahr, dass der Einsatz vieler Mitarbeiter und Förderer nicht zu den notwendigen Erfolgen bei der Bekämpfung von Unmenschlichkeit führt. Ohne innovative und kreative Formen von Information und Kommunikation (mit den Medien) werden die von amnesty ausgesandten Hilferufe zunehmend überhört. Dabei sind Optimierungen der Pressearbeit und Kommunikation ohne großen Aufwand durchaus möglich: Ü Die Berichte (Memoranden) müssen mediengerechter aufgebaut werden; insgesamt kürzer sein, bei Verzicht von immer wiederkehrenden Standards wie der langatmigen Beschreibung von Ausgangssituationen. Ü Alle wichtigen Texte der internationalen Organisation sollten auch in deutscher Sprache zur Verfügung gestellt werden. Die deutschsprachigen Texte sind generell zu verbessern, d.h. sie müssen vor allem moderner und weniger kompliziert aufgebaut werden. Ü Meldungen und Berichte der Organisation müssen besser gegliedert werden – die wichtigste Information gehört an den Anfang; zudem sollten die Überschriften griffiger und nachvollziehbarer gestaltet werden. Ü

Insbesondere Pressemitteilungen sollten stärker auf ein Thema fokussiert werden.

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12. Hilferufe: amnesty international wurde überhört 143 Ü amnesty sollte vor allem Einzelschicksale so „anschaulich“ und nachvollziehbar wie möglich darstellen und auf pauschale (und nicht im Detail belegte) Aussagen verzichten. Sätze wie „uns wurde von Folter berichtet“ wirken unglaubwürdig, da nicht konkret nachvollziehbar. Ü Es darf nicht einmal der Anschein erweckt werden, dass sich amnesty auf „fahrende Medienzüge“ aufschwingt, wie im Falle der Pressemitteilung vom 5. Mai 2004. Die Organisation stellt ihre Glaubhaftigkeit in Gefahr, wenn sie in den Geruch kommt, populistisch „nachzuplappern“, statt Erstinformationen zu liefern. Ü amnesty muss sich darum bemühen, prominente Unterstützer zu konkreten Aussagen in Einzelfällen zu bewegen; das bringt mehr als pauschale „Huldigungen“ der Organisation. Ü Es sollte nach Möglichkeit mehr multimediales Material erstellt – und den Medien zur Verfügung gestellt werden. Misshandlungen selbst wird ai auf diese Weise kaum dokumentieren können, jedoch z.B. Außenaufnahmen von Gefängnissen, O-Töne von Prominenten, Videoclips mit Experten etc.

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145 13. Berichte vor dem 28. April 2004: Und es gab sie doch! Nach Ausstrahlung des CBS-Beitrags „Abuse in Abu Ghraib“ entstand zunächst der – falsche – Eindruck, dass es sich bei dem Bericht über Folterungen um „News“ handelte. Die Medienstudentinnen Anja Fischer, Isabell Schmutzler, Ines Mittag, Belinda Reg’n und Claudia Radeck haben zahlreiche Beispiele für Medienberichte vor dem 28. April 2004 gefunden. „Die deutschen Medien sind nicht erst nach der Ausstrahlung des Beitrags in der amerikanischen Magazin-Sendung „60 Minutes II“ vom 28. April 2004 auf das Thema eingestiegen“, behauptet Dr. Bernhard Wabnitz, Chefredakteur ARD-Aktuell und damit verantwortlich für so renommierte Informationsklassiker wie Tagesschau, Tagesthemen, Nachtmagazin und Wochenspiegel. Dem ist grundsätzlich nicht zu widersprechen, zumal er wenigstens zwei Beispiele für Berichte über Folter anführen kann: „Die Tagesthemen berichteten am 26. November 2003 erstmals über Übergriffe von US-Truppen im Irak, später auch über Foltervorwürfe gegen US-Truppen in Afghanistan (8. März 2004).“ Allerdings zeigte sich bald, dass es in den Beiträgen am 26. November nicht um Übergriffe der Besatzer nach Ende des Irakkriegs 2003 ging. Vielmehr hatten seinerzeit die Korrespondenten Thomas Aders und Jörg Armbruster in zwei beeindruckenden Reportagen die Verbrechen des HusseinRegimes aufgearbeitet. Tatsächlich hat also ARD-Aktuell – genau wie die meisten anderen deutschen Leitmedien – vor dem 28. April 2004 nicht über Abu Ghraib berichtet. Zumindest nicht im Fernsehen. Folterberichte, die auch der ARD-Aktuell-Redaktion bereits im Sommer 2003 unter anderem von amnesty international vorlagen, wurden im eigenen Online-Angebot versteckt. Warum solche Meldungen damals nicht den Sprung in die wesentlich stärker beachteten Nachrichtensendungen im FernFOLTER FREI


146 12. Hilferufe: amnesty international wurde überhört sehen schafften, erklärt Wabnitz indes nicht. Allerdings unterschied sich diese Handhabung auch nicht von anderen so genannten Leitmedien wie ZDF, Der Spiegel oder stern. Für die eigenen Internetseiten waren die damals vorliegenden Folterberichte aus dem Irak zumutbar, für Fernsehen und Wochenmagazine jedoch nicht. Dennoch – es gab eine Reihe von Veröffentlichung auch vor dem 28. April 2004. Zumeist allerdings im Internet, in kleineren bzw. alternativen Zeitungen und Zeitschriften sowie in ausländischen Medien: Juni 2003: Vorgänger der Abu-Ghraib-Schergen Die ersten veröffentlichten Beschuldigungen wegen Misshandlungen im Nachkriegsirak wurden nicht gegen die US-Truppen, sondern gegen britische Soldaten erhoben. Anfang Juni 2003 hatten The Sun und The Guardian über konkrete Fälle berichtet. Damals ermittelte die englische Militärpolizei gegen eigene Soldaten, weil sie für den Tod von zwei Irakern am 13. und 18. Mai 2003 verantwortlich gemacht wurden. Ein weiterer – damals 18-jähriger – Soldat wurde verhört, weil er Aufnahmen von gefesselten und geknebelten irakischen Gefangenen gemacht hatte. Auf weiteren Bildern waren Häftlinge in sexuell abartigen Posen zu sehen. Die Tat war entdeckt worden, nachdem der Soldat die Bilder in ein britisches Labor zum Entwickeln gegeben hatte und die Mitarbeiter aufgrund der dargestellten Motive die Polizei verständigten. Schon seinerzeit schrieb der The Guardian, dass Großbritannien gegen die Genfer Konventionen zum Schutz von Krieggefangenen verstoßen habe. Am 12. Juni 2003 berichtete Netzeitung.de von einer spektakulären Aussage des Rockmusikers Lars Ulrich. Der Drummer von „Metallica“ reagierte auf Gerüchte, wonach Beamte der US-Geheimdienste bei Verhören im Irak ohrenbetäubend laute Musik der Gruppe einsetzten, um Aussagen und Geständnisse zu erzwingen. Ulrich wörtlich: „Niemand im Irak hat mir jemals etwas getan. Und ich verstehe nicht, warum wir in den Mist rein gezogen werden. Ich finde es schrecklich.“ FOLTER FREI


13. Berichte vor dem 28. April 2004: Und es gab sie doch! 147 Juli 2003: Aus dem Folterverdacht wird Gewissheit Das ZDF veröffentlichte auf seiner Homepage im Internet einen ausführlichen und sehr präzise recherchierten Bericht von Annette Koch zu vorliegenden Erkenntnissen über Folter durch die Besatzer im Irak. Zu Beginn des Beitrags schrieb die Autorin: „Offenbar sind die amerikanischen und britischen Besatzungstruppen selbst nicht in der Lage, das zu gewährleisten, was sie vor dem Krieg eingefordert haben: die Einhaltung der Menschenrechte im Irak.“ 124 Bei ihren Darstellungen von Übergriffen bezog sich die Autorin vor allem auf Angaben von amnesty-Mitarbeitern. Die Nahost-Expertin der Menschenrechtsorganisation, Ruth Jüttner, schilderte den Fall eines 11-jährigen, der 25 Tage in einen Kerker gesteckt wurde, weil er angeblich auf amerikanische Soldaten geschossen habe. Erst nach 20 Tagen erfuhren die Eltern des Kindes zufällig von entlassenen Mitgefangenen, wo sich ihr Junge befand. Als amnesty international am 24. Juli 2003 den ersten Bericht über Verletzungen von Menschenrechten im Nachkriegsirak veröffentlichte, hatten die Medien längst einen anderen Aufmacher. Zwei Tage zuvor waren die beiden Saddam-Söhne Kusai und Udai in Mossul entdeckt und von US-Soldaten erschossen worden. Für die toten Söhne des Ex-Diktators wurden Titelseiten freigemacht – für die Klagen der Menschenrechtler über folternde Besatzer blieben – wenn überhaupt – wenige belanglose Zeilen übrig. „Erst ein Dutzend Raketen brach den Widerstand“, betitelte die sicher nicht als „Revolverblatt“ verdächtigte Westdeutsche Zeitung und wusste weiterhin zu berichten: „Nach sechsstündigem Gefecht verbrannten die Saddam-Söhne Udai und Kusai“.125 Da blieben für die von dpa übernommene Meldung „Amnesty wirft Irak-Besatzern Folter vor“ gerade mal sechs Zeilen übrig. Als einzige der „großen“ deutschen Zeitungen brachte die Süddeutsche Zeitung am 28. Juli 2003 innerhalb eines Beitrags über Anschläge gegen US-Soldaten einige Zeilen zu den von amnesty international erhobenen Foltervorwürfen gegen die Besatzer. FOLTER FREI


148 13. Berichte vor dem 28. April 2004: Und es gab sie doch! August 2003: Pressetermin in Abu Ghraib Im August 2003 wurde das amerikanische Militärgefängnis in Abu Ghraib offiziell neu eröffnet und unter Leitung einer Frau gestellt. US-Brigadegeneral Janis Karpinski war von nun an für die amerikanischen Militärgefängnisse im Irak zuständig. Eine der wenigen Zeitungen in Deutschland, die über das „Ereignis“ ausführlicher berichtete, war die Junge Welt.126 Zur Wiedereröffnung führte die Generalin Journalisten durch das frisch gestrichene Gebäude. Man habe „ganz von vorne anfangen müssen“, sagte sie der Nachrichtenagentur Reuters127. Angeblich sollten sich seinerzeit 500 Gefangene auf dem weitläufigen Gelände befinden. 400 seien gewöhnliche Kriminelle, zumeist Plünderer und Diebe, hundert „Anhänger von Saddam Hussein“ erklärte Karpinski beim „Rundgang“ den geladenen Journalisten. Die sahen auch, dass ein Teil der Häftlinge bei 50 Grad Hitze in stacheldrahtumzäunten Laufställen unter freiem Himmel gefangen gehalten wurden. Schon im Frühsommer 2003 war es in Abu Ghraib wiederholt zu Angriffen von Insassen auf die amerikanischen Bewacher gekommen. Im Juni wurde bei einem Aufstand ein Gefangener erschossen. Auch als die Journalisten nach ihrer Besichtigungstour das neue Abu Ghraib verließen, rüttelten Hunderte Gefangene am Stacheldraht und riefen „Freiheit, Freiheit“. Und einer der Reporter sah noch etwas anderes. An einem Gebäude stand in großen Buchstaben geschrieben „Death Row“, Todestrakt. September 2003: Brutale Festnahmen Ab Mitte des Jahres 2003 erschütterten Terroranschläge Bagdad und andere irakische Großstädte. Immer mehr Soldaten der Koalitionstruppen fanden bei Sprengstoffattentaten, Überfällen auf Militärlager und Angriffen auf Konvois den Tod. Die Konsequenz war, dass die Besatzer immer rüder gegen Iraker vorgingen. Wer nur im Geringsten verdächtig erschien, wurde verhaftet, gefesselt und rüde auf Militärlastwagen zum Abtransport gestoFOLTER FREI


13. Berichte vor dem 28. April 2004: Und es gab sie doch! 149 ßen. Frauen und Kinder schrieen bei den regelmäßigen Durchsuchungsaktionen. Allein Gebärden und Lautstärke der Soldaten, wenn sie in die primitiven Häuser eindrangen, müssen die zumeist einfachen Menschen zu Tode erschreckt haben. Engagierte Reporter wie der Bagdader ARD-Korrespondent Jörg Armbruster zeigten immer wieder solche Szenen und befürchteten in ihren Beiträgen, dass die Gewalt im Land damit weiter angeheizt wird. Oktober 2003: „Die Kleinen hängt man...“ „Schätzungsweise 10.000 Iraker sollen während und nach dem Krieg von US-Truppen in Gefangenschaft genommen worden sein“, berichtete am 1. Oktober 2003 die Tagesschau auf ihrer Homepage. In dem Beitrag von Karin Leukefeld waren weitere Hinweise darauf enthalten, wie unwürdig die Besatzungstruppen ihre Gefangenen behandeln: „Von Freigelassenen erfährt man, dass viele in der sengenden Sommerhitze von über 50 Grad in Zelten untergebracht sind. Die hygienischen Verhältnisse sind menschenunwürdig, es gibt nicht genügend Toiletten, von Duschen oder Waschräumen gar nicht zu reden.“129 Auch im Irak hat es offenbar Fälle von Siegerjustiz nach dem Motto „die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“ gegeben. In die Kritik geraten waren die Amnestien für ehemalige Regimeangehörige, die nachweislich an Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen waren oder diese angeordnet hatten. Karin Leukefeld schilderte den Fall des ehemaligen Verteidigungsministers Sultan Hashim Ahmed. Kurz nachdem er sich den USTruppen gestellt hatte, wurde er von jeglicher Strafverfolgung freigesprochen und man hatte ihm Immunität zugesagt. Angeblich soll Ahmed den USA Informationen über die irakischen Waffenprogramme zugesichert haben. Währenddessen irrten die Angehörigen einfacher Iraker von Kerker zu Kerker, um überhaupt in Erfahrung zu bringen, wo ihre Verwandten gefangen gehalten wurden, oft wochenlang ohne eine Spur zu finden. FOLTER FREI


150 13. Berichte vor dem 28. April 2004: Und es gab sie doch! November 2003: „Sie hielten uns wie Schafe“ Am 5. November 2003 verbreitete die Nachrichtenagentur AP eine Reportage ihres Bagdader Korrespondenten Charles Hanley, die konkrete Aussagen ehemaliger Gefangener der Alliierten enthielt. Der Bericht wurde insbesondere von Tageszeitungen weltweit übernommen. In Deutschland war Henleys Artikel vor allem auf Internetseiten wie stern.de zu finden. Eine der ganz wenigen Tageszeitungen, die den Beitrag „Sie hielten uns wie Schafe“ veröffentlichte, war die Junge Welt: Wer sich in den amerikanischen Gefangenenlagern in Irak querlegt, muss nach Darstellung kürzlich entlassener Häftlinge mit harten Repressionen rechnen. Die Gefangenen stundenlang gefesselt in der Sonne liegen zulassen oder die Kürzung von Lebensmittelrationen seien mögliche Strafmassnahmen der US-Truppen. Nach ihrer Freilassung erhoben einige Häftlinge schwere Vorwürfe gegen US-Wärter. „Sie respektieren niemanden, ob jung oder alt“, meint Rahad Naif über seine amerikanischen Aufseher. Zusammen mit seinen beiden Brüdern war der 31-jährige im Juli nach einem Streit mit einem einflussreichen Nachbarn festgenommen worden, Anklage wurde nicht erhoben. Der letzte der drei Brüder kam erst Mitte Oktober wieder frei. „Sie hielten uns wie Schafe“, sagt der 38jährige Saad Naif. „Sie schlugen Menschen. Sie demütigten Menschen.“ Die Bitterkeit sitzt tief bei ihm. Rund 5500 Gefangene zählen die US-Truppen, nach Ansicht einiger Juristen verschiedener irakischer und internationaler Quellen allerdings sind es mehr. Immer wieder hätten die Gefangenen für eine Freilassung protestiert, berichtet Hassan Ali Muslim, ein Exgefangener aus dem mittlerweile geschlossenen Camp Cropper. „Etwa 20 von uns begannen dann zu rufen: ‚Lasst uns raus! Lasst uns gehen‘!“ Fast jeden Tag habe es in Camp Bucca nahe der südirakischen Stadt Basra Proteste gegeben, bestätigt Rahad Naif, oft auch gewaltsame. „Manchmal griffen wir die Amerikaner mit Zeltstangen an“, erzählt Naif. „Wir wusFOLTER FREI


13. Berichte vor dem 28. April 2004: Und es gab sie doch! 151 sten aber, dass sie gewinnen würden. Wir hätten es nie geschafft, da rauszukommen.“ Immer wieder erheben Freigelassene Vorwürfe, dass die US-Soldaten weibliche Gefangene rücksichtslos behandelt hätten. „Wir mussten beobachten, dass irakische Frauen auf dieselbe Weise bestraft wurden wie Männer“, sagt Hassan Naif. Als einmal ein Häftling seiner Schwester in einem nahe gelegenen Zelt etwas zugerufen habe, hätten die Wärter die Frau bestraft. Der Mann habe zusehen müssen, wie seine Schwester gefesselt in der Sonne habe liegen müssen und versucht, die Absperrung um sein Zelt zu überwinden. Daraufhin sei er in die Schulter geschossen worden. Saad Naif berichtet auch von einem tödlichen Schuss in einem ähnlichen Fall auf dem Gelände des Gefängnisses Abu Ghraib bei Bagdad. Amnesty International stuft Schilderungen solcher Schüsse als glaubwürdig ein. Auf die Nachfrage von AP zu Berichten von Todesfällen haben die USStreitkräfte in Irak bislang nicht geantwortet. Mit jedem Tag der Gefangenschaft und der Ungewissheit seien Niedergeschlagenheit und Aggression in den Lagern gewachsen, berichten entlassene Häftlinge. „Sie fragten mich nach Saddams Familie, nach Al-Qaida-Terroristen, nach dem Waffenmarkt – alles Dinge, von denen ich keine Ahnung habe“, sagt der 24jährige Siad Tarik. „Ich dachte, sie würden Fragen zu meiner Person stellen. Warum wurde ich festgenommen?“130

Dezember 2003: Saddam wird „Kriegsgefangener“ – andere nicht Die am 13. Dezember 2003 verbreitete Meldung, wonach erstmals ein US-Offizier zugegeben hatte, bei Verhören einen irakischen Gefangenen gefoltert zu haben, ging nahezu unter. Der Grund ist nachvollziehbar – an diesem Tag holten US-Soldaten den Ex-Diktator Saddam Hussein aus einem Erdloch auf einem kleinen Gehöft in der Nähe seiner Heimatstadt Tikrit. US-Präsident George W. Bush überschlug sich verbal, als er die „herausraFOLTER FREI


152 13. Berichte vor dem 28. April 2004: Und es gab sie doch! gende Sachkenntnis und das präzise Vorgehen der tapferen Soldaten“ der 4. Infanteriedivision und das Können seiner Geheimdienstleute in einer Fernsehansprache überschwänglich lobte: „Eine großartige Arbeit der Analysten in unserem Geheimdienst, die die Spur des Diktators in einem riesengroßen Land fanden.“ Auch für die Iraker fand der US-Präsident aufmunternde Worte: “Sie brauchen sich nie wieder vor der Herrschaft Saddam Husseins zu fürchten.“ Wenige Tage später erklärte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im US-Fernsehen, dass Saddam Hussein die Rechte eines Kriegsgefangenen eingeräumt würden: „Seine Behandlung wird durch die Genfer Konvention geregelt.“ Es müsse sich niemand Sorgen darum machen, dass der Gefangene nicht korrekt behandelt werde. Auch der geständige Folter-Offizier musste sich keine Sorgen machen. Oberstleutnant Allen West, der Gefangene bei Verhören geprügelt und mit dem Tode bedroht hatte, wurde aus dem Militärdienst entlassen und zahlte eine Geldstrafe. Ein Militärgerichtsverfahren blieb ihm erspart. Januar 2004: „Das irakische Volk hat genug gelitten“ Die US-Armee entließ drei Soldaten, nachdem interne Untersuchungen ergaben, dass sie im Mai 2003 im Gefangenenlager Camp Bucca Häftlinge misshandelt hatten, meldete unter anderem am 7. Januar die Süddeutsche Zeitung. Auf Anweisung ihres weiblichen Stabsfeldwebels hatten sie einen Gefangenen zu Boden geschlagen und getreten. Einer der Beschuldigten zerrte Gefangene an den Armen über den Boden und ließ sie dabei von weiteren Soldaten treten. Am 8. Januar beobachtete eine Reporterin der französischen Nachrichtenagentur AFP131, dass in Abu Ghraib etwa 60 Gefangene freigelassen werden. US-Zivilverwalter Paul Bremer hatte zuvor die Freilassung von hunderten Insassen der Militärgefängnisse angekündigt. Am selben Tag kritisierte der FOLTER FREI


13. Berichte vor dem 28. April 2004: Und es gab sie doch! 153 für Menschenrechte in der irakischen Übergangsregierung zuständige Minister Abdel Basset Turki in Kairo öffentlich die Besatzungsmächte wegen zahlreicher Menschenrechtsverletzungen: „Das irakische Volk hat genug gelitten.“ Er wurde mit dieser Aussage vor allem in arabischen Medien zitiert. Die US-Armee kündigte am 16. Januar 2004 in einer kurzen Pressemitteilung an, dass in Abu Ghraib Untersuchungen wegen möglicher Rechtsverstöße durchgeführt werden. Kaum jemand ahnte damals, dass das der Beginn des so genannten „Folterskandals“ sein würde. Später erklärte US-Verteidigungsminister Rumsfeld, dass er durch diese Mitteilung zum ersten Mal auf die Vorfälle in dem Militärgefängnis aufmerksam geworden sei. Februar 2004: Schwere Vorwürfe gegen britische Soldaten Nach einem Bericht des Londoner Massenblatts The Sun hatten britische Soldaten in der südirakischen Stadt Basra einen Kriegsgefangenen zu Tode gequält. Weitere Häftlinge, die um Gnade gefleht hatten, seien wiederholt misshandelt worden, sagte ein britischer Soldat der Boulevardzeitung. Den Gefangenen seien Kapuzen übergestreift worden, danach hätten Soldaten die am Boden liegenden Männer mit Stiefeln in den Bauch getreten. Die Folterungen hätten „eine Ewigkeit“ gedauert, berichtete der Augenzeuge. Er bestätigte zudem, dass Misshandlungen von Gefangenen durch Soldaten im Irak keine Seltenheit seien. Das britische Verteidigungsministerium bestätigte den Tod des gefangenen Irakers und kündigte die Untersuchung der Umstände an. März 2004: Anklagen gegen die Folterer von Abu Ghraib Die Deutsche Presse-Agentur (dpa), die sich bislang bei der Berichterstattung über Foltervorwürfe zurückgehalten hatte, machte nun innerhalb von wenigen Tagen die Übergriffe der Besatzer gleich in zwei Meldungen zum Thema. Am 18. März meldete Deutschlands wichtigster NachrichtenlieFOLTER FREI


154 13. Berichte vor dem 28. April 2004: Und es gab sie doch! ferant: „Amnesty wirft USA schwere Menschenrechtsverletzungen vor“ und berichtete ausführlich über die der Menschenrechtsorganisation bis dahin vorliegenden Erkenntnisse. Drei Tage später erwähnte dpa zum ersten Mal Abu Ghraib im Kontext mit Misshandlungen irakischer Häftlinge durch amerikanische Soldaten. Diese Meldung enthielt die Informationen der tags zuvor vom US-Verteidigungsministerium verbreiteten Pressemitteilung. Weiterhin wurden auch die Aussagen eines Ex-Häftlings aus Abu Ghraib, die von US-Zeitungen verbreitet worden waren, indirekt zitiert: „...der nach eigenen Angaben zwei Stunden auf Händen und Knien verharren musste, während Soldaten auf seinem Rücken Schach spielten. Er habe auch Fäkalienabwasser mit dem Löffel aus einer vollen in eine leere Tonne füllen müssen.“ Gegen Ende der Meldung vermerkte der dpa-Redakteur noch: „Die Anschuldigungen ließen sich nicht überprüfen.“

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155 14. Reaktionen aus Redaktionen: „Thema nicht beweisbar“ Deutsche Leitmedien, von ARD bis ZDF, von Bild bis Süddeutsche Zeitung, Stern, Spiegel und Focus, haben vor dem 28. April 2004 so gut wie nicht über Abu Ghraib informiert – warum nicht? Tatiana Böhne, Achim Meyer und Horst Müller haben bei führenden deutschen Medienmachern nachgehakt. „Von denen bekommen wir nie eine Antwort. An den Spiegel oder die Bild zu schreiben, können wir uns gleich sparen“, so war die Einschätzung der – wohl meisten – Mitarbeiter am Ausbildungsprojekt „Folter frei“, als Mitte Mai bei einem Treffen darüber nachgedacht wurde, wie die Studenten mit den „Großen“ der deutschen Medienbranche in Kontakt kommen könnten. Die Auskünfte von den „Großen“ waren notwendig, um in der Projektarbeit voranzukommen. Also wurden im ersten Schritt Emails an die Pressestellen mehrerer nationaler und internationaler Nachrichtenagenturen, Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender geschickt:

Beispiel: Email an dpa vom 13. Mai 2004 Sehr geehrte Damen und Herren, mein Name ist Achim Meyer. Derzeit studiere ich an der Fachhochschule Mittweida Medienmanagement. Im Fach Journalismus erarbeiten wir derzeit eine chronologische Analyse bezüglich der Foltervorfälle im Irak. Unser Ziel ist es einen chronologischen Abriss der Berichterstattung über die Folterungen zu erstellen. Meine Fragen an Sie sind daher wie folgt: - Wann hat dpa zum ersten Mal von den Foltervorwürfen erfahren? - Wann hatte dpa zum ersten Mal entsprechendes Bildmaterial zur Verfügung? - Wann hat dpa zum ersten Mal Informationen darüber veröffentlicht ? Unsere Untersuchung findet im Auftrag von Herrn Professor Horst Müller statt. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie uns eine kurze Notiz bezüglich der FOLTER FREI


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14. Reaktionen aus Redaktionen: „Thema nicht beweisbar“

obigen Fragen zukommen lassen könnten. Selbstverständlich werden Sie ein Exemplar unserer Arbeit erhalten. Ich verbleibe mit Dank im voraus. Hochachtungsvoll Achim Meyer

Die Fragen waren einfach und sicherlich ohne großen Aufwand zu beantworten. Doch die Skeptiker sollten zunächst recht behalten. Weder die Deutsche Presse-Agentur, noch irgend eine andere angeschriebene Zeitung, Zeitschrift oder Fernsehredaktion meldete sich mit einer Antwort. Es scheint heutzutage tatsächlich so zu sein, dass viele Emails beim ersten Anlauf erst einmal ignoriert werden, wenn die Beantwortung mit Arbeit verbunden ist – ganz nach dem Motto ‚vieles erledigt sich von alleine. Durch solche Ignoranz wollten sich die Projektteilnehmer indes nicht „erledigen“ lassen. Also beschloss man nun „strategisch“132 vorzugehen. Zunächst wurde diskutiert und festgelegt, welche „Leitmedien“ kontaktiert werden sollen. Was ist nun eigentlich unter „Leitmedien“ zu verstehen? Der Begriff ist in dreifacher Hinsicht zu definieren: (1) Medien, die von den Konsumenten insbesondere genutzt werden; d.h. Zeitungen und Zeitschriften mit den höchsten Auflagen und Reichweiten (Zahl der Leser), bzw. Radio- und Fernsehprogramme mit den meisten Zuhörern bzw. Zuschauern und/oder höchsten Marktanteilen in ihren Verbreitungsgebieten. (2) Medien, die eine möglichst hohe journalistische Kompetenz wegen ihrer fundierten Berichterstattung haben – eine äußerst subjektive Einschätzung. (3) Medien, die von Medienschaffenden vor allem genutzt und akzeptiert werden (Redakteuren, Journalisten, Führungskräften in Medienunternehmen und Redaktionen). Dazu hat der Medienwissenschaftler Carsten Reinemann FOLTER FREI


14. Reaktionen aus Redaktionen: „Thema nicht beweisbar“ 157 von der Universität Mainz im Jahr 2003 eine umfassende Studie vorgelegt. Reinemann kommt zu dem Schluss, dass das Konsumieren anderer Medien ein Teil des notwendigen professionellen journalistischen Handelns ist: „Ein zentrales journalistisches Motiv für die Beobachtung anderer Medien ist das Bestreben, die Anschluss- und Konkurrenzfähigkeit der eigenen Berichterstattung beim Publikum sicherzustellen.“133 Radiosender, -programme und -sendungen wurden nicht berücksichtigt, weil die meisten überwiegend populär ausgerichteten Programme mangels journalistischer Inhalte derzeit keine publizistische Bedeutung haben. Die wenigen journalistisch anspruchsvollen Programme (Deutschlandfunk, Deutschlandradio und Info-Programme von ARD-Sendern wie NDR-Info, MDR-Info oder B5-Aktuell) haben zu wenig Hörer, um publizistisch zu den „Großen“ gezählt werden zu können. Nach intensiver Diskussion wurden im Ausbildungsprojekt unter Berücksichtigung der zuvor genannten Aspekte folgende Medien festgelegt, die nunmehr im zweiten Schritt nochmals angesprochen bzw. angeschrieben werden sollten: Fernsehen:

ARD-Aktuell, ZDF-heute, RTL-Aktuell

Tageszeitungen:

Bild Zeitung, Süddeutsche Zeitung

Aktuelle Zeitschriften:

Der Spiegel, stern, Focus

Nachrichtenagentur:

dpa (Deutsche Presse-Agentur)

Dann wurde festgelegt, wer bei den ausgewählten Medien – und in welcher Form angesprochen werden sollte. Die Lösung war pragmatisch: Weiterhelfen konnte nur „der Schmied und nicht der Schmiedl“. Damit die Sache den nötigen Nachdruck erhielt, schrieb Prof. Müller auf dem offiziellen Briefkopf der Hochschule Chefredakteure bzw. Redaktionsleiter der zuvor benannten Medien an. Damit die Anfragen auch wirklich FOLTER FREI


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14. Reaktionen aus Redaktionen: „Thema nicht beweisbar“

ihre Adressaten erreichten, ging eine elektronische Kopie per Email an die zuständigen Pressestellen, während die Originale – ganz altmodisch per Post – direkt an die Chefredaktionen verschickt wurden. Die Pressestellen sollte man bei solchen „Aktionen“ nie ganz übergehen, zumal manche in Medienhäusern recht einflussreich sind und durchaus Auskünfte von Blattmachern oder Redaktionsleitern blockieren bzw. vorantreiben können. Allerdings darf man sich auch keinesfalls allein auf die Unterstützung der Öffentlichkeitsarbeiter verlassen. Ein leitendes Redaktionsmitglied – das hier aus nachvollziehbaren Gründen nicht genannt werden soll – teilte in der Antwort mit: „In solchen Dingen ist es wohl immer besser, sich direkt mit der Redaktion in Verbindung zu setzen. Wir sind in der Regel immer gern bereit zu helfen.“ Beispiel: Schreiben an Stefan Aust, Chefredakteur DER SPIEGEL, vom 27. Mai 2004 Sehr geehrter Herr Aust, hiermit bitte ich Sie um inhaltliche (nicht finanzielle!) Unterstützung unseres aktuellen Ausbildungsprojekts Print im Fachbereich Medien an der Hochschule Mittweida. Der – sicherlich sensibel zu handhabende – Inhalt ist die Recherche, Dokumentation und Darstellung der Medienberichterstattung zu Übergriffen und Folterungen von Inhaftierten in irakischen Gefängnissen durch Angehörige und zivile Mitarbeiter der Besatzungstruppen. Hauptaspekt der Gemeinschaftsarbeit von 18 engagierten Medienmanagementstudenten unter meiner Leitung ist dabei die Frage: Warum sind die deutschen Medien erst nach Ausstrahlung des Beitrags in der amerikanischen Magazinsendung „60 Minutes II“ (CBS) am 28. April 2004 auf das Thema eingestiegen? In diesem Zusammenhang übermittle ich Ihnen auf der folgenden Seite einen absichtlich kurz gehaltenen Fragenbogen mit der herzlichen Bitte, in Ihrem Haus dafür Sorge zu tragen, dass mich die Antworten bis Dienstag, 8. Juni 2004, erreichen. Dabei versichere ich Ihnen ausdrücklich, dass die Antworten ohne Änderungen in die Dokumentation aufgenommen werden. Auch wenn wir aus Ihrem Haus keine Nachricht erhalten, werden wir diesen Umstand in der Dokumentation vermerken. Dieser Fragenbogen geht zeit- und inhaltsgleich FOLTER FREI


14. Reaktionen aus Redaktionen: „Thema nicht beweisbar“ 159 an ARD-Aktuell, Der Spiegel, dpa-Chefredaktion, Focus, RTL-Aktuell, Stern, Süddeutsche Zeitung und ZDF-heute. Die fertige Dokumentation wird in jedem Fall wissenschaftlich und publizistisch genutzt – es handelt sich also nicht um ein „studentisches Sandkastenprojekt“. Erster Schritt ist eine Gemeinschaftsvorlesung in Form einer Multimediapräsentation, die ich gemeinsam mit den Projektteilnehmern am 15. Juni an der Hochschule für ein Auditorium von etwa 300 Studenten halten werde. Anschließend beginnen sofort die Vorbereitungen für eine Buchveröffentlichung. Erlauben Sie mir abschließend noch den Hinweis, dass ich mich deswegen in die aktive Recherche eingeschaltet habe, weil Anfragen von Studenten über die Pressestellen einiger so genannter deutscher „Leitmedien“ einfach ignoriert wurden. Dagegen erhielten wir von nahezu allen angeschriebenen bedeutenden internationalen Medien sofort, umfassend und kompetent Auskunft. Ich bin sicher, dass ich – nicht zuletzt – mit Ihren Antworten meinen Studenten eindrucksvoll belegen kann, dass führende deutsche Medienmacher auch bei vermeintlich unangenehmen Fragen nicht den „Kopf einziehen“. Ich warte deswegen gemeinsam mit meinen Medienstudenten gespannt auf Ihre Antwort und verbleibe mit freundlichen Grüßen Horst Müller

Jetzt ging es noch darum, die richtigen Fragen zu stellen. Möglichst wenige, möglichst kurz und möglichst präzise. Klar war, dass ein langer unübersichtlicher Fragebogen entweder im Papierkorb gelandet – bestenfalls noch an Assistenten weitergeleitet worden wäre. Solche Überlegungen führten zur Erkenntnis, dass zumindest vier Fragen gestellt werden mussten, um schließlich auch verwertbare Informationen zu erhalten. Diese Fragen gingen als Anlage mit dem – zuvor beispielhaft dargestellten – Anschreiben an die „Schmiede“: Fragen zur Medienberichterstattung über Übergriffe und Folterungen von Inhaftierten in irakischen Gefängnissen durch Angehörige und zivile Mitarbeiter der Besatzungstruppen: FOLTER FREI


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14. Reaktionen aus Redaktionen: „Thema nicht beweisbar“

1. Wann hat Ihre Redaktion erstmals Kenntnisse über die zuvor genann-

ten Vorgänge erhalten und aus welcher(n) Quelle(n) stammten die Informationen? Bitte geben Sie möglichst das genaue Datum an. 2. Haben Sie vor dem 28. April 2004 (Ausstrahlung bei CBS „60 Minutes II“) über die Foltervorwürfe berichtet und in welchem Umfang? Bitte geben Sie möglichst das genaue Datum an. 3. Wenn Sie vor dem 28. April 2004 nicht über die Vorgänge berichtet haben – warum nicht? (z.B. Thema war unbekannt; erschien für die eigene Berichterstattung nicht relevant etc.) 4. Welche Folgen/Auswirkungen auf die eigene Berichterstattung hatte der am 28. April 2004 von „60 minutes II“ (CBS) ausgestrahlte Beitrag über die Foltervorwürfe? (z.B. über das Thema wurde massiv berichtet; zum Thema wurde anschließend selbst recherchiert) Die Anschreiben einschließlich Fragebogen wurden mit der Bitte um Rückantwort bis 8. Juni 2004 am 27. Mai 2004 auf den Weg gebracht. Und diesmal sollten die Skeptiker nicht recht behalten. Schon am 1. Juni 2004 meldete sich Thomas v. Mouillard, stellvertretender Chefredakteur der Deutschen Presse-Agentur (dpa) mit einer umfassenden Auskunft per Email. Tags darauf ging ein Fax aus Hamburg ein. Absender Stefan Aust. Der vielbeschäftigte Spiegel-Chef hat das Antwort-Formular handschriftlich ausgefüllt; knapp aber kompetent, so der Eindruck. Einige Tage später meldete sich auch noch Spiegel-Auslandschef Dr. Olaf Ihlau mit einer eigenen ausführlichen Antwort, die jedoch nicht im Widerspruch zu den Ausführungen des eigenen Chefs standen. Bis zum erbetenen „Einsendeschluss“ hatten sich schließlich sieben der neun angeschriebenen deutschen Leitmedien mit Auskünften gemeldet. Nur Focus und Bild mussten „angemahnt“ werden, bis sie schließlich ebenfalls die Fragen beantworteten. Die „Erfolgsquote“ lag also bei 100%.

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14. Reaktionen aus Redaktionen: „Thema nicht beweisbar“ 161 Übersicht der kontaktierten deutschen Leitmedien Medien

angeschrieben

geantwortet

Bemerkungen

dpa

Dr. Wilm Herlyn Chefredakteur

Thomas v. Mouillard stv. Chefredakteur

Schnellste Antwort, ausführlich

ARD-Aktuell

Dr. Bernhard Wabnitz 1. Chefredakteur

Dr. Bernhard Wabnitz 1. Chefredakteur

Ausführliche Antworten mit Anlagen

ZDF-heute

Nikolaus Brender Chefredakteur ZDF

Bettina Warken Redaktionsleiterin

Ausführliche Auskünfte

RTL-Aktuell

Michael Wulf stv. Chefredakteur

Michael Wulf stv. Chefredakteur

Kurze Antworten

Bild

Kai Diekmann Chefredakteur

Sven Gösmann stv. Chefredakteur

Nach „Mahnung“ kurze Antworten

Süddeutsche Zeitung

Hans Werner Kilz Dr. Gernot Sittner Chefredakteure

Dr. Peter Münch Ressortleitung Außenpolitik

Kurze Antworten, ausführliche Unterlagen

Der Spiegel

Stefan Aust Chefredakteur

Stefan Aust Chefredakteur

Schnelle Antwort, kurze Auskünfte

Dr. Olaf Ihlau Ressortleiter der Auslandsredaktion

Ausführliche Antworten

stern

Thomas Osterkorn Andreas Petzold Chefredakteure

Christoph Reuter Auslandsredaktion

Sehr ausführliche Antworten

Focus

Uli Baur Stellvertreter des Chefredakteurs

Ulrich Schmidla Ressortleiter Ausland

Nach „Mahnung“, kurze Antworten

Hinweis: Die genannten Positionen und Personen beziehen sich auf den Zeitraum der Erhebung, 27. Mai 2004 – 21. Juni 2004. Etwaige inzwischen eingetretene personelle Veränderungen wurden nicht berücksichtigt. Die Antworten vom Spiegel wurden zusammenhängend als die Antwort eines Mediums ausgewertet. FOLTER FREI


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14. Reaktionen aus Redaktionen: „Thema nicht beweisbar“

Interessant war auch zu erfahren, welche „Bürotechnik“ führende deutsche Medienmacher einsetzen. Grundsätzlich wurden alle Möglichkeiten – von der einfachen Email-Rückantwort bis zum telefonischen Rückruf – angeboten. Es stellte sich heraus, dass in den Chefredaktionen zu einem Teil offensichtlich noch recht „traditionell“ gearbeitet wird: Drei mal wurde der Fragebogen per Post zurückgereicht (eine Redaktion hatte das Formular sogar mit einer Art Reiseschreibmaschine ausgefüllt), viermal als Fax geschickt und nur zwei Redaktionen wählten den bequemen Weg der EmailAntwort.

Reaktionen auf Frage 1: Wann hat Ihre Redaktion erstmals Kenntnisse über die zuvor genannten Vorgänge erhalten und aus welcher(n) Quelle(n) stammten die Informationen? Bitte geben Sie möglichst das genaue Datum an. Die Antworten überraschten schon zur ersten Frage. Immerhin gaben drei der insgesamt neun Redaktions- und Ressortleitungen – RTL-Aktuell, Bild und Focus – an, dass sie überhaupt erst durch die Berichterstattung in CBS bzw. durch anschließende Meldungen in internationalen Nachrichtenagenturen von den Misshandlungen erfahren hätten. Bei RTL-Aktuell muss es zuvor Kommunikationsprobleme mit den Reportern vor Ort in Bagdad gegeben haben. Denn Antonia Rados bestätigte, dass sie sehr wohl von den Folterungen gehört – jedoch keine „Beweise“ dafür hatte (siehe auch folgendes Kapitel). Die anderen sechs Redaktionen hatten auch schon vor dem 28. April von Misshandlungen in den Kerkern der Besatzer im Irak gehört. Zumeist waren diese nach Auffassung der Redaktions- und Ressortchefs jedoch „zu wenig konkret“ (Süddeutsche Zeitung) oder sie wirkten „nicht seriös genug“ (Der Spiegel), um die Themen ernsthaft weiterzuverfolgen. Sehr ausführlich und

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14. Reaktionen aus Redaktionen: „Thema nicht beweisbar“ 163 nachvollziehbar äußerte sich zu dieser Frage Christoph Reuter vom sternAuslands-Ressort, der selbst mehr als ein Jahr im Irak war: Von Folterungen im Allgemeinen hatten wir bereits seit Dezember Kenntnis, aber nicht mehr als das: Gerüchte, Aussagen, die zum einen mit nichts zu belegen waren (Narben, Untersuchungsberichte), zum anderen von kontaktierten US-Stellen rundheraus dementiert wurden. Zutritt zu Abu Ghraib wurde uns mehrfach verweigert, und da obendrein immer wieder von irakischer Seite Aussagen vorgelegt wurden, die vollkommen übertrieben waren (etwas zum Einsatz von NuklearWaffen durch die US-Streitkräfte), haben wir uns ausschließlich auf solche Sachverhalte verlassen, die wir mit eigenen Augen gesehen hatten, die durch mehrere voneinander unabhängige Zeugen bestätigt wurden oder die vom Roten Kreuz o.ä. Institutionen bestätigt wurden. Nichts von alledem lag uns im Fall von Misshandlungen vor, insofern erschien kein Text darüber – bis zur Veröffentlichung der Fotos durch CBS, die für uns der Anlass waren, darüber zu berichten.

Reaktionen auf Frage 2: Haben Sie vor dem 28. April 2004 (Ausstrahlung bei CBS „60 Minutes II“) über die Foltervorwürfe berichtet und in welchem Umfang? Bitte geben Sie möglichst das genaue Datum an. Lediglich drei (ARD-Aktuell, Süddeutsche Zeitung und dpa) der neun Redaktionen teilten mit, dass sie schon vor dem 28. April 2004 über Foltervorwürfe gegen US-Truppen im Irak berichtet hätten. Die Überprüfung der ARD-Angaben ergab allerdings, dass in den Tagesthemen am 26. November 2003 nicht – wie von Chefredakteur Bernhard Wabnitz mitgeteilt – über die Übergriffe der Besatzer, sondern über die Aufarbeitung der Folterberichte aus der Hussein-Diktatur zwei Reportagen gesendet wurden. Die Süddeutsche Zeitung hatte zwar auf sechs Veröffentlichungen im eigenen Blatt vor dem 28. April hingewiesen. Bei genauerer Betrachtung der FOLTER FREI


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(von der Redaktion mitgelieferten) Artikel, stellte sich allerdings heraus, dass die Informationen insgesamt doch sehr bescheiden ausgefallen waren: 28. Juli 2003: Ein Absatz über das Verfahren gegen einen US-Militärpolizisten wegen Misshandlungen irakischer Häftlinge in dem vierspaltigen Beitrag „Neue Anschlagserie gegen US-Soldaten im Irak“ (Seite 1); 29. Juli 2003: Einspaltige Meldung „Ermittlungen in Den Haag gegen britische Soldaten“ (Seite 6); 20. August 2003: Einspaltige Meldung „Amnesty kritisiert Anti-Terrorkampf der USA“ (Seite 7); 5. Januar 2004: 16 Zeilen über Beschuldigungen gegen einen britischen Soldaten, der einen Iraker zu Tode geprügelt haben soll am Ende des vierspaltigen Beitrags „Blair warnt vor Virus des islamischen Extremismus“ (Seite 6); 7. Januar 2004: Einspaltige Meldung „Razzien der Amerikaner im Irak scharf kritisiert“ (Seite 6); 22. März 2004: Kurzmeldung „Anklage gegen GIs“ (Seite 8).

In der am 22. März 2004 von der Süddeutschen Zeitung auszugsweise abgedruckten Meldung der Nachrichtenagentur AP ging es erstmals um die Vorwürfe gegen die Militärpolizisten in Abu Ghraib. Das Thema hatte auch die Deutsche Presse-Agentur (dpa) am 21. März 2004 aufgegriffen, nachdem das US-Verteidigungsministerium am Tag zuvor eine entsprechende Pressemitteilung verbreitet hatte. Bereits am 18. März hatte dpa über die von amnesty international (erneut) erhobenen Foltervorwürfe gegen die Besatzer berichtet. Reaktionen auf Frage 3: Wenn Sie vor dem 28. April 2004 nicht über die Vorgänge berichtet haben – warum nicht? (z.B. Thema war unbekannt; erschien für die eigene Berichterstattung nicht relevant etc.) Es war wohl zu erwarten, dass einige Medienmacher vor dieser Frage FOLTER FREI


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„kniffen“ oder ausweichend antworten würden. Dem war nicht so. Von den sieben Leitmedien, die vor dem 28. April nicht über die Foltervorwürfe gegen Besatzer berichtet hatten, kamen überwiegend klare Aussagen, auch wenn diese nicht immer den Eindruck von hoher Kompetenz vermittelten – zumindest nicht im Fall Abu Ghraib. Michael Wulf, stellvertretender Chefredakteur von RTL-Aktuell, räumte ein „das Thema war nicht bekannt“ und begründete die Nichtberichterstattung mit der „Fülle anderer, tagesaktueller Ereignisse aus dem Irak“. Sein Kollege bei Bild, Sven Gösmann, teilte schlicht mit „das Thema war der Redaktion nicht bekannt“. Ganz ähnlich war auch die Antwort von Ulrich Schmidla, Ressortleiter Ausland bei Focus: „Thema war unbekannt“. Besser informiert waren grundsätzlich die Auslandsredaktion des stern: „Wir fanden das Thema mitnichten irrelevant, und unbekannt war es uns auch nicht, nur eben nicht stichhaltig zu belegen“, schrieb Christoph Reuter und Bettina Warken, Redaktionsleiterin von ZDF-heute, hatte gleich eine Reihe von Begründungen parat: „Unsere Korrespondenten haben in Bagdad von Vorwürfen gehört, sie aber nicht verifizieren können. Allein das Rote Kreuz hatte Zugang zu den Gefängnissen und hätte eine unabhängige Quelle sein können, allerdings hat das Rote Kreuz nichts veröffentlicht. Wir haben nach dem 18.3. im Rahmen unserer Berichterstattung über die Situation im Irak über die Vorwürfe von amnesty international berichtet, allerdings auch erwähnt, dass es für die Vorwürfe bisher keine Belege gibt. Ausführlich haben wir dagegen über die Tötung von Zivilisten bei militärischen Handlungen berichtet, der Hauptkritikpunkt von amnesty. Zudem haben wir regelmäßig über die Behandlung von Gefangenen in Guantánamo berichtet.“ Ähnlich wie Bettina Warken reagierte auch Spiegel-Auslandschef Olaf Ihlau – nur kürzer: „Thema so nicht beweisbar. Allerdings haben wir ständig über Übergriffe von US-Soldaten berichtet. Auch in Interviews, etwa FOLTER FREI


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14. Reaktionen aus Redaktionen: „Thema nicht beweisbar“

mit Scheich Dschabara ‚Die Amerikaner sind schrecklich’ (Nr. 35 vom 25. August 2003).“ Allerdings am 19. April 2004 nicht. Nur 10 Tage vor dem CBS-Bericht war Der Spiegel mit der Titelgeschichte „Die Falle Irak – Bushs Vietnam“ erschienen. Die Misshandlungen durch amerikanische Besatzer im Nachkriegsirak war den Redakteuren offensichtlich nicht wichtig genug, um in der 15 Redaktionsseiten umfassenden Berichterstattung auch nur mit einem Wort erwähnt zu werden. Spiegel-Chef Stefan Aust gab vermutlich die pragmatischste – vielleicht auch ehrlichste Antwort auf die Frage, warum vor dem 28. April 2004 nicht über Abu Ghraib berichtet wurde: „Wenn wir z.B. die Fotos gehabt hätten, wäre ein Titel die Folge gewesen.“ Reaktionen auf Frage 4: Welche Folgen/Auswirkungen auf die eigene Berichterstattung hatte der am 28. April 2004 von „60 minutes II“ (CBS) ausgestrahlte Beitrag über die Foltervorwürfe? (z.B. über das Thema wurde massiv berichtet; zum Thema wurde anschließend selbst recherchiert) In den Tagen nachdem CBS die Bilder aus Abu Ghraib ausgestrahlt hatte, wurde der „Folterskandal“ auch zum beherrschenden Thema für die – meisten – deutschen Leitmedien. Alle befragten Medienmacher teilten mit, dass man sich „nach CBS“ nicht nur auf Agenturberichte gestützt, sondern auch eigene journalistische Ressourcen für Abu Ghraib freigemacht habe. dpa: „Nach der Veröffentlichung der Fotos wurde es deutlich einfacher, Fakten und Reaktionen zu diesem Thema zu sammeln. Dementsprechend nahm der Umfang der Berichterstattung massiv zu – nicht zuletzt auch deshalb, weil bei unseren Kunden das Interesse an dem Thema gewaltig anstieg.“ ARD-Aktuell: Chefredakteur Bernhard Wabnitz übermittelte eine Liste mit 38 Beiträgen, die zwischen dem 29. April und 26. Mai 2004 in Tagesschau, Tagesthemen und Nachtjournal ausgestrahlt wurden. FOLTER FREI


14. Reaktionen aus Redaktionen: „Thema nicht beweisbar“ 167 ZDF-heute: „Nach der Veröffentlichung haben wir mehrere Berichte aus dem Irak von Natalia Cieslik gesendet und ausführlich über die amerikanischen Reaktionen berichtet. Bis heute sind die Vorwürfe, ihre Folgen in Amerika und weltweit, Thema unserer Berichterstattung.“ RTL-Aktuell: „Auswertung der Berichterstattung über Misshandlungen in den folgenden Tagen nach dem 28.4.04; Eigenrecherche von RTL-Mitarbeitern in Bagdad.“ Bild: „Natürlich hatte die Ausstrahlung des Beitrags in der angesehenen US-Fernsehsendung ‚60 minutes II’ großen Einfluss auf unsere Berichterstattung. Wir haben uns dabei vor allem auf Agenturberichte sowie auf die Berichte unserer amerikanischen und britischen Korrespondenten gestützt. Darüber hinaus gab es natürlich eine Fülle eigener Recherchen aus der Hamburger Zentralredaktion heraus. So haben wir Nahost-Experten und Militärkenner zur möglichen Echtheit der Fotos gefragt, mit Medizinern und Psychologen über Ursachen und Folgen der Folter gesprochen.“ Süddeutsche Zeitung: „Wir haben intensive Berichterstattung gehabt – Nachrichten, Reportagen (z.B. Lynndie England, z.B. Portrait Rumsfeld) plus Meinungsbeiträge in der Politik und im Feuilleton.“ Der Spiegel: „In der nächstmöglichen Ausgabe Nr. 19 (3. Mai 04) brachten wir eine Titelgeschichte ‚Die Folterer von Bagdad‘. Andere – etwa ‚Focus‘ – brachten keine Zeile oder stiegen erst viel später ein.“ stern: „Selbst recherchieren brauchten wir für diese Veröffentlichung nicht mehr (Anmerkung des Autors: Gemeint ist die Veröffentlichung vom 4. Mai 2004), wir haben eine Art kurzes Rechercheprotokoll veröffentlicht, um sichtbar zu machen, wie schwierig es ist, mit einem solchen Thema umzugehen, wenn keine Rechtsanwälte zugelassen sind, unabhängige Recherchen unmöglich sind und einschlägige Erfahrungen gemacht wurden, dass beide Seiten, i.e. Amerikaner und Iraker, Übertreibungen und Lügen präsentiert haben.“ FOLTER FREI


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14. Reaktionen aus Redaktionen: „Thema nicht beweisbar“

Focus: „Über das Thema wurde massiv berichtet und zum Thema wurde selbst recherchiert.“

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169 15. Reaktionen von der „Front“: „Voll mit Gerüchten“ Warum haben uns unsere „TV-Starreporter“ in Bagdad nicht früher über Abu Ghraib informiert? Falk Menzel hat bei Antonia Rados (RTL), Natalia Cieslik und Ulrich Tilgner (beide ZDF) nachgefragt. Das Einsatzgebiet von Antonia Rados134 ist eigentlich friedlich. Seit 1995 ist sie Studioleiterin von RTL in Paris. Bekannt geworden ist die inzwischen über 50-Jährige jedoch dem breiten deutschen Fernsehpublikum mit ihren Sondereinsätzen als Korrespondentin in Krisengebieten. Sie berichtete aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg und sie meldete sich live aus Bagdad im Frühjahr 2003, während die Amerikaner ihre Bomben über der irakischen Hauptstadt abwarfen. Für ihre Berichte aus dem Krieg erhielt sie 2003 gemeinsam mit dem ZDF-Kollegen Ulrich Tilgner den Hanns-JoachimFriedrichs-Preis. Die gebürtige Klagenfurterin hatte jedoch nicht nur spektakuläre „Liveauftritte“ in RTL-Aktuell, sondern überzeugte auch mit beeindruckenden Dokumentationen. Für „Mein Freund Saddam“, einer Koproduktion von RTL mit dem deutsch-französischen Kulturkanal Arte, wurde sie mit dem bedeutendsten österreichischen Medienpreis „Romy“ ausgezeichnet. Dieser Vollblutjournalistin und ihren zahlreichen Kollegen im Irak sollen tatsächlich nicht die Zustände in Abu Ghraib und anderswo im Irak aufgefallen sein, nachdem Hussein und seine Schergen geflohen waren und die Alliierten das Kommando übernommen hatten? Wir fragten nach – per Email und erhielten postwendend Antworten: Frage: Frau Rados, warum sind die Übergriffe von amerikanischen Soldaten in Abu Ghraib und anderen irakischen Gefängnissen erst Ende April bekannt geworden? Antonia Rados: Wie in vielen Fällen, sind die Informationen über Folter und die Misshandlungen in Abu Ghraib aus einem ganz einfaFOLTER FREI


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15. Reaktionen von der „Front“: „Voll mit Gerüchten“

chen Grund nicht an die Öffentlichkeit gekommen: Die wenigsten Skandale werden von Journalisten aufgedeckt. Sie kommen leider oft nur ans Tageslicht, weil (in diesem Falle offenbar jemand in der Hierarchie des US Militär) entschieden hat, die Fotos CBS und dem NEW YORKER zukommen zu lassen. Vielleicht gegen Geld? Vielleicht aus Rache oder politischer Überzeugung? Wir wissen nicht warum, aber so scheint es gewesen zu sein. Interne Quellen (seit dem Watergate-Skandal als ‚deep throat’ bekannt) sind meistens die einzigen, die den Medien Zugang ermöglichen können. Frage: Es gab doch aber Hinweise, zum Beispiel von der Menschenrechtsorganisation amnesty international. Hätten Journalisten da nicht reagieren müssen? Antonia Rados: ai hat meiner Kenntnis nach erst im nachhinein das Thema konkretisiert – wie Sie richtig schreiben, hat es „Hinweise“ gegeben. Wir alle bekommen ständig irgendwelche Hinweise über angebliche Entführungen von Frauen, geheime Pläne der Amerikaner etc. Kriegsgebiete sind voll mit Gerüchten und Gefahren. Ein Beispiel: Im vergangenen August hatten wir tagelang über angebliche Diebstähle von US-Soldaten während Hausdurchsuchungen recherchiert – obwohl ich überzeugt war, dass sie stimmen, hat keine einzige Recherche ein konkretes Ergebnis gebracht. Das ist frustrierend. Das ist der Alltag. Frage: Warum sind die Bilder aus Abu Ghraib zuerst im amerikanischen Sender CBS und nicht zuerst beispielsweise in einem deutschen Programm gezeigt worden? Antonia Rados: Ihre Frage ist leicht zu beantworten. Deutsche oder europäische Medien „zählen“ in der Konflikt-Lage Irak weder im guten noch im bösen. Sie werden von der Koalition schlicht ignoriert und von den Gegnern der Besatzung als nicht genug wichtig angesehen. Es ist

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15. Reaktionen von der „Front“: „Voll mit Gerüchten“ 171 klar, dass jeder Journalist, egal woher, diese Fotos veröffentlicht hätte – ich will mich da nicht ausschließen.135 Auch ZDF-Kollege Ulrich Tilgner hatte bei seiner Berichterstattung über Abu Ghraib das Problem der fehlenden Beweise, weil kaum ein Opfer über sein Schicksal sprechen wollte. Am Telefon sagte er dazu: „Die entlassenen Häftlinge aus den US-amerikanischen Gefängnissen haben von den Folterungen höchstens den Angehörigen oder dem näheren Bekanntenkreis berichtet. Über Vergewaltigungen zu sprechen, ist in der islamischen Welt tabu. Deswegen wurde darüber wenig bekannt. Die Ex-Häftlinge schämten sich für die Vorfälle.“136 Natalia Cieslik war für das ZDF Ende April 2004 in Bagdad, als in den USA die Folterbilder veröffentlicht wurden. Für sie war Abu Ghraib zunächst... „...eine amerikanische Geschichte , dort recherchiert, dort belegt. Auch die Fotos sind in den USA aufgetaucht, nie hier. Erst danach war der Ball bei uns in Bagdad; die Geschichte hier zu spiegeln. Wir haben auch früher bereits von Übergriffen in Gefängnissen gehört. Aber niemand kam mit diesen detaillierten Vorwürfen. Außerdem konnten wir die Vorwürfe nicht belegen. Irak ist das Land, in dem Verschwörungstheorien zum Alltag gehören. Zum Beispiel glauben viele Iraker, dass der Krieg eigentlich ein jüdischer Angriff ist, von jüdischen Soldaten usw. Das liegt am tief verwurzelten Antisemitismus. Außerdem sind Iraker überzeugt, dass Tausende amerikanischer Soldaten im Irak sterben und anonym in Massengräbern verscharrt werden, damit die wirklichen Zahlen nicht herauskommen. Was ich damit sagen will: Man muss hier sehr vorsichtig sein bezüglich der Glaubwürdigkeit von Quellen.137

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15. Reaktionen von der „Front“: „Voll mit Gerüchten“

Medientheoretisch ist es auch interessant, die Bedeutung von Bildmaterial im Zusammenhang mit den Vorwürfen zu beleuchten. Die Überzeugungskraft von Bildern gerade im Abu Ghraib Skandal war außerordentlich.“

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173 16. Kritik: „Das ging eindeutig zu weit“ Es gab reichlich Kritik und Selbstkritik zu der Medienberichterstattung über Abu Ghraib. Danuta Baberowski und Christian Plötner haben Meinungen eingeholt und Kritiken zusammengestellt. „Die letzten Wochen waren geprägt von Bildern extremer Gewalt. Die Folterungen und Demütigungen irakischer Häftlinge. Die lachende Lynndie England. Die Hamas-Attentäter, die Körperfetzen ihrer Opfer in die Kamera halten. Und jetzt Nicholas Berg, dem von maskierten Männern langsam der Kopf abgeschnitten wird. Es reicht.“ Das schrieb Bernd Pickert für die Juniausgabe 2004 der DJV-Mitgliederzeitschrift Journalist.138 Zu diesem Zeitpunkt war die Kritik an dem brutalen Vorgehen der Besatzer im Irak schon deutlich zurückgegangen, dafür nahmen sich jetzt die Medien selbst unter Beschuss und bezichtigten sich gegenseitig der „unangemessenen Berichterstattung“ oder der „überzogenen Darstellung von Gewalt“. Was denn nun? Lange, vermutlich viel zu lange, hatten vor allem die so genannten deutschen Leitmedien Abu Ghraib auf ihren weniger beachteten Internetseiten versteckt. Als sie endlich berichteten, war’s nicht „angemessen“? In das Konzert der Kritiker stimmte im Mai auch der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands Michael Konken ein, der die Bild-Zeitung öffentlich dafür rügte, dass sie insbesondere ein Foto von dem enthaupteten amerikanischen Geschäftsmann Nicholas Berg abgedruckt hatte. Bild trage damit „die Medienethik zu Grabe“ schimpfte Konken im Juniheft des Hausblatts Journalist. Was der Chef der Journalistengewerkschaft weiterhin an der Medienberichterstattung über den Folterskandal zu bemängeln hatte, wollte unter anderem Danuta Baberowski von Michael Konken139 wissen:

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16. Kritik: „Das ging eindeutig zu weit“

Frage: Wann haben Sie denn zum ersten Mal von den Folterungen von Inhaftierten erfahren? Michael Konken: Ich hab auch erst durch die Bilder, die veröffentlicht wurden, davon erfahren. Frage: War das die CBS-Sendung? Michael Konken: Das war die CBS-Sendung, wobei ja in den amerikanischen Medien, die Bilder schon etwas eher hatten, ja durchaus diskutiert wurde, ob man die überhaupt veröffentlichen soll. Das zeigt eigentlich schon eine etwas nicht gut zu heißende Diskussion in den Medien. Jeder Journalist ist verpflichtet, so was an die Öffentlichkeit zu bringen, außer wir wollen damit Sensationsmache erzielen und Auflagen und Einschaltquoten. Frage: Was haben Sie denn konkret an der Berichterstattung zum Thema Folter im Irak zu kritisieren? Michael Konken: Fotos müssen auch von Gefolterten gebracht werden, damit wir wach werden, damit wir sehen, was da los ist. Die Darstellung der Fotos darf aber auch bestimmte Grenzen nicht überschreiten, es darf da nicht zu einer Menschen unwürdigen Darstellung kommen. Zu weit geht auf jeden Fall, dass die Bild Zeitung vor einigen Wochen ein Foto brachte, in dem ein Iraki den Kopf eines ermordeten Amerikaners in der Hand hielt, das war ein Foto, was auf jeden Fall alle Grenzen dessen überschritt, was wir unter Ethik und Moralvorstellungen kennen; das habe ich auch öffentlich beanstandet. Frage: Sie sagten vorhin, Sie hätten erst durch CBS von den Foltervorwürfen erfahren, aber amnesty international hat doch bereits am 24. Juli 2003 die erste Pressemitteilung dazu heraus gegeben. Michael Konken: Ja, es ist verwunderlich und insofern ist es natürlich schon traurig, dass wir vielleicht auch nicht nach allen Seiten unsere Recherche ausführen, um dem nachzugehen. FOLTER FREI


16. Kritik: „Das ging eindeutig zu weit“ 175 Frage: Warum nicht? Gab es da Probleme bei der Recherche? Michael Konken: Probleme lagen einfach dadurch, dass nur bestimmte Journalisten aus dem Irak berichten durften. Dass es nicht so einfach möglich war als freier Journalist dort einzureisen und auf eigene Faust dann Recherchen zu machen. Und insofern war es einfach auch unmöglich, mit eigenen Fakten in die Öffentlichkeit zu kommen. Man hat mit Sicherheit auch, und da muss ich wirklich die Kollegen in Schutz nehmen, mit Sicherheit versucht zu recherchieren. Nur aufgrund einer Pressemitteilung … Wir brauchen eigene Informationen, eigene Beweise dafür. Ich bin auch sicher, dass die Journalisten dran waren Informationen zu erhalten. Aber das ist in so einem Kriegszustand äußerst schwierig. Dass die deutschen Medien in dem Moment, als Bilder vorlagen, sofort reagiert haben, das ist ein Zeichen dafür, dass unser System stimmt. Frage: Sie sagten, es durften nur bestimmte Journalisten berichten. Sie werfen also der USA vor, dadurch die Berichterstattung manipuliert zu haben? Michael Konken: Ja, man hat wohl versucht, Informationen zurückzuhalten. Teilweise sind die Fotos ja nur aufgrund einer Klage herausgegeben worden. Insofern hat man bewusst Fotos zurückgehalten, um eine einseitige Berichterstattung in der Öffentlichkeit auch dadurch zu praktizieren.140 Während Michael Konken und auch das DJV-Magazin Journalist nur zaghafte Kritik an der Medienberichterstattung übten – abgesehen von der schon fast zum „Ritual“ gehörenden Schelte für Bild – geht man im Ausland schon härter zur Sache. Der Glaube an die Wahrhaftigkeit der Medienberichterstattung stand für Andrea Köhler auf dem Spiel, als sie für die Neue Zürcher Zeitung141 ihren Beitrag „Ende der Schonzeit“ schrieb:

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16. Kritik: „Das ging eindeutig zu weit“

Die Frage, wem noch zu glauben ist in einer von Betrügereien gebeutelten Medienlandschaft, beschäftigt die Öffentlichkeit nicht erst, seit sich herausgestellt hat, dass auch die eigene Regierung mit der Wahrheit mehr als großzügig umgeht. Die angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak, der Folterskandal von Abu Ghraib und der bei passender Gelegenheit wahltaktisch aus dem Hut gezauberte Terroralarm haben ein Klima geschaffen, in dem keiner den eigenen Augen mehr traut.142 Zuvor hatte The New York Times am 26. Mai 2004 mit einem Leitartikel143 zur eigenen Irak-Berichterstattung für Aufsehen gesorgt, zumindest unter interessierten Medienmachern und Publizisten. Man habe sich bei einigen Berichten auf Informanten gestützt, deren Verlässlichkeit inzwischen in Zweifel stünden. So seien Meldungen über Massenvernichtungswaffen im Irak oder angebliche Beziehungen des Hussein-Regimes zu internationalen Terroristen nicht genügend hinterfragt und überprüft worden, teilten die Blattmacher ihren Lesern mit. Kritisch wurde auch registriert, dass über angebliche von Saddam Hussein ausgehende Gefahren weitaus häufiger berichtet worden sei, als über Hinweise, dass diese Behauptungen falsch sein könnten. Die Blattmacher der drittgrößten amerikanischen Tageszeitung verneigten sich in einer Art Kotau144 vor ihren Lesern und kamen dabei zu dem Schluß: „Die Redakteure auf allen Ebenen hätten kritischer sein müssen.“

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177 17. Fazit: Viele haben zu früh aufgegeben Die meisten „großen“ deutschen Medien haben viel zu lange Hinweise auf den Folterskandal von Abu Ghraib entweder ignoriert oder nur halbherzig weiterverfolgt. Das war ein Fehler. „Wir haben zu früh aufgegeben“, schrieb der stern-Reporter Christoph Reuter selbstkritisch in seinem letzten Beitrag aus Bagdad, der sich in der Ausgabe vom 6. Mai 2004 mit dem Folterskandal von Abu Ghraib beschäftigte. Reuter hatte nach eigenen Angaben eine Reihe von Hinweisen auf Misshandlungen im Nachkriegsirak, nur eben keine stichhaltigen Beweise – und vor allem keine Bilder. Ähnlich ging es den Kollegen vom Spiegel und bekannten Fernsehreportern wie Antonia Rados oder Ulrich Tilgner. Alle haben versucht uns zu erklären, wie es möglich war, dass die „Weltpolizei“ USA nebst ihren Verbündeten ein Jahr lang im Irak foltern konnte, ohne dass auch nur eine große deutsche Zeitung, Zeitschrift oder ein Fernsehmagazin jemals ernsthaft darüber berichtete. Die am häufigsten genannten Gründe für die Nichtberichterstattung waren „fehlende, stichhaltige Beweise“, „unglaubwürdige Zeugen“ und vor allem das offensichtlich alles entscheidende Bildmaterial. Mit der Dokumentation „Folter frei“ wird belegt, dass es in der Tat zahlreiche Hinweise, Beweise, Zeugenaussagen und sogar Bilder von Folter vor dem 28. April 2004 gab. Ist das „World Press Photo“ des Jahres 2003 (siehe Seite 9) etwa kein Dokument für Folter? Der Vater des vierjährigen Kindes sitzt nicht etwa beim Picknick, sondern mit einer schwarzen Kapuze über den Kopf gestülpt auf der Erde eines provisorischen Gefangenenlagers und hält seinen kleinen Jungen im Arm. War das immer noch nicht grausam genug, um von Folter zu sprechen oder zu schreiben? Es gab unzählige weiFOLTER FREI


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17. Fazit: Viele haben zu früh aufgegeben

tere Bilder in Nachrichten- und Magazinsendungen von Hausdurchsuchungen, brüllenden US-Soldaten, verzweifelten irakischen Müttern mit schreienden Kindern im Arm, während ihre Männer mit Gewehrkolben zu Sammelplätzen getrieben und dort mit den berüchtigten Plastikfesseln aneinandergebunden wurden. Sind das etwa keine Folterbeweise? Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender können doch nicht allen ernstes solange mit ihrer Berichterstattung warten, bis ihnen zufällig – oder gezielt – Digitalaufnahmen von offensichtlich perversen Militärpolizisten wie Frederick, Graner und England in die Hände fallen. Und es ist auch nicht hinnehmbar, dass deutsche Leitmedien Informationen, die sie beispielsweise von der Menschenrechtsorganisation amnesty international erhielten, als „wenig stichhaltig“ abqualifizierten, während sie sich gleichzeitig aus irgendwelchen undurchsichtigen Quellen für ihre Aufmacher bedienten. Bestes Beispiel waren die zahlreichen Legenden, die im Zusammenhang mit dem Tod der beiden Saddam-Söhne Udai und Kusai im Juni 2003 gesponnen wurden und schließlich auf Titelseiten landeten: „Erst ein Dutzend Raketen brach den Widerstand...“ Keiner der Journalisten, die über das Ende der Hussein-Sprösslinge zumeist in Reportageform berichteten, konnte die Raketenabschüsse selbst zählen, weil niemand dabei war. Doch das hat offensichtlich kaum einen Redaktionsleiter gestört. So sympathisch der „Kotau“ des stern-Journalisten Reuter auch sein mag – er ist überflüssig, weil er und seine Redaktion längst nicht die einzigen waren, die „zu früh aufgaben“. Die meisten großen deutschen Medien, denen auch eine Verantwortung für die Informationsversorgung insgesamt zukommt, haben Abu Ghraib viel zu lange ignoriert. RTL-Aktuell, Focus und Bild erfuhren nach eigenen Angaben überhaupt erst durch den CBS-Bericht, dass im Irak der Nach-Hussein-Ära weitergefoltert wurde. Der interessierte Medienkonsument wird zu dem Fazit kommen, dass für die eigene umfassende Informationsbeschaffung das Angebot in so genannFOLTER FREI


17. Fazit: Viele haben zu früh aufgegeben 179 ten Leitmedien wohl nicht mehr ausreichend ist. Nutzer von alternativen Medien wie der Netzeitung im Internet und Leser von taz oder Junge Welt hatten im Fall Abu Ghraib einen erheblichen Informationsvorsprung vor Tagesschau-Zuschauern, Bild-Lesern oder Spiegel-Abonnenten. Trotz neuer Medientechniken, den vielen zusätzlich entstandenen Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und -weitergabe, scheint sich am Prinzip des Journalismus in den vergangenen 35 Jahren kaum etwas verändert zu haben. Der inzwischen weltberühmte Journalist Seymour M. Hersh hatte 1969 den großen und einflussreichen amerikanischen Zeitungen seine Geschichte über das Massaker von My Lai während des Vietnamkriegs angeboten. Vergeblich. Den „Großen“ wie The New York Times und Washington Post fehlten angeblich „stichhaltige Beweise“, um den Bericht ins Blatt zu nehmen. Es war schließlich der kleine, damals als alternativ und „etwas links“ geltende Nachrichtendienst Dispatch News Service, der den brisanten Beitrag zuerst veröffentlichte. Der große Aufschrei gegen den Vietnamkrieg ging jedoch erst durch Amerika und dann um die Welt, als das Life Magazine Fotos von geschundenen Frauen und ermordeten Kindern aus dem vietnamesischen Dorf abdruckte.

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Anhang A 181 A - Das Projektteam Unter Anleitung von Prof. Horst Müller beobachteten 25 Studenten die Medienberichterstattung über Abu Ghraib. Sie recherchierten im Internet, in Zeitungsarchiven und Datenbanken, fragten bei einflussreichen Blattmachern und bekannten Fernsehreportern an der „Front“ nach. Michaela Wied ist stellvertretende Projektleiterin. Sie organisierte Veranstaltungen, recherchierte und textete für dieses Sachbuch. Gemeinsam mit der Herausgeberin Inge Seibel-Müller übernahm sie das Korrektorat für „Folter frei“. Danuta Baberowski interviewte den Vorsitzenden des Deutschen Journalistenverbands (DJV), Michael Konken, zur Berichterstattung über Abu Ghraib und fragte bei der Pressestelle der deutschen Sektion von amnesty international nach. Andreas Szabo hat Berichte der Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai) über Abu Ghraib gesichtet, ausgewertet und kritisch analysiert. Falk Menzel interviewte die TV-Korrespondenten Antonia Rados (RTL), Natalia Cieslik und Ulrich Tilgner (beide ZDF) zu Abu Ghraib und der Mediensituation im Irak. Tatiana Böhne hat internationale Medienberichte nach dem CBS-Beitrag vom 28. April 2004 verfolgt und säumige Rückmelder in Medienredaktionen angemahnt. Mark Diekneite sichtete Berichte der deutschen Medien nach dem CBSBeitrag am 28. April. Marlen Böhme und Kirstin Wille recherchierten Daten, Fakten und Ereignisse zum Irak-Konflikt. Anja Fischer, Isabell Schmutzler und Ines Mittag fanden Veröffentlichungen über Abu Ghraib, datiert vor dem 28. April 2004 (CBS). FOLTER FREI


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Anhang A – Das Projektteam

Bettina Reg‘n und Claudia Radeck sichteten Zeitungsberichte über Abu Ghraib mit Datum vor dem 28. April 2004. Claudia Kullick und Manja Peschel haben arabische Stimmen zu Abu Ghraib gesucht und gefunden. Claudia Peter hat Fakten zu Guantánamo Bay recherchiert. Christian Plötner fing selbstkritische Stimmen der Medien zur Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen im Irak ein. Achim Meyer und Danny Staigys bereiteten Kontakte zu Medienredaktionen und Journalisten vor. Sebastian Kath und Christian Ludwig schrieben einen ausführlichen Beitrag über das Projekt „Folter frei“ für die Wochenzeitung NOVUM (Abdruck als Anhang D in diesem Buch). Fabian Lang hatte die Technik während der Multimediapräsentation des Projekts am 15. Juni 2004 an der Hochschule Mittweida hervorragend im Griff. Jaqueline Lippmann und Tatiana Böhne machten Fotos von den Beteiligten und Susen Pusch bereitete Interviews vor. Alexander Schaub erstellt eine Dokumentation über das Projekt, die eines Tages unter www.medien-student.de veröffentlicht wird. Thomas Rebsch entwarf das Plakat für die Multimediapräsentation und die Grafik in diesem Buch. Alexander Brendel, Fabian Lang, Tim Simon und Melanie Weller werden voraussichtlich im Wintersemester 2004/2005 eine Audiodokumentation erstellen Alle sind Medienmanagementstudenten an der Hochschule Mittweida aus den Seminargruppen MM03w1 und MM03w2. Nur Martin Pohl ist Medientechnikstudent (MT02w2) und hat das Cover für dieses Buch gestaltet. FOLTER FREI


Anhang B 183 B - Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis AP (Associated Press) – 1848 von sechs New Yorker Zeitungsverlegern als Harbour News gegründet; US-Nachrichtenagentur mit internationalen Ablegern; seit 1946 auch mit deutschem Dienst 1

amnesty international, kurz ai – 1961 von dem britischen Rechtsanwalt Peter Benonson gegründete internationale Menschenrechtsorganisation; Grundlage der Arbeit ist die 1948 von den Vereinten Nationen beschlossene Erklärung der Menschenrechte; ai tritt vor allem weltweit gegen Todesstrafe und Folter ein; 1977 erhielt ai den Friedensnobelpreis 2

CBS – Columbia Broadcasting System, 1927 als ein Joint Venture von zunächst 47 Radiostationen in den USA gegründet; gehört seit 1999 zum Entertainment Konzern Viacom (u.a. MTV, Radio- und Fernsehstationen, Film- und Videoproduktionen); als Network liefert CBS das Hauptprogramm für zurzeit mehr als 200 Fernsehstationen in den USA; erfolgreichste Sendungen: „CSI-Crime Scene Investigation“ (Krimi), „Survivor“ (Action), „The Late Show with David Letterman“ (war Vorbild für Harald Schmidt) und „60 Minutes“ (Nachrichtenmagazin) 3

Aust, Stefan – 1946 in Stade (Niedersachsen) geboren; ist seit Ende 1994 Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel; war zuvor Chefredakteur des Fernsehablegers Spiegel TV; Autor mehrerer Bücher und Drehbücher zumeist zu politischen Themen 4

dpa – allgemein gebräuchliches Kürzel für Deutsche Presse-Agentur mit Hauptsitz in Hamburg; größte deutschsprachige Presseagentur; versorgt Tageszeitungen, Zeitschriften, Radio, Fernsehen und Internetangebote mit Nachrichten; verfügt über ein weltweites und regionales deutsches Korrespondentennetz; Angebotpalette reicht von Nachrichten über Bildmaterial, Audioangeboten bis zu Info-Grafiken 5

Burda, Hubert – 1940 in Heidelberg geboren; Kunsthistoriker und Verleger; übernahm 1987 als alleiniger Gesellschafter und Vorstandesvorsitzender Hubert Burda Media 6

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis

Hubert Burda Media – Medienkonzern mit Sitzen in München und Offenburg, Schwerpunkte sind Zeitschriften (Focus, Bunte, Freizeit Revue) und ausländische Beteiligungen; Umsatz im Jahr 2003 ca. 2 Mrd. Euro 7

Burda, Hubert - Bilder, Bilder, Bilder (im Interview); in: Cicero; August 2004 8

Pressekodex – umfasst die publizistischen Grundsätze für die Printmedien (Zeitungen und Zeitschriften) in Deutschland. Darin finden sich Regeln für die tägliche Arbeit der Journalisten, die die Wahrung der journalistischen Berufsethik sicherstellen, so z.B.: 9

- Achtung vor der Wahrheit und Wahrung der Menschenwürde - Gründliche und faire Recherche - Klare Trennung von redaktionellem Text und Anzeigen - Achtung von Privatleben und Intimsphäre - Vermeidung unangemessen sensationeller Darstellung von Gewalt und Brutalität. Ergänzt werden die Grundsätze durch zusätzliche Richtlinien, die aufgrund aktueller Entwicklungen und Ereignisse ständig fortgeschrieben werden. Presserat – besteht aus einem Trägerverein, dem die vier Verleger- und Journalistenorganisationen angehören: 10

- Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) - Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) - Deutscher Journalisten-Verband (DJV) - Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di. Hauptaufgaben des Presserats sind nach eigener Darstellung das Eintreten für die Pressefreiheit, die Wahrung des Ansehens der deutschen Presse und das Aufstellen und Fortschreiben von publizistischen Grundsätzen sowie Richtlinien für die redaktionelle Arbeit, der sogenannte Pressekodex

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis 185 Schneider, Wolf; Raue, Paul-Josef – Recherche; in: Das neue Handbuch des Journalismus; 2003; Seiten 46-57; Rowohlt Taschenbuch Verlag 11

Schneider, Wolf; Raue, Paul-Josef – Redigieren; in: Das neue Handbuch des Journalismus; 2003; Seiten 37, 210-214; Rowohlt Taschenbuch Verlag 12

Weischenberg, Siegfried – Qualität der Medien in der Krise; in: Journalist; Juli 2003 13

Haller, Michael – Die Zukunft der Zeitung hat schon begonnen; in: www.ddvg.de (Website der Deutschen Druck- und Verlagsgesellschaft) Juni 2003; 14

Schneider, Wolf; Raue, Paul-Josef; in: Das neue Handbuch des Journalismus; 2003; Seiten 297-301; Rowohlt Taschenbuch Verlag 15

Grassau, Günther – geboren 1958 in Neumünster; Professor an der Hochschule Mittweida, Fachbereich Medien; zuvor u.a. Programmbereichsleiter Fernsehen im Landesfunkhaus Sachsen des MDR und Redaktionsleiter beim NDR Fernsehen in Hamburg 16

Filbinger, Hans – geboren 1913 in Mannheim; Jurist und CDU-Politiker; 1966-1978 Ministerpräsident von Baden-Württemberg; Rücktritt wegen seiner Tätigkeit als Marinerichter im 2. Weltkrieg 17

Hussein, Saddam – 1937 in Al Ouja bei Tikrit (Irak) geboren; 1979-2003 Staats- und Regierungschef des Irak; im Dezember 2003 von US-Truppen festgenommen 18

Bush, George – 1924 in Milton (Massachussetts, USA) geboren; 41. USPräsident 1989-1993; US-Vizepräsident 1981-1989; Vater von [George W. Bush] 19

Brandt, Willy – 1913 in Lübeck geboren; 1992 verstorben; sozialdemokratischer Politiker und langjähriger Parteivorsitzender der SPD; 1969-1974 Bundeskanzler; davor u.a. Bundesaußenminister und Regierender Bürgermeister von Berlin; erhielt 1971 den Friedensnobelpreis für seine Aussöhnungs- und Friedenspolitik mit Osteuropa 20

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis

Arnett, Peter – 1934 in Neuseeland geborener Journalist, Berichterstatter während des Vietnamkriegs; wurde weltberühmt durch seine Reportagen während des Golfkriegs 1991 für CNN 21

Schiiten – ist die zweitgrößte islamische Glaubensrichtung, im Irak stellen sie jedoch mit einem Anteil von ca. 60% an der Gesamtbevölkerung die deutliche Mehrheit; Schiiten wurden während der Saddam-Herrschaft, der der sunnitischen Glaubensrichtung angehört, zumeist unterdrückt 22

Kurden – leben als Minderheiten zumeist in entlegenen Bergregionen Vorderasiens (östliche Türkei, Iran, Nordirak). Der Stamm, dessen ursprüngliche Herkunft nicht eindeutig geklärt ist, wurde in den vergangenen Jahrhunderten vielfach brutal unterdrückt. In der inzwischen weitgehend autonomen Kurdenregion im Nordirak leben heute etwa 3,5 Millionen Angehörige des Bevölkerungsstamms 23

Bush, George W. (Walker) – 1946 in New Haven (Connetticut, USA) als Sohn von [George Bush] geboren, ist 43. US-Präsident; zuvor war er seit 1994 Gouverneur des Bundesstaates Texas 24

bin Laden, Osama – nach unterschiedlichen Quellen 1955 oder 1957 in Djidda (Saudi-Arabien) geboren; Sohn eines Multimilliardärs; kämpfte in den 80er Jahren in Afghanistan gegen die sowjetische Besatzung; überwarf sich in den 90er Jahren mit dem saudischen Königshaus und wurde ausgebürgert; inzwischen weltweit der meistgesuchteste Terrorist; wird u.a. für die Terrorakte am 11. September 2001 in den USA verantwortlich gemacht 25

Aziz, Tarik – 1936 in Mossul im Nordirak geboren; Zeitungsredakteur, ab Anfang der 70er Jahre Berufspolitiker; u.a. irakischer Außenminister, zuletzt Stellvertretender Ministerpräsident, führte die meisten internationalen Verhandlungen im Auftrag Husseins 26

The New York Times – in New York erscheinende Tageszeitung mit dritthöchster Auflage in den USA (nach USA TODAY und The Wall Street Journal) und hoher nationaler (USA) und internationaler publizistischer Bedeutung; 1851 von Henry J. Raymond als New York Daily Times gegründet; Ende des 19. Jahrhunderts von Adolph Ochs übernommen, dessen Familie das Unternehmen noch heute kontrolliert 27

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis 187 Rumsfeld, Donald – 1932 in Chicago geboren; Politikwissenschaftler und seit 2001 US-Verteidigungsminister 28

Al Qaida (auch Al Kaida oder El Kaida) – islamitische Terrororganisation die u.a. für Anschläge in Kenia, Tansania, auf der Insel Djerba und am 11. September 2001 in den USA verantwortlich gemacht wird; Anführer ist der weltweit am meisten gesuchte Terrorist Osama bin Laden 29

Annan, Kofi – 1938 in Kumasi (Ghana) geboren; der Betriebswirt arbeitet seit Anfang der 60er Jahre bei den Vereinten Nationen; seit 1997 ist er Generalsekretär und wurde 2001 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet 30

Blix, Hans – 1928 in Uppsala (Schweden) geboren; früherer Außenminister Schwedens; von Januar 2000 bis Juni 2003 Chef der UN-Rüstungskontrollkommission 31

Powell, Colin (Luther) – 1937 in New York geboren; Berufssoldat und General im Irak-Krieg 1991; er organisierte seinerzeit den Aufmarsch von über einer halben Million alliierter Soldaten und wurde dank der geringen Verluste auf Seiten der Amerikaner nach Ende des Krieges wie ein Held gefeiert; seit 2001 Außenminister in der Regierung von George W. Bush 32

Central Intelligence Agency (CIA) – 1947 durch Erlass des damaligen Präsidenten Truman gegründeter Geheimdienst, zuständig für die Auslandsaufklärung 33

Rice, Condoleezza – 1954 in Birmingham (Alabama, USA) geboren; Politikprofessorin, Expertin für Russland und Osteuropa, als nationale Sicherheitsberaterin im Weißen Haus ist sie die engste Mitarbeiterin von US Präsident Bush 34

Blair, Anthony „Tony“ Lynton – 1953 in Edinburgh (Schottland/ Großbritannien) geboren; seit 1997 Premierminister des Vereinigten Königreiches; davor Oppositionsführer für die Labour Party im britischen Parlament 35

Aznar (López), José Maria – 1953 in Madrid geboren; spanischer Politiker und Ministerpräsident von 1996 bis 2004 36

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis

Krüger, Udo Michael – Der Irak-Krieg im deutschen Fernsehen, Analyse der Berichterstattung in ARD/Das Erste, ZDF, RTL und SAT.1; erhoben vom IFEM Institut für empirische Medienforschung, Köln; in Media Perspektiven 9/2003 37

Sarcinelli, Prof. Dr. Ulrich – geboren 1946; Wissenschaftler auf dem Gebiet der Politikvermittlung in der Mediengesellschaft; seit 1995 ist er Professor am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau 38

Bundeszentrale für politische Bildung – Institution des Bundes mit der Aufgabe, das Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern, das demokratische Bewusstsein zu festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken 39

Medienpädagogik im Zeitraffer – Gespräch über Medienstrategien, Medieninszenierungen und Medieneffekte im Irak-Krieg, Bundeszentrale für politische Bildung, veröffentlicht auf www.bpb.de 40

Armbruster, Jörg – ARD-Korrespondent in arabischen Ländern, im Interview mit „Die Gegenwart“, Online-Magazin, Ausgabe 38, Juli 2004,www.diegegenwart.de 41

Liebig, Christian – der Focus-Redakteur starb am 7. April 2003 bei einem Raketenangriff vor Bagdad; er gehörte zu den über 600 Journalisten, die in Begleitung der US-Armee aus diesem Krieg berichteten. Christian Liebig war der einzige deutsche Journalist, der die Erfüllung seiner beruflichen Aufgabe im Irak mit dem Leben bezahlte (aus: www.christian-liebigstiftung.de) 42

Markwort, Helmut – geboren 1936 in Darmstadt; Journalist, Mitglied des Vorstands der Hubert Burda Media und Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Focus; zuvor u.a. Chefredakteur von Bild und Funk sowie Gong 43

Markwort, Helmut – Trauer um Christian Liebig, schriftliche Mitteilung; 07. 04. 2003 44

Al Jazeera - bedeutet „Halbinsel“; TV-Nachrichtensender gegründet 1996 im Emirat Qatar, gilt als das „CNN der arabischen Welt“. Das Programm wird in den meisten Ländern des nahen Ostens über Satellit empfangen; 45

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis 189 im Irak-Krieg zeigte Al Jazeera als erster TV-Sender Aufnahmen von gefangen genommenen US-Soldaten; umstritten ist der Sender, weil er wiederholt Videos und Tonbänder von Terroristen wie bin Laden und Entführern im Irak ausstrahlte Al Arabia – nach dem Vorbild von Al Jazeera aufgebauter arabischer Nachrichtenkanal, der seit 2003 aus Dubai per Satellit verbreitet wird 46

Karpinski, Janis L. – geboren 1953, suspendierte Brigadegeneralin der US-Armee; ab Juni 2003 Chefin der 800 Military Police Brigade und verantwortlich für US-Militärgefängnisse im Irak, wurde im März 2004 im Zuge der Ermittlungen zu den Foltervorwürfen vom Kommando abgelöst 47

Rather, Dan – 1931 in Wharton (Texas, USA) geboren; Bachelor in Journalism (Diplomjournalist); seit 1962 bei CBS; Anchor der Hauptnachrichtensendung „CBS Evening News“ und in zweiter Funktion eine Art Chefreporter 48

Pentagon – ist ursprünglich eine aus dem Griechischen stammende geometrische Bezeichnung für ein Fünfeck, das Vorlage für den 1941 begonnenen und schon 1943 fertiggestellten Bau des US-Verteidigungsministeriums war; in dem riesigen Komplex arbeiten heute rund 23.000 Armeeangehörige und zivile Mitarbeiter; bei dem Terrorangriff am 11. September 2001 wurde ein Teil des Gebäudekomplexes zerstört und es kamen 125 Menschen ums Leben; in der Nachrichtensprache der Medien wird „Pentagon“ heute als Synonym für das US-Verteidigungsministerium verwendet 49

The Guardian (zu deutsch „Der Wächter“) – 1821 in Manchester gegründete britische Tageszeitung; hieß bis 1959 Manchester Guardian; seitdem als „The Guardian“ in London angesiedelt 50

FOX News – Nachrichtenkanal der Fox-Gruppe; im Programmaufbau vergleichbar mit CNN, jedoch inhaltlich deutlich konservativer; gilt in den USA als „Heimatsender“ von Präsident George W. Bush 51

O‘Reilly, Bill – geboren 1949 in New York City; moderiert die tägliche Politiksendung The O‘Reilly Factor auf dem FOX News Channel; gilt als das Sprachrohr der konservativen Republikaner im US-Fernsehen; unterstützte offen den Irak-Krieg 52

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis

ABC (American Broadcasting Company) – gegründet 1940; landesweites TV- und Radio-Network im Besitz des Walt Disney Konzerns 53

NBC (ehemals National Broadcasting Company; jetzt offiziell NBC Universal Television) – 1926 als Radio-Network mit 24 Stationen gegründet; heute TV- und Radio-Network, seit 1986 im Besitz der General Electric Company; Hauptquartier im Rockefeller Center in New York 54

Koppel, Ted – geboren 1940 in Lancashire, England; seine Eltern waren vor den Nazis aus Deutschland geflüchtet; arbeitet seit 1963 bei ABC News und gilt als einer der besten Nachrichtenmoderatoren und Reporter in den USA 55

Washington Post – 1877 in der US-Hauptstadt Washington gegründete Tageszeitung; gilt neben The New York Times als die politisch bedeutendste Publikation in den USA; die Zeitung hat sich vor allem durch ihren investigativen Journalismus einen Namen gemacht; so mit der Watergate-Affäre Anfang der 70er Jahre über die der damalige US-Präsident Richard Nixon stürzte 56

Watergate Affäre – ist einer der größten innenpolitischen Skandale in der US-Geschichte, an dessen Ende der republikanische Präsident Richard Nixon von seinem Amt zurücktreten musste (1974); vorausgegangen war 1972 ein Einbruch in das Wahlkampfbüro der Demokratischen Partei im Watergate Hotel in Washington D.C. 57

New Yorker – liberales, intellektuelles Wochenmagazin in den USA; verkaufte Auflage 972.000 im 2. Halbjahr 2003; gehört zur Condé Nast Verlagsgruppe in der u.a. auch Magazine wie GQ, Glamour und Vanity Fair erscheinen 58

Publikumszeitschriften – haben informierende und unterhaltende Inhalte, während Fachzeitschriften direkte berufs- bzw. ausbildungsbegleitende Publikationen sind; in den USA werden die Auflagen der Publikumszeitschriften zwei mal jährlich vom Audit Bureau Of Circulation veröffentlicht 59

Hersh, Seymour M. – geboren 1937 in Chicago; gilt als einer der investigativsten Journalisten in den USA; berichtete während des Vietnamkriegs 1968 über das Massaker von US-Truppen in My Lai; erhielt mit dem Pulitzer 60

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis 191 Preis die höchste journalistische Auszeichnung; arbeitet heute als Washingtoner Korrespondent für das Magazin New Yorker My Lai – bei einem brutalen Überfall auf das vietnamesische Dorf töteten Soldaten einer US-Einheit im März 1968 zwischen 347 und 504 Einwohnern (unterschiedliche Angaben aus unterschiedlichen Quellen; ausschließlich Frauen, Kinder und alte Männer; die vermuteten Rebellen wurden in My Lai nicht angetroffen 61

Cheney, Dick – geboren 1941 in Lincoln (Nebraska, USA); konservativer Politiker der Republikaner; unter Präsident Bush senior von 1989 bis 1993 Verteidigungsminister; Vizepräsident von George W. Bush seit 2001 62

Kröger, Uwe – Der Wachhund erwacht, Feature über die wachsende Selbstkritik US-amerikanischer Medien; Erstausstrahlung im ZDF am 9. Juli 2004 63

Genfer Konvention – ursprünglich auf Initiative von Henri Dunant 1864 abgeschlossene Vereinbarung über „die Verbesserung des Loses der Kranken und Verwundeten bei den Armeen im Felde“; für die Behandlung von Kriegsgefangenen ist heute die 1949 beschlossene III. Konvention verbindliche Grundlage 64

Ramadan – ist der neunte Monat im islamischen Kalender und eine 30tägige Fastenzeit für Muslime mit Enthaltsamkeit zwischen Sonnenaufund –untergang; weil sich der islamische Kalender am Mondjahr orientiert, verschiebt sich der Zeitpunkt des Ramadan in jedem Jahr um einige Tage 65

Tompkins, Al – The Story Behind the Lynndie England; Interview; in: Poynter Online, 17.05.2004 66

Küchen, Marina – Oh, das ist eine gute Taktik. Macht weiter so. Auszüge aus dem Interview mit Lynndie England; in: Die Welt, 14.05.2004 67

The Wall Street Journal – werktäglich (Montag – Freitag) bei Dow Jones & Co. Inc., New York, erscheinende internationale Wirtschafts- und Finanzzeitung; benannt nach dem New Yorker Finanzzentrum „Wall Street“; Tageszeitung mit der zweithöchsten Auflage in den USA (ca.2,1 Mio. verkaufte Exemplare); 68

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis

Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) – 1863 gegründete private unabhängige schweizerische Institution, deren Führungsorgane ausschließlich aus Schweizer Bürgern bestehen. Hauptaufgabe ist es, das Leben und die Würde von Kriegsopfern und Opfern internationaler Konflikte zu schützen 69

9/11-Report – Offizieller Bericht der staatlichen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Terroranschläge am 11. September 2001 in New York und Washington; “The National Commission on Terrorist Attacks Upon the United States” so die offizielle Bezeichnung, wurde Ende 2002 von USPräsident George W. Bush eingesetzt und legte ihren Bericht am 22. Juli 2004 vor 70

Clinton, William Jefferson “Bill” – wurde 1946 in Hope (Arkansas/USA) geboren; war zwischen 1993 und 2001 der 42. Präsident der Vereinigten Staaten; zuvor Gouverneur des US-Bundesstaates Arkansas 71

Summary of an investigation of „detainee operations“ in Iraq and Afghanistan – Zusammenfassender Bericht über die Untersuchungen von „Vorfällen mit Häftlingen“ im Irak und Afghanistan; veröffentlicht am 22. Juli 2004 72

BBC (British Broadcasting Corporation) – aus Gebühren finanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt in Großbritannien, 1922 als unabhängiger Radiosender in London gegründet, strahlt 7 Hörfunk- und vier Vollprogramme im Fernsehen aus; darüber hinaus Spartenprogramme und den BBC-Worldservice; BBC galt als Vorbild des Aufbau der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg 73

The Financial Times – 1888 in London gegründete Tageszeitung mit Schwerpunkt Wirtschaft und Finanzen in der Berichterstattung; seit 2000 gibt es auch einen deutschen Ableger 74

The Observer (zu deutsch „Der Beobachter“) – 1791 in London gegründete Sonntagszeitung; gehört zum Guardian-Verlag und wird wie die Sonntagsausgabe von The Guardian vermarktet 75

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis 193 The Times – 1785 in London gegründete Britische Tageszeitung mit nationaler und internationaler publizistischer Bedeutung; gehört inzwischem zum Imperium des australischen Medienunternehmers Rupert Murdoch 76

Daily Mirror – ursprünglich 1903 als Zeitung für Frauen in London gegründet; 1904 zur Straßenverkaufszeitung mit vielen Bildern umgestaltet, das linksgerichtete Blatt gilt als älteste Boulevardzeitung der Welt 77

The Daily Express – 1900 gegründete britische Tageszeitung; 2000 vom heutigen Besitzer Richard Desmond übernommen, einem Verleger von Sexmagazinen und Pornoheften 78

The Sun – in London erscheinende Boulevard-Zeitung mit der höchsten Auflage in England (ca. 3,5 Mio.); entstand 1964 aus der Gewerkschaftszeitung Daily Herald und gehört heute zum Rupert Murdoch Imperium 79

Thomas, Gina – Daily Mirror - die neun Leben der Sensationsgier; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung; 17.05.04 80

von La Roche, Walther – Die sieben Ws (Wer? Was? Wo? Wann? Wie? Warum? Woher?); in: Einführung in den praktischen Journalismus; Seite 87; 2003; List/Journalistische Praxis 81

Independent on Sunday – Sonntagsausgabe der britischen Tageszeitung Independent; Auflage ca. 215.000; gilt als liberal und bezog Position gegen den Irak-Krieg 2003 82

Atwan, Abdel-Bari – wurde 1950 in einem palästinensischen Flüchtlingslager in Gaza geboren; Herausgeber und Chefredakteur der arabischen Zeitung Al-Quds al Arabi in London 83

Kundnani, Hans – Der Terror ruft zurück; in: Die Zeit, 45/2001; November 2001 84

Remme, Klaus – Interview mit Aktham Suliman, Deutschland-Korrespondent des Nachrichtensenders Al Jazeera; gesendet im Deutschlandfunk, 13.05.2004 85

von Sponeck, Hans-Cristoph – arbeitet seit 1968 für die Vereinten Nationen; war von 1998 bis Frühjahr 2000 Koordinator des humanitären UN86

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis

Hilfsprogramms für Irak; trat im Februar 2000 aus Protest gegen die Fortsetzung der Sanktionen zurück; gilt als einer der renommiertesten Irak-Kenner 87

Meyer, Katrin; Saddams Infotainment; in: ZDF-Online; 25.02.2003

Voice of America – 1942 gegründet ist das offizielle Rundfunksystem der US-Regierung; wurde nach dem zweiten Weltkrieg durch seine vor allem in Osteuropa und in der UdSSR verbreiteten Propagandasendungen bekannt 88

Cieslik, Natalia – 1965 geboren; ZDF-Redakteurin und Korrespondentin mit Einsätzen u.a. im Iran und Irak 89

Feuilherade, Peter – Protests hit Iraq Coalition TV; in BBC News Online; 19.11.2003 90

Al Hurra – im Frühjahr 2004 gegründet; TV-Nachrichtensender in arabischer Sprache, der in Springfield bei Washington produziert und aus USSteuern finanziert wird 91

Cieslik, Natalia; Gefolterte Gefangene – Amerika ruiniert seinen Ruf; in: ZDF-Online; 04.05.2004. 92

Al Hurra – im Frühjahr 2004 gegründet; TV-Nachrichtensender in arabischer Sprache, der in Springfield bei Washington produziert und aus USSteuern finanziert wird 93

White House (Weißes Haus) – ist seit dem Jahr 1800 der Amtssitz der US-Präsidenten in Washington D.C, (District of Columbia); ursprünglich als „Presidential Palace“ und „Presidential Mansion“ bezeichnet 94

Supreme Court of the United States – in Washington D.C. ist die höchste Gerichtsinstanz in den USA und vergleichbar mit dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe 95

Ticker – oder „über die Ticker lief“ ist die Beschreibung für eine Meldung, die von Nachrichtenagenturen wie dpa, AP, AFP oder Reuters stammt; früher wurden die Meldungen über Fernschreibsysteme verbreitet; wenn Meldungen bei den Redaktionen eingingen, setzten sich die überdimensionalen Schreibmaschinen in Bewegung und machten „tickernde“ Geräusche 96

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis 195 Nachrichtenstück – Filmbeitrag in Fernsehnachrichten bzw. kurzer Beitrag in täglichen Nachrichtenmagazinen wie Tagesthemen und heute journal; häufig handelt es sich auch um kurze – nachrichtliche – Versionen von Reportagen oder Hintergrundbeiträgen 97

Vietnamkrieg – wurde von 1964 bis 1975 in Südvietnam und in den Grenzgebieten von Laos und Kambodscha geführt; weiterhin flogen USStreitkräfte Luftangriffe auf Nordvietnam; die USA beendeten ihre Beteiligung durch Unterzeichnung der Pariser Friedensverträge im Januar 1973 98

Follath, Erich; Hoyng, Hans; Spörl, Gerhard – Das Comeback eines Krieges (Titel: Die Falle Irak – Bushs Vietnam); in: Der Spiegel; 19.04.2004 99

Hoyng, Hans; von Ilsemann, Siegesmund – Privatkrieg auf Staatskosten (Titel: Die Folterer von Bagdad); in: Der Spiegel, 03.05.2004 100

101

Reuter, Christoph – Die fröhlichen Folterer; in stern, 06.05.2004

Osterkorn, Thomas – 1953 in Linz (Österreich) geboren; seit 1999 Chefredakteur stern gemeinsam mit Andreas Petzold; zuvor u.a. Ressortleiter beim stern und Redakteur bei Hamburger Abendblatt 102

Petzold, Andreas – 1955 in Tegernsee (Bayern) geboren; seit 1999 Chefredakteur stern gemeinsam mit Thomas Osterkorn; zuvor u.a. Chefredakteur der Hör Zu und Redakteur bei Quick 103

Petzold, Andreas – Demokratie braucht Gewaltverzicht; in: stern, 19.05.2004 104

Streck, Michael; Wiechmann, Jan Christoph – Amerikas Tor zur Hölle (Titel: George W. Bush moralisch bankrott); in: stern 19.05.2004 105

Pearl Harbor – ist ein Hafen auf der zur Inselgruppe Hawaii zählenden Insel Oahu; traurige Berühmtheit erlangte der dortige Luftwaffenstützpunkt durch japanische Bomberangriffe am 7. Dezember 1941 bei denen mehr als 3.000 Menschen starben 106

taz – überregionale Tageszeitung; im April 1979 als linksalternatives Spontiblatt gegründet; seinerzeit von den etablierten Zeitungsverlagen mit einer Überlebensprognose von maximal drei Monaten ausgestattet 107

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis

Böhm, Andrea – Wie man den Krieg der Ideen verliert; in: taz, 10.05.2004 108

Diekmann, Kai – 1964 geboren; Chefredakteur Bild und Herausgeber Bild am Sonntag; davor u.a. Chefredakteur der Welt am Sonntag, Redakteur und Autor vorwiegend für Zeitungen des Axel Springer Verlags 109

Uncle Sam – ist das Synonym für die Vereinigten Staaten von Nordamerika und wurde wahrscheinlich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Cartoon-Charakter entwickelt. Man vermutet, dass der Name auf die Anfangsbuchstaben von [U]nited [S]tates angepasst wurde 110

Ho Chi Minh – geboren 1890 in Vietnam; der Revolutionär und Staatsmann führte die nordvietnamesischen Truppen im Kampf gegen die vermeintlich übermächtigen USA bis zu seinem Tod 1969; in den 60er Jahren war er auch in der Bundesrepublik eine Symbolfigur, vor allem bei linksorientierten Studenten; in der DDR wurde Ho Chi Minh offiziell als Held verehrt 111

Life Magazine – 1936 gegründetes US-Monatsmagazin, das sich vor allem durch seine Fotoreportagen einen guten Ruf gemacht hat 112

Pulitzer Preis – seit 1917 in den USA in mehreren Kategorien vergebene Auszeichnung für herausragende publizistische Leistungen; benannt nach dem Journalisten und Zeitungsverleger Joseph Pulitzer (1847-1911); prominentester Preisträger war der Schriftsteller Ernest Hemmingway (1953) 113

Hammerschmitt, Marcus – Das Massaker; in Telepolis (via. www.heise.de); 21.03.2003 114

GI – ist ursprünglich die Abkürzung für „Government Issue“ (Regierungsausgabe); wird jedoch vor allem als Kurzbezeichnung für amerikanische Soldaten benutzt 115

Reagan, Ronald Wilson – geboren 1911 in Tampico (Illinois, USA); verstorben im Juni 2004; von 1981-1989 40. US-Präsident; davor u.a. Gouverneur von Kalifornien und Filmschauspieler 116

Hiroshima – japanische Hafenstadt mit ca. 1 Mio. Einwohnern; am 6. August 1945 warf hier die US-Armee die erste Atombombe in der Geschichte 117

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis 197 ab; ca. 80.000 Menschen starben sofort; 200.000 weitere an den Folgen der Verstrahlungen; Ziel der US-Armee war es, den Kriegsgegner Japan zur Kapitulation zu zwingen Nagasaki – japanische Großstadt mit ca. 450.000 Einwohnern; zweiter Atombombenabwurf der Amerikaner, obwohl Japan schon die Kapitulation angekündigt hatte; 75.000 Menschen starben sofort; weitere 75.000 erlagen den Spätfolgen 118

Ladurner, Ulrich – Der „präziseste Krieg“ der Geschichte; in: Die Zeit; 12/2002 119

Taliban – bedeutet eigentlich „Studenten“; politisch und militärisch formierten sich die streng gläubigen Islamer als Teil des Widerstands gegen die sowjetischen Besatzungstruppen in Afghanistan in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts; zwischen 1997 und 2001 beherrschten die selbsternannten „Gotteskrieger“ den größten Teil Afghanistans 120

Zivil – Zeitschrift für Frieden und Gewaltfreiheit; erscheint fünf mal jährlich; Herausgeber ist die Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK) in Bremen 121

Camp Cropper – ist ein Gefangenenlager der US-Armee in der Nähe des internationalen Flughafens von Bagdad; hier werden – aus US-Sicht – besonders “wertvolle“ Gefangene festgehalten; zumeist Mitglieder und Gefolgsleute des Hussein Regimes und ehemalige irakische Militärs 122

Baath-Partei – steht in der arabischen Abkürzung für „Arabische Sozialistische Partei der Wiedererweckung“; 1940 in Syrien gegründet; Regierungspartei in Syrien und bis zum Ende der Hussein-Diktatur im April 2003 auch im Irak; hohe Funktionäre der Baath-Partei galten als die Günstlinge des Systems 123

Koch, Annette – Rechtliche Grauzone im Irak; in: ZDF-Online, 14.07.2003 124

Rosenthal, Bertrand – Erst ein Dutzend Raketen brach den Widerstand; in: Westdeutsche Zeitung, 24.07.2003 125

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis

Leukefeld, Karin – Todestrakt im neuen Abu-Ghraib-Knast?; in: Junge Welt; 08.08. 2003 126

Reuters – 1851 von Paul Julius Reuter, einem deutschstämmigen Immigranten in London gegründete britische Nachrichtenagentur mit weltweiten Korrespondenten und Informanten; betreibt auch einen weitgehend eigenständigen deutschen „Ableger“ 127

Tilgner, Ulrich – geboren 1948 in Bremen; ZDF-Korrespondent in Teheran seit 2002; berichtete während des Irak-Kriegs 2003 aus Bagdad; davor Korrespondent in verschiedenen Ländern, vorwiegend im Nahen Osten; erhielt 2003 den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für Fernsehjournalismus 128

Leukefeld, Karin – Kaum Informationen über die Gefangenen; in: Tagesschau.de; 01.10.2003 129

Hanley, Charles – Sie hielten uns wie Schafe; in: Junge Welt (übernommen von AP); 07.11.2003 130

Agence France-Presse (AFP) – 1835 in Paris gegründet, ist die älteste noch bestehende Nachrichtenagentur weltweit; hat auch einen eigenständigen deutschen Dienst 131

Strategie – der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet Feldherrnkunst bzw. die Kunst der Führung von Streitkräften im Krieg 132

Reinemann, Carsten – Medienmacher als Mediennutzer, Kommunikations- und Einflussstrukturen im politischen Journalismus der Gegenwart; Böhlau-Verlag; 2003 133

Rados, Antonia – 1953 in Klagenfurt/Österreich geboren; RTL-Studioleiterin in Paris, dazu regelmäßig Sondereinsätze als Korrespondentin z.B. im jugoslawischen Bürgerkrieg und im Irakkrieg 2003; erhielt für IrakBerichte mehrere wichtige Medienpreise wie den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis in Deutschland und „Romy“ in Österreich 134

Menzel, Falk – Interview mit Antonia Radios, Korrespondentin und Studioleiterin RTL; per Email; 04.06.04 135

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Anhang B – Quellen-, Personen- und Sachverzeichnis 199 Menzel, Falk – Interview mit Ulrich Tilgner, Korrespondent ZDF; per Telefon; 08.06.04 136

Menzel, Falk – Interview mit Natalia Cieslik, Korrespondentin ZDF; per Email; 04.06.04 137

Pickert, Bernd – Die Bilder als Waffen; in Journalist, 06/2004 (Herausgeber ist der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) 138

Konken, Michael – seit November 2003 Bundesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV); Dozent für Journalismus und Stadtmarketing an der Fachhochschule Oldenburg/Wilhelmshaven; davor u.a. Leiter Presse & Stadtmarketing Wilhelmshaven 139

Baberowski, Danuta – Interview mit Michael Konken, Bundesvorsitzender DJV, aufgezeichnet am 08.06.04 140

Neue Zürcher Zeitung – 1790 gegründete Schweizer Tageszeitung von Weltruf 141

Köhler, Andrea – Ende der Schonzeit; in: Neue Zürcher Zeitung; 04.06.2004 142

The Times and Iraq (Leitartikel von den Redakteuren); in The New York Times; 26.05.2004 143

Kotau – frühere chinesische Ehrenbezeigung durch Niederwerfen und Berühren des Bodens mit der Stirn; Zeichen völliger Unterwerfung; Begriff wird in der Medienbranche heute noch für eine umfassende bzw. tiefgreifende Entschuldigung benutzt 144

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Anhang C 201 „Die wenigsten Skandale werden von Journalisten aufgedeckt.“ Medienmanagement Studenten hinterfragen die Berichterstattung über Folter im Irak. Ein Bericht von Sebastian Kath und Christian Ludwig veröffentlich in NOVUM, Ausgabe vom 16. Juni 2004 Am 5. Februar 2004 hielt George W. Bush eine Rede in Charleston, South Carolina. Der US-Präsident äußerte sich zufrieden über das amerikanische Engagement im Irak. Die Welt sei nun „besser“ und hätte man den Diktator nicht gefangen, dann wären auch heute noch irakische „Gefängnisse und Folterkammern mit Opfern gefüllt“. Weniger als drei Monate später wurde der mächtigste Mann der Welt von einer anderen Realität eingeholt. Der amerikanische Sender CBS strahlte am 28. April 2004 in seiner Sendung 60 minutes II zum ersten Mal Bilder aus, die gefolterte Iraker im Gefängnis Abu Ghraib zeigen. Sie belegen, wie Angehörige der US-Streitkräfte nach Vertreibung des Hussein-Regimes ihnen anvertraute Gefangene schlagen, sexuell nötigen und zu Menschen unwürdigen Gesten zwingen. Für die amerikanische Regierung bahnte sich ein innen- sowie außenpolitisches Desaster an. So verwunderte es nicht, dass US-Regierungssprecher bemüht waren, die Ereignisse als Einzelfälle runterzuspielen. Auch Verteidigungsminister Donald Rumsfeld mochte anfangs nicht von „Folter“ sprechen. Vielmehr handle es sich um „Misshandlungen, was ... technisch etwas anderes“ wäre. Rasant verbreiteten sich die schockierenden Bilder weltweit. Sie bestimmten die Titelseiten der großen Zeitungen und veranlassten Fernsehsender Sondersendungen ins Programm aufzunehmen. Auch in Deutschland lief die Nachricht über die Ticker der so genannten Leitmedien. Am 29. April 2004 berichtete die Nachrichtenagentur dpa, unter Berufung auf CBS, über FOLTER FREI


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Anhang C – Beitrag aus Novum

die Folterungen im Irak. Am gleichen Tag nahmen auch ARD (Tagesthemen) und ZDF (Heute Journal) das Thema in ihre Nachrichtensendungen auf. Fünf Tage später veröffentlichte Der Spiegel in seiner Printausgabe eine Titelgeschichte unter der Überschrift „Die Folterer von Bagdad“. Dies war der Anfang eines regelrechten Booms in der Berichterstattung. Doch wie konnte es geschehen, dass die Folterungen erst jetzt an Bedeutung gewinnen, wenn doch die Bilder aus Abu Ghraib aus dem Herbst 2003 stammten? Diese Frage stellten sich auch rund 25 Medienmanagement Studenten. Zusammen mit Professor Müller starteten sie das Ausbildungsprojekt „Folter frei“ an der Hochschule Mittweida. Aufgabe der Beteiligten ist es, die Berichterstattung über Abu Ghraib zu dokumentieren. Zuerst analysierte man die Nachrichtenlage vor und nach dem 28. April. Dabei fiel auf, dass insbesondere Online- Medien schon im letzten Jahr über Folterungen und konkrete Hinweise in diesem Zusammenhang informierten. Am 26. Juli 2003 berichtete zum Beispiel Netzeitung.de über US-Soldaten, die Iraker misshandelt haben sollen. Weitere Meldungen gab es auch bei ZDF.de oder Spiegel Online - diese erlangten jedoch keine größere Aufmerksamkeit, weil Fernsehen und auflagenstarke Zeitungen und Zeitschriften das brisante Thema offensichtlich ignorierten. Hatten die Medien den Folterskandal damals bewusst vernachlässigt? Oder wurde in den Redaktionen der Medien schlecht recherchiert? Die Studenten fragten bei insgesamt neun sogenannten Leitmedien in Deutschland nach. Und erhielten von allen Fernseh-, Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen durchaus aufschlussreiche Antworten. Man habe zwar grundsätzlich von der Folter im Irak gewusst, jedoch keine konkreten Beweise gehabt, teilte Spiegel-Chef Stefan Aust mit. Ähnlich äußerten sich die Chefredaktionen von stern, Süddeutsche Zeitung und ZDF-Heute. Beim Magazin Focus und in der Chefredaktion von RTL-AktuFOLTER FREI


Anhang C – Beitrag aus Novum 203 ell wurde man dagegen vom Folterskandal völlig überrascht. Die Nachrichtenagentur dpa stellte ihre Berichterstattung über die Folter im März dieses Jahres wieder ein, weil bei den Abnehmern - und das sind bei einer Nachrichtenagentur nun einmal die Medien - nur wenig Interesse bestanden habe. Aufschlussreich auch, was die RTL-Korrespondentin Antonia Rados den Medienstudenten mitteilte: „Die wenigsten Skandale werden von Journalisten aufgedeckt.“ Sie begründet ihre Aussage in diesem Fall mit gezielten Informationen, die aus Kreisen des US-Militärs an den TV-Sender CBS weitergegeben worden seien und schließlich den Skandal ausgelöst hätten. Über die Gründe kann auch die preisgekrönte TV-Journalistin nur spekulieren: „Vielleicht gegen Geld? Vielleicht aus Rache oder politischer Überzeugung?“ In den kommenden Wochen wollen Müller und seine Studenten das erhaltene Material und die gewonnenen Erkenntnisse weiter auswerten. Bald soll dann das Sachbuch „Folter frei“ bereits in den Buchhandlungen ausliegen.

Hinweis: NOVUM ist die Ausbildungszeitung der Hochschule Mittweida, Fachbereich Medien. Erscheinungsweise wöchentlich während der Vorlesungsperioden. FOLTER FREI



Anhang D 205 Weitere Informationen und Kontakte Projekt FOLTER FREI Informationen über die weitere Entwicklung des Projekts, ergänzende Dokumente, Multimediaelemente, Resonanz Internet: www.medien-student.de Email: medien-student@email.de Kontakt: Michaela Wied, Prof. Horst Müller

medien-student.de Informationen, Dokumentationen und Projekte für Medienstudenten und Medienmacher Internet: www.medien-student.de Email: medien-student@email.de Kontakt: Inge Seibel-Müller, Prof. Horst Müller

Hochschule Mittweida

Allgemeine Informationen über die Hochschule, die Fachbereiche, Studiengänge und -richtungen sowie zur Historie des Instituts Internet: www.htwm.de

Media Alliance Mittweida Die Plattform verbindet das Forschungs- und Lehrangebot der konsequent praxisorientierten Hochschule Mittweida im Fachbereich Medien Internet: www.m-a-m.net

Projekt Walter Bruch Hervorragend gestaltete Homepage zum Filmprojekt über den Erfinder des Farbfernsehens Internet: www.walter-bruch.de

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