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Svea Hammerle · Hans-Christian Jasch · Stephan Lehnstaedt (Hrsg.) 80 Jahre danach Svea Hammerle · Hans-Christian Jasch · Stephan Lehnstaedt (Hrsg.) 80 JAHRE DANACH BILDER UND TAG EBÜCHER DEUT S CHER S O LDATEN V O M Ü B E R FA L L A U F P O L E N 1939 Umschlagabbildung: Auf dem Marktplatz in Drewica, 8. 9. 1939 Aus: Ein Fotokonvolut zum Überfall auf Polen: Die Aufnahmen des Batterieführers Kurt Seeliger, Bild 35 © Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. ISBN: 978-3-86331-484-2 ISBN: 978-3-86331-934-2 (E-Book) © 2019 Metropol Verlag Ansbacher Str. 70 · D–10777 Berlin www.metropol-verlag.de Alle Rechte vorbehalten Druck: buchdruckerei.de, Berlin 4 Inhalt Svea Hammerle · Hans-Christian Jasch · Stephan Lehnstaedt Der Kriegsbeginn 1939 und die Erinnerung an die deutschen Verbrechen in Polen 7 Hans-Christian Jasch „Völkische Flurbereinigung“ in den besetzten und annektierten Gebieten Polens 21 Jens Wehner Der deutsche Überfall auf Polen aus militärhistorischer Perspektive 45 Jochen Böhler Die Wehrmacht und die Verbrechen an der Zivilbevölkerung während des deutschen Überfalls auf Polen 1939 59 Petra Bopp „Wir glauben an die Objektivität der Kamera.“ Private Fotografie der Wehrmachtsoldaten im Zweiten Weltkrieg. Paweł Machcewicz Kriegserinnerung und -wahrnehmung in Polen Irmgard Zündorf „Stumme Zeugnisse 1939“ Ein studentisches Projekt zur Erinnerung an den deutschen Überfall auf Polen 69 87 97 Svea Hammerle Ein Fotokonvolut zum Überfall auf Polen Die Aufnahmen des Batterieführers Kurt Seeliger 109 Kurt Lehnstaedt · Stephan Lehnstaedt Der Angriff der „Schleswig-Holstein“ auf die Westerplatte Aus dem Logbuch des Seekadetten Hans Buch 135 Christoph Hamann Der Krieg im Album Dem Außeralltäglichen eine alltägliche Form geben – Erinnern als Überschreiben 173 5 inhalt Abkürzungsverzeichnis Abbildungsverzeichnis Namensregister Ortsregister 6 201 203 204 206 Svea Hammerle · Hans-Christian Jasch · Stephan Lehnstaedt Der Kriegsbeginn 1939 und die Erinnerung an die deutschen Verbrechen in Polen Der 80. Jahrestag des Überfalls auf Polen markiert erinnerungspolitisch in Europa den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Tatsächlich global – und nicht lediglich europäischkolonial – betrachtet, beginnt dieser jedoch erst nach der Bombardierung Pearl Harbours durch japanische Marineflieger und die gemeinsame Kriegserklärung des Königreichs Italien und des Deutschen Reiches an die USA am 11. Dezember 1941. Erst hierdurch wurden die Kriegsschauplätze in Asien, wo seit 1937 der Japanisch-Chinesische Krieg tobte, und Europa miteinander verbunden. Der Zweite Weltkrieg sollte mit weit über 50 Millionen Opfern – darunter etwa 13 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten, die die Deutschen und ihre Helfer außerhalb der eigentlichen Kampfhandlungen töteten, etwa 6 Millionen Jüdinnen und Juden, aber auch Kriegsgefangene oder andere zivile Opfer wie Sinti und Roma, kranke Menschen sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter – noch blutiger und verlustreicher werden als der Erste, den George F. Kennan als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat. Manchen gilt er sogar als die Fortsetzung des Ersten Weltkrieges nach einer nur etwa 20-jährigen Zwischenkriegszeit, in dem sich jene Konflikte entluden, die durch die Pariser Vorortverträge und den Zerfall der europäischen Imperien bereits angelegt waren. Wie kein anderes Ereignis seit dem Dreißigjährigen Krieg sollten diese beiden Kriege des Gesicht Europas verändern. Polen verlor damals mit ca. 5,7 Millionen Menschen etwa ein Fünftel seiner Vorkriegsbevölkerung.1 Deutschland mit 6,36 Millionen etwa 9 Prozent seiner Bevölkerung. Der große Unterschied war allerdings, dass in Deutschland die meisten Toten Soldaten waren (etwa 5,3 Millionen) während in Polen weit überwiegend zivile Opfer (etwa 5,4 Millionen) zu beklagen waren.Neben Millionen von Menschenleben wurden ganze Kulturen zerstört, etwa das religiös geprägte jüdische Leben in Ostmitteleuropa. Bereits während des Krieges kam es zudem zu gewaltigen und gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen: Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurden ins Deutsche Reich gebracht, um die Kriegswirtschaft am Laufen zu halten. Viele starben. Die Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen – „ethnische Säuberungen“ – , die die Nationalsozialisten bei ihrer Besetzung Polens im Zuge ihrer „Lebensraum“-Dystopie begannen, setzte sich nach dem Krieg mit der Vertreibung von ca. 11 Millionen 1 Eine umfassende Diskussion zu Zahlen und Herkunft der polnischen Kriegstoten in Wojciech Materski/Tomasz Szarota, Polska 1939–1945. Straty osobowe i ofiary represji pod dwiema okupacjami, Warszawa 2009. 7 Svea hammerle · hanS-ChriStian JaSCh · Stephan lehnStaedt Deutschen aus Ostmittel- und Südosteuropa fort.2 Aber auch andere Bevölkerungsgruppen, wie etwa die ukrainische Bevölkerung in Polen („Aktion Weichsel“) oder die italienische Bevölkerung in Istrien und Dalmatien – um nur einige Beispiele zu nennen –, erlebten gewaltsame und bis heute im Gedächtnis nachwirkende Zwangsumsiedlungen. Viele Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, die bis 1939 überwiegend als „Erbmasse“ der Vielvölkerimperien Österreich-Ungarn, des Russischen Zarenreiches und des Osmanischen Reiches ethnisch heterogen waren, wurden im Zuge des Krieges und seiner Folgeerscheinungen zu ethnisch nahezu homogenen Gesellschaften. Europa ging gespalten aus dem Krieg hervor: Für die meisten ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Staaten endete dieser auch gar nicht 1945,3 sondern setzte sich in Bürgerkriegen und vielerorts in einer langen und oftmals brutalen sowjetischen Besatzungszeit fort. Im Westen dagegen begann ein europäischer Integrationsprozess unter dem Schutz der Pax Americana. Dennoch wurden Komplexe der Tat- und Verbrechensbeteiligung lange tabuisiert. Dies galt nicht nur für Deutschland, Österreich und Italien als „Täterstaaten“, sondern auch für die Benelux-Länder, Frankreich, Dänemark und Norwegen, in denen Kollaboration mit den deutschen Besatzern, Arisierungsgewinne oder Kunstraub immer noch schwierige Themen darstellen.4 Stattdessen waren fast alle Staaten bemüht, nach 1945 Widerstandsnarrative zu konstruieren, um die Verbrechensbeteiligung der eigenen Bevölkerung bzw. Verwaltung zu überdecken. In der Bundesrepublik wurde der 20. Juli 1944 zum „anderen Deutschland“ und zum Vorbild der neuen Streitkräfte stilisiert, Österreich verstand sich „als erstes Opfer“ der NS-Aggression und die DDR setzte sich ganz in die Tradition der kommunistischen Widerstandskämpfer.5 Noch 2018 glauben 18 Prozent derjenigen, die im Rahmen einer Studie der Stiftung EVZ befragt wurden, dass ihre Vorfahren Jüdinnen und Juden geholfen hätten.6 Diese Widerstandsmythen wirken bis heute nach und werden von rechtskonservativen politischen Akteuren gepflegt und instrumentalisiert, wie der in diesem Band vorliegende Beitrag von Paweł Machcewicz exemplarisch für Polen zeigt. Dort herrscht bis heute Unverständnis darüber, dass viele Jüdinnen und Juden die damalige polni2 3 4 5 6 8 Vgl. nach wie vor Michael G. Esch, „Gesunde Verhältnisse“. Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939–1950, Marburg 1998, sowie Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. Ethnische Säuberungen im modernen Europa, Göttingen 2011. Vgl. für Polen Marcin Zaremba, Die große Angst. Polen 1944–1947: Leben im Ausnahmezustand, Paderborn 2016. Als Übersicht siehe Klaus Kellmann, Dimensionen der Mittäterschaft. Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich, Wien 2018. Vgl. hierzu schon Peter Steinbach, Wem gehört der Widerstand gegen Hitler?, in: Dachauer Hefte 6 (1990), S. 56–72, sowie als Fallstudie von Eckart Conze, Aufstand des preußischen Adels. Marion Gräfin Dönhoff und das Bild des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 51 (2003), S. 483–508. Andreas Zick/Jonas Rees, Ergebnisbericht Multidimensionaler Erinnerungsmonitor 2018, https://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Studie_MEMO_Ergebnisbericht. pdf [23. 5. 2019]. der KriegSbeginn 1939 und die erinnerung an die deutSChen verbreChen in polen sche Bevölkerung während des Krieges als feindselig und nur selten als heroische Retter wahrnahmen. Demgegenüber sieht man sich selbst als gemarterte Nation, als „Christus unter den Völkern“. Opferkonkurrenz prägt seit Langem den Diskurs, etwa wenn es um die Frage der Erinnerung polnischer und jüdischer Opfer im Staatlichen Museum Auschwitz geht.7 Hierbei wird oft vergessen, dass über die Hälfte der ca. 5,7 Millionen polnischen Kriegstoten Jüdinnen und Juden gewesen sind. Der deutsche Überfall 1939 ist dabei für die polnische Selbstsicht als Opfer und zugleich heldenhafter Verteidiger der Freiheit von zentraler Bedeutung. Während die kommunistische Propaganda der Volksrepublik nach 1945 hauptsächlich auf die „faschistische“ Aggression und deren Morde abstellte, entwickelten sich mit dem Aufkommen der oppositionellen Solidarność-Bewegung seit den 1980er-Jahren komplexere Geschichtsbilder. Im Zentrum stand eine Debatte um den Kriegsbeginn 1939 und die folgende gemeinsame Besatzung Polens durch das Deutsche Reich und die Sowjetunion. Deren Part versuchte das sozialistische Regime möglichst zu ignorieren, während die Opposition ihn herausstellte. Der Zweite Weltkrieg diente so dazu, dem politischen Gegner in der Gegenwart die historische Legitimation zu entziehen.8 In den letzten Jahren stand der Krieg von 1939 nicht so sehr im Fokus des polnischen Interesses. Geschichtspolitik kaprizierte sich auf die Gegnerschaft des Landes zur Sowjetunion und widmete sich kommunistischen Verbrechen und polnischen Widerstandskämpfern; dazu traten harte gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die eigene Rolle als Helfer, Profiteure und Retter während des Holocaust. Dem Überfall und der Besatzung widmete sich vor allem das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig, das auch vor seiner Eröffnung 2017 bereits einige Jahre als geschichtspolitischer Akteur wichtige Impulse setzte. Ungeachtet aller innenpolitischen Streitigkeiten9 bedient es das Bedürfnis, den Kampf polnischer Soldaten für die Unabhängigkeit 1939, den eigenen Beitrag für die alliierten Siegesanstrengungen und natürlich den Besatzungsterror zu erzählen. Und der 1. September ist nach wie vor der Tag, an dem an die Tragödie Polens im Zweiten Weltkrieg erinnert wird. Die ersten sechs Wochen des Krieges stellen dafür freilich eher „Anlass, aber nicht Hauptgegenstand dieser hoch politisierten Form der Erinnerung“10 dar. 7 8 9 10 Vgl. etwa Marek Kucia, Die Symbolhaftigkeit von Auschwitz in der polnischen Erinnerungskultur von 1945 bis heute, in: Kerstin Schoor/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Gedächtnis und Gewalt. Nationale und transnationale Erinnerungsräume im östlichen Europa, Bonn 2016, S. 166–183; Linda Ferchland, Auschwitz: Plädoyer für die Entmystifizierung eines Un-Ortes, in: Jörg Ganzenmüller/Raphael Utz (Hrsg.), Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 219–242. Umfassend dazu Florian Peters, Revolution der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in der Geschichtskultur des spätsozialistischen Polen, Berlin 2016. Vgl. zuletzt Daniel Logemann/Juliane Tomann, Gerichte statt Geschichte? Das Museum des Zweiten Weltkrieges in Gdańsk, in: Zeithistorische Forschungen 16 (2019), S. 106–117. Jochen Böhler, Polenfeldzug. „Blitzsieg“ oder Vernichtungskrieg?, in: Hans Henning Hahn/ Robert Traba (Hrsg.), Deutsch-polnische Erinnerungsorte, Bd. 1: Geteilt / Gemeinsam, Paderborn 2015, S. 359–373, hier S. 369. 9 Svea hammerle · hanS-ChriStian JaSCh · Stephan lehnStaedt Ganz im Gegensatz dazu ist es um die deutsche Erinnerung an den sogenannten Polenfeldzug und seine Folgen schlecht bestellt. Das ist insofern erstaunlich, als er nicht nur einen drastischen Bruch bisheriger „Polenpolitik“ darstellte,11 sondern auch den „Auftakt zum Vernichtungskrieg“, wie Jochen Böhler es genannt hat.12 Das mag für die Handlungen alleine der Wehrmachtangehörigen trotz aller brutalen Exzesse übertrieben sein, doch mindestens für das Vorgehen der Einsatzgruppen von SS- und Polizei trifft es zu.13 Schon am 17. Oktober 1939 verlangte Hitler von Heinrich Himmler ausdrücklich einen „Volkstumskampf, der keine gesetzlichen Bindungen“ mehr kennt. Hitler und seinen Untergebenen ging es um die Vernichtung der polnischen Nation, selbst wenn das nicht bedeutete, alle Polinnen und Polen umbringen zu wollen. Tatsächlich wurden während des Kriegs keine Überlegungen in dieser Hinsicht angestellt. Allerdings war in der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus völlig klar, dass die slawische Bevölkerung höchstens die Rolle von Knechten für die deutschen Siedlerinnen und Siedler im Osten einnehmen durfte. Dementsprechend können die späteren deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges keinesfalls von jenem „Auftakt“ 1939 in Polen getrennt werden. Nicht zuletzt deshalb, weil die Folgen der Besatzung für das Land katastrophal waren: Die „Polenpolitik“ wandelte sich zum Rassekrieg. Widerstand gegen die eigenen Pläne unterbanden die Deutschen mit höchster Brutalität und ermordeten alleine im Generalgouvernement annähernd 40 000 Menschen im sogenannten Partisanenkampf. Dass es sich bei den Opfern in der großen Mehrzahl nicht um bewaffnete Kämpfer handelte, ist ein aus der besetzten Sowjetunion und Südosteuropa bekanntes Phänomen.14 Aber auch anderswo war die Bevölkerung mörderischer Gewalt ausgesetzt. Über 100 000 nichtjüdische Polinnen und Polen starben allein in Auschwitz, mindestens noch einmal so viele in den anderen Lagern auf polnischem Boden. Die Verfolgung und Vernichtung der polnischen Elite, von echten oder nur angenommenen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern oder auch nur von Bäuerinnen und Bauern, die nicht in der Lage oder willens waren, den Ablieferungspflichten der Besatzer nachzukommen, forderten weitere Zehntausende Opfer. Die Niederschlagung des Warschauer Aufstands 1944 war ein letztes Fanal des untergehenden „Dritten Reiches“. Alleine in dem Stadtteil Wola mordeten die Deutschen in der Woche zwischen 5. und 12. August 1944 über 40 000 Menschen.15 Die Zerstörung Warschaus war zugleich Rache an der Stadt und 11 12 13 14 15 10 Stephan Lehnstaedt, Imperiale Polenpolitik in den Weltkriegen. Eine vergleichende Studie zu den Mittelmächten und zu NS-Deutschland, Osnabrück 2017. Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006. Klaus-Michael Mallmann/Jochen Böhler/Jürgen Matthäus, Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008. Daniel Brewing, Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten 1939–1945, Darmstadt 2016. Der beste deutsche Überblick über den Aufstand ist nach wie vor Włodzimierz Borodziej, Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt a. M. 2004. Zum Massaker von Wola: Piotr Gursztyn, der KriegSbeginn 1939 und die erinnerung an die deutSChen verbreChen in polen ihren Bewohnerinnen und Bewohnern wie Element einer dystopischen Vision eines germanischen Ostens. Pläne sahen die Umwandlung der Kapitale in eine Kleinstadt mit nur mehr 40 000 deutschen Bewohnerinnen und Bewohnern vor, für die nach dem Vorbild der künftigen Gauhauptstädte im Reich neue Insignien der Herrschaft im Osten wie Türme und Foren entstehen sollten.16 Dazu gehörte zwingend die Umsiedlung und Vertreibung von Millionen. In Polen sollte ein neues Ideal deutschen Lebens im Osten realisiert werden. Darauf liefen die diskriminierenden Maßnahmen ebenso wie der Massenmord hinaus, und darauf zielte auch die Behandlung der „volksdeutschen“ Minderheit ab. Bereits im Rahmen des „Ersten Nahplans“ zur Germanisierung des Landes bedeutete das für etwa 90 000 Polinnen und Juden die Deportation ins Generalgouvernement, damit deutsche Siedlerinnen und Siedler ihre Häuser und Höfe beziehen konnten.17 Der spätere „Generalplan Ost“, der eine Neugestaltung noch zu erobernden Territoriums bis zum Ural umfasste, sah sogar die Deportation von 31 Millionen Menschen vor, ein Großteil von ihnen aus Polen.18 Zuvor wurden Wirtschaft und Bevölkerung des Landes brutal ausgebeutet. Beispielsweise erreichten die offiziellen Lebensmittelrationen im Generalgouvernement 1944 lediglich die Hälfte der Menge, die bei überwiegend sitzender Tätigkeit benötigt wird. In den anderen Jahren lagen sie noch darunter, 1941 und 1943 etwa bei rund 850 Kalorien pro Tag – und die wenigsten Polinnen und Polen arbeiteten in Büros. Demgegenüber erhielten die Deutschen im Reich bis ins letzte Kriegsjahr hinein zumindest 2000 Kalorien.19 Das Kalkül, auf diese Weise im Generalgouvernement zwei Millionen Menschen von der Versorgung abzuschneiden und somit indirekt zur Arbeit in und für Deutschland zu bewegen, ging indes nicht auf. Dennoch gelangten bis Ende 1944 fast 1,2 Millionen Polinnen und Polen aus diesem Besatzungsgebiet als Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter ins Reich,20 was immerhin sieben Prozent der Bevölkerung entsprach – eine Zahl, deren Dimension noch dadurch an Gewicht gewinnt, dass Kinder und Alte von vornherein für die Deportation ausschieden. 16 17 18 19 20 Der vergessene Völkermord. Das Massaker von Wola in Warschau 1944. Ein ungesühntes Verbrechen, Berlin 2019. Speziell zur Germanisierung Warschaus: Niels Gutschow/Barbara Klain, Vernichtung und Utopie. Stadtplanung Warschau 1939–1945, Hamburg 1994. Gerhard Wolf, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen, Hamburg 2012, S. 148–164. Gedruckt in: Czesław Madajczyk (Hrsg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München 1994, S. 85–130. Für einen europäischen Vergleich: Hans Umbreit, Die deutsche Herrschaft in den besetzten Gebieten 1942–1945, in: Bernhard Kroener/Rolf-Dieter Müller/Hans Umbreit (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5/2. Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Zweiter Halbband: Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942–1944/45, Stuttgart 1999, S. 3–272, hier S. 226. Piotr Matusak, Przemysł na ziemiach polskich w latach II wojny światowej, Warszawa 2009, S. 268. 11 Svea hammerle · hanS-ChriStian JaSCh · Stephan lehnStaedt Noch schlechter als der polnisch-katholischen Bevölkerung erging es den Jüdinnen und Juden. Die „Aktion Reinhardt“, in deren Verlauf die SS im Sommer 1942 rund 1,8 Millionen Ghettoinsassen in die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka deportierte und dort ermordete,21 hatte auch den Effekt, dass ebenso viele Menschen nicht mehr versorgt werden mussten. Schon vorher war die Ernährungslage der Jüdinnen und Juden so katastrophal gewesen, dass allein im Warschauer Ghetto mindestens 80 000 Menschen an den direkten und indirekten Folgen der Unterversorgung starben. Doch bei einem absoluten Mindestbedarf von 250 Kilo Brotgetreide pro Person und Jahr ließen sich durch die Ermordung von einer Million Menschen etwa 250 000 Tonnen „sparen“.22 Doch trotz der Spur von Gewalt und Verarmung, die die deutsche Besatzungswirtschaft in Polen hinterließ, erfüllte sie nicht annähernd die Erwartungen, die man in Berlin gehegt hatte. Nur schlaglichtartig können an dieser Stelle die deutschen Verbrechen in Polen angedeutet werden. Am Ende, beim Einmarsch der Roten Armee 1944/45, der keinesfalls eine Befreiung darstellte, war das Land verwüstet und rund 20 Prozent seiner Vorkriegsbevölkerung tot. Dass all diese Schrecken, die Zerstörungen und Millionen Toten für unsere Nachbarn bedeutsamer waren und sind als für uns, ist nicht wirklich überraschend, denn Deutschland musste sie nicht erleiden, sondern hatte sie zugefügt. Und trotz allem war das für uns nur einer von vielen Kriegsschauplätzen und nur einer von vielen Tatorten. Dennoch erstaunt angesichts der Monstrosität der Gewaltherrschaft, die am 1. September 1939 ihren Ausgang nahm und ohne diese ersten sechs Kriegswochen weder denkbar noch möglich gewesen wäre, hierzulande immer wieder der Mangel an Beschäftigung mit dieser Geschichte. Sogar die Wissenschaft hat den Überfall weitgehend ignoriert, sieht man einmal von Jochen Böhlers Studien der letzten Jahre ab. Es ist bezeichnend, dass es wohl mehr deutsche Untersuchungen zum „Bromberger Blutsonntag“ gibt23 – den polnischen Morden an etwa 400 „Volksdeutschen“ – als zu den Zehntausenden Morden der Deutschen selbst. Die meisten dieser Untersuchungen erschienen in den 1950er- bis 1970er-Jahren und hatten durchaus etwas Relativierendes an sich, so beispielsweise Im Hinblick auf den Prozess gegen Erich von Manstein, der 1939 Generalstabschef der Heeresgruppe Süd gewesen war; 1949 stand er vor Gericht und wurde wegen Kriegsverbrechen zu 18 Jahren Haft verurteilt, nicht allerdings für Vergehen in Polen – was die Legende vom sauberen Krieg zu bestätigen schien. Immerhin ist in dieser Hinsicht ein Wandel zu beobachten, denn mindestens im 21. Jahrhundert sind die deutschen Verbrechen und der mörderische Charakter bereits 21 22 23 12 Hierzu Stephan Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust. Bełżec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt, München 2017. Bogdan Musial, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939–1944, Wiesbaden 2000, S. 350. Markus Krzoska, Der „Bromberger Blutsonntag“ 1939. Kontroversen und Forschungsergebnisse, in: VfZ 60 (2012), S. 235–248. der KriegSbeginn 1939 und die erinnerung an die deutSChen verbreChen in polen der ersten Wochen des Zweiten Weltkrieges in der Forschung nicht mehr umstritten, sondern gefestigter Wissensstand. Fraglich ist aber, ob das in der Öffentlichkeit so auch bekannt bzw. bewusst ist. Erneut war es Jochen Böhler, der mit der deutsch-polnischen Ausstellung „Größte Härte“ Pionierarbeit leistete. Die Schau thematisiert deutsche Verbrechen in Polen während der ersten Kriegswochen und brachte so zum ersten Mal diese Taten einem breiten Publikum nahe. Sie war ein bemerkenswerter Erfolg und ist zwischen 2005 und 2011 an 22 Orten in Deutschland gezeigt worden. Dennoch dominiert in den allermeisten Köpfen nach wie vor das nationalsozialistische Narrativ: Hitlers Rede „Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen“; das gestellte Foto der deutschen Soldaten, die in Zoppot einen Schlagbaum einreißen, und natürlich der – selbstverständlich als inszeniert erinnerte – Überfall auf den Sender Gleiwitz, sowie eventuell noch die „Schleswig-Holstein“ und ihre Beschießung der Westerplatte. Die DDR hatte den 1. September im Jahr 1957 zum „Antikriegstag“ erklärt und damit zusätzliche Abwehrreaktionen im Westen hervorgerufen. Doch auch in der DDR verkam das Datum rasch zum ritualisierten Gedenken an „den“ Zweiten Weltkrieg und zur allgemeinen Besinnlichkeit gegen Krieg und militärische Konflikte; das konkrete Ereignis und die damit verbundenen Verbrechen schafften es aber nicht ins kollektive Bewusstsein. Den Angriff auf Danzig hat zwar immerhin Günter Grass in seiner „Blechtrommel“ und Volker Schlöndorff in deren Verfilmung künstlerisch verewigt, aber dies blieb eine Ausnahme – sieht man einmal vom DDR-Dokumentarspielfilm „Der Fall Gleiwitz“ von 1961 ab.24 Und so gilt der Krieg gegen Polen in Deutschland weithin als eine Art Vorspiel zum „eigentlichen“ Krieg, der 1941 in der Sowjetunion begann. Denn erst dann stiegen die eigenen Verlustzahlen, gab es nicht mehr nur Blitzsiege, und erst danach wurde auch die deutsche Zivilbevölkerung vom Krieg getroffen. Weil das Deutsche Reich selbst gegen die Sowjetunion Krieg führte und verlor – mit dem Unterschied freilich, dass dieser Krieg von Deutschland ausging – fiel außerdem Polens Niederlage gegen den gleichen Gegner im Jahr 1939 weitgehend dem öffentlichen Vergessen anheim. Das gilt mithin für die Tatsache, dass der Hitler-Stalin-Pakt eine Grundvoraussetzung für den Überfall auf Polen war und die beiden übermächtigen Nachbarn – auf deutscher Seite in Gestalt Preußens und der Habsburger Monarchie – das Land zum vierten Mal nach 1772, 1793 und 1795 unter sich aufteilten. Die Verständigung Deutschlands und der Sowjetunion gegen den dazwischen liegenden Staat ist deshalb in Polen ein nationales Trauma, das hierzulande jedoch weitgehend ignoriert wird.25 In diesem Sinne war bereits der Krieg 1939 die eigentliche Ursache für die nach 1945 folgende sowjetische Dominanz und die bis 1989 währende kommunistische Epoche in Polen. Vor allem anderen aber führte die Totalität des Holocaust dazu, dass in Deutschland andere Verbrechen und sogar Völkermorde kaum angemessen wahrgenommen 24 25 Böhler, Polenfeldzug. „Blitzsieg“ oder Vernichtungskrieg?, S. 362 f. Felix Ackermann, Hitler-Stalin-Pakt. Die vierte Teilung Polens?, in: Hahn/Traba (Hrsg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Bd. 1, S. 343–358. 13 Svea hammerle · hanS-ChriStian JaSCh · Stephan lehnStaedt werden. Die eigene Täterschaft bei diesem Genozid überlagerte und überlagert bis in die Gegenwart die Verantwortung für die weiteren Gewalttaten des Zweiten Weltkriegs, die kaum aus dem übermächtigen Schatten der präzedenzlosen Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden treten. Das gilt selbst bei so extremen Fällen wie Polen. Tatsächlich befasst sich auch das Haus der Wannsee-Konferenz als Gedenkund Bildungsstätte vor allem mit der Erinnerung, Dokumentation und Aufklärung des Holocaust. Aber der Zweite Weltkrieg bildet hierfür den Auftakt und den Rahmen. Dieser Genozid war zwar kein Kriegsverbrechen, seine Opfer waren fast ausschließlich Zivilpersonen, und das Morden geschah überwiegend abseits der eigentlichen Kriegshandlungen, auch wenn neben SS und Polizei auch Einheiten der Wehrmacht an Massakern beteiligt waren. Dennoch war der Holocaust ein Verbrechen „bei Gelegenheit des Krieges“ und hätte ohne dessen spezifische Bedingungen so wohl kaum stattgefunden. Den Nationalsozialisten galten die Jüdinnen und Juden als „Gegenrasse“ und als sogenannte Reichsfeinde, für die letztlich eine „Lösung“ gefunden werden sollte. So ist es nicht verwunderlich, dass es schon in den ersten Kriegswochen 1939 zu Massakern an der polnischen Bevölkerung kam. Jüdinnen und Juden bildeten hierbei neben „polnischer Intelligenz“ die zweitgrößte Opfergruppe. Deutsche Einheiten verübten beispielsweise am 18. September 1939 in Przemyśl ein Massaker an über 500 Jüdinnen und Juden. Jochen Böhler spricht in diesem Band von einem „Schlüsselereignis der Shoah“. Welche Haltung manche Soldaten bereits bei ihrem Einmarsch in Polen hatten, verdeutlicht das Foto eines Truppentransports mit dem Graffito: „Wir fahren nach Polen, um Juden zu versohlen“ (siehe Abb. 1). Die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz realisierte anlässlich des 80. Jahrestags des Kriegsbeginns zwei Projekte zum deutschen Überfall auf Polen: Erstens die Online-Ausstellung „Der deutsche Überfall auf Polen im Herbst 1939 – Aus dem Fotobestand Kurt Seeligers“,26 gefördert durch das Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin (digiS) aus Mitteln der Senatsverwaltung für Kultur und Europa, und zweitens das Kooperationsprojekt mit Studierenden des Masterstudiengangs Public History der Freien Universität Berlin „Stumme Zeugnisse 1939 – Der deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten“, das von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gefördert wurde. Im Rahmen des Projekts „Stumme Zeugnisse 1939“ veröffentlichte die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz einen Sammelaufruf, mit dem die Öffentlichkeit in Deutschland und Polen gebeten wurde, Dokumente und Fotografien, die den Krieg gegen Polen thematisieren, in Familiennachlässen zu suchen und der Gedenkund Bildungsstätte als Digitalisate zur Veröffentlichung und historischen Kontextua- 26 14 Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Digitale Foto-Ausstellung zum deutschen Überfall auf Polen 1939. Aus dem Bestand Kurt Seeligers, https://onlinesammlun gen.ghwk.de/seeliger [4. 6. 2019]. der KriegSbeginn 1939 und die erinnerung an die deutSChen verbreChen in polen Abb. 1: Transport deutscher Soldaten und von Männern des Reichsarbeitsdienstes nach Polen, September 1939. lisierung zu überlassen. Das eingesandte Material wurde online zugänglich gemacht.27 Der Rücklauf des Sammelaufrufs zeigte, dass sich in Deutschland – in Polen hat der Aufruf bedauerlicherweise nicht die gewünschte Verbreitung erreicht – noch viele Fotoalben, Tagebücher, Briefwechsel und andere Dokumente zum deutschen Überfall auf Polen in privater Hand befinden. Zudem wird deutlich, dass die Nachkommen der ehemaligen Wehrmachtsoldaten – aus der Kinder- oder Enkelgeneration – mit diesen Familienerbstücken mittlerweile durchaus ein Interesse an der Erschließung solcher Hinterlassenschaften haben. Über die Hälfte der Leihgeberinnen und Leihgeber gestattete der Gedenk- und Bildungsstätte, sowohl ihre eigenen Namen als auch diejenigen ihrer Vorfahren ohne Anonymisierung im Internet anzugeben – ungeachtet der zum Teil deutlich antisemitischen und antipolnischen Einstellungen, die sich aus den eingesandten Quellen rekonstruieren lassen. Fotoalben, deren Arrangement und Kommentierung die „geknipsten“ Aufnahmen komplementieren, sowie Tagebücher und Briefe als – mal mehr, mal weniger wahrheits27 Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, „Stumme Zeugnisse 1939 – Der deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten“, https://onlinesammlungen.ghwk.de/ stummezeugnisse. 15 Svea hammerle · hanS-ChriStian JaSCh · Stephan lehnStaedt getreue – schriftliche Fixierung der subjektiven Wahrnehmung des Kriegs sind eindrückliche Zeitzeugnisse, die Einblicke in die Mentalitätsgeschichte der deutschen Soldaten geben können. Sie zeigen jedoch nur, „wie der Krieg gesehen wurde – nicht, wie er war“,28 zumal es – in Ermangelung polnischer Quellen – leider nicht gelungen ist, ein multiperspektivisches Bild zu zeichnen. Bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den uns zur Verfügung gestellten deutschen Quellen ist deren Kontextualisierung unerlässlich. Hierbei müssen nicht nur die ereignisgeschichtlichen Fakten des Kriegs und die Sozialisation der Soldaten im nationalsozialistischen Deutschland berücksichtigt werden, auch fotohistorische und kulturwissenschaftliche Fragestellungen sind aufschlussreich. Bei dieser Arbeit wurde die Gedenk- und Bildungsstätte von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachgebieten unterstützt und beraten. Ihre spezifischen Expertisen fließen nun im vorliegenden Band zusammen, um eine disziplinübergreifende Auseinandersetzung mit dem deutschen Überfall auf Polen zu dessen 80. Jahrestag zu ermöglichen. Im ersten Teil des Bandes nehmen Forscherinnen und Forscher aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen eine historische Kontextualisierung des Überfalls auf Polen vor. Daran schließen sich drei Beiträge an, die bisher unveröffentlichte Zeitzeugnisse vorstellen, die von ehemaligen Wehrmachtsoldaten während und nach dem deutschen Überfall auf Polen angefertigt wurden und unter verschiedenen Fragestellungen analysiert werden. Dr. Hans-Christian Jasch, Direktor der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und Initiator der Ausstellungsprojekte, skizziert die Vorgeschichte des Krieges gegen Polen und konturiert die Leitlinien der deutschen Bevölkerungs- und Vernichtungspolitik, die im Herbst 1939 und in der Folgezeit innerhalb der NS-Führung entwickelt werden. Jens Wehner M. A., Leiter des Sachgebiets Bildgut und Kurator des Bereichs „Zweiter Weltkrieg“ der Dauerausstellung des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden, thematisiert den deutschen Überfall auf Polen aus militärhistorischer Perspektive. Mit den zivilen Opfern des Kriegs und den von den Wehrmachtsoldaten verübten Verbrechen setzt sich PD Dr. Jochen Böhler, Imre Kertész Kolleg Jena, in seinem Beitrag auseinander. Dr. Petra Bopp, Kunsthistorikerin und Kuratorin der Ausstellung „Fremde im Visier – Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg“ (2009), analysiert den fotohistorischen Quellenwert von Fotoalben der Wehrmachtsoldaten. Indem sie deren Praxis des Fotografierens und den Umgang mit den Bildern beschreibt, kann sie zeigen, wie die Erinnerungsräume der Kriegsgeneration konstruiert und bis heute wirkmächtig wurden. Prof. Dr. Paweł Machcewicz, Professor am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften und bis April 2017 Gründungsdirektor des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig, thematisiert die gesellschaftliche Erinnerung in Polen an den Beginn des Zweiten Weltkriegs anhand der Erhebungen zur öffentlichen 28 16 Petra Bopp, Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009, S. 10. der KriegSbeginn 1939 und die erinnerung an die deutSChen verbreChen in polen Meinung, die im Jahr 2009 im Auftrag des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig durchgeführt wurden. Abschließend gibt Dr. Irmgard Zündorf, Leiterin des Bereichs Public History am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Koordinatorin des Masterstudiengangs Public History an der Freien Universität Berlin, einen Einblick in die Genese und den Verlauf des studentischen Projekts „Stumme Zeugnisse 1939“. Svea Hammerle M. A.,wissenschaftliche Volontärin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und Projektkoordinatorin der diesem Band zugrundeliegenden Online-Ausstellungen, stellt das Fotokonvolut Kurt Seeligers vor, der als Reserveoffizier in einer Artilleriebeobachtungsabteilung diente. Die Fotografien zeigen neben dem soldatischen Alltag vor allem den Blick Seeligers auf das eroberte Land und seine Bevölkerung. Die Motivauswahl, das Arrangement der Fotografien und die Kommentare erlauben nicht nur eine Rekonstruktion des Itinerars von Seeligers Einheit, sondern lassen auch Rückschlüsse auf die ideologische Einstellung des Fotografen und seine Haltung zum Krieg zu. Dr. Kurt Lehnstaedt, Historiker aus Gröbenzell und Vater des Mitherausgebers Prof. Dr. Stephan Lehnstaedt, Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien am Touro College Berlin, analysieren das Logbuch des Kadetten Hans Buch, der an Bord der „Schleswig-Holstein“ am 1. September 1939 den Angriff auf die Westerplatte in Danzig miterlebte. Der Offiziersanwärter hielt in diesem Tagebuch nicht nur das Geschehen schriftlich fest, er versah es darüber hinaus mit zahlreichen kunstfertigen Illustrationen, die zum Teil mit leichter (Selbst-)Ironie den geschilderten Alltag der Schiffsbesatzung und die Kampfhandlungen karikieren. Der Historiker und Referent am Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg, Dr. Christoph Hamann, verknüpft seine zwei Forschungsschwerpunkte Visual History und Zeitgeschichte bei der Analyse des Nachlasses seines Schwiegervaters, der als Funker von Schlesien aus am Angriff gegen Polen beteiligt war. Hierbei stützt er sich auf unterschiedliche Quellen aus drei Zeiträumen: ein Kriegstagebuch und Fotoalbum von 1939/40, unveröffentlichte Lebenserinnerungen aus den Jahren 2000/2001 und Bearbeitungen der Quellen und ergänzende Kommentare des Schwiegervaters im Jahr 2015. Auf dieser Grundlage geht Hamann der Frage nach, wie das autobiografische Erinnern mit dem eigenen Leben beziehungsweise den Quellen des Lebens umgeht. Großen Dank schulden die Herausgeber dem Auswärtigen Amt, das eine Förderung dieses Bandes in Aussicht gestellt hat. Insbesondere danken wir Herrn Martin Kremer, Leiter des Referats für Mitteleuropa, für seine Unterstützung. Zu weiterem Dank sind wir dem Metropol Verlag verpflichtet, der zum wiederholten Mal eine Publikation der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz veröffentlicht. Dr. Beate Kosmala danken wir für ihre Übersetzungsarbeit. Darüber hinaus gilt unser Dank den Autorinnen und Autoren, die uns bei den Online-Ausstellungen tatkräftig unterstützt und ihre Beiträge zu diesem Sammelband beigesteuert haben. 17 Svea hammerle · hanS-ChriStian JaSCh · Stephan lehnStaedt Literatur Ackermann, Felix, Hitler-Stalin-Pakt. Die vierte Teilung Polens?, in: Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hrsg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Bd. 1: Geteilt / Gemeinsam, Paderborn 2015, S. 343–358. Böhler, Jochen, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006. – Polenfeldzug. „Blitzsieg“ oder Vernichtungskrieg?, in: Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hrsg.), Deutsch-polnische Erinnerungsorte, Bd. 1: Geteilt/Gemeinsam, Paderborn 2015, S. 359–373. Bopp, Petra, Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009. Borodziej, Włodzimierz, Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt a. M. 2004. Brewing, Daniel, Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten 1939–1945, Darmstadt 2016. Conze, Eckart, Aufstand des preußischen Adels. Marion Gräfin Dönhoff und das Bild des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 483–508. Esch, Michael G., „Gesunde Verhältnisse“. Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939–1950, Marburg 1998. Ferchland, Linda, Auschwitz: Plädoyer für die Entmystifizierung eines Un-Ortes, in: Jörg Ganzenmüller/Raphael Utz (Hrsg.), Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 219–242. Gursztyn, Piotr, Der vergessene Völkermord. Das Massaker von Wola in Warschau 1944. Ein ungesühntes Verbrechen, Berlin 2019. Gutschow, Niels/Klain, Barbara, Vernichtung und Utopie. Stadtplanung Warschau 1939–1945, Hamburg 1994. Kellmann, Klaus, Dimensionen der Mittäterschaft. Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich, Wien 2018. Krzoska, Markus, Der „Bromberger Blutsonntag“ 1939. Kontroversen und Forschungsergebnisse, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 235–248. Kucia, Marek, Die Symbolhaftigkeit von Auschwitz in der polnischen Erinnerungskultur von 1945 bis heute, in: Kerstin Schoor/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Gedächtnis und Gewalt. Nationale und transnationale Erinnerungsräume im östlichen Europa, Bonn 2016, S. 166–183. Lehnstaedt, Stephan, Der Kern des Holocaust. Bełżec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt, München 2017. – Imperiale Polenpolitik in den Weltkriegen. Eine vergleichende Studie zu den Mittelmächten und zu NS-Deutschland, Osnabrück 2017. Logemann, Daniel/Tomann, Juliane, Gerichte statt Geschichte? Das Museum des Zweiten Weltkrieges in Gdańsk, in: Zeithistorische Forschungen 16 (2019), S. 106–117. Madajczyk, Czesław (Hrsg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München 1994. 18 der KriegSbeginn 1939 und die erinnerung an die deutSChen verbreChen in polen Mallmann, Klaus-Michael/Böhler, Jochen/Matthäus, Jürgen, Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008. Materski, Wojciech/Szarota, Tomasz, Polska 1939–1945. Straty osobowe i ofiary represji pod dwiema okupacjami, Warszawa 2009. Matusak, Piotr, Przemysł na ziemiach polskich w latach II wojny światowej, Warszawa 2009. Musial, Bogdan, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939–1944, Wiesbaden 2000. Peters, Florian, Revolution der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in der Geschichtskultur des spätsozialistischen Polen, Berlin 2016. Steinbach, Peter, Wem gehört der Widerstand gegen Hitler?, in: Dachauer Hefte 6 (1990), S. 56–72. Ther, Philipp, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. Ethnische Säuberungen im modernen Europa, Göttingen 2011. Umbreit, Hans, Die deutsche Herrschaft in den besetzten Gebieten 1942–1945, in: Bernhard Kroener/Rolf-Dieter Müller/Hans Umbreit (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5/2. Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Zweiter Halbband: Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942–1944/45, Stuttgart 1999, S. 3–272. Wolf, Gerhard, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen, Hamburg 2012. Zaremba, Marcin, Die große Angst. Polen 1944–1947: Leben im Ausnahmezustand, Paderborn 2016. Online Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Digitale Foto-Ausstellung zum deutschen Überfall auf Polen 1939. Aus dem Bestand Kurt Seeligers, https:// onlinesammlungen.ghwk.de/seeliger [4. 6. 2019]. Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, „Stumme Zeugnisse 1939 – Der deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten“, https://onlinesammlungen.ghwk.de/stummezeugnisse. Zick, Andreas/Rees, Jonas, Ergebnisbericht Multidimensionaler Erinnerungsmonitor 2018, https://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Studie_MEMO_Ergeb nisbericht.pdf [23. 5. 2019]. 19 Hans-Christian Jasch „Völkische Flurbereinigung“ in den besetzten und annektierten Gebieten Polens 1. Einleitung Bereits während des Überfalls auf Polen begannen verschiedene Dienststellen des nationalsozialistischen Deutschland, das neueroberte Gebiet zu einem Experimentierfeld für ihre umfassenden Pläne einer „rassische Neuordnung“ zu machen.1 Den NS-Strategen ging es hierbei nicht nur um eine Revision des Versailler Vertrages, sondern um nicht weniger als die Schaffung eines künftigen „Lebensraumes“, d. h. einer Siedlungskolonie, die dem „Volk ohne Raum“ (Hans Grimm) eine koloniale Perspektive im Osten geben sollte. Diese Ideen schlossen an Träume von einem „Ostreich“ an, die bereits während des Ersten Weltkrieges und angesichts des „Siegfriedens“ von Brest-Litowsk im untergehenden Kaiserreich geträumt worden waren. Die im „Ostraum“ lebende slawische und jüdische Bevölkerung sollte kurz- oder mittelfristig „verschwinden“ bzw. als bloßes „Arbeitskräftereservoir“ erhalten bleiben, wie der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler, den Hitler am 7. Oktober 1939 zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums ernannt hatte, es in einer Denkschrift über die Behandlung der „Fremdvölkischen im Osten“ vom 25. Mai 1940 bereits recht prägnant formuliert hatte. Nach Himmlers Vorstellungen sollte hier eine „rassische Siebung“ durchgeführt werden. Die „rassisch Wertvollen“ seien zu assimilieren. Das Nationalbewusstsein der Polinnen und Polen, ihr Bewusstsein, eine ethnische Identität zu besitzen, sollte verschwinden. Weiterbildende Schulen für nichtdeutsche Kinder sollten verboten werden, sodass diese nur noch bis 500 zählen lernen konnten. Im Übrigen sollten sie vor allem begreifen, dass es ein göttliches Gebot sei, den Deutschen zu gehorchen. Für „rassisch-einwandfreie“ Kinder waren Ausnahmen vorgesehen. „So grausam und tragisch jeder einzelne Fall sein mag, so ist diese Methode, wenn man die bolschewistische Methode der physischen Ausrottung eines Volkes aus innerer Überzeugung als ungermanisch und unmöglich ablehnt, doch die mildeste und beste.“ Hinsichtlich der jüdischen Bevölkerung Polens bemerkte Himmler nur lapidar: „Den Begriff Juden hoffe ich, durch die Möglichkeit einer großen Auswanderung sämtlicher Juden nach Afrika oder sonst in eine Kolonie völlig auslöschen zu sehen.“2 1 2 Für wertvolle Hinweise danke ich meiner Mitherausgeberin und meinem Mitherausgeber sowie Eike Stegen von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Im Wortlaut abgedruckt bei: Helmut Krausnick, Denkschrift Himmlers über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten (Mai 1940), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 5 (1957), 21 hanS-ChriStian JaSCh Diese Politik, die letztlich auch vor der millionenfachen physischen Ausrottung nicht zurückschreckte, trug maßgeblich dazu bei, dass Polen im Zweiten Weltkrieg mit ca. 5,7 Millionen Opfern etwa ein Fünftel seiner Vorkriegsbevölkerung verlor und damit neben der Sowjetunion, China und Jugoslawien zu den Ländern gehörte, die im Zweiten Weltkrieg die höchsten Opferzahlen zu beklagen hatten. Zudem wurde das besetzte und unterjochte Polen auch zu einer der Hauptarenen des Völkermordes an den europäischen Jüdinnen und Juden. Hier wurden nicht nur etwa drei Millionen polnische Jüdinnen und Juden ermordet, sondern auch noch weitere Hunderttausende aus West- und Südosteuropa, die zu diesem Zweck in die auf besetztem polnischen Territorium errichteten Ghettos und Vernichtungslager gebracht wurden. Im Folgenden sollen daher die ersten Schritte der bevölkerungspolitischen Maßnahmen gegen die „Fremdvölkischen“, die zum Teil noch vor der vollständigen Eroberung Polens Anfang Oktober 1939 getroffen wurden, kurz skizziert werden.3 Diese Darstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll nur den politischen Rahmen konturieren, in dem die hier präsentierten Fotos und Dokumente entstanden sind – den Rahmen einer katastrophalen Entwicklung, die in den millionenfachen Völkermord mündete. 2. Das deutsch-polnische Verhältnis von 1933 bis zum Frühjahr 1939 Das deutsch-polnische Verhältnis verbesserte sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zunächst vordergründig. Zwar zeugen die Akten des Auswärtigen Amts davon, dass die polnische Gesandtschaft im Frühjahr 1933 im Zuge der Gewalt von NSAnhängern immer wieder gegen Übergriffe und Tötungen polnischer Staatsangehöriger, meist Jüdinnen und Juden, protestierte und Entschädigung für die Angehörigen verlangte,4 insgesamt bemühte sich die NS-Regierung jedoch um eine Annäherung mit dem Nachbarstaat. Die Nationalsozialisten bewunderten Marschall Józef Piłsudski, der 1920 als Bezwinger der Sowjetunion galt. Der deutsch-polnische Nichtangriffspakt, der am 26. Januar 1934 in Berlin unterzeichnet wurde, stellte für das noch junge NSRegime einen wichtigen außenpolitischen Prestigeerfolg dar. Die bilaterale Erklärung sollte – wie es programmatisch hieß – eine neue Phase der politischen Beziehungen zwischen beiden Staaten einleiten. Der auf zehn Jahre befristete Vertrag sah vor, dass 3 4 22 S. 194–198. Im Internet ist die Denkschrift einsehbar unter: https://www.ns-archiv.de/krieg/ untermenschen/himmler-fremdvolk.php [25. 6. 2019]. Der Begriff „Fremdvölkische“ umfasst im NS-Jargon sowohl die slawische als auch die jüdischpolnische Bevölkerung. Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939–1945, Stuttgart 1961; Diemut Majer, „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard 1981. Vgl. hierzu den Notenwechsel im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, R 100281. „völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS Abb. 1: Hans-Adolf von Moltke, Józef Piłsudski, Joseph Goebbels und Józef Beck (1934). Bundesarchiv, Bild 183-B0527-0001-293 sich beide Staaten verpflichteten, Probleme wirtschaftlicher, politischer und kultureller Art friedlich zu lösen. Einen Verzicht auf Gebietsansprüche – immerhin stand auch bei der NSDAP die Revision des Versailler Friedensvertrages schon seit 1920 ganz am Anfang ihres politischen Programms – sah der Pakt ausdrücklich nicht vor. Ihm folgte jedoch die Beendigung eines jahrelangen Zollkrieges und der Abschluss eines Wirtschaftskooperationsvertrages im November 1934. Polenfeindliche Propaganda fand in der Folge in den gleichgeschalteten deutschen Medien nicht mehr statt. In Berlin gab es sogar ein polnisches Kulturinstitut.5 Der 1922 in Berlin gegründete Bund der Polen in Deutschland e. V. (Związek Polaków w Niemczech, ZPwN) durfte am 6. März 1938 in Berlin einen Kongress der Polen in Deutschland im damaligen Theater des Volkes in der Friedrichstraße durchführen, an dem – geduldet vom Propagandaministerium – über 5000 in Deutschland lebende Polinnen und Polen teilnahmen. Erst 1940 wurde diese Organisation aufgelöst.6 5 6 Vgl. hierzu: Karina Pryt, Befohlene Freundschaft. Die deutsch-polnischen Kulturbeziehungen 1934–1939, Osnabrück 2010. Verordnung über die Organisationen der polnischen Volksgruppe im Deutschen Reich. Ministerrat für die Reichsverteidigung, Berlin, 27. Februar 1940, RGBl. 1940, I, Nr. 39, S. 444. 23 hanS-ChriStian JaSCh Anders als die jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich, für die bereits seit dem Frühjahr 1933 ein Korpus an sonderrechtlichen Bestimmungen wie die Nürnberger Rassengesetze geschaffen wurde, galten Polinnen und Polen – zumindest bis 1939 – nicht als „artfremd“. Dies macht Wilhelm Stuckart7 als einer der „Schöpfer“ und Kommentatoren der Nürnberger Rassengesetzgebung deutlich, als er ausdrücklich hervorhob, dass das mit dem Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 neugeschaffene Konstrukt der „Reichsbürgerschaft“ den in Deutschland lebenden „artverwandten Volksgruppen, wie Polen, Dänen usw.“ offenstehen und nur den „art-und blutsfremden Staatsangehörigen“ verschlossen bleiben sollte. Da das Judentum von „Rassefremdheit“ und „Wurzellosigkeit“ gekennzeichnet sei und einen „Fremdkörper und Spaltpilz in allen europäischen Völkern“ bilde, sollte vor allem den Jüdinnen und Juden die Reichsbürgerschaft versagt werden.8 Auch in Polen gab es damals Kräfte, die nach „Lösungen“ für die sogenannte Judenfrage suchten. Am 5. Mai 1937 entsandte die polnische Regierung nach Verhandlungen mit der französischen Regierung z. B. eine Prüfungskommission nach Madagaskar, die erkunden sollte, in welchem Umfang polnische Jüdinnen und Juden in Madagaskar „angesiedelt“ werden könnten. Ferner hatte man in Warschau die Befürchtung, dass es nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich und angesichts der dort von Angehörigen des SD eingeleiteten systematischen Vertreibungspolitik zu einer verstärkten „Rückwanderung“ von Jüdinnen und Juden nach Polen kommen könnte.9 Im Deutschen Reich sowie den angeschlossenen Gebieten lebten zu dieser Zeit etwa 72 000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit. Der polnische Sejm verabschiedete daraufhin am 31. März 1938 ein Gesetz, das die Möglichkeit vorsah, polnischen Staatsbürgern, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland lebten, die Staatsbürgerschaft zu entziehen.10 Am 9. Oktober 7 8 9 10 24 Hans-Christian Jasch, Wilhelm Stuckart – Reichsministerium des Innern. Ein heikler Gesetzesonkel, in: Hans-Christian Jasch/Christoph Kreutzmüller (Hrsg.), Die Teilnehmer. Die Männer der Wannsee-Konferenz, Berlin 2017, S. 277–294; engl.: Wilhelm Stuckart (1902–1953), Reich Interior Ministry: „A Legal Pedant“, in: The Participants. The Men of the Wannsee Conference, New York/Oxford 2017; Hans-Christian Jasch, Civil Service Lawyers and the Holocaust: The Case of Wilhelm Stuckart, in: Alan E. Steinweis/Robert D. Rachlin (Hrsg.), The Nazi Law in Germany. Ideology, Opportunism, and the Perversion of Justice, New York/Oxford 2013; ders., Staatssekretär Dr. Wilhelm Stuckart. Der Vertreter des Reichsministeriums des Innern auf der Wannsee-Konferenz und sein Prozess in Nürnberg, in: Einsicht 7 (2012), S. 28–38; ders., Staatssekretär Dr. Wilhelm Stuckart (1902–1953) und die Judenpolitik. Der Mythos von der sauberen Verwaltung, München 2012; ders., Zur Rolle der Innenverwaltung im Dritten Reich bei der Vorbereitung und Organisation des Genozids an den europäischen Juden: Der Fall des Dr. Wilhelm Stuckart (1902–1953), in: Die Verwaltung 2 (2010), S. 217–271. Vgl. Wilhelm Stuckart, Die völkische Grundordnung des deutschen Volkes, in: Deutsches Recht (DR) 5 (1935), S. 557–564. Zu den Hintergründen: Jerzy Tomaszewski, Auftakt zur Vernichtung. Die Vertreibung der polnischen Juden aus Deutschland 1938, Osnabrück 2002. Vgl. hierzu: Die Abschiebung polnischer Juden aus dem Deutschen Reich 1938/1939 und ihre Überlieferung. Vorbemerkung zur Druckfassung von 2006, in: Bundesarchiv (Hrsg.), Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in „völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS 1938 folgte eine Verfügung, nach der im Ausland ausgestellte Pässe ab 30. Oktober 1938 nur mit einem Prüfvermerk des polnischen Konsulats zur Einreise nach Polen berechtigten. Auf diese Weise wollte die polnische Regierung eine Massenausweisung der im Deutschen Reich lebenden Juden polnischer Staatsangehörigkeit nach Polen verhindern.11 Daraufhin forderte die NS-Regierung am 26. Oktober 1938 die polnische Regierung in einem Ultimatum auf, die Inhaberinnen und Inhaber polnischer Pässe auch künftig ohne Sichtvermerk einreisen zu lassen, andernfalls werde man die polnischen Jüdinnen und Juden noch vor Inkrafttreten des Gesetzes abschieben. Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, ließ zwischen dem 28. und 29. Oktober 1938 auf der Grundlage der neugeschaffenen Ausländerpolizeiverordnung vom 22. August 193812 Tausende Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhaften und dann mit bewachten Sonderzügen über die Grenze – vor allem bei Zbąszyń (Bentschen), Chojnice (Konitz) in Pommern und Beuthen in Oberschlesien – abschieben. An manchen Grenzorten, insbesondere in Zbąszyń, internierten die polnischen Behörden etwa 8000 Jüdinnen und Juden, die das amerikanische Joint Distribution Committee versuchte zu unterstützen. Die Deportationen aus Deutschland wurden erst nach Protesten des polnischen Außenministeriums eingestellt. Im Januar 1939 schlossen Polen und das Deutsche Reich eine Vereinbarung, wonach rund 6000 Familienangehörigen der zuvor Ausgewiesenen (Frauen und Kinder) die Einreise nach Polen ermöglicht wurde. Kurz zuvor hatte Polen zunächst noch von der Schwächung der Tschechoslowakei durch die deutsche Expansionspolitik und das Münchner Abkommen profitiert und zwischen dem 2. und 11. Oktober 1938 den mittleren Teil des Olsagebiets oder Teschener Landes (Zaolzie) besetzt, während das Deutsche Reich gleichzeitig die im Münchner Abkommen zugestandenen Gebiete des Sudetenlandes und das Hultschiner Ländchen okkupierte. Nur wenige Tage später unternahm das NS-Regime dann jedoch erstmals offizielle Schritte, um die Frage des sogenannten Polnischen Korridors, der seit 1919 Ostpreußen vom Reichsgebiet trennte, und den Status der Stadt Danzig, die in der Versailler Friedensordnung zu einer „freien Stadt“ mit einem Völkerbundkommissar und polnischen Hafenrechten geworden war, in seinem Sinne zu „lösen“. Am 24. Oktober 1938 forderte Außenminister Joachim von Ribbentrop in Adolf Hitlers Auftrag die Rückgabe Danzigs an das Deutsche Reich und die Erlaubnis zum Bau einer exterritorialen Autobahn, die Ostpreußen und das übrige Reichsgebiet verbinden sollte. Im Gegenzug würden Polens wirtschaftliche Interessen in Danzig berücksichtigt und die Staatsgrenzen gegenseitig garantiert werden.13 Polen lehnte dieses Ansinnen ab, weil es nicht nur eine 11 12 13 Deutschland 1933–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/zwangsausweisung.html. de?page=1 [25. 6. 2019]. Vgl. hierzu: Susanne Heim (Hrsg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (VEJ), Bd. 2: Deutsches Reich 1938 – August 1939, München 2009, S. 52. RGBl. 1938, I, S. 1053–1056. Stefan Kley, Hitler, Ribbentrop und die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs, Paderborn 1996. 25 hanS-ChriStian JaSCh Rückgabe Danzigs an das Deutsche Reich für unannehmbar hielt, sondern vor allem, weil es befürchtete, in Abhängigkeit zu Deutschland zu geraten. Zudem wollte sich die polnische Regierung nicht dem Antikominternpakt anschließen.14 Die von der NS-Regierung geschürten Spannungen wuchsen, und Hitler nahm eine britisch-französische Garantieerklärung für Polen am 28. April 1939 zum Anlass, sowohl das deutsch-britische Flottenabkommen als auch den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt einseitig zu kündigen. Das NS-Regime hatte zuvor das benachbarte Litauen unter Druck gesetzt und erzwang am 20. März 1939 die Rückgabe des am 22. März 1920 vom Deutschen Reich getrennten, als Völkerbundmandat unter französische Verwaltung gestellten und schließlich 1923 von Litauen annektierten Memellandes. Kurz zuvor, am 15. März 1939, war das Deutsche Reich zudem in die „Resttschechei“ einmarschiert. Polen hatte also allen Grund, deutschen Garantieversprechen zu misstrauen. Bereits am 11. April 1939 erteilte Hitler dann auch der Wehrmacht die Weisung zur Ausarbeitung eines Kriegsplanes gegen Polen. Die Angriffsplanungen liefen unter dem Codenamen: „Fall Weiss“.15 3. Der Krieg gegen Polen und die „völkische Flurbereinigung“ Bereits in einer Ansprache vor Vertretern der Generalität auf dem Berghof am Vorabend des Hitler-Stalin-Paktes, am 22. August 1939, gab Hitler die Brutalität vor, mit der der Krieg gegen Polen geführt werden sollte. Diese nach einer Aufzeichnung des Generaladmirals Hermann Boehm wiedergegebenen Worte machen deutlich, dass dieser Krieg kein „normaler“ Krieg werden sollte: „Vernichtung Polens im Vordergrund. Ziel ist die Beseitigung der lebendigen Kräfte nicht die Erreichung einer bestimmten Linie. […] Ich werde propagandistischen Anlass zur Auslösung geben, gleichgültig ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Bei Beginn und Führung des Krieges kommt es nicht auf das Recht an, sondern auf den Sieg. Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. 80 Millionen Menschen müssen ihr Recht bekommen. Ihre Existenz muß gesichert werden. Der Stärkere hat das Recht. Größte Härte.“16 14 15 16 26 Dem Antikominternpakt, den das Deutsche Reich und Japan am 25. November 1936 in Berlin unterzeichnet hatten, traten am 6. November 1937 Italien, am 24. Februar 1939 Ungarn und der japanische Satellitenstaat Manschukuo bei. Wenig später, am 27. März 1939, folgte auch Spanien, nachdem Francisco Franco die Hauptstadt Madrid besetzt hatte. Vgl. Horst Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg“ und seine Auswirkungen auf Nordosteuropa, in: Klaus A. Maier/Horst Rohde/Bernd Stegemann/Hans Umbreit (Hrsg.), Die Errichtung der Hegemonie auf dem Europäischen Kontinent, Stuttgart 1979, S. 79–158, hier S. 82. Nürnberger Dokument PS-1014, Staatsarchiv Nürnberg. Die gesamte Rede steht online zur Verfügung: https://www.ns-archiv.de/krieg/1939/22-08-1939-boehm.php [25. 6. 2019]. „völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS Abb. 2: Titelseite des Völkischen Beobachters vom 26. August 1939. Propagandistische Anlässe wie den vermeintlichen polnischen Angriff auf den Sender Gleiwitz organisierte der Sicherheitsdienst der SS. Bereits am 10. August 1939 soll der Chef des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD), Reinhard Heydrich, dem SSSturmbannführer Alfred Naujocks befohlen haben, einen Anschlag auf die Radiostation bei Gleiwitz in der Nähe der polnischen Grenze vorzutäuschen und es so erscheinen zu lassen, als seien Polen die Angreifer gewesen.17 Welches Ausmaß die polenfeindliche Propaganda in den letzten Tagen vor dem deutschen Überfall erreichte, mag die hier abgebildete Titelseite des Völkischen Beobachter vom 26. August 1939 verdeutlichen. Am Krieg gegen Polen nahmen neben der Wehrmacht auch Einheiten von SS und Polizei als Einsatzgruppen teil, die an zahlreichen Verbrechen beteiligt waren.18 Ihre Aufgabe war die Bekämpfung sogenannter Reichsfeinde. Hierzu gehörten auch „rassische“ 17 18 Vgl. Walther Hofer, Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, Frankfurt a. M. 1967, S. 327 f. Die gesamte Aussage Naujocks ist im Internet abrufbar: https://www.ns-archiv.de/krieg/1939/ sender-gleiwitz/naujocks.php [25. 6. 2019]. Vgl. hierzu den Beitrag von Jochen Böhler in diesem Band sowie: Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996, S. 234–240; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003, S. 419–485; Klaus-Michael Mallmann/Jochen Böhler/Jürgen Matthäus, Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008. 27 hanS-ChriStian JaSCh Gegnerinnen und Gegner, insbesondere Jüdinnen und Juden. Noch bevor die Kampfhandlungen abgeschlossen waren, traf Reinhard Heydrich in einem Befehl an die Einsatzgruppen eine grundlegende Regelung für den Umgang mit der jüdischen Bevölkerung, die sich nicht nur auf die Jüdinnen und Juden in Polen bezog, sondern auch schon die aus dem Reich vorzunehmenden Deportationen der jüdischen Bevölkerung thematisierte. Die Grundlinien, die im Genozid mündeten, wurden hier bereits deutlich vorgezeichnet: Der als „Geheim“ eingestufte Schnellbrief des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD an die Chefs aller Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei vom 21. September 193919 enthält zunächst die Formulierung eines „Nahziels“ bezüglich des Umgangs mit den Jüdinnen und Juden und stellte ein „Endziel“ in Aussicht. Selbstverständlich sollten die „geplanten Gesamtmaßnahmen [also das Endziel] streng geheim“ gehalten werden. Als „erste Vormaßnahme für das Endziel“ sei „zunächst die Konzentrierung der Jüdinnen und Juden vom Lande in die größeren Städte“ (Ghettoisierung) zu erreichen, wobei die vom Reich annektierten polnischen Gebiete „von Juden freigemacht werden“ bzw. dort nur wenige „Konzentrierungsstädte“ gebildet werden sollten, die wiederum „entweder Eisenbahnknotenpunkte sind oder zumindest an Eisenbahnstrecken liegen“. Im Weiteren wies Heydrich die Bildung jüdischer Ältestenräte an, die „für die exakte termingemäße Durchführung aller ergangenen oder noch zu ergehender Weisungen“ wie die Zählung, Erfassung, Unterbringung, Verpflegung der jüdischen Bevölkerung „voll verantwortlich zu machen“ seien. Als „Begründung für die Konzentrierung“ hatte „zu gelten, dass sich Juden maßgeblichlichst [sic!] an den Franktireurüberfällen und Plünderungsaktionen beteiligt“ hätten, die bereits in den ersten Tagen des „Polenfeldzuges“ als Vorwand für allerlei brutale Willkürmaßnahmen von Wehrmacht und SS gegen die polnische Bevölkerung dienten. Bei ihren „Maßnahmen“ war die Sicherheitspolizei angehalten, enge Fühlung mit Wehrmacht und Zivilverwaltung zu halten, damit durch die Verbringung in die Ghettos insbesondere kein größerer wirtschaftlicher Schaden entstünde. Darüber hinaus ordnete Heydrich Berichtspflichten zur Ghettoisierung für die Chefs der Einsatzgruppen an und ermahnte sie zu enger Zusammenarbeit. Am selben Tag hatte Heydrich mit den Führern der Einsatzgruppen eine Besprechung abgehalten, über die der Leiter der Stabskanzlei im zur selben Zeit gegründeten Reichssicherheitshauptamt Walther Rauff einen Vermerk erstellte, der im Folgenden in Auszügen abgedruckt ist (siehe Seite 29 f.). Auch die zivile Verwaltung wirkte in Gestalt des Staatssekretärs Wilhelm Stuckart aus dem Reichsministerium des Innern, der am 26. August 1939 auf der Titelseite des Völkischen Beobachter abgebildet ist und als Kronzeuge für den „Beschuss durch polnische Flak“ diente, an der raschen Zerschlagung des polnischen Staatswesens mit und stellte das Personal für die neue Besatzungsverwaltung im Osten.20 Das Gesetz zur 19 20 28 Vgl. Nürnberger Dokument EC 307, Landesarchiv Berlin, Rep. 031-02-01, Nr. 12647. Vgl. hierzu Stephan Lehnstaedt, „Ostnieten“ oder Verwaltungsexperten? Die Auswahl deutscher Staatsdiener für den Einsatz im Generalgouvernement Polen 1939–1944, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 55 (2007), S. 701–721; Markus Roth, Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen, Göttingen 2009. Zur deutschen Besatzungspolitik in „völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS Abb. 3: Auszug aus dem Besprechungsvermerk Walther Rauffs über die Besprechung Heydrichs mit den Führern der Einsatzgruppen in Polen vom 21. September 1939 BArch, R 58/825, Fol. 29–30. 29 hanS-ChriStian JaSCh Abb. 4: Auszug aus dem Besprechungsvermerk Walther Rauffs über die Besprechung Heydrichs mit den Führern der Einsatzgruppen in Polen vom 21. September 1939 BArch, R 58/825, Fol. 29–30. 30 „völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS Eingliederung Danzigs ins „Dritte Reich“ hatte Stuckart schon fertig in der Schublade. Es wurde zum 1. September 1939 verkündet.21 Am 6. Oktober 1939 erarbeitete er den „Erlass über die Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete“ (Danzig/Wartheland)22 und legte Hitler am 8. Oktober 1939 einen weiteren „Erlass über die Verwaltung der besetzten polnischen Gebiete“ zur Errichtung des Generalgouvernements vor, den dieser am 12. Oktober 1939 unterzeichnete.23 Damit war das besetzte und besiegte westliche Polen in deutsche Verwaltungseinheiten aufgeteilt, in denen sich die bereits in den ersten Wochen des Krieges begonnene verbrecherische Vernichtungspolitik nunmehr unter der Ägide einer zivilen Verwaltung fortsetzte. Zu einer zentralen Figur dieser Vernichtungspolitik bestimmte Hitler am 7. Oktober 1939 seinen Polizeichef, Reichsführer SS Heinrich Himmler, den er zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums ernannte und damit beauftragte, Reichs- und Volksdeutsche aus dem Ausland zur „endgültigen Heimkehr in das Reich“ zurückzuführen, die „Ausschaltung des schädigenden Einflusses“ von „volksfremden Bevölkerungsteilen auf Reich und deutsche Volksgemeinschaft“ sicherzustellen und für „die Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete durch Umsiedlung“ Sorge zu tragen.24 Anlass hierfür war, dass das Deutsche Reich in Ergänzung zum Nichtangriffspakt, dem Molotow-Ribbentrop-Pakt vom 23. August 1939,25 noch vor Beendigung der Kampfhandlungen in Polen mit der Sowjetunion am 28. September 1939 in Moskau den „Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag“, der allerdings erst zum 5. Januar 1940 im Reichsgesetzblatt bekannt gemacht wurde, geschlossen hatte. Ergänzt wurde dieses Abkommen mit drei geheimen Zusatzprotokollen, die Osteuropa in Interessensphären aufteilten. Außerdem wurde vereinbart, dass die deutschen Bevölkerungsgruppen aus der sowjetischen Interessensphäre, „sofern sie den Wunsch haben“, nach Deutschland umgesiedelt werden durften und dass die dafür Beauftragten der Reichsregierung diese Umsiedlung unter Billigung der Sowjetunion mit den „zuständigen örtlichen Behörden“ arrangieren würden („Vertrauliches Protokoll“ vom 28. September 1939).26 Die Sowjetunion schloss kurze Zeit später, am 10. Oktober 1939, ein völkerrechtli- 21 22 23 24 25 26 Polen vgl. Werner Röhr, Die faschistische Okkupationspolitik in Polen 1939 bis 1945 und die Stellung dieses Landes in den Plänen für eine „Neuordnung“ Europas, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts (ZfSG) 7 (1992) 3, S. 43–63. RGBl. 1939, I, S. 1547 f. RGBl. 1939, I, S. 2042. RGBl. 1939, I, S. 2077. Hans Buchheim, Die SS – das Herrschaftsinstrument, Befehl und Gehorsam, München 1967, S. 182 ff. RGBl. 1939, II, S. 968. Der Nichtangriffsvertrag wurde erst am 25. September 1939 im Reichsgesetzblatt bekannt gemacht. RGBI. 1940, II, S. 4, samt Zusatzprotokoll ratifiziert am 15. Dezember 1939. Die Bestimmungen der Zusatzprotokolle dieses Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrags werden häufig fälschlich als Vereinbarungen des Molotow-Ribbentrop-Paktes vom 23. August 1939 ausgewiesen. Die Zusatzprotokolle sind abgedruckt in: Zeitschrift für ausländisches 31 hanS-ChriStian JaSCh ches Abkommen mit Litauen, in dem u. a. die 1920 im Vertrag von Riga zu Polen gekommene Stadt Vilnius (poln. Wilno, dt. Wilna) an Litauen abgetreten wurde. Der Vertrag („Pakt über gegenseitige Hilfeleistungen“) ermöglichte die Stationierung sowjetischer Streitkräfte auf litauischem Territorium und bereitete wie ähnliche Abkommen mit Estland (28. September 1939) und Lettland (5. Oktober 1939) die spätere Eingliederung der baltischen Staaten in das sowjetische Imperium vor.27 Im Gefolge des Deutsch-Sowjetischen Abkommens vom 28. September 1939 schloss das Deutsche Reich im Herbst 1939 in kurzer Zeit eine Reihe von Verträgen, die nach der „territorialen Neuordnung“ nun auch die im NS-Jargon als „Umvolkung“ oder „rassische Neuordnung Osteuropas“ bezeichnete Umsiedlung der „Volksdeutschen“28 vorbereiten sollten: zuerst am 15. Oktober 1939 die Übereinkunft mit Estland über die Umsiedlung der deutschen Volksgruppe (etwa 12 900 Personen).29 Am 21. Oktober 1939 folgte das „Abkommen über die Umsiedlung von Reichsdeutschen und Volksdeutschen aus Südtirol in das Deutsche Reich“ mit Italien. Am 31. Oktober 1939 wurde ein Umsiedlungsvertrag mit Lettland unterzeichnet,30 von dem 48 600 Baltendeutsche betroffen waren (bis 1940 werden ca. 88,6 Prozent der deutschbaltischen Bevölkerung umgesiedelt). Am 3. November 1939 schloss das Deutsche Reich mit der Sowjetunion ein Abkommen zur Umsiedlung aller Deutschen aus der Ukraine und Weißrussland sowie aller Ukrainer, Weißrussen und Russen aus den früher zu Polen gehörenden Gebieten. Die „Deutschsowjetische Vereinbarung über die Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung aus dem zur Interessenzone der UdSSR und der ukrainischen und weißrussischen Bevölkerung aus dem zur Interessenzone des Deutschen Reichs gehörenden Gebiet des früheren 27 28 29 30 32 öffentliches Recht und Völkerrecht 9 (1939/40), S. 912 ff: http://www.zaoerv.de/09_1939_40/9_1 939_1_b_912_2_940.pdf [25. 6. 2019]. Vertrag zwischen der Sowjetunion und Litauen über die Abtretung der Stadt Wilna und des Wilna-Gebiets an die Litauische Republik und über gegenseitige Hilfeleistung vom 10. Oktober 1939, in deutscher Übersetzung ebenda abgedruckt. Bereits in einem Runderlass vom 29. März 1939 (RMBliV, S. 783) hatte das Reichsministerium des Innern den Begriff „deutscher Volkszugehöriger“ folgendermaßen definiert: „Deutscher Volkszugehöriger ist, wer sich als Angehöriger des deutschen Volkes bekennt, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Tatsachen, wie Sprache, Erziehung, Kultur usw. bestätigt wird. Personen artfremden Blutes, insbesondere Juden, sind niemals deutsche Volkszugehörige, auch wenn sie sich bisher als solche bezeichnet haben.“ 1938 lebten nach damaligen Schätzungen etwa 8,6 Millionen Deutsche außerhalb der östlichen Reichsgrenzen: in der Tschechoslowakei (hauptsächlich Sudetenland, 3,48 Millionen Sudetendeutsche), in Polen (Polnischer Korridor, Ostoberschlesien, 1,15 Millionen), Rumänien (0,75 Millionen), in Ungarn (0,6 Millionen), Jugoslawien (0,55 Millionen) und in der Sowjetunion (1,15 Millionen) und weitere 0,6 Millionen in Estland, Lettland, Litauen (Memelland) und in der Freien Stadt Danzig. Vgl. Protokoll über die Umsiedlung der deutschen Volksgruppe Estlands in das Deutsche Reich vom 15. Oktober 1939, abgedr. in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 9 (1939/40), S. 926–930. Vertrag über die Umsiedlung lettischer Bürger deutscher Volkszugehörigkeit in das Deutsche Reich vom 30. Oktober 1939, abgedr. ebenda, S. 932–940. „völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS Abb. 5: In Artikel I des Abkommens vom 28. September 1939 hieß es: „Die Deutsche Reichsregierung und die Regierung der UdSSR legen als Grenze der beiderseitigen Reichsinteressen im Gebiete des bisherigen Polnischen Staates die Linie fest, die in der anliegenden Karte eingezeichnet ist und in einem ergänzenden Protokoll näher beschrieben werden soll.“ Diese Karte vom 28. September 1939 mit den Unterschriften von Stalin und Ribbentrop wurde von der Verteidigung Ribbentrops und Görings im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1946 fotografiert. Die kleineren Unterschriften Stalins bezeichnen abgestimmte kleinere Veränderungen der Linie. Abb. 6: Die „großzügigste Umsiedlungsaktion der Weltgeschichte“. NS-Propagandaplakat zur Kolonisierung des „Warthegaues“ (1939/41). Bundesarchiv, R 49 Bild-0705 33 hanS-ChriStian JaSCh polnischen Staates“ vom 16. November 1939 bildete schließlich die Grundlage für weitere „Bevölkerungstransfers“ bzw. Vertreibungen. Hitler selbst hatte am 17. Oktober 1939, in kleinem Kreis vor den Spitzen von Wehrmacht (Wilhelm Keitel), SS (Heinrich Himmler), Partei (Rudolf Heß) und Verwaltung (Wilhelm Frick und Hans-Heinrich Lammers) sein radikales Programm für Polen dargelegt: Keitel notierte, dass das Generalgouvernement keine „Musterprovinz deutscher Ordnung“ und kein Verwaltungsbezirk des Reiches werden sollte, sondern dass für die dortige Bevölkerung ein „niederer Lebensstandard“ genüge. Die deutsche Verwaltung sollte „nur Arbeitskräfte dort schöpfen“ und es ermöglichen, „das Reichsgebiet zu reinigen von Juden und Polaken“. Keinesfalls dürfte das Generalgouvernement von Berlin abhängig sein, sondern müsse selbstständig verwaltet werden.31 Bereits am 12. November 1939 erging der Befehl für umfassende „ethnische Säuberungen“. Der Himmler unterstehende Höhere SS- und Polizeiführer in Posen, Wilhelm Koppe, gab den Befehl zur Deportation von 200 000 Polinnen und Polen und 100 000 Jüdinnen und Juden aus dem Warthegau ins Generalgouvernement.32 Im Hinblick auf die im Herbst 1939 geschlossenen Verträge mit Estland, Italien, Lettland und der Sowjetunion über die Umsiedlung der Volksdeutschen in die besetzten polnischen Gebiete sollte „Lebensraum“ geschaffen werden, um den Volksdeutschen die „Heimkehr ins Reich“ zu ermöglichen. Zudem sollten im Rahmen der Volkstumspolitik auch „Zwischenvölker“ – wie es Himmler in seiner eingangs zitierten Denkschrift genannt hatte –, beispielsweise die Wenden oder Sorben in der Lausitz, die Schlonsacken, die Masuren, die Windischen oder die „Wasserpolen“ in Oberschlesien, als eigene „Bevölkerungssplitter“ von der anderen polnischen Bevölkerung getrennt und in den „deutschen Lebensraum“ eingegliedert werden. Innerhalb des Reichsministeriums des Innern wurde zudem über die „Reinerhaltung“ der „deutschen Rasse“ durch eine mögliche Ausweitung der in der Nürnberger Rassengesetzgebung von 1935 niedergelegten Kategorisierung nachgedacht.33 Beispielhaft hierfür ist eine Initiative des Staatssekretärs Stuckart anlässlich einer Besprechung über die „Eheschließungen von Deutschen mit Tschechen und Polen“ vom 14. Mai 1940, in der Stuckart seine Überlegungen skizzierte, wie im Anschluss an § 6 der 1. Ausführungsverordnung des Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre auf dem Erlasswege Ehehindernisse für Ehen von Deutschen mit den 31 32 33 34 Bleistiftnotizen Keitels, abgedruckt als Dok. PS-864, in: IMT XXVI, S. 382. Das RSHA reduzierte den Befehl etwas später auf den „1. Nahplan“, nachdem rund 88 000 Menschen in den ersten Dezemberwochen aus dem Warthegau „ausgesiedelt“ wurden. Himmler ordnete an, Juden und Polen, die versuchten zurückzukehren, „sofort standrechtlich zu erschießen“. Vgl. Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1995, S. 68 f.; Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008, S. 457 ff. Vgl. hierzu Magnus Brechtken/Hans-Christian Jasch/Christoph Kreutzmüller/Niels Weise (Hrsg.), Die Nürnberger Gesetze – 80 Jahre danach. Vorgeschichte, Entstehung, Auswirkungen, Göttingen 2017. „völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS bisher als „artverwandt“,34 nunmehr jedoch als „fremdvölkisch“ geltenden Polinnen und Tschechen eingeführt werden könnten. In seinem Schreiben vom 14. Mai 1940 erläuterte Stuckart, dass die Frage der Eheschließung von Deutschen mit fremden Staatsangehörigen im Frieden einer gesetzlichen Regelung zugeführt werden sollte, was auf Weisung Hitlers jedoch bis Kriegsende zurückgestellt wurde. Die Beschäftigung tschechischer und polnischer Arbeitskräfte im Reich und das „Zusammenleben von Deutschen mit Tschechen und Polen im Protektorat und in den eingegliederten Ostgebieten“ hätten allerdings „zu einer starken Zunahme“ der binationalen Eheschließungen geführt. Hieraus erwachse „die Gefahr einer beträchtlichen ungünstigen Veränderung in der Zusammensetzung des deutschen Volkes“. Stuckart erschien es daher „notwendig, eine rechtlich einwandfreie wirksame Möglichkeit zu schaffen, in dieser Richtung unerwünschte Eheschließungen zu verhindern, da bloße Aufklärungsmaßnahmen keinen Erfolg gehabt“ hätten. „Inwieweit durch eine solche Grundlage die Möglichkeit geschaffen wird, auch außerehelichen Geschlechtsverbindungen von Deutschen mit Tschechen und Polen wirksam entgegenzutreten“, sollte ebenfalls geprüft werden.35 4. Die rechtlichen Instrumente der „völkischen Neuordnung“ Aus den bereits insbesondere in den neuen Gauen Danzig-Westpreußen und Wartheland praktizierten Verfahren entstand unterdessen am 12. September 1940 Himmlers Volkstumserlass, dessen Regelungen am 3. März 1941 Eingang in die „Verordnung über 34 35 In einem vertraulichen Erlass vom 3. Januar 1936 hatte das RPrMdI festgelegt: (2) b) „Dem deutschen Blute artverwandt ist das Blut derjenigen Völker, deren rassische Zusammensetzung der deutschen verwandt ist. Das ist durchweg der Fall bei den geschlossen in Europa siedelnden Völkern und denjenigen ihrer Abkömmlinge in anderen Erdteilen, die sich nicht mit artfremden Rassen vermischt haben.“ Vgl.: Bundesarchiv (BArch), R 1501/5514, Bl. 155 f. Der beigefügte Entwurf zu einer 2. AVO zum BlSchG enthielt lediglich eine Ermächtigung für das RMdI, zu § 6 der 1. AVO zum BlSchG entsprechende Richtlinien zu erlassen, wobei ein ausdrückliches Verbot von Ehen mit Tschechen und Polen als „politisch unerwünscht“ angesehen wurde. In den Richtlinien wollte Stuckart dann das Erfordernis der Vorlegung eines Ehetauglichkeitszeugnisses normieren und die Gesundheitsämter anweisen, die Ausstellung des Ehetauglichkeitszeugnisses im Falle derartiger Aufgebote „grundsätzlich zu versagen“. Ausnahmen sollten nur auf Weisung der höheren Verwaltungsbehörde geschehen, wenn es sich „bei den Tschechen und Polen um rassisch besonders wertvolle Menschen mit einwandfreier Gesinnung“ handele, „die eine loyale Einstellung zum deutschen Volkstum bewiesen“ hätten. BArch, 1501/5517, Bl. 259 ff. Die schließlich am 31. Mai 1941 zusammen mit der „VO über die Einführung der Nürnberger Rassengesetze in den eingegliederten Ostgebieten“ ergangene, von Stuckart „in Vertretung“ unterzeichnete 2. AVO zum BlutSchG legte dann allerdings fest, dass sich der Blutschutz nicht auf „ehemalige polnische Staatsangehörige“ erstrecken sollte, vgl. RGBl. 1941, I, S. 297 f. 35 hanS-ChriStian JaSCh die Deutsche Volksliste“36 fanden, deren Folgen Pawel Machcewicz in seinem Beitrag kurz thematisiert. Hierbei ging es um die „Siebung“ der Bevölkerung, wie Himmler es genannt hatte: Wer sollte als „deutsch“ oder „germanisierbar“ gelten und wer sollte als „Fremdvölkischer“ „ausgesiebt“ werden? Nach dieser Verordnung war eine mehrstufige Staatsangehörigkeit für die Bewohnerinnen und Bewohner der „eingegliederten Ostgebiete“ vorgesehen.37 Demnach gab es vier als „Abteilungen“ bezeichnete Kategorien, nach denen die „eindeutschungsfähige“ Bevölkerung sortiert werden sollte. In Abteilung 1 sollten diejenigen „Volksdeutschen“ eingetragen werden, „die sich vor dem 1. September 1939 im Volkstumskampf aktiv für das Deutschtum eingesetzt“ hatten, in Abteilung 2 „diejenigen Volksgenossen, die sich in der polnischen Zeit zwar nicht aktiv für das Deutschtum eingesetzt, aber gleichwohl ihr Deutschtum nachweislich bewahrt“ hatten. Abteilung 3 und 4 betrafen demgegenüber u. a. Personen, die „Bindungen zum Polentum“ eingegangen waren oder „gänzlich im Polentum aufgegangen“ (Abteilung 4) waren. Während für die Abteilungen 1 und 2 der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit und Reichsbürgerschaft vorgesehen war, sollten die in Abteilung 3 und 4 der Volksliste eingetragenen Personen nur deutsche Staatsangehörige bzw. „Staatsangehörige auf Widerruf“ (Abteilung 4) werden.38 Für alle „nicht-deutschstämmigen“ Personen, die als nicht „eindeutschungsfähig“ galten und damit außerhalb der Abteilungen der „Volksliste“ blieben, hatten Himmler bzw. der Jurist Stuckart die dem Kolonialrecht entlehnte Kategorie der „Schutzangehörigen des Deutschen Reiches mit beschränkten Inländerrechten“ vorgesehen. Hinsichtlich 36 37 38 36 „VO über die deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 4. 3. 1941, RGBl. 1941, I, S. 118. Durch diese von Frick, Heß und Himmler unterzeichnete VO wurde die Feststellung der „deutschen Volkszugehörigkeit“ als Voraussetzung für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vereinheitlicht. Zum Erwerb der Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten vgl. Hans Maria Globke, Die Staatsangehörigkeit der volksdeutschen Umsiedler, in: Deutsche Verwaltung (DV) 17 (1940), S. 18–22; Hanns-Hermann Berger, Die deutsche Volksliste in den eingegliederten Ostgebieten, in: DV 18 (1941), S. 327–331; Joachim Neander, Das Staatsangehörigkeitsrecht des „Dritten Reichs“, in: theologie.geschichte. Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte 3 (2008), http://universaar. uni-saarland.de/journals/index.php/tg/article/view/471/510 [26. 6. 2019]. Vgl. hierzu die Darstellung bei Wilhelm Stuckart, Staatsangehörigkeit und Reichsgestaltung, in: Reich, Volksordnung, Lebensraum, Bd. V (1943), S. 57–91, hier S. 81 f. Nach der „VO über die Staatsangehörigkeit auf Widerruf“ vom 25. 4. 1943 (RGBl. 1943, I, S. 269) war der Staatsangehörige auf Widerruf nicht Reichsbürger, er konnte also zum Beispiel kein öffentliches Amt bekleiden. Die Staatsangehörigkeit auf Widerruf sollte nach zehn Jahren in die unbeschränkte Staatsangehörigkeit übergehen, sofern sie nicht vorher widerrufen wurde oder die zuständige Behörde auf den Widerruf verzichtete. Bei Widerruf konnte sie in die Schutzangehörigkeit übergehen (vgl. hierzu die „1. VO über die ‚Schutzangehörigkeit‘ des Deutschen Reiches“ vom 25. 4. 1943, RGBl. 1943, I, S. 271. Die „Schutzangehörigkeit“ „mit beschränkten Inländerrechten“ war an den Wohnsitz im Inland gebunden. Sie ist nie positiv definiert worden, und in der Praxis hatte der „Schutzangehörige“ kaum mehr Rechte als ein Staatenloser. Vgl. hierzu: Neander, Staatsangehörigkeitsrecht. „völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS der jüdischen Bevölkerung der eingegliederten Gebiete bestimmte eine von Staatssekretär Stuckart unterzeichnete „Anweisung zur Volkslisten-Verordnung“ vom 13. März 1941, dass Juden und „Zigeuner“ keine „Staatsangehörigen auf Widerruf“ werden könnten und mithin keinen Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit über die „Volksliste“ besaßen. Dies macht bereits deutlich, dass es für diese beiden Bevölkerungsgruppen keine Zukunft geben sollte.39 Die jüdische Bevölkerung sollte nach diesen Plänen nicht nur „umgesiedelt“, sondern, wie bereits in Heydrichs Befehl erwähnt, in „jüdischen Wohnbezirken“ konzentriert werden. Auf einer Sitzung über „Ostfragen“ unter Vorsitz Hermann Görings am 12. Februar 1940 wurde festgehalten: „Das Generalgouvernement wird die geordnete Judenauswanderung aus Deutschland und den neuen Ostgauen aufnehmen müssen. Es darf aber nicht vorkommen, dass Transportzüge ohne ordnungsgemäße und fristgerechte Anmeldung bei dem Generalgouverneur ins Generalgouvernement geschickt werden.“40 Gleichzeitig begannen aus Pommern am 12. und 13. Februar 1940 die ersten Deportationen von über 1100 jüdischen Deutschen aus der Region Stettin – fast die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt – in den Raum Lublin; am 12. März erfolgte die Deportation von 160 Menschen aus Schneidemühl nach Glownew bei Posen.41 Im Warthegau ordnete Regierungspräsident Friedrich Uebelhoer bereits am 10. Dezember 1939 die Bildung eines Ghettos in Łódź „als Übergangslösung“ zur Zusammenfassung der jüdischen Bevölkerung der Stadt an.42 Daraufhin wurde im Frühjahr 1940 ein Ghettobezirk mit Stacheldraht abgezäunt. Dort lebten auf engstem Raum zunächst 164 000 Menschen. Infolge der späteren Deportationen aus Deutschland, Wien, Prag, Luxemburg und dem Warthegau stieg die Bevölkerung 1941/42 auf über 39 40 41 42 Die „2. VO über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 31. 1. 1942 (RGBl. 1942, I, S. 51 f.) stellte in § 4 Abs. 2 noch einmal klar, dass „Juden, Zigeuner sowie jüdische Mischlinge“ für die Eintragung in die Deutsche Volksliste außer Betracht blieben, ohne dass es hierfür „einer besonderen Feststellung“ bedurfte. Wer hingegen von den ehemaligen Danziger oder polnischen Staatsangehörigen „die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Abteilungen 1 oder 2 der Deutschen Volksliste erfüllte“, erwarb nach § 3 der 2. Volkslisten VO die deutsche Staatsangehörigkeit mit Wirkung vom 26. Oktober 1939, ohne Rücksicht auf den Tag der Aufnahme in die Volksliste. Wer jedoch nur in Abteilung 3 oder 4 aufgenommen war, erwarb gem. § 5 beziehungsweise § 6 nur noch die „deutsche Staatsangehörigkeit auf Widerruf“. Alle anderen Personen wurden, sofern sie ihren Wohnsitz im Inland hatten, „Schutzangehörige des Deutschen Reichs“, mit einer wichtigen Ausnahme: „Juden (§ 5 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz […]) und Zigeuner können nicht Schutzangehörige sein.“ Damit wurden die in den eingegliederten Ostgebieten einschließlich Danzigs ansässigen Jüdinnen und „Zigeuner“ staatenlos und außerhalb jeder rechtlichen Zuordnung gestellt. Vgl. IMT XXXVI, S. 299–307 (302). Longerich, Himmler, S. 471. Vgl. Aly, „Endlösung“, S. 72. 37 hanS-ChriStian JaSCh Abb. 7: Anordnung über die Zwangskennzeichnung von Juden im Distrikt Krakau vom 18. November 1939. 38 „völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS 200 000 Menschen. In Warschau, der Stadt mit der größten jüdischen Gemeinde Europas, wurden im November 1940 mehr als 350 000 Jüdinnen und Juden in einen durch hohe Mauern abgetrennten „jüdischen Wohnbezirk“ gezwängt. Aufgrund der völlig unzureichenden Versorgung und der schlechten hygienischen Verhältnisse starben täglich Hunderte, besonders Kinder und alte Menschen, an Hunger, Krankheiten und den im Ghetto grassierenden Epidemien. Der Ghettoisierung ging vielerorts bereits im November 1939 die Kennzeichnung der jüdischen Bevölkerung mit Armbinden oder Sternen voraus.43 Für Polen und Juden wurde mit der Polenstrafrechtsverordnung vom 4. Dezember 194144 darüber hinaus ein drakonisches Sonderstrafrecht geschaffen, das auch für geringe Vergehen enorme Strafverschärfungen und ein abgekürztes Gerichtsverfahren vorsah und das weit über die damals ohnehin allgemein angeordneten Verkürzungen des Rechtsschutzes von Beschuldigten hinausging.45 5. Fazit Diese kurze Übersicht wirft ein Schlaglicht auf die mörderischen politischen Maßnahmen, die die deutschen Okkupanten unmittelbar nach der Besetzung Polens trafen, um das Land zu unterjochen und „völkisch“ „neu zu ordnen“. Die Bestimmungen leiteten den Völkermord an der jüdischen Bevölkerung Polens und derjenigen Jüdinnen und Juden ein, die in das besetzte Polen verschleppt wurden. Sie waren auch Grundlage für den massenhaften Mord und die Vertreibung der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung, die den NS-Machthabern ebenfalls überwiegend als „fremdvölkisch“ galt. Anders als bei der jüdischen Bevölkerung und bei den Sinti und Roma schufen die deutschen 43 44 45 Derartige Kennzeichnungen von Jüdinnen und Juden wurden im Deutschen Reich auf Initiative des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels erst zum 1. September 1941 getroffen und dienten dazu, die nur wenige Wochen später, Mitte Oktober 1941, beginnenden systematischen Deportationen aus dem Reich, Böhmen und Mähren, Österreich und Luxemburg in die Ghettos und später in die Vernichtungsstätten im Osten vorzubereiten. RGBl. 1941, I, S. 759. Beim Nürnberger Juristenprozess wurde die Verordnung 1947 als Kriegsverbrechen eingestuft. Der Deutsche Bundestag hob alle darauf beruhenden Urteile im Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile (NS-AufhG) erst 1998 auf. Vgl. Diemut Majer, Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems. Führerprinzip, Sonderrecht, Einheitspartei, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1987, S. 217 f. Thierack und Himmler verständigten sich kurze Zeit später darauf, dass alle Jüdinnen und Juden, die an sich aus einer Strafvollzugsanstalt entlassen werden sollten, an den RFSS überstellt und auf „Lebzeit in Konzentrationslagern“ untergebracht werden sollten. Da Himmler ausdrücklich eine gesetzliche Verankerung der Vereinbarung wünschte, erging am 1. Juli 1943 die 13. VO zum Reichsbürgergesetz, in der kurzerhand verfügt wurde, dass strafbare Handlungen von Jüdinnen und Juden durch die Polizei geahndet würden. Bis Mitte 1943 waren aufgrund des Abkommens von Thierack und Himmler 17 307 Justizgefangene an KZ überstellt worden, von denen am 1. April 1943 bereits 5935 gestorben waren, vgl. Longerich, Himmler, S. 657. 39 hanS-ChriStian JaSCh Machthaber mit der sogenannten Volksliste jedoch auch ein Instrument, um Teile der polnischen Bevölkerung zu „germanisieren“. Diese Politik blieb ambivalent und variierte stark in den unterschiedlichen Teilen Polens, die dem Reich angeschlossen worden waren. Sie wurde bestimmt durch die Interessen der lokalen Machthaber und der Berliner Zentrale mit Heinrich Himmler als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums. Die Folgen waren zerstörerisch und hinterließen nach der deutschen Niederlage 1945 ein ausgeblutetes und ruiniertes Land, das nunmehr unter sowjetische Herrschaft geriet. Spuren der von den Deutschen verübten Gewalttaten wirken bis heute nach und prägen das Verhältnis der beiden Nachbarstaaten. Literatur Aly, Götz, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1995. 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Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (IMT): Der Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher. Amtlicher Wortlaut in deutscher Sprache, Nürnberg 1947 IMT XXVI, S. 382 – Bleistiftnotizen Keitels, abgedr. als Dok. PS-864. IMT XXXVI, S. 299–307 (302). 43 Jens Wehner Der deutsche Überfall auf Polen aus militärhistorischer Perspektive Der Überfall auf Polen wurde viele Jahrzehnte lang als „Blitzkrieg“ beschrieben. Erst 1995 widerlegte eine Studie von Karl-Heinz Frieser diesen Mythos nachhaltig, denn den „Blitzkrieg“ hatte es nie gegeben.1 Stattdessen handelte es sich um einen Propagandabegriff. Militärisch betrachtet war der Überfall auf Polen ein Bewegungskrieg, der den Traditionen der preußischen Militärkultur entsprach. Schon Friedrich der Große bewegte im 18. Jahrhundert seine Truppen schnell und flexibel, um die Gegner überraschend zu schlagen. Diese Art der Kriegführung glich oft einem Vabanquespiel. Spektakuläre Erfolge wie militärische Debakel waren die Folge.2 Im 19. Jahrhundert kultivierte der preußische Generalstab diese Methode und gewann damit die Kriege Bismarcks. Im Ersten Weltkrieg blieb der schnelle deutsche Vormarsch dagegen in Frankreich stecken und mündete in einem Stellungskrieg mit bis dahin ungeahnten Verlusten an Soldaten und Waffen.3 Aus dieser Katastrophe entstand nach 1918 für die deutschen Militärs die Aufgabe, solch verlustreiche Kriege künftig zu vermeiden. Zur Lösung erschien die Wiederherstellung der Bewegung notwendig, die sich mit den wachsenden technischen Möglichkeiten von Kraftfahrzeugen und Panzern umsetzen ließ. Eine weitere technische Option für mehr Schlagkraft lieferte die Luftwaffe. Ihre Flugzeuge konnten über 1000 Tonnen Bomben mit Hunderten Kilometern pro Stunde über weite Teile Europas schleppen und auf die Feinde abwerfen. Daher herrschte in den 1930er-Jahren eine große Angst vor einem künftigen Luftkrieg in Europa.4 Moderne Waffensysteme wie Panzer und Bomber waren teuer, doch nach der Machteroberung Hitlers 1933 flossen dafür die erforderlichen ökonomischen Mittel in großen Strömen. Am Ende einer sechsjährigen Aufrüstung stand 1939 die hochgerüstete Wehrmacht des zuvor finanziell zerrütteten „Deutschen Reiches“ zum Angriffskrieg parat.5 Im Folgenden soll anhand des zeitlichen Verlaufs ein grober Überblick über die wichtigsten militärischen Abläufe des deutschen Überfalls auf Polen gegeben werden. Am Ende wird eine daraus resultierende militärhistorische Einordnung vorgenommen. Die 1 2 3 4 5 Karl-Heinz Frieser, Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940, München 1995. Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, München 2005, S. 407. Frieser, Blitzkrieg-Legende, S. 412 ff. Richard Overy, Der Bombenkrieg. Europa 1939 bis 1945, Berlin 2014, S. 41–98. Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus (Schriftenreiheder Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 663), Bonn 2007, S. 349–352. 45 JenS Wehner vielen deutschen Kriegsverbrechen, die mit den militärischen Abläufen einhergingen, werden hier nicht dargestellt, da sie in diesem Band an anderer Stelle mit ausgewiesener Expertise thematisiert werden.6 1. Voraussetzungen und Planungen Ein Blick in die militärhistorische Fachliteratur offenbart, dass die Wehrmacht trotz der gewaltigen Aufrüstung erhebliche Schwächen aufwies. Die schnellen Siege im ersten Kriegsjahr 1939/40 verdeckten die Überdehnung der ökonomischen und militärischen Kräfte des „Deutschen Reiches“.7 Panzer und Flugzeuge waren 1939 in zu geringer Zahl vorhanden. Es fehlte an Offizieren und Spezialisten, und viele Rekruten waren nicht gut ausgebildet.8 Trotz dieser Mängel war die Wehrmacht gegenüber den polnischen Streitkräften deutlich überlegen. Das erklärt sich aus den Gesamtpotenzialen der beiden Staaten. Mit rund 80 Millionen Einwohnern war das „Deutsche Reich“ erheblich größer als Polen mit rund 35 Millionen Menschen.9 Die geringere Bevölkerungszahl korrelierte eng mit einem Mangel an Soldaten, konnte jedoch von der polnischen Armee noch teilweise ausgeglichen werden. Während das deutsche Heer rund 1,6 Millionen Soldaten aufmarschieren ließ, standen ihm bis zu 1,3 Million polnische Soldaten gegenüber.10 Dieses relativ ausgewogene Zahlenverhältnis lag auch in der unsicheren Situation im Westen begründet. Hitler musste einen Teil seines drei Millionen Mann starken Heeres11 im Land belassen, da bei Kriegsausbruch mit französischen Offensiven zu rechnen war. Materiell waren die polnischen Armeen jedoch klar unterlegen. Konnte das deutsche Heer rund 3200 Panzer aufbieten, waren es auf polnischer Seite viermal weniger. Ein erheblicher Teil der deutschen Panzer war den polnischen Panzerfahrzeugen zudem technisch überlegen.12 Oft übersehen werden bei solchen Vergleichen die kleineren Waffensysteme wie die Handfeuerwaffen. Das modernste polnische Maschinengewehr „rkm. wz. 1928“ wurde im Jahr 1928 in einer Stückzahl von 10 000 aus Belgien importiert. Es basierte auf einem ame6 7 8 9 10 11 12 46 Siehe den Beitrag von Jochen Böhler. Bernhard R. Kroener/Rolf-Dieter Müller/Hans Umbreit, Zusammenfassung, in: dies., Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereiches. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1939–1941, Stuttgart 1988, S. 1003. Rolf-Dieter Müller, Der letzte deutsche Krieg, Stuttgart 2005, S. 25. Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 550), Bonn 2006, S. 36. Horst Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg“ und seine Auswirkungen auf Nordosteuropa, in: Klaus A. Maier/Horst Rohde/Bernd Stegemann/Hans Umbreit, Die Errichtung der Hegemonie auf dem europäischen Kontinent, Stuttgart 1979, S. 101. Ebenda, S. 111. Markus Pöhlmann, Der Panzer und die Mechanisierung des Krieges. Eine deutsche Geschichte 1890 bis 1945, Paderborn 2014, S. 305. der deutSChe ÜberFall auF polen auS militärhiStoriSCher perSpeKtive rikanischen Maschinengewehr und konnte rund 600 Schuss pro Minute verfeuern.13 Dagegen verfügte das deutsche Heer 1939 über rund 84 000 Stück des MG 34, mit dem 900 Schuss pro Minute abgegeben werden konnten.14 In der Luft war das Verhältnis für Polen noch ungünstiger: 1581 deutschen Bombern und 439 Jägern standen 154 polnische Bomber und 159 Jäger gegenüber. Die deutschen Flugzeuge waren, bis auf Ausnahmen, den polnischen technisch überlegen.15 Somit bleibt festzuhalten, dass die Wehrmacht trotz aller Defizite den polnischen Verteidigern personell und besonders materiell deutlich überlegen war. Die polnischen Landstreitkräfte setzten sich im September 1939 aus sechs Armeen und zwei kleineren Verbänden zusammen. Allein von der Zahl der Soldaten her betrachtet, hätten die polnischen Streitkräfte noch relativ gute Möglichkeiten besessen, den deutschen Vormarsch zu stoppen. Jedoch erwies sich das große polnische Staatsgebiet als ein strategisches Problem. Getreu dem alten militärischen Motto – „wer alles verteidigt, verteidigt gar nichts“ – entschied sich der polnische Generalstab, nur die strategisch bedeutsamsten Gebiete Polens zu verteidigen.16 Daraus erwuchs jedoch das nächste Dilemma, denn diese wichtigen Gebiete mit ihren Großstädten und der Industrie lagen nahe der deutschen Grenze im Westteil des Landes. Aus militärischer Sicht war das ungünstig, denn eine allzu große Grenznähe setzte die dort stationierten Armeen überraschenden Angriffen des Gegners aus. Als Grenzmarke zwischen Ost- und Westpolen galt der Fluss Weichsel, in dessen ungefährer Nord-Süd-Mitte die Hauptstadt Warschau lag.17 Der Plan des deutschen Oberkommandos war dazu beinahe passgenau angelegt. Das deutsche Heer sollte in zwei Heeresgruppen unterteilt („Nord“ und „Süd“) angreifen. Bei der Heeresgruppe „Nord“ befanden sich zwei Armeen (3. und 4.) und bei der Heeresgruppe „Süd“ drei Armeen (8., 10. und 14.). Die am südlichsten stehende 14. Armee sollte Südpolen erobern, während die 8. Armee den Raum bis zur Heeresgruppe „Nord“ schützen sollte. Zwischen diesen beiden Armeen befand sich die 10. Armee, um den Hauptangriff auf die polnische Hauptstadt zu führen. Für diesen Zweck war sie am stärksten mit motorisierten und gepanzerten Verbänden ausgerüstet, während die meisten deutschen Heeresverbände immer noch Pferde einsetzten und zu Fuß marschierten. Im Norden sollten die 4. Armee aus Pommern sowie die 3. Armee aus Ostpreußen aufeinander zu marschieren, um Ostpreußen mit dem „Deutschen Reich“ zu verbinden. Anschließend sollten sich die deutschen Angriffskeile aus Nord und Süd bei 13 14 15 16 17 Michael Heider/David Th. Schiller, Zwischen den Kriegen, in: dies., Maschinengewehre (Visier Special 45, 2007), S. 52–65, hier S. 54. Ebenda, S. 64 ff. Das deutsche Heer verfügte 1939 über insgesamt 126 800 Maschinengewehre, von denen rund zwei Drittel (84 000) MG 34 waren. Overy, Bombenkrieg, S. 103. Richard Lakowski, Der 1. September 1939 – historische und operative Probleme, in: Lothar Schröter (Hrsg.), Der 1. September 1939 und der Überfall auf Polen. Erinnerung – Mahnung – Verpflichtung, Schkeuditz 2010, S. 41 f. Rohde, Hitlers Erster „Blitzkrieg“, S. 105. 47 JenS Wehner Warschau vereinigen und die polnische Armee damit westlich der Weichsel einkreisen und vernichten.18 Somit entstand für Polen eine ungünstige Komplementärlage. Die polnischen Generäle sahen sich gezwungen, Westpolen zu verteidigen, während die Wehrmacht genau in dieser Region zuschlagen wollte. 2. Die Kriegsauslösung durch Hitler: Vom 23. zum 31. August 1939 Bei vielen Kriegsanfängen in der Geschichte der Menschheit war die Situation bereits vor dem Anfang der Kampfhandlungen unruhig. Das traf auch auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges zu. Drei wesentliche Geschehnisse stachen in der letzten Friedenswoche besonders heraus: der Hitler-Stalin-Pakt, der Beinahe-Angriff der Wehrmacht und die deutschen Grenzprovokationen. Eröffnet wurde die letzte Friedenswoche durch den als diplomatische Sensation wahrgenommenen Hitler-Stalin-Pakt. Mitte 1939 befand sich Hitler im Dilemma eines möglichen Zweifrontenkrieges, der Deutschland bereits im Ersten Weltkrieg schwerwiegende militärische Probleme bereitet hatte. Im Westen existierten mit Frankreich und Großbritannien zwei starke Nationen mit großen ökonomischen Ressourcen, die ein Bündnis mit Polen im Osten eingegangen waren. Viel gefährlicher als das relativ kleine Polen war die stalinistische Sowjetunion. Zwischen diesem kommunistischen Großreich und dem nationalsozialistischen Deutschland bestanden tiefe ideologische Gräben. Noch im Sommer 1939 verhandelten die Sowjetunion und Polen, vor dem Hintergrund der gemeinsamen Abneigung gegen das nationalsozialistische Deutschland, über einen militärischen Pakt. Doch Polen misstraute aus historischen Gründen dem russisch-sowjetischen Reich. Das Scheitern der polnisch-sowjetischen Verhandlungen verhinderte auch einen sowjetisch-britisch-französischen Beistandspakt gegen Hitler.19 Dieses Zerwürfnis eröffnete Hitler neue Möglichkeiten. Zum Erstaunen vieler Beobachterinnen und Beobachter gelang es ihm im August 1939, den gordischen Knoten des Zweifrontenkrieges teilweise zu zerschlagen, indem er mit Stalin einen Nichtangriffspakt schloss. In einem geheimen Zusatzprotokoll wurde die Aufteilung Polens zwischen den beiden Großmächten beschlossen.20 Hitler hatte somit den Zweifrontenkrieg in einen Anderthalb-Fronten-Krieg umgewandelt. Seine Wehrmacht musste im Osten nur schnell genug gegen Polen zuschlagen, während er darauf setzte, dass die Westmächte lange genug stillhalten würden. 18 19 20 48 Ebenda, S. 95 ff. Bernd Wegner, War der Zweite Weltkrieg vermeidbar? Anmerkungen zu Determinanten der internationalen Politik in der Zwischenkriegszeit, in: Jörg Hillmann (Hrsg.), „Der Fall Weiß“. Der Weg in das Jahr 1939, Bochum 2001, S. 28 f. Müller, Der letzte deutsche Krieg, S. 31 f. der deutSChe ÜberFall auF polen auS militärhiStoriSCher perSpeKtive Als Angriffstermin hatte das deutsche Oberkommando den 26. August 1939 festgelegt. Doch an diesem Tag ergaben sich für Hitler zwei neue Entwicklungen. Zum einen benachrichtigte der italienische Faschistenführer Mussolini Berlin, sein Land sei für einen Krieg noch nicht bereit. Zum anderen waren die britischen Diplomaten wider Erwarten noch verhandlungsbereit, weshalb Hitler die falsche Hoffnung hegte, auch die britische Großmacht aus dem Krieg gegen Polen heraushalten zu können. Ein Haltbefehl des Angriffs konnte gerade noch rechtzeitig an die Wehrmacht abgesetzt werden. Allerdings hatten einige deutsche Einheiten bereits polnisches Territorium betreten.21 Das gab Polen ein deutliches Warnsignal. Um den Angriff vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen, inszenierte die SS zahlreiche „Grenzzwischenfälle“ unter falscher Flagge, um damit den Eindruck einer polnischen Aggression zu konstruieren. SS-Angehörige lieferten sich beispielsweise in der Nähe eines Zollhauses oder eines Forsthauses in polnischen und deutschen Uniformen „Gefechte“ mit Platzpatronen. Am berühmtesten ist der Überfall auf den Radiosender Gleiwitz. SS-Männer in polnischen Uniformen stürmten das Sendegebäude und verbreiteten in polnischer Sprache antideutsche Kriegspropaganda über die Radiofrequenz. Zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit ließen sie einen ermordeten KZ-Häftling in polnischer Uniform zurück. Mindestens drei solcher Vorfälle wurden in der deutschen Presse ausführlich thematisiert.22 Nachdem in den letzten Augusttagen alle Verhandlungen gescheitert waren, begann am 1. September 1939 ohne Kriegserklärung etwa um 4:45 Uhr der deutsche Angriff auf Polen. 3. Überfall und polnischer Widerstand 1. bis 8. September 1939 Trotz aller Vorwarnungen und Alarmzeichen kam der deutsche Angriff, den die Luftwaffe eröffnete, zunächst mit einer überraschenden Wucht. Sturzkampfflugzeuge (kurz: Stuka) vom Typ Ju 87 erschienen zuerst am polnischen Himmel. Gegen 4:26 Uhr versuchten drei Stukas, polnische Sprengvorrichtungen an einer wichtigen Brücke zu zerstören. Das Vorhaben misslang. Polnische Pioniere sprengten die Brücke später wie vorgesehen.23 Von Anfang an trafen deutsche Bomben auch polnische Zivilisten. Stukas stürzten sich auf die völlig unvorbereitete Kleinstadt Wieluń. Bei diesem und weiteren Luftangriffen starben Hunderte Einwohner in ihren Häusern.24 Der Luftüberfall auf 21 22 23 24 Lakowski, Der 1. September 1939, S. 47. Jürgen Runzheimer, Die Grenzzwischenfälle am Abend vor dem Angriff auf Polen, in: Wolfgang Benz/Hermann Graml (Hrsg.), Sommer 1939. Die Großmächte und der Europäische Krieg, Stuttgart 1979, S. 107–147. Mike Guardia, Junkers Ju 87 Stuka (Air Vanguard 15), Oxford 2014, S. 29. Hans-Erich Volkmann, Wolfram von Richthofen, die Zerstörung Wieluńs und das Kriegsvölkerrecht, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 70 (2011) 2, S. 287–328. 49 JenS Wehner die polnischen Flugplätze scheiterte dagegen. Nur sieben Prozent des polnischen Flugzeugparks wurden am Boden zerstört. Der Hauptgrund lag in einer vom polnischen Oberkommando rechtzeitig durchgeführten dezentralen Stationierung der polnischen Flugzeuge.25 Die bekannteste Feuereröffnung des Zweiten Weltkrieges kam von dem alten deutschen Linienschiff „Schleswig-Holstein“ in Danzig, dessen schwere 28 cm-Granaten auf der polnischen Halbinsel Westerplatte einschlugen. Im Bauch des Schiffs hielten sich über 200 Marinesoldaten zur handstreichartigen Erstürmung der polnischen Stellungen bereit. Doch dieser Plan misslang, stattdessen konnten die polnischen Verteidiger trotz schwerer Bombardements sieben Tage lang ihre Stellung halten.26 Trotz einiger Fehlschläge beim Überfall verlief der deutsche Vormarsch ab dem 1. September 1939 nach Plan. Allerdings leisteten die polnischen Soldaten immer wieder energischen Widerstand, wodurch sich Verzögerungen ergaben wie z. B. am ersten Kriegstag beim Angriff der 4. Panzerdivision der 10. Armee gegen ein polnisches Kavallerieregiment in der Nähe des Dorfes Mokra. Plötzlich erschien der polnische Eisenbahnpanzerzug Nr. 53 mit dem Spitznamen „Smialy“ (dt. „kühn“). Mit seinen vier großen Kanonen und vielen Maschinengewehren feuerte der Zug auf die deutschen Angreifer und vernichtete einige Panzer.27 Die militärische Lage veränderte dieser Einsatz des Panzerzugs jedoch nicht grundlegend. Die polnische Kavallerieeinheit wurde schließlich zurückgeschlagen.28 Kennzeichnend für den polnischen Widerstandsgeist ist die Legende vom polnischen Reiterangriff mit gezücktem Säbel auf deutsche Panzer in der westpreußischen Tucheler Heide. In Wirklichkeit waren die polnischen Kavalleristen bei einem Angriff von deutschen Panzerspähwagen überrascht worden und mussten sich unter schweren Verlusten zurückziehen.29 Obgleich es sich bei dieser Episode um eine Legende handelt, zeigt sie doch, dass die polnischen Soldaten auch von ihren Gegnern als tapfere Kämpfer wahrgenommen wurden. Der Generalstabschef des Heeres Franz Halder notierte am 14. September 1939 in sein Kriegstagebuch, die polnischen Schützen ließen sich in ihren Deckungslöchern freiwillig überrollen und träten danach wieder in den Kampf ein.30 Das war ein deutlicher Hinweis auf den Mut der polnischen Soldaten. Bis zum 3. September 1939 hatten die polnischen Streitkräfte bereits einige Rückschläge erlitten, ohne dass die endgültige Entscheidung gefallen war. Im Korridor zwischen Ostpreußen und Pommern gelang es der deutschen 3. und 4. Armee, Verbände 25 26 27 28 29 30 50 Olaf Groehler, Geschichte des Luftkrieges 1910 bis 1980, 6. Aufl., Berlin 1981, S. 226. Wolfgang Schumann/Gerhart Hass (Autorenkollektiv), Deutschland im Zweiten Weltkrieg 1: Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis zum 22. Juni 1941, Berlin 1974, S. 164. Steven J. Zaloga, Poland 1939. The birth of Blitzkrieg (Campaign 107), Oxford 2002, S. 46. Pöhlmann, Der Panzer, S. 307 f. Zaloga, Poland 1939, S. 42 f. Franz Halder, Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939–1942, Bd. I: Vom Polenfeldzug bis zum Ende der Westoffensive (14. 8. 1939–30. 6. 1940), hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen/Alfred Philippi, Stuttgart 1962, S. 75. der deutSChe ÜberFall auF polen auS militärhiStoriSCher perSpeKtive der polnischen Pommerellen-Armee zu zerschlagen. Damit war eine Landverbindung zwischen Ostpreußen und Pommern hergestellt.31 Die Armeen der Heeresgruppe „Süd“ stürmten ebenfalls schnell voran. Am 8. September 1939 stand die Angriffsspitze der 10. Armee mit der 4. Panzerdivision an der Stadtgrenze Warschaus. Ein Versuch, die polnische Hauptstadt handstreichartig einzunehmen, scheiterte allerdings schon im Ansatz. Mit Molotow-Cocktails steckten die Verteidiger die deutschen Panzer in Brand.32 Der deutsche Hauptstoß aus Süden war somit an den Grenzen Warschaus vorerst gestoppt. Dagegen hatte die 14. Armee am 6. September fast ohne Widerstand Krakau eingenommen. Diese weit südlich kämpfende Armee stieß zusammen mit dem slowakischen Kontingent weiter Richtung Osten vor.33 Die Slowakei nahm als Verbündeter des Deutschen Reiches am Überfall teil. Indes zeichnete sich in der Wehrmachtführung die Erkenntnis ab, dass der organisiert verlaufende Rückzug polnischer Armeen zu einer Modifizierung des eigenen Plans führen müsse,34 denn bislang war es noch nicht gelungen, große Teile der polnischen Armeen zu vernichten. 4. Die Entscheidung: 9. bis 17. September 1939 Am 9. September 1939 kulminierte die kriegerische Entwicklung. Die nördlich der 10. Armee vorrückende 8. Armee wurde an diesem Tag vom größten polnischen Gegenangriff des Krieges überrascht.35 Im Zuge des deutschen Vormarsches waren die zwei polnischen Armeen „Poznan“ und „Pomorze“ von den Hauptkräften abgetrennt worden. Nun griffen sie entschlossen die deutsche 8. Armee im Rücken an. Das Oberkommando der Heeresgruppe Süd sah sich gezwungen, den Vormarsch teilweise abzustoppen und von der 10. Armee Kräfte in Richtung des Flusses Bzura abdrehen zu lassen. Die 4. Panzerdivision wurde von der Warschauer Stadtgrenze abgezogen und sollte stattdessen die Westseite der 10. Armee gegen die beiden angreifenden Armeen sichern. Dabei kam es zu schweren Kämpfen in der Puszcza Kampinoska (dt. Kampinos-Heide), für die Panzer jedoch ungeeignet waren.36 Während die Heeresgruppe Süd umgruppierte, um den polnischen Vorstoß an der Bzura aufzuhalten, drehte die Heeresgruppe Nord ihre 4. Armee nach Süden, um vom Norden in die Schlacht einzugreifen, und fiel nun den angreifenden polnischen Armeen in den Rücken. Bis zum 16. September wurden diese 31 32 33 34 35 36 Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg“, S. 113 f. Adrian E. Wettstein, Die Wehrmacht im Stadtkampf 1939–1942, Paderborn 2014, S. 65 ff. Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg“, S. 117. Nikolaus von Vormann, Der Feldzug in Polen 1939. Die Operationen des Heeres, Weissenburg 1958, S. 85 und 90. Rolf Elble, Die Schlacht an der Bzura 1939 aus deutscher und polnischer Sicht, Freiburg 1975, S. 117 ff. Pöhlmann, Der Panzer, S. 309. 51 JenS Wehner durch die deutschen Gegenmaßnahmen vollständig eingekreist, konzentrisch angegriffen37 und bis zum 20. September zerschlagen. Die 8. und 10. Armee meldeten mehrere Tausend eigene Verluste (Tote, Verwundete, Vermisste) und rund 180 000 Gefangene.38 Die genauen Verlustzahlen sind bis heute unbekannt. Die Schlacht an der Bzura war die größte Kampfhandlung des Krieges 1939. In der Folge wurde Warschau eingekesselt.39 Zeitgleich mit dem Beginn der Schlacht an der Bzura hatte das deutsche Oberkommando am 9. September entschieden, vom ursprünglichen Plan abzurücken. Statt westlich der Weichsel sollte die polnische Armee nun östlich des Flusses umfasst und zerschlagen werden.40 Am weitesten im Osten kämpfte das XIX. Armeekorps (mot.) unter General Heinz Guderian. Dieser voll motorisierte und teilgepanzerte Verband rollte im nordöstlichen Hinterland von Warschau schnell vor und eroberte Brest-Litowsk am 17. September 1939. Dieser Tag markierte die sich bereits abzeichnende Niederlage der polnischen Streitkräfte. Am gleichen Tag überfiel die Sowjetunion Polen. Stalin ließ die Rote Armee nach Ostpolen einmarschieren. Zeitgleich sah sich die polnische Regierung gezwungen, ins Exil nach Rumänien zu flüchten.41 Zum brutalen Höhepunkt des Luftkrieges kam es jedoch erst Ende September mit der Bombardierung Warschaus. Zwar peilte die Luftwaffe auf Hitlers Befehl nur bestimmte Ziele wie Infrastruktur, Verwaltung und Industrie an, doch wurden dabei Wohnviertel getroffen und Tausende Zivilisten getötet.42 Die brutale Bombardierung Wieluńs bei Kriegsanfang war nur der Auftakt zu weiteren schweren Luftangriffen. Besonders eindrücklich ist das Beispiel der Kleinstadt Frampol. Deutsche Bomben zerstörten den Ort zu etwa 90 Prozent.43 Aufgrund der zahlenmäßigen deutschen Überlegenheit blieb der Luftkrieg ein einseitiger Kampf. Allerdings misslang der Luftwaffe die Zerschlagung der polnischen Flieger, die zwei Wochen lang zum Einsatz kommen konnten, um deutsche Bomber abzufangen und deutsche Heeresverbände zu bombardieren. Nach Schätzungen warfen die polnischen Flugzeuge rund 160 Tonnen,44 die Luftwaffe hingegen knapp 20 000 Tonnen Bomben ab.45 Insbesondere die Stukas hatten einen großen Anteil an den Angriffen auf polnische Stellungen und Kolonnen. 37 38 39 40 41 42 43 44 45 52 Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg“, S. 122 f. Elble, Bzura 1939, S. 199 ff. Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg“, S. 123 f. Ebenda, S. 118. Lakowski, Der 1. September 1939, S. 49. Overy, Bombenkrieg, S. 104 ff. Norman Davies, Europe at War 1939–1945. No Simple Victory, London 2007, S. 297. Micheal Alfred Peszke, Polands Military Aviation. September 1939: It never had a chance, in: Robert Higham/Stephen J. Harris (Hrsg.), Why Air Forces Fail. The Anatomy of Defeat, Lexington 2006, S. 32. Groehler, Luftkrieg, S. 227. der deutSChe ÜberFall auF polen auS militärhiStoriSCher perSpeKtive Die polnische Armee war im Feld geschlagen und hielt Ende September nur noch einige Städte und befestigte Plätze. Selbst als Warschau und Modlin am 27. September kapituliert hatten, traten noch einige polnische Truppenteile mit – laut Wehrmachtgeneral Nikolaus von Vormann – „bewundernswerter Tapferkeit“ bei Kraśnik, Lublin und Kock zum Kampf an. Bei Kock hatte die deutsche Aufklärung die Stärke einer polnischen Gruppierung zunächst unterschätzt, weshalb nur schwache Kräfte in Regimentsstärke angriffen und einen Rückschlag erlitten. Erst als das XIV. Armeekorps (mot.) in überlegener Zahl angriff, konnten die polnische Einheit besiegt werden. Rund 17 000 Polinnen und Polen wurden daraufhin am 6. Oktober 1939 gefangen genommen.46 Mit diesem Gefecht endeten die militärischen Kämpfe in Polen. Hunderttausende polnischer Soldaten gerieten in deutsche oder sowjetische Gefangenschaft. Einem kleineren Teil gelang die Flucht in benachbarte neutrale Staaten wie Rumänien oder die baltischen Länder. 5. Eine militärhistorische Bilanz Trotz des entschlossenen Widerstandes der polnischen Soldaten hatte die technisch überlegene Wehrmacht die polnische Armee in relativ kurzer Zeit besiegt. Selbst Hitler räumte jedoch in seiner Rede vom 6. Oktober 1939 vor der deutschen Öffentlichkeit ein: „Der polnische Soldat hat im einzelnen an manchen Stellen tapfer gefochten.“47 Zudem hatten die polnischen Gegenangriffe laut Hitler manche deutschen Regimenter und Divisionen „sehr schwere Blutopfer“ gekostet.48 Wie erbittert die Kämpfe gewesen waren, zeigt allein, dass der Munitionsverbrauch der Wehrmacht in Polen höher lag als 1940 bei der etwas länger andauernden Eroberung Westeuropas.49 Für den deutschen Heeresgeneralstab und seinen Chef waren die harten Kämpfe jedoch keine Überraschung: Sie hatten den Mut der polnischen Soldaten bereits vor dem Krieg hervorgehoben. Allerdings unterstellten sie ihnen Dummheit und schlechte Ausbildung.50 Dass dieses Stereotyp nicht zutraf, zeigte sich unter anderem im Luftkrieg, denn das Bedienen von Flugzeugen und Flugabwehrgeschützen benötigte relativ viel Ausbildung und Know-how. Obwohl die deutsche Luftwaffe qualitativ und quantitativ weit überlegen war, erlitt sie beträchtliche Verluste, die rund ein Siebtel der gegen Polen eingesetzten Flugzeuge ausmachten.51 Ein Grund lag in der – angesichts der Umstände – effizienten polnischen Luftkriegsführung. Die polnischen Jagdflieger sollen trotz ihrer in jeglicher 46 47 48 49 50 51 Von Vormann, Feldzug in Polen, S. 187. Philipp Bouhler (Hrsg.), Der großdeutsche Freiheitskampf. Reden Adolf Hitlers: Vom 1. September 1939 bis 10. März 1940, Bd. 1, München 1943, S. 69. Ebenda, S. 71. Schumann/Hass, Deutschland im Zweiten Weltkrieg 1, S. 183. Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 38. Schumann/Hass, Deutschland im Zweiten Weltkrieg 1, S. 183. 53 JenS Wehner Hinsicht drastischen Unterlegenheit immerhin ein Abschuss-Verlustverhältnis von etwa 1:1 erzielt haben.52 Trotz des entschlossenen polnischen Widerstandes war der Überfall auf Polen allerdings lediglich ein militärisches Präludium gemessen an den Dimensionen des Zweiten Weltkrieges. Die Wehrmacht verlor in Polen rund 16 000 Soldaten53 – 0,3 Prozent der insgesamt 5,3 Millionen toten deutschen Soldaten bis 1945.54 Der Zweite Weltkrieg begann für die Deutschen somit weniger blutig als der Erste.55 Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges sollten die Verluste allerdings jene des Ersten übertreffen. Am Beispiel der stärksten deutschen Armee in Polen lässt sich dies aufzeigen: Die 10. Armee wurde später in 6. Armee umbenannt und in Stalingrad 1943 vernichtet.56 Polen hatte 66 300 tote Soldaten zu beklagen – mehr als vier Mal so viele wie die Wehrmacht.57 Das war jedoch auch nur ein Bruchteil der Menschenverluste Polens im Zweiten Weltkrieg. Die meisten der etwa fünf Millionen polnischen Opfer wurden von den Deutschen im Holocaust oder im Zuge anderer Verbrechen ermordet und gehörten der Zivilbevölkerung an. Die geflüchteten polnischen Soldaten waren bis Kriegsende in weitere Kampfhandlungen gegen Deutschland involviert. Drei polnische Marine-Zerstörer hatten sich befehlsgemäß bereits vor Kriegsbeginn abgesetzt und kämpften an der Seite von Westalliierten gegen die deutsche Kriegsmarine. Weiterhin flogen über 140 polnische Piloten im Jahr 1940 in der Luftschlacht um England gegen die Luftwaffe. Aufgrund ihrer guten Ausbildung war ihr Einsatz sehr wirksam.58 Andererseits waren viele polnische Soldaten und Offiziere in sowjetische Gefangenschaft geraten. 1940 ließ Stalin rund 15 000 Offiziere zusammen mit weiteren Angehörigen der polnischen Elite bei Katyn und an anderen Orten erschießen. Aus den Überlebenden wurde 1941 eine Exilarmee in der Sowjetunion aufgestellt, um den Kampf gegen die Deutschen aufzunehmen. 1942 wurde dieses Kontingent über den Iran an die Briten überstellt. Diese Truppen bewährten sich bei den 52 53 54 55 56 57 58 54 Peszke, Polands Military Aviation, S. 30. Mit dem Verhältnis von 1:1 korrespondieren auch die Gesamtverlustzahlen von 303 deutschen zu 356 polnischen Flugzeugen (1:1,2). Auch wenn dieses Abschuss-Verlustverhältnis im Luftkampf ungünstiger gewesen sein sollte (etwa 1:2), würde das die hier aufgestellte Behauptung nicht widerlegen. Rüdiger Overmans, Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg, München 1999, S. 304. Oft ist von geringeren Verlusten von etwa 10 000 Toten zu lesen, diese Zahlen beruhen auf Statistiken des Jahres 1939, die sich bei einer Nachuntersuchung 1944 als falsch herausstellten. Overmans, Deutsche militärische Verluste, S. 255. Davon waren 4,8 Mio. Angehörige der Wehrmacht. Jens Wehner, Militärische Verluste von 1914 und ihre Bedeutung, in: Matthias Rogg/Gorch Pieken/Gerhard Bauer (Hrsg.), 14 – Menschen – Krieg. Katalog zur Ausstellung zum Ersten Weltkrieg, Dresden 2014, S. 154 f. Jens Wehner, Stalingrad, in: Matthias Rogg/Gorch Pieken/Jens Wehner (Hrsg.), Stalingrad, Dresden 2012, S. 17 f. Schumann/Hass, Deutschland im Zweiten Weltkrieg 1, S. 183. Wojtek Matusiak/Robert Gretzyngier, IV. Polish Participation in the Battle of Britain, in: Zbigniew Wawer/Muzeum Wojska Polskiego (Hrsg.), The Battle of Britain, Warszawa 2015, S. 122– 159, hier S. 145. der deutSChe ÜberFall auF polen auS militärhiStoriSCher perSpeKtive Kämpfen im Mittelmeerraum und konnten besonders bei der Schlacht am Kloster von Monte Cassino im Jahr 1944 in entscheidender Weise zum Erfolg beitragen.59 Später ließ Stalin eine Armee aus kommunistisch eingestellten Polen aufstellen, die 1945 auf deutschem Gebiet kämpfte. In der Wehrmacht hatte der Krieg von 1939 einige qualitative Konsequenzen, die oft unterschätzt werden. In Polen lernte die Wehrmacht ihre Einsatzkonzepte zu verbessern, die später große Wirkung entfalten sollten. Besondere Wucht hatten die Panzerverbände gezeigt. Erwin Rommel, der spätere „Wüstenfuchs“, ließ sich unter diesem Eindruck zur Panzerwaffe versetzen.60 Die Panzerdivision war im September 1939 eine von zwei Panzerverbandstypen der Wehrmacht, von denen der zweite Verbandstyp die Leichte Division war. Sie waren der Kavallerie nachempfunden und sollten aufgrund leichter Ausrüstung schnell agieren. Die Panzerdivisionen waren dagegen schwerer gerüstet und setzten auf das Gefecht der verbundenen Waffengattungen, indem sie Panzer, Infanterie, Artillerie und weitere Waffengattungen in sich vereinten. Besonders der weit und schnell vorpreschende Panzervorstoß von General Heinz Guderian zeigte die große operative Wirkung selbstständig eingesetzter Panzerdivisionen. Dagegen hatten die Leichten Divisionen nicht überzeugt, weshalb sie 1939/40 in Panzerdivisionen umgewandelt wurden.61 Die Panzerdivisionen erhielten aufgrund der Erfahrungen in Polen zudem mehr Infanterie, wodurch ihr Konzept vom Einsatz der verbundenen Waffen noch gestärkt wurde.62 Die Panzerwaffe wurde für den nächsten Feldzug stärker konzentriert eingesetzt und strukturell aufgewertet.63 Für die 1940 erfolgende Eroberung Westeuropas setzte das deutsche Oberkommando auf eine starke Panzergruppierung unter dem Oberbefehl von Ewald von Kleist mit einem Kern von fünf Panzerdivisionen. Im Mai 1940 führte die Panzergruppe „Kleist“ den entscheidenden Vorstoß an den Ärmelkanal, mit dem die Wehrmacht Frankreich zu Fall brachte und Westeuropa eroberte.64 Eine ähnliche Aufwertung wie die Panzer erfuhren die Sturzkampfflieger. Nach der Eroberung Polens wurde die Masse der Stukas im neuen VIII. Fliegerkorps, mit Wolfram von Richthofen an der Spitze, auch strukturell aufgewertet.65 59 60 61 62 63 64 65 Zbigniew Wawer, Monte Cassino. Walki 2 Korpusu Polskiego, Warszawa 2009. Wolf Heckmann, Rommels Krieg in Afrika. Wüstenfüchse gegen Wüstenratten, Bergisch Gladbach 1976, S. 43 f. Eigentlich war Rommel Infanterist, der nach einer hohen Auszeichnung im Ersten Weltkrieg einen Bestseller über den Infanteriekampf verfasst hatte. Hitler ließ den renommierten Offizier im Jahr 1938 das sogenannte Führerbegleitbataillon zu seinem Schutz kommandieren. Beeindruckt von der Wirkung der Panzerverbände, verließ Rommel seine Waffengattung und erbat sich von Hitler das Kommando einer Panzerdivision. Robert L. DiNardo, Germany’s Panzer Arm in WWII, Mechanicsburg 1997, S. 107 f. Horst Riemann, Zur Geschichte der deutschen Panzergrenadiere, in: Wehrkunde VIII (1959) 12, S. 647. Frieser, Blitzkrieg-Legende, S. 22 f. Pöhlmann, Der Panzer, S. 311 ff. Horst Boog, Die deutsche Luftwaffenführung 1935–1945. Führungsprobleme, Spitzengliederung, Generalstabsausbildung, Stuttgart 1982, S. 190. 55 JenS Wehner Der Sieg über Polen war jedoch kein „Blitzkrieg“, wie dies oft behauptet wurde. Viele deutsche Generäle glaubten, dass die Konzepte des Krieges gegen Polen gegen einen stärkeren Gegner wie Frankreich aussichtslos sein würden.66 Als „Blitzkrieg“ im heutigen Verständnis wird der Westfeldzug von 1940 bezeichnet, der von den deutschen Panzerverbänden in Kürze gewonnen wurde. Der erste, von deutscher Seite systematisch als solcher geplante „Blitzkrieg“ war der Überfall auf die Sowjetunion im Jahr 1941, der bekanntlich scheiterte.67 Literatur Böhler, Jochen, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 550), Bonn 2006. Boog, Horst, Die deutsche Luftwaffenführung 1935–1945. Führungsprobleme – Spitzengliederung – Generalstabsausbildung (Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd. 21), Stuttgart 1982. Davies, Norman, Europe at War 1939–1945. No Simple Victory, London 2007. DiNardo, Robert L., Germany’s Panzer Arm in WWII, Mechanicsburg 1997. Elble, Rolf, Die Schlacht an der Bzura 1939 aus deutscher und polnischer Sicht (Einzelschriften zur militärischen Geschichte des Zweiten Weltkrieges, Bd. 15), Freiburg 1975. Frieser, Karl-Heinz, Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940 (Operationen des Zweiten Weltkrieges, Bd. 2), München 1995. Groehler, Olaf, Geschichte des Luftkrieges 1910 bis 1980, 6. Aufl., Berlin 1981. Guardia, Mike, Junkers Ju 87 Stuka (Air Vanguard 15), Oxford 2014. Heckmann, Wolf, Rommels Krieg in Afrika. Wüstenfüchse gegen Wüstenratten, Bergisch Gladbach 1976. Heider, Michael/Schiller, David Th., Zwischen den Kriegen, in: dies., Maschinengewehre (Visier Special, 2007, 45), S. 52–65. 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Zaloga, Steven J., Poland 1939. The birth of Blitzkrieg (Campaign 107), Oxford 2002. Quellen Bouhler, Philipp (Hrsg.), Der großdeutsche Freiheitskampf. Reden Adolf Hitlers: Vom 1. September 1939 bis 10. März 1940, Bd. 1, 6. Aufl., München 1942. Franz Halder, Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939–1942, Bd. I: Vom Polenfeldzug bis zum Ende der Westoffensive (14. 8. 1939–30. 6. 1940), hrsg. v. Hans-Adolf Jacobsen/Alfred Philippi, Stuttgart 1962. 58 Jochen Böhler Die Wehrmacht und die Verbrechen an der Zivilbevölkerung während des deutschen Überfalls auf Polen 1939 1. Historiografie Lange Zeit lag der deutsche Überfall auf Polen im September 1939 – noch während des „Dritten Reiches“ als „Polenfeldzug“ oder „Feldzug der 18 Tage“ verharmlost – außerhalb des Fokus der Geschichtswissenschaft. Nur eine Handvoll deutscher militärhistorischer Studien, davon eine von einem ehemaligen Kriegsteilnehmer verfasst, widmet sich dem Verlauf der Kämpfe.1 Auch in der deutschen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wird er noch heute von den Großereignissen der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden und dem Überfall auf die Sowjetunion ab 1941 überschattet. So scheint es, als sei die Zeitspanne 1939 bis 1941 nur eine Vorlaufphase der Vernichtung, als habe der Rassen- und Vernichtungskrieg erst 1941 begonnen. Doch diese Sichtweise unterschätzt die Bedeutung der ersten zwei Jahre von Krieg und Besatzung in Osteuropa. Denn die Gewaltwelle, die sich ab Juni 1941 über die Westgebiete Sowjetrusslands ergoss und die innerhalb zweier Jahre über zwei Millionen Menschen unter der Hoheit der Wehrmacht das Leben kostete, kam nicht aus dem Nichts.2 Die Woge der Gewalt hatte sich vielmehr, um bei dem Bild zu bleiben, in den zwei Jahren zuvor angestaut. Somit war der Start des „Unternehmens Barbarossa“ 1941 nur ein Dammbruch, der den zuvor im besetzten Polen etablierten Gewaltpraktiken ein neues großes Exerzierfeld eröffnete und somit den Massenmord des „Dritten Reiches“ auf eine neue Stufe hob. Die Zeit bis 1 2 Horst Rohde, Der Verlauf des Polenfeldzugs vom 1. September bis 6. Oktober 1939, in: Klaus A. Maier/Horst Rohde/Bernd Stegemann/Hans Umbreit (Hrsg.), Die Errichtung der Hegemonie auf dem europäischen Kontinent, Stuttgart 1979, S. 111–135; Bertil Stjernfeld/Klaus-Richard Böhme, Westerplatte 1939, Freiburg 1979; Rolf Elble, Die Schlacht an der Bzura im September 1939 aus deutscher und polnischer Sicht, Freiburg 1975; Herbert Schindler, Mosty und Dirschau 1939. Zwei Handstreiche der Wehrmacht vor Beginn des Polenfeldzuges, Freiburg 1971. Zum Einsatz der Luftwaffe liegt keine deutsche Studie vor. Die polnische Historiografie umfasst dagegen mittlerweile Tausende Monografien und Aufsätze v. a. zu den operationellen Aspekten des Krieges, bis 1998 siehe Andreas Lawaty/Wiesław Mincer (Hrsg.), Deutsch-polnische Beziehungen in Geschichte und Gegenwart: Bibliographie, Bd. 1, Wiesbaden 2000, S. 750–785, danach einschlägige Militärhistorische Zeitschriften wie „Bellona“ oder „Przegląd HistorycznoWojskowy“. Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2009, S. 337. 59 JoChen böhler zum Juni 1941 ist also nicht eine Fußnote, sondern eine entscheidende Phase sowohl der Shoah als auch des Vernichtungskrieges im deutsch besetzten Osten. Die polnische Geschichtsschreibung hat sich neben militärhistorischen Aspekten von Beginn an mit den während des Krieges 1939 in Polen von Deutschen verübten Verbrechen beschäftigt. Bereits ab 1944 erschienen Veröffentlichungen von Historikerinnen und Historikern, die oftmals zugleich für die polnische Hauptkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen oder das Jüdische Historische Institut in Warschau tätig waren.3 Die Verfasser hatten häufig den deutschen Überfall und die Zeit der Besatzung selbst erlebt. Dennoch sind die Darstellungen, wenn auch in anklagendem Duktus, bemüht, die Tatsachen zu recherchieren, und genügen vollauf wissenschaftlichen Standards. Die Grundlage für die polnischen Studien zu Krieg und Besatzung in Polen 1939 bis 1945 bildeten überwiegend Augenzeugenberichte, die polnische Staatsanwaltschaften und jüdische Verbände akribisch zu Tausenden gesammelt hatten, ergänzt durch deutsche Aktenbestände, die beim Rückzug der Wehrmacht im Lande verblieben waren. 2. Die Angriffsvorbereitungen Versucht man zu verstehen, warum der kurze Krieg gegen Polen vom ersten Tag an die Grenzen des Kriegsgebrauchs, wie sie in der Haager Landkriegsordnung 1907 verbindlich festgelegt worden waren, verließ, muss man bei der Vorgeschichte ansetzen. Die deutsche Seite begann den Überfall ab dem Frühjahr 1939 vorzubereiten. Den militärischen Stellen oblag die operative Planung der Eroberung Polens, den polizeilichen die Bekämpfung von politischen Gegnern in den eroberten Gebieten. Die Zweiteilung in militärischen und polizeilichen Einsatz hat unmittelbar nach 1939 und auch noch lange nach 1945 dazu geführt, dass eine klare Trennlinie zwischen dem Vorgehen der Wehrmachteinheiten und dem der SS- und Polizei-Einsatzgruppen in Polen in der Zeit der Militärverwaltung (1. September bis 25. Oktober 1939) gezogen wurde, die es in der Wirklichkeit gar nicht gegeben hatte. Die Einsatzgruppen waren zwar nur zum Teil – etwa bei der Eroberung der westpolnischen Stadt Bydgoszcz (dt. 3 60 In den späten 1980er-Jahren veröffentlichte die Hauptkommission ein Themenheft ihrer Hauszeitschrift exklusiv zu Wehrmachtsverbrechen in Polen 1939, siehe Biuletyn Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce XXXII (1987). Die Literatur bis 1998 zu deutschen Verbrechen während des Krieges in Polen 1939 ist nahezu unüberschaubar. Bis 1998 siehe ebenda, Bd. I, S. 757–950. Für die Zeit danach siehe das „Biuletyn IPN“ der Nachfolgeinstitution der Hauptkommission, des Instituts für Nationales Gedenken, sowie das „Kwartalnik Historii Żydów“ (vormals „Biuletyn Żydowskiego Instytut Historycznego“) des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, mit Bibliografien der veröffentlichten Artikel in den Nummern 3/2001 (für die Jahre 1949–2000) und 3/2011 (für die Jahre 2001–2010). Zur Hauptkommission siehe jetzt Łukasz Jasiński, Sprawiedliwość i polityka. Działalność Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce 1945–1989, Gdańsk 2018. die WehrmaCht und die verbreChen an der zivilbevölKerung Bromberg) – unmittelbar an den Kampfhandlungen beteiligt, aber die Wehrmacht akzeptierte nicht nur im Vorfeld die Verwendung von Einsatzgruppen mit einem politischen Auftrag, der Massenmord miteinschloss, sie kooperierte mit ihnen im Felde und leistete ihnen logistische Unterstützung – ganz wie knapp zwei Jahre später beim Angriff auf die Sowjetunion. Einen ersten Hinweis auf die enge Verknüpfung beider Sphären – der militärischen und der polizeilich-politischen – findet sich in einer Ansprache des Generalstabschefs des Heeres Franz Halder vor höheren Wehrmachtoffizieren aus dem April 1939. Die Besetzung des Landes (gemeint ist das Hinterland, also das Gebiet hinter der kämpfenden Truppe), so Halder, werde „in weitem Maße von den paramilitärischen Formationen der Partei vorgenommen werden“.4 Am 22. August 1939 kündigte Hitler in seinem Refugium auf dem Obersalzberg offenbar die Verwendung paramilitärischer Verbände mit klarem Mordauftrag der höheren Generalität an. Jedenfalls war der Chef der militärischen Abwehr alarmiert und teilte Halder drei Tage später seine „Besorgnis wegen [der] Rolle der Totenkopfverbände“ mit, eine Bezeichnung, die sich exakt in einer der heimlichen Mitschriften der Ansprache wiederfindet.5 Auch der Oberst im Generalstab Eduard Wagner vermerkte in seinem Tagebuch am 29. August 1939: „Besprechung bei Ministerialrat [Werner] Best (SD6), anschließend bei dem berüchtigten Chef des SD – [Reinhard] Heydrich. Es handelt sich um den Einsatz der Gestapo-Gruppen im Operationsgebiet. Wir kamen schnell überein. Beides etwas undurchdringliche Typen, Heydrich besonders unsympathisch.“7 Die Verwendung der polizeilichen Einsatzgruppen war im Sommer 1939 vorbereitet worden. Es wurden zunächst fünf solcher Einheiten aufgestellt und ihre Kommandeure 4 5 6 7 Christian Hartmann/Sergej Slutsch, Franz Halder und die Kriegsvorbereitungen im Frühjahr 1939. Eine Ansprache des Generalstabschefs des Heeres, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 45 (1997) 3, S. 467–495, hier S. 493. Franz Halder, Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939–1942, Bd. 1, hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen, Stuttgart 1964, S. 30 (29. 8. 1939). In der Mitschrift, die der amerikanische Journalist Louis P. Lochner dem britischen Botschaftsrat übergab und das als Dokument L-003 vom Nürnberger Militärgerichtshof registriert, aber nicht als Beweisstück verwendet wurde, findet sich die Passage „So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen.“ (Hervorhebung des Verfassers). Obwohl das Dokument offenbar nach der Niederschrift noch redaktionell überarbeitet wurde, stimmt es inhaltlich weitgehend mit anderen Abschriften der Rede überein, siehe Winfried Baumgart, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939. Eine quellenkritische Untersuchung, in: VfZ 16 (1968) 3, S. 120–149. Abkürzung für den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, dem die Organisation und die Verwendung der Einsatzgruppen oblag. Elisabeth Wagner (Hrsg.), Der Generalquartiermeister. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des Generalquartiermeisters des Heeres, General der Artillerie Eduard Wagner, München/ Wien 1963, S. 103. 61 JoChen böhler instruiert. Obwohl kein schriftlicher Tötungsbefehl erteilt wurde, erklärte Heydrich ihnen mündlich, dass sie in erster Linie gegen die gebildeten Schichten in Polen vorzugehen hätten, da man aus deren Reihen am ehesten Widerstand erwarte. Neben Massenverhaftungen wurden dabei auch ausdrücklich Exekutionen als erlaubtes Mittel der Bekämpfung von „Reichsfeinden“ benannt. Der Wehrmacht gegenüber hielt man diesen Auftrag in den „Richtlinien für den auswärtigen Einsatz der Sicherheitspolizei und des SD“ vom August 1939 zwar bewusst nebulös, aber dass die Wehrmachtführung mehr wusste, belegen die Äußerungen von Halder, Canaris und Wagner.8 Im Gegensatz zu den Einsatzgruppen hatte die Wehrmacht vor dem Angriff keinen Auftrag zur Tötung von Zivilistinnen und Zivilisten erhalten. Allerdings hatte Hitler auf dem Obersalzberg von der Generalität gefordert, nicht nur – angesichts des Risikos der Eröffnung einer zweiten Front im Westen – mit größter Schnelligkeit, sondern auch besonders rücksichtslos vorzugehen: „Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. 80 Mill.[ionen] Menschen müssen ihr Recht bekommen. Ihre Existenz muß gesichert werden. Der Stärkere hat das Recht. Größte Härte.“9 Den Soldaten wurden außerdem Weisungen verlesen, die vor der Hinterhältigkeit der slawischen und jüdischen Bevölkerung warnten. Von jeder Zivilperson, so erfuhren es Gefreite unmittelbar vor ihrem ersten Kampfeinsatz, könne eine tödliche Gefahr ausgehen. 3. Die Übergriffe der Wehrmacht Diese Warnungen beeinflussten massiv das Verhalten deutscher Soldaten in polnischen Ortschaften, die auf ihrer Vormarschroute lagen. Wie in den überlieferten Kriegstagebüchern nachzulesen ist, glaubten sie, überall Partisanen – nach damaligem Sprachgebrauch „Freischärler“ – zu sichten. Obwohl natürlich für den gesamten Operationsraum der Wehrmacht aus heutiger Sicht nicht ausgeschlossen werden kann, dass vereinzelt Schüsse von Zivilpersonen auf Einheiten abgegeben wurden, handelte es sich um die Fehlwahrnehmung einer organisierten Partisanenbewegung, in die die gesamte Zivilbevölkerung direkt oder indirekt eingebunden sei. Diese Vorstellung entbehrte jeder Grundlage. Polnische Widerstandsgruppen formierten sich erst nach der Niederlage im September 1939 aus versprengten Soldaten. Auf deutscher Seite lagen die Verluste im Zuge nächtlicher Schießereien so niedrig, dass dies an sich schon die Theorie einer „levée en masse“ ad absurdum führte, zumal zeitgleich ständig darüber berichtet wurde, wie 8 9 62 Klaus-Michael Mallmann/Jochen Böhler/Jürgen Matthäus, Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008, S. 15–19, 117–121. Trial of the Major War Criminals before the International Military Tribunal: Nuremberg, 14 November 1945–1 October 1946, Bd. XXVI, Nürnberg 1947, S. 523, Document 1014-PS. Diese Wiedergabe der Nachmittagsansprache auf dem Obersalzberg am 22. 8. 1939 ist nach Baumgart, Zur Ansprache Hitlers, Admiral Canaris selber zuzuordnen. Die Vormittagsansprache findet sich im selben Dokumentenband, S. 338–344, Document 798-PS. die WehrmaCht und die verbreChen an der zivilbevölKerung deutsche Soldaten sich gegenseitig unter Beschuss nahmen. In der Rückschau verfasste Erfahrungsberichte der Wehrmacht sprechen von einer „Psychose“, die sich der Soldaten „ermächtigt“ habe.10 Aus der Perspektive eines Wehrmachtsoldaten sah das am 5. September 1939 so aus: „Der Kommandeur ging mit mir in den Ort. Alles rief uns an. Aufregung. Eine Scheune ging in Flammen auf, rotgelbes Licht überm Ort. Mit aller Energie musste der Major einen ängstlichen Haufen, der an der Friedhofsmauer kauerte, hindern, auf uns zu schießen. In der Kirche seien die Freischärler, die geschossen hätten. Wi. kriegt einen polnischen Bauern am Schlafittchen, und in der einen Hand den Bauern, in der anderen die Pistole, durchstöbert er die Kirche. Ich gehe mit entsicherter Pistole in der Hand hinter ihm her. Das Bäuerlein zittert und ruft auf Polnisch: ‚Nicht schießen. Wer drin ist, soll rauskommen.‘ Niemand ist da. Erleichtert gehen wir aus der Kirche, in deren dunklen Winkeln unsere Taschenlampen geisterten.“11 Die Wahnvorstellung einer gegen die Wehrmacht kämpfenden Bevölkerung hatte fatale Folgen. Im gesamten Vormarschgebiet gingen Gehöfte und Häuser in Flammen auf, wurden Zivilistinnen und Zivilisten erschossen, Handgranaten in Keller geworfen, in die sich verschreckte Einwohner geflüchtet hatten. Der polnisch-jüdische Historiker Szymon Datner wertete in den 1950er- und 1960er-Jahren Tausende Zeugenaussagen aus und kam zu dem vorläufigen Ergebnis, dass in der Zeit, in der die Wehrmacht im besetzten Polen das Sagen hatte – während der Militärverwaltung, die am 25. Oktober durch eine Zivilverwaltung ersetzt wurde –, im Verlauf von 714 registrierten Übergriffen 16 336 Personen so ums Leben kamen. Bei dieser vorsichtigen Schätzung, in die viele Berichte noch gar nicht eingearbeitet waren, gingen etwa 10 000 Opfer auf das Konto deutscher Soldaten. Eine Überlebende schilderte die Ereignisse 1955 aus der Erinnerung so: „Etwa um die Mittagszeit des 2. September […] brach eine große Unruhe aus. Die Deutschen begannen zu schießen und brannten nacheinander mehrere Höfe nieder. Ich versteckte mich mit meiner Tante, meiner Schwägerin und meinen Kindern im Keller des Hauses der Familie Szczyska […]. Im Keller befanden sich insgesamt 21 Personen, acht Frauen und 13 Kinder. Die Kinder weinten ununterbrochen, was von außen mit Sicherheit zu hören war. Nach einiger Zeit fiel in den Keller eine Handgranate, kurz darauf eine zweite und eine dritte. Ob weitere Granaten geworfen wurden, weiß ich nicht, weil ich ohnmächtig wurde. Ich kam 10 11 Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006, S. 54–75. Leutnant Hans W., Kriegstagebuch „Mit dem Infanterieregiment 102 im Polenfeldzug“, 4. 9. 1939, Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (BArch-MA), Msg1/1631. 63 JoChen böhler erst abends […] wieder zu Bewusstsein. Am selben Abend brachte man mich, die Kanicka und die Stępniakowa ins Krankenhaus nach Kempen. Im Keller starben – bis auf drei – alle darin befindlichen Personen.“12 Der Tod von Frauen und Kindern war dabei zumeist ein Kollateralschaden der mutwilligen Brandstiftungen. Die Erschießungen – die 80 Prozent der Opfer forderten – richteten sich ausschließlich gegen Männer. Die Wehrmacht hielt sich nicht mit Ermittlungen auf: Es gab kein funktionierendes Kriegsgerichtswesen, nachträgliche Untersuchungen wurden kaum eingeleitet. Wo dies geschah, wie im Falle der Geheimen Feldpolizei-Gruppen 520 und 540, konnten keine Zivilisten der Partisanentätigkeit überführt werden.13 Die geringen deutschen Verluste als Folge der wilden Schießereien in polnischen Dörfern und Städten standen nicht nur im eklatanten Widerspruch zu der Schimäre einer organisierten polnischen Widerstandsbewegung, sie standen auch in keinem Verhältnis zu den zivilen Opfern der sofort eingeleiteten Vergeltungsaktionen. In Częstochowa (dt. Tschenstochau) hatten deutsche Soldaten am 4. September 1939 wild um sich geschossen. Partisanen wurden nicht festgenommen, aber über 200 Ortseinwohnerinnen und -einwohner, darunter eine große Zahl an Jüdinnen und Juden, erschossen. Eine Augenzeugin schätzte die Zahl der verwundeten Zivilistinnen und Zivilisten auf 400. Die deutsche Seite meldete acht Gefallene und 14 Verwundete.14 Neuere polnische Studien zum Vorgehen deutscher Gebirgseinheiten in Südpolen kommen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass zwischen dem tatsächlichen Verhalten der polnischen Zivilbevölkerung und dem rücksichtslosen Vorgehen der deutschen Soldaten im September 1939 kein kausaler Zusammenhang bestand.15 Aber nicht nur polnische Zivilisten wurden pauschal zu Partisanen erklärt. Durch den raschen Vormarsch der Wehrmacht gerieten in der ersten Septemberhälfte Zehntausende Soldaten des polnischen Heeres, deren Einheiten sich großenteils bereits aufgelöst hatten, hinter die deutsche Front. Sie wurden am 12. September 1939 durch die „Verordnung über Waffenbesitz“ des Oberkommandos des deutschen Heeres zu Partisanen erklärt, eine Maßnahme, die Hitler persönlich beim Generalstab des Heeres angeregt hatte.16 Es sind zahlreiche Fälle aus dem Krieg gegen Polen überliefert, in denen polni12 13 14 15 16 64 Zeugenaussage von Stanisława Woś, 14. 4. 1955, Archiv des Westinstituts Posen (Instytut Zachodni), Dok. III-43. Ermittlungsakten der Geheimen Feldpolizei-Gruppe (GFP) 540, BArch-MA, RH20-8/294 (Bde. 1 und 2), der GFP 520, BArch-MA, RH19-I/111, besonders Bl. 49–66, sowie BArch-MA, RH19-I/112. Böhler, Auftaktzum Vernichtungskrieg, S. 99–107. Dawid Golik, Wrzesień 1939 w dolinie Dunajca. Bój graniczny walki nad górnym Dunajcem między 1 a 6 września 1939 roku, Kraków 2018. Verordnung über Waffenbesitz, 12. 9. 1939, abgedruckt in Verordnungsblatt für die besetzten polnischen Gebiete Nr. 3, 13. 9. 1939, S. 8; Helmut Krausnick, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, 1938–1942, Stuttgart 1981, S. 49, Anm. 104. die WehrmaCht und die verbreChen an der zivilbevölKerung sche Soldaten im Anschluss an ihre Gefangennahme direkt erschossen oder in Scheunen verbrannt wurden. Weitere Opfer forderten übernervöse Wachmannschaften der provisorischen Kriegsgefangenenlager, die Massaker an polnischen Soldaten verübten. Mehr als 3000 polnische Soldaten kamen im September 1939 abseits der Kampfhandlungen ums Leben.17 Nicht nur das Vorgehen der deutschen Bodentruppen forderte hohe Opfer unter der polnischen Zivilbevölkerung. Auch die deutsche Luftwaffe machte keinen Unterschied zwischen Kombattanten und Zivilistinnen und Zivilisten. In Deutschland ist diese Tatsache besonders am Fallbeispiel der damals nahe der Grenze gelegenen Kleinstadt Wieluń kontrovers diskutiert worden, die bereits in den ersten Minuten des Krieges dem Erdboden gleichgemacht wurde. Eine detaillierte Studie geht auf Basis deutscher und polnischer Archivquellen davon aus, dass der Angriff nicht – wie oft behauptet – einer polnischen Kavalleriebrigade außerhalb des Stadtgebietes gegolten habe, sondern dass hier von Vorsatz auszugehen ist.18 Tatsächlich bedarf es gar nicht der Einzelfallprüfung, denn die deutsche Luftwaffe bombardierte im September 1939 generell polnische Ortschaften unterschiedslos, also ganz unabhängig davon, ob sich in ihnen gegnerisches Militär befand oder nicht. Das geht auch aus einer Notiz im Kriegstagebuch des Generalstabschefs Halder unmittelbar vor dem Angriff hervor: „Auf Warschau nicht Terrorangriff (nur militärischer).“19 Insgesamt wurden so im Verlauf des Polenkrieges über 150 polnische Städte und Ortschaften durch Luftangriffe zerstört und Zehntausende Zivilistinnen und Zivilisten getötet. Deutsche Piloten machten sich außerdem nicht nur in Einzelfällen einen Sport daraus, Flüchtlingskolonnen gezielt zu beschießen.20 Während die Wehrmacht im Operationsgebiet den Massenmord praktizierte, taten Einsatzgruppen und Volksdeutscher Selbstschutz – eine aus Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen zusammengestellte Miliz – dies im Hinterland. Bis Jahresende ermordeten sie über 50 000 Personen, darunter schätzungsweise 7000 Jüdinnen und Juden.21 Während die Wehrmachtführung, unter deren Ägide das weitgehend geschah, gegen diese (in der Tätersprache) „politische Flurbereinigung“ protestierte, relativiert sich das Bild, wenn man die zeitgleich von der Wehrmacht selbst durchgeführten Massaker dagegenhält. Bereits Heydrich hatte 1940 rückblickend festgestellt: „Stellt man Übergriffe, Plünde17 18 19 20 21 Ein Überblick über die polnische Nachkriegshistoriografie zum Thema – eine deutsche existiert nicht – findet sich in Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 241, Anm. 1105. Hans-Erich Volkmann, Wolfram von Richthofen, die Zerstörung Wieluńs und das Kriegsvölkerrecht, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 70 (2011) 2, S. 287–328. Siehe dagegen Horst Boog, Bombenkriegslegenden, in: Militärgeschichtliche Beiträge 9 (1995), S. 22–29, hier S. 24; ders., Völkerrecht und Menschlichkeit im Luftkrieg, in: Hans Poeppel (Hrsg.), Die Soldaten der Wehrmacht, München 1998, S. 256–323, hier S. 259 f. Halder, Kriegstagebuch, Bd. 1, S. 46 (30. 8. 1939). Szymon Datner, 55 dni wehrmachtu w Polsce. Zbrodnie dokonane na polskiej ludności cywilne w okresie 1.1X–25.X.1939 r., Warszawa 1967, S. 92–102; Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a. M. 2011, S. 84–85. Mallmann/Böhler/Matthäus, Einsatzgruppen, S. 87–88. 65 JoChen böhler rungsfälle, Ausschreitungen des Heeres und der SS und Polizei gegenüber, so kommt [sic] hierbei SS und Polizei bestimmt nicht schlecht weg.“22 Deutsche Soldaten unterschieden sich in ihrem Verhalten gegenüber Polen und Juden 1939 gar nicht wesentlich von Polizisten und SS-Männern. In den besetzten Ortschaften wurden Massenerschießungen durchgeführt, Jüdinnen und Juden wurden schikaniert und ermordet. Ungeachtet des Dissenses auf der Führungsebene kooperierten Einsatzgruppen und Wehrmacht im Feld miteinander. Die Besatzungstruppen waren dankbar, Polizeieinheiten auch für militärische Sicherungsoperationen einsetzen zu können. Tausende von Jüdinnen und Juden wurden von Einsatzgruppen und Wehrmacht gemeinsam über die grüne Grenze in das sowjetisch besetzte Gebiet abgeschoben. Deutsche Soldaten beteiligten sich sogar an Massakern der Einsatzgruppen. Am 18. September 1939 wurden in Przemyśl über 500 Jüdinnen und Juden erschossen – ein Schlüsselereignis der Shoah, das bis heute nicht näher erforscht ist. Bei der dort eingesetzten 14. Armee vermerkte man am selben Tag: „Es mehren sich in den letzten Tagen die Meldungen über Disziplinlosigkeiten, Übergriffe und Willkürmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung […] willkürliche Erschießungen ohne vorheriges kriegsrechtliches bzw. standrechtliches Urteil, Misshandlung Wehrloser, Vergewaltigungen und Notzuchtsverbrechen, Niederbrennen von Synagogen.“ Einen Tag später wies der Armeeoberbefehlshaber nochmals in aller Schärfe darauf hin, dass „Maßnahmen gegen die Juden […] unbedingt zu unterbleiben“ hätten. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Walther von Brauchitsch, erließ kurz darauf einen Befehl („betr. Disziplin“), in dem er es für nötig hielt, darauf hinzuweisen, dass „die Teilnahme von Heeresangehörigen an polizeilichen Exekutionen“ verboten sei.23 4. Fazit In der westlichen Forschung war lange Zeit zu lesen, die Wehrmacht habe 1939 in Polen noch auf Einhaltung des Kriegsrechts gepocht, sich nicht an Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung und Kriegsgefangene beteiligt und sich vielmehr tatkräftig bemüht, das Morden der paramilitärischen Verbände von SS und Polizei zu unterbinden. Das Gegenteil ist der Fall: Die ersten Massenmorde des Zweiten Weltkrieges wurden von deutschen Soldaten bereits in seiner Anfangsphase begangen. Im September kooperierten Einsatzgruppen und Wehrmacht im besetzten Polen, auch bei der Verfolgung und der 22 23 66 Helmut Krausnick, Hitler und die Morde in Polen. Ein Beitrag zum Konflikt zwischen Heer und SS um die Verwaltung der besetzten Gebiete, in: VfZ 11 (1963) 2, S. 196–209, hier S. 207. Zu den Protesten hochrangiger Wehrmachtoffiziere 1939/40 gegen das Vorgehen von SS und Polizei im eroberten Gebiet siehe außerdem Böhler, Auftaktzum Vernichtungskrieg, S. 238–240. Ebenda, S. 201–221; dort auch die hier angeführten Zitate mit Quellenbelegen. die WehrmaCht und die verbreChen an der zivilbevölKerung Ermordung von Zivilistinnen und Zivilisten. Erst mit Abklingen der Kampfhandlungen endeten naturgemäß die Massaker der Wehrmacht, und zugleich wendete sich die Generalität gegen die nunmehr zunehmenden, politisch motivierten Morde von Einsatzgruppen und Selbstschutz. Über das brutale Vorgehen der eigenen Truppe wurde dagegen stillschweigend hinweggegangen. Erfolgs- und Erwartungsdruck seitens der militärischen und politischen Führung, gepaart mit Misstrauen und Vorurteilen gegenüber der Landesbevölkerung, schufen in den deutschen Kommandozentralen und Fronteinheiten offenbar eine Atmosphäre, in der der Zweck die Mittel heiligte und in der Zehntausende von der Wehrmacht getötete Zivilistinnen und Zivilisten als von der Kriegsnotwendigkeit diktierter Kollateralschaden angesehen wurden. Literatur Baumgart, Winfried, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939. Eine quellenkritische Untersuchung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 16 (1968) 3, S. 120–149. Böhler, Jochen, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006. Boog, Horst, Bombenkriegslegenden, in: Militärgeschichtliche Beiträge 9 (1995), S. 22–29. – Völkerrecht und Menschlichkeit im Luftkrieg, in: Hans Poeppel (Hrsg.), Die Soldaten der Wehrmacht, München 1998, S. 256–323. Datner, Szymon, 55 dni wehrmachtu w Polsce. Zbrodnie dokonane na polskiej ludności cywilne w okresie 1.1X–25.X.1939 r., Warszawa 1967. Elble, Rolf, Die Schlacht an der Bzura im September 1939 aus deutscher und polnischer Sicht, Freiburg 1975. Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce (Hrsg.), Biuletyn Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce XXXII (1987). Golik, Dawid, Wrzesień 1939 w dolinie Dunajca: Bój graniczny walki nad górnym Dunajcem między 1 a 6 września 1939 roku, Kraków 2018. Hartmann, Christian/Slutsch, Sergej, Franz Halder und die Kriegsvorbereitungen im Frühjahr 1939. Eine Ansprache des Generalstabschefs des Heeres, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 45 (1997) 3, S. 467–495. Jasiński, Łukasz, Sprawiedliwość i polityka. Działalność Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce 1945–1989, Gdańsk 2018. Krausnick, Helmut, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, 1938–1942, Stuttgart 1981. – Hitler und die Morde in Polen. Ein Beitrag zum Konflikt zwischen Heer und SS um die Verwaltung der besetzten Gebiete, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 11 (1963) 2, S. 196–209. 67 JoChen böhler Lawaty, Andreas/Mincer, Wiesław (Hrsg.), Deutsch-polnische Beziehungen in Geschichte und Gegenwart: Bibliographie, Bd. 1, Wiesbaden 2000. Mallmann, Klaus-Michael/Böhler, Jochen/Matthäus, Jürgen, Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008. Neitzel, Sönke/Welzer, Harald, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a. M. 2011, S. 84–85. Pohl, Dieter, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2009. Rohde, Horst, Der Verlauf des Polenfeldzugs vom 1. September bis 6. Oktober 1939, in: Klaus A. Maier/Horst Rohde/Bernd Stegemann/Hans Umbreit (Hrsg.), Die Errichtung der Hegemonie auf dem europäischen Kontinent (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 2), Stuttgart 1979, S. 111–135. Schindler, Herbert, Mosty und Dirschau 1939. Zwei Handstreiche der Wehrmacht vor Beginn des Polenfeldzuges, Freiburg 1971. Stjernfeld, Bertil/Böhme, Klaus-Richard, Westerplatte 1939, Freiburg 1979. Volkmann, Hans-Erich, Wolfram von Richthofen, die Zerstörung Wieluńs und das Kriegsvölkerrecht, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 70 (2011) 2, S. 287–328. Wagner, Elisabeth (Hrsg.), Der Generalquartiermeister. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des Generalquartiermeisters des Heeres, General der Artillerie Eduard Wagner, München/Wien 1963. Quellen Ermittlungsakten der Geheimen Feldpolizei-Gruppe (GFP) 540, Bundesarchiv-Militärarchiv (BArch-MA), RH20-8/294 (Bd. 1 und 2), der GFP 520, BArch-MA, RH19-I/111, besonders Bl. 49–66, sowie BArch-MA, RH19-I/112. Halder, Franz, Kriegstagebuch: Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939–1942, Bd. 1, hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen, Stuttgart 1964, S. 30 (29. 8. 1939). Leutnant Hans W., Kriegstagebuch „Mit dem Infanterieregiment 102 im Polenfeldzug“, 4. 9. 1939, BArch-MA, Msg1/1631. Verordnung über Waffenbesitz, 12. 9. 1939, abgedruckt in Verordnungsblatt für die besetzten polnischen Gebiete Nr. 3, 13. 9. 1939, S. 8. Zeugenaussage von Stanisława Woś, 14. 4. 1955, Archiv des Westinstituts Posen (Instytut Zachodni), Dok. III-43. 68 Petra Bopp „Wir glauben an die Objektivität der Kamera.“ Private Fotografie der Wehrmachtsoldaten im Zweiten Weltkrieg 1. Der Überfall auf Polen im Foto Im August 1939 fotografierte der 23-jährige Infanterist Friedrich Bilges beim Befestigungsbau an der deutsch-polnischen Grenze in Kuschten (poln. Kosieczyn) den Bunkerbau, die Drahthindernisse und die Sicht über die Grenze nach Polen. Mit diesem „Blick vom Beobachtungssitz weit in polnisches Land“ verfolgte der Soldat schon einige Tage vor der militärischen Invasion die visuelle Einübung des Angriffs mit optischen Instrumenten. Am linken Bildrand kann man ein Gesicht im Profil als schwarze Silhouette erkennen, dazu eine Hand, die einen Feldstecher hält. Der Betrachter blickt – gelenkt vom Fernglas und vom Bildausschnitt des Fotografierenden – auf eine weite Ebene mit einer in die Bildtiefe führenden Spur eines Weges. So bemächtigten sich die Soldaten zunächst mit optischen Instrumenten des Gebietes und vermaßen vom Hochsitz herab die Ebenen, die sie kurz darauf mit der Truppe eroberten. Der Meldereiter Hans-Georg Schulz markierte den Beginn des Zweiten Weltkriegs in seinem Album mit einer selbstgestalteten Landkarte, auf der er den Frontverlauf des „Feldzugs der 18 Tage“ seines Regiments (IR 8, 3. Inf. Div.) eintrug. Anschließend folgen auf fünf Albumseiten seine visuellen Kriegserinnerungen aus Kulmsee (poln. Chełmża), Płock, Bromberg (poln. Bydgoszcz) und Kutno, wo die Entscheidungsschlacht zwischen der polnischen Armee und der Wehrmacht an der Bzura stattfand. Abb. 1: „Blick vom Beobachtungssitz weit in polnisches Land“. Aus dem Album von Friedrich Bilges 69 petra bopp Abb. 2: Gezeichnete Landkarte Polen 1939. Aus dem Album von Hans-Georg Schulz Von den rund 180 000 polnischen Soldaten, die im Kessel an der Bzura in Gefangenschaft gerieten, zeugt ein Foto, das den scheinbar endlosen Zug als undifferenzierte Masse vom sicheren eigenen Trupp aus zeigt. Die Aufnahme nahm Schulz im Tross reitend aus dem Sattel auf. Die Bildunterschrift ruft das Motto des Vormarschs auf – „nach Osten!“ Die Dominanz über die besiegten polnischen Truppen zeigt sich in der dichotomischen Formulierung des „sie“ und „wir“ und entspricht auf der Bildebene dem Blick von oben (reitend) auf die zu Fuß marschierenden Polen in der Gegenrichtung. Die Nahaufnahme, die Schulz inmitten der Kameraden vor der schwarzen Rauchwand fotografierte, verweist auf die Tagesbefehle der Wehrmachtführung der Heeresgruppe Nord, zu der das IR 8 gehörte: „Wird hinter der Front aus einem Haus geschossen, so wird das Haus niedergebrannt. […] wird aus einem Dorf hinter der Front geschossen und ist das Haus, aus dem das Feuer kam, nicht festzustellen, so wird das ganze Dorf niedergebrannt.“1 Am Ende der sechs Albumseiten mit 42 Fotos zur polnischen Invasion montierte Schulz die Aufnahme eines zerstörten deutschen Flugzeugs, eines zerschos1 70 Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, Befehl an Armeen von 10. 9. 1939, zit. nach Jochen Böhler, Die Wehrmacht in Polen 1939 und die Anfänge des Vernichtungskrieges, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hrsg.), „Größte Härte …“ Verbrechen der Wehrmacht in Polen. September/Oktober 1939, Ausstellungskatalog, Osnabrück 2005, S. 18. „Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten Abb. 3: „Sie marschieren nach Berlin, wir nach Osten!“ Aus dem Album von Hans-Georg Schulz Abb. 4: „In einem brennenden Dorf“ Aus dem Album von Hans-Georg Schulz 71 petra bopp senen polnischen Dorfes und das Foto eines deutschen Soldatengrabes „Bei Kutno“. Im Bildausschnitt überhöht der Amateurfotograf den Blick auf das aufgeschüttete Grab mit Holzkreuz und Stahlhelm in extremer Untersicht und im Gegenlicht und bedient damit das Stereotyp für die Darstellung des „Heldengrabs“ in vielen Kriegsalben. Tote Polen hingegen finden sich lediglich als Leichen am Wegrand. „14 000 Juden aus Pultusk“ schrieb der Soldat Hermann Jaspers auf den Rand seines Fotos, das jüdische Zivilbevölkerung aus der Stadt Pułtusk zeigt. Unter der Bewachung von deutscher Feldgendarmerie werden Männer, Frauen und Kinder mit ihrem Hab und Gut über eine Brücke getrieben. Jaspers dokumentierte auf drei Albumseiten die Zerstörungen und Folgen der deutschen Invasion im Gebiet des nördlichen Masowien. Am 11. September 1939 erreichten die Truppen der Wehrmacht den Ort Kałuszyn, in dem die gesamte jüdische Bevölkerung in einer Kirche gefangen gehalten und gefoltert wurde. Fotos von Häuserruinen, von der abgeführten jüdischen und flüchtenden Zivilbevölkerung, Reste von Schornsteinen an den Dorfstraßen, Zerstörungen bei Różan und Trümmerstraßen in Warschau. Mit dem Führererlass vom 8. Oktober 1939 wurde das Territorium von Ostpreußen um ein Drittel vergrößert.2 Als „Zielpunkt reichsdeutscher Siedlungs- und Bevölkerungspolitik“ wurden Teile der polnischen Bevölkerung und alle jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner ausgewiesen, um Deutsche aus Ostpreußen und anderen Orten des Reichsgebietes anzusiedeln. Die Fotos von Jaspers geben einzelne Situationen dieser Vertreibungs- und Vernichtungspolitik wieder. 2. Einübung des Fotografierens im Krieg Die Bedingungen für die Fülle an privater Fotoproduktion zu Beginn des Zweiten Weltkrieges proklamierte Joseph Goebbels mit seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Die Kamera“ im November 1933 in Berlin: „Wir glauben an die Objektivität der Kamera und sind skeptisch gegen das, was uns durch das Gehör oder durch Lettern vermittelt wird. […] Der Mensch unserer Tage […] will selber sehen, und er hat bei dem hohen Stand der Fotokunst und illustrierten Presse auch ein Anrecht darauf. Er kann verlangen, dass man ihm […] heutzutage schwarz auf weiß – das heißt im Foto – beweist, dass eine neue Zeit heraufgestiegen ist […]. Hier wird unser modernes künstliches Auge, 2 72 Vgl. Ralf Meindl, Ostpreußens Gauleiter: Erich Koch – eine politische Biographie, Osnabrück 2007, S. 249–295: siehe dazu auch Christhardt Henschel, Das nördliche Masowien zwischen polnischer Staatlichkeit und deutscher Besatzungsherrschaft in der Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Deutsches Historisches Institut (DHI) Warschau, Forschungsprogramm „Gewalt und Fremdherrschaft im ‚Zeitalter der Extreme‘“, Teilprojekt 2, www.dhi.waw.pl/forschung/forschungs programm/gewalt-und-fremdherrschaft.html [17. 5. 2019]. „Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten Abb. 5: „Ein toter Pole“ Aus dem Album von Hans-Georg Schulz Abb. 6: „14 000 Juden aus Pultusk“ Aus dem Album von Hermann Jaspers 73 petra bopp die Kamera, zum Schwurzeugen für die neue Zeit. Das Erlebnis des Einzelnen ist zum Volkserlebnis geworden, und das nur durch die Kamera. […] So erfüllt gerade das Foto in diesen Tagen eine hohe politische Mission, an der jeder Deutsche mitwirken sollte, der im Besitz einer Kamera ist. […] Das Lichtbild ist ein sichtbarer Ausdruck für die Höhe unserer Kultur; den Wert der Lichtbildnerei nicht nur für das Künstlerische leben, sondern vor allem auch für den praktischen Daseinskampf in vollem Umfang zu erkennen, und die Fotografie […] in den Dienst der deutschen Sache zu stellen, ist Aufgabe dieser Ausstellung.“3 Mit diesen Ausführungen forderte Goebbels ein „Millionenheer von Amateurphotographen“4 zur nationalen Erziehung im Sinn der nationalsozialistischen Propaganda. Er bemächtigte sich damit der vielfältigen Vereine und Verbände der Amateurfotografen und Knipser, die seit den 1920er-Jahren in Deutschland bestanden und die private Fotografie nuancenreich weiterentwickelt hatten. Im Herbst 1933 wurden sowohl die professionellen Bildjournalistinnen und -journalisten der Zensur des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda unterstellt als auch die Amateurfotografenvereine im NSDAP Reichsverband Deutscher Amateurphotographen (RDA) zusammengefasst mit den zentralen Aufgaben: „Alle Volksgenossen, die Fotoapparate besitzen, sind zu veranlassen, ihre Kamera in den Dienst der Aufbauarbeit der Reichsregierung zu stellen. Einwandfreie Bilder […] werden unentgeltlich eingesammelt und dem Ministerium zugeleitet, um sie propagandistisch zu verwerten. Den Volksgenossen ist klarzumachen, dass sie ihre Kamera nicht nur zum Vergnügen besitzen.“5 Mit Familien-, Heimat- und Arbeitsfotos, gefördert durch Wettbewerbe und Kurse der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ (KdF) sollten die Amateure und Knipser an der „Aufbauarbeit der Reichsregierung“ mitarbeiten. „Fotokurse für jedermann“6 gaben Anleitungen für die richtige Technik und Motivwahl mit dem Ziel, die Fotografie als „Bildschrift des Volkes“7 zu etablieren. Ergebnisse dieser Instrumentalisierung zeigten sich 1937 bei der zweiten großen Leistungsschau des NS in Berlin: „Gebt mir vier Jahre Zeit“. Die „Armee der Amateurfotografen“8 präsentierte mit 800 Aufnahmen Motive aus den Wettbewerben „Arbeitsdienstmänner bei Erdarbeiten, Manöver der Wehrmacht, Das ganze Volk hinter dem Führer“. Mit den Erzeugnissen der deutschen Fotoindustrie und den Aufnahmen der Berufs- und Amateurfotografen stand diese Bildpolitik auch 3 4 5 6 7 8 74 Joseph Goebbels, Eröffnungsrede, in: Druck und Reproduktion (1933) 1, S. 3–6. Willy Frerk, Das Erlebnis des Einzelnen ist zu einem Volkserlebnis geworden und das durch die Kamera!, in: Photofreund (1933), S. 417. Aus der Chronik des Deutschen Verbandes für Fotografie (DVF), S. 23, https://www.dvf-westfa len.de/dvf/Datenpool/dvf-chronik-1908-1998.pdf [22. 6. 2019]. Timm Starl, Knipser. Eine Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München 1995, S. 103. Willy Stiewe, Foto und Volk, Halle 1933, S. 9. Der Photo-Fachhändler 8 (1937), S. 288. „Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten im Mittelpunkt des deutschen Pavillons auf der Weltausstellung in Paris im gleichen Jahr.9 Sogenannte Bildwarte sammelten Amateuraufnahmen der „Arbeitswelt, der Jugend beim Sport, der Volksgemeinschaft bei Aufmärschen“10 für Archive, Ämter und Organisationen.11 Es wurden keine „schönen Fotos“ gesucht, sondern „Dokumente der Zeitgeschichte. Solche, die der Berufsmann nicht zeigt“.12 Nach dieser massiven Indienstnahme der privaten Fotografie für die offizielle NS-Propaganda und der alle Bereiche vereinnahmenden Instrumentalisierung der Arbeitswelt und Freizeit durch den Staat konnten die Publikationsorgane zwei Jahre später zu Kriegsbeginn 1939 an das nun entstandene „Millionenheer der Amateurphotographen“ appellieren: „Für den Soldaten ist es unbedingte Pflicht, gerade jetzt die Kamera nicht ruhen zu lassen.“13 Die Einübung in das Fotografieren von Kameraden, Truppenverbänden, vom Kasernenleben und Exerzieren begann lange vor Kriegsbeginn mit den Alben der Hitlerjugend (HJ) und des Reichsarbeitsdienstes (RAD). In diesen meist vor-normierten Alben überwiegt die Einbindung des Einzelnen in die Gruppe, eine Sichtweise, die sich zu Beginn eines jeden Kriegsalbums mit der Vereidigung und den ersten Bildern in Uniform wiederholt. Im Jahr 1939 besaßen rund zehn Prozent der Bevölkerung einen Fotoapparat, und so folgten viele Männer und Frauen bereitwillig dem Appell: „Die an der Front möchten uns mehr Soldatenbilder zum Abdruck in der Fotografie senden als bisher […], die in der Heimat möchten unseren fotointeressierten Soldaten persönliche Fotos, aber auch Foto-Zeitschriften und Bücher senden.“14 Nach den positiven Erfahrungen der millionenfachen Amateur- und Knipserfotografie im Ersten Weltkrieg entwickelten Kodak, Agfa, Zeiss-Ikon und Voigtländer in den 1920er-Jahren noch leichtere und einfacher zu bedienende Mittelformat- und Kleinbildsucherkameras, die die Soldaten im Zweiten Weltkrieg dann vor allem benutzten. Als Einstiegsmodell – auch schon für Jugendliche – wurde häufig die Agfa-Box für 4,– Reichsmark bevorzugt. Bis 1933 wurden von diesem Modell über eine Million Apparate verkauft. Dazu ein Zitat von Willy Stiewe von 1933: „Erstens ist die Kamera so verbilligt, dass sie sich jeder Arbeiter der Stirn und der Faust leisten kann, und zweitens birgt sie, wie wir gesehen haben, einen ideellen Wert. Ferner hat das volkstümlich gewordene Fotografieren eine ungewöhnlich stark ankurbelnde Wirkung auf die gesamte 9 10 11 12 13 14 Vgl. Herbert Starke, Fotografische Notizen von der Weltausstellung Paris 1937, in: Fotoblätter 14 (1937) 12, S. 370. Wilhelm Schöppe, Das neue Deutschland, Sommer Wettbewerb des Foto-Betrachters, in: Der Foto-Beobachter (1938) 5, S. 123. Paul Grobleben, Heimatfotografie. Ein neues Jahr, neue Aufgaben, in: Photofreund (1934) 1, S. 7–8. Reichsbund Deutscher Amateurphotographen, Fotos, die gesucht werden, in: Der Foto-Beobachter (1937) 12, S. 320. Herbert Starke, Und trotzdem: Amateurfotografie!, in: Photofreund (1939), S. 349. O. V., Soldaten-Weihnacht 1940, in: Die Fotografie mit Spiegelreflex-Kameras (1940) 42. 75 petra bopp Fotoindustrie.“15 Anspruchsvollere Knipserinnen und Knipser bevorzugten die Agfa Billy als einfache Kamera mit dem Format 6 x 9 und die Kodak Retina oder die ZeissIkon Contax, die wegen ihrer kompakten Größen, der qualitätvollen Objektive und des niedrigen Preises sehr beliebt waren. Geübte Amateur- und Berufsfotografen benutzten gerne Voigtländer-Kameras oder – wie die Propaganda-Kompanien – eine Leica. Neben den jährlichen Ausstellungen sorgten vor allem die verbands- und firmeneigenen Fotozeitschriften für die Verbreitung der NS-Sprach- und Bildparolen. Agfa gab die „Photoblätter“ heraus, in der die Firma Produktwerbung betrieb, aber auch Ratschläge für Amateure und Knipser publizierte. Häufig finden sich zu den Abbildungen genaue Angaben zu Filmmaterial, Kameratyp, Blende und Belichtungszeit. Nach Kriegsbeginn behandelten Artikel und spezielle Beilagen die Belange der fotografierenden Soldaten.16 Mit Kriegsbeginn bewarb die Fotoindustrie ihre Produkte wie Kameras, Filme und Fotopapier immer häufiger mit Fotos von Soldaten, und auch die „Photoblätter“ druckten Artikel zu fotografierenden Soldaten und zur Herstellung von Fotoalben im Krieg.17 Bildbestellung „Unsere Soldaten photographieren gern und viel“,18 sagte 1941 ein Fotolaborbesitzer zu einer Kundin und sortierte Aufnahmen des Soldaten Georg zu einem „Musterbuch“ der Fronterlebnisse, das die die ganze Kompanie bestellen konnte. Motive des „Musterbuchs“ sind „zerstörte Dörfer, Gehöfte und Untermenschen in Polen“, in Frankreich „Ruinen und Volkstypen“, die die Kamera von Georg einfing. So sorgte nicht nur die publizistische Propaganda in den Tageszeitungen und Magazinen für die Verbreitung der Feindbilder, auch die Fotohandlungen und die Fotoindustrie bewarben ihre Produkte in großem Umfang mit Motiven von fotografierenden Soldaten. Einige Soldaten übernahmen die Bildbestellung und -verteilung für die Truppe. Sie notierten die Namen der Besteller auf der Rückseite der Fotos oder in Bestellheften, schickten die Angaben an das heimische Fotolabor, das die Fotos aus der Bestellaktion an die Front zurückschickte. Dort wurden die Fotos sortiert und verteilt. 15 16 17 18 76 Stiewe, Foto und Volk. Vgl. Wehrphotographische Mitteilungen für die Bildstellen und Labors der gesamten Wehrmacht einschließlich der PK und der SS-Formationen, in: Photoblätter 18 (1941). Heinz Tischer, 10 Minuten Flakfeuer; „Soldaten photographieren Soldaten“; Kriegsphotographie; B. Kretzschmar, Die Camera ging mit in den Krieg; Dr. Weizsäcker, Vom Amateur zum Bildberichterstatter; alle Artikel in: Photoblätter 18 (1941). Ebenda, S. 29. „Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten Abb. 7: Ein Soldat sortiert und beschriftet Fotos von Nachbestellungen. Alben Mit dem ersten Kriegsjahr gewann auch das Fotoalbum, das bereits auf eine lange Tradition zurückblickte, eine besondere Bedeutung. Zu den üblichen Familien- und Reisealben der 1920er-Jahre traten seit 1939 die vorgedruckten offiziellen Alben der Fotoindustrie mit den genormten Einbänden wie „Erinnerungen an meine Dienstzeit“, häufig mit den Insignien Hakenkreuz, Eichenlaub und Adler. Kriegsalben sind besondere Alben, die häufig eine von der Familiengeschichte hermetisch abgegrenzte Geschichte erzählen. Sie folgen einem inneren Aufbau, meist chronologisch, der die Kriegserlebnisse eines Menschen aus seiner ihm eigenen Wahrnehmung heraus erzählt. Einige wurden zeitnah im Fronturlaub angelegt, andere noch während des Krieges nach einer Verwundung, wenn eine Rückkehr zur Front nicht mehr möglich war. Viele Alben entstanden jedoch erst nach dem Krieg, häufig nach der Kriegsgefangenschaft. Nicht alle Fotos sind in Alben geklebt, Schachteln, Kisten und Pergamintüten dienen als Aufbewahrungsorte für Fotos, Negative, Dias und vereinzelt finden sich auch Schmalfilme im Format Normal 8.19 In den Fotozeitschriften wurden Anleitungen zur Herstellung der Alben publiziert. Erläuterungen zu Fotokarton, Beschriftung, Format, Kleber und Fotoecken sollten die eigene Herstellung unterstützen. Das „Kriegstagebuch mit Photos, Kartenskizzen, 19 Vgl. Harriet Eder/Thomas Kufus, Mein Krieg, BRD 1989/90. 77 petra bopp Zeitungsausschnitten“20 stand – thematisch sortiert – neben Urlaubs- und Familienalben. Das Album strukturiert und konstruiert die Erinnerung an den Krieg. Bei der Gestaltung der Seiten und bei der Auswahl der Fotos wurden die biografische Erzählung und die subjektive Interpretation der Kriegsereignisse für Kameraden, Freunde und Familienangehörige schon mitgedacht. Ein entscheidendes Merkmal für das Narrativ der Kriegsalben waren die Bildunterschriften und schriftlichen Anmerkungen zu den Fotografien. Hier zeigte sich am offensichtlichsten der Einfluss der Kriegspropaganda, wenn zu Fotomotiven der Zivilistinnen, Zivilisten und Gefangenen in den besetzten Ländern und an der Front die oft zynischen und abschätzigen Beschreibungen traten. 3. Polen 19. August bis 14. Oktober 1939 Ein anonymes Album des Überfalls auf Polen21 zeigt exemplarisch bereits zu Kriegsbeginn, wie genau die Hinweise für Kriegsalben befolgt und wie präzise Orts- und Zeitangaben bei der Montage von Bild und Schrift eingehalten wurden Eingebunden in einen neutralen ockerfarbenen Umschlag umfasst das Album rund 25 Blätter aus dunklem Fotokarton mit 238 Fotografien. Der Soldat der AufklärungsAbteilung 7 der 7. Bayerischen Infanterie-Division berichtet zunächst von den Vorbereitungen der Invasion vom 19. bis 31. August 1939. Auf 15 Seiten demonstrieren rund 80 Fotos die Verlegung der Truppe nach Niederschlesien zu Übungen und weiter nach Kreuzburg (poln. Kluczbork) und Schnorke (poln. Ciarka) für die Bereitstellung nahe der Grenze. Fotos vom Soldatenalltag und von Kameradschaftsspielen im Gelände werden immer wieder annotiert mit „Wir hören Nachrichten“, „Wann geht es nach Polen?“ und „Letzte Vorbereitungen“. Mit der Überschrift „Einmarsch nach Polen“ beginnt die Tag-für-Tag-Notierung des Überfalls: Am 1. September sind es Fotos von Straßen und Brücken, Dörfern und Häusern, die den Einfall in polnisches Terrain visualisieren. Am 3./4. September folgen den Aufnahmen der Schwadronen bei der Ortsdurchfahrt von Rawa erste Fotos von Zerstörungen und Toten: „Ruinen und Leichen“. Dem Bildausschnitt und den oft unscharfen Bildern nach zu urteilen wurden viele Aufnahmen vom Motorrad aus gemacht. Begegnungen mit der Dorfbevölkerung endeten oft mit dem Raub von Tieren von den Bauernhöfen nach der später üblichen Praxis des „Lebens aus dem Lande“: 6. September „Sie machen Fleisch“, „Da fliegen die Federn“. Am 10. September zeigt ein Foto den „Gefechtsstand der Schwadron“ bereits vor Warschau mit „Sendemast“ und „Beobachter“. Brennende Ortschaften wie Janów verweisen auf harte Kämpfe, die jedoch für die Aufklärungs-Abteilung mit dem „Marsch in die Ruhestellung“ beendet waren. Vom 20 21 78 Hans Leonhardt, Das Photoalbum im Kriege, in: Photoblätter 20 (1943), S. 6. Album anonym, Polen, 19. August bis 14. Oktober 1939, Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie, Inv.Nr. 2009/253-1. „Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten Abb. 8: Titelseite des Albums. Abb. 9: „Einmarsch nach Polen 1. Sept. 39“ Abb. 10: „In Rawa“ 79 petra bopp Abb. 11: „In Janow“ 80 „Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten Abb. 12: „Juden und Ghetto in Opoczno“ 81 petra bopp 24. September bis 10. Oktober befindet sich die Truppe in einer polnischen Fabrik in Opoczno. Neben Ausbesserungen und militärischen Übungen fotografierte der Soldat auch das jüdische Stadtviertel und seine Bewohnerinnen und Bewohner und bezeichnete es im Album bereits als „Ghetto“, obwohl es als solches unter der NS-Besatzung erst im November/Dezember 1940 zwangseingerichtet wurde. Dabei bleibt er in Distanz zu der jüdischen Bevölkerung, vermeidet Nahaufnahmen und betont in der Bildunterschrift die kulturelle Differenz: „Im Okt. noch Barfuss“. Auf den letzten fünf Seiten des Albums erinnern sieben Fotos von Gräbern auf einem „Heldenfriedhof“ an die deutschen Gefallenen, bevor fünf weitere Fotos den siegreichen Einzug der Truppe unter General Eugen Ritter von Schobert in München dokumentieren. Diese visuelle Agenda mit über 200 Fotos eines Soldaten der 3. Schwadron der Aufklärungs-Abteilung 7 über den Zeitraum von fast zwei Monaten enthält exemplarisch schon alle Themen und Motive von privaten Alben aus dem Zweiten Weltkrieg: Soldatenalltag im Feld, „Leben aus dem Lande“, Raub, Brand, Zerstörung, Vernichtung, Gefangene, Verachtung gegenüber der Zivilbevölkerung, Tod. Die Montage der Fotos ist symmetrisch gestaltet, die Beschriftung läuft gleichförmig durch. Das Album wurde mit Sicherheit kurz nach der Invasion im Bewusstsein des siegreichen Kampfes als repräsentatives Bildwerk angelegt. Dies unterscheidet es allerdings von den Alben der künftigen Kriegsjahre, die häufig den verlustreichen Verlauf und die oft traumatischen Ereignisse auch in der Anlage des Albums und seinen Bildunterschriften widerspiegeln. 4. Die Bedeutung der Kriegsalben heute Die Vielschichtigkeit der privaten Fotografie im Hinblick auf fotografische Intention, Motive und Bedeutung unterscheidet sich von den Einzelmotiven professioneller Fotografen der Propaganda-Kompanien, die ideologisch eindeutige Aufträge zu erfüllen hatten. Mit der Aufforderung von Goebbels an die Soldaten zu Beginn des Krieges versuchte die NS-Propaganda die private Fotografie der Knipser und Amateure weitgehend zu kontrollieren, indem sie sie mit Kompaniealben, Bilderlisten und Ausstellungen in die öffentliche Verbreitung miteinbezog. Aber im Lauf des Krieges verselbstständigte sich die Sicht auf das Geschehen an der Front, auf Tod und Vernichtung. Auch explizite Fotoverbote von Exekutionen22 konnten die Soldaten nicht am Fotografieren dieser Motive hindern. So entstanden individuell konstruierte Erinnerungsräume einer ganzen Generation, die für heutige Betrachterinnen und Betrachter den Blick frei geben auf die subjektive Sicht des Krieges. Sie zeigen, wie der Krieg gesehen wurde, nicht, wie er war. Nach dem Krieg verschwanden die Fotokonvolute vielfach in den Schränken, die Texte zu den Bildern, häufig vom NS-Vokabular geprägt, sollten und wollten nicht mehr 22 82 Vgl. Verordnungsblatt der Waffen-SS vom 15. Juni 1941, in: Peter Jahn/Ulrike Schmiegelt (Hrsg.), Foto-Feldpost. Geknipste Kriegserlebnisse 1939–1945, Berlin 2000, S. 75. „Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten gelesen werden. Die Bilder jedoch lassen sich in ihrer Lesart nicht so eindeutig festlegen. Sie zeugen von einem Blick, der das Geschehen nur durch den Sucher der Kamera wahrnimmt. Dies bedeutet zum einen eine massive Distanzierung, die die anderen Sinne wie Geruch und Gehör zum Teil neutralisiert und zu einer versachlichten Wahrnehmung des Gesehenen führt. Der dazwischen geschaltete technische Apparat führt zum „kalten Auge“,23 zur „Abtrennung des Sehvorgangs als eines rein optischen Vorgangs von der übrigen Sinneswahrnehmung und vom Gefühlsleben“ und „befähigt zu jener ‚Härte gegen sich selbst‘, die das höchste Tugend- und Erziehungsideal aller Militärs war“.24 Fotografieren bedeutet jedoch auch ein intensiviertes Sehen, das die Schaulust antreibt und zum Instrument der Luststeigerung, zum „heißen Auge“ werden kann. Die Wahrnehmung im Moment des Blickes durch den Sucher entfernt die Fotografin oder den Fotografen von der Person vor der Kamera, „[…] der andere, selbst wenn er kein Feind ist, gilt uns nur als jemand, den man sehen kann, nicht als jemand, der (wie wir) selbst sieht.“25 In unserer Zeit, in der kriegerische Auseinandersetzungen immer häufiger mit privaten Digitalkameras und Mobiltelefonen aufgenommen und oftmals auch an die Presse weitergeleitet oder ins Internet gestellt werden, bekommen die privaten Blicke und die Montage der Abzüge in den Alben auch vergangener Kriege, besonders die der beiden Weltkriege, eine neue Bedeutung. Anders als die Autoren der Alben interessieren uns heute nicht nur die ikonischen und indexikalischen Ebenen der Fotos für die individuelle Erinnerung, sondern vielmehr die Symbolik und die den Bildern eingeschriebenen kulturellen Codes.26 Diese Sichtweisen unterliegen verschiedenen kulturellen und nationalen Realitätskonstruktionen, tradierten und immer wieder korrigierten, neu formulierten Darstellungsschemata, sowie den spezifischen Visualisierungsmöglichkeiten der Medien selbst.27 Sie bilden das Reservoir für Fragen, die für weitere produktive Auseinandersetzungen genutzt werden können. „Sobald wir anfangen, von Dingen auch nur zu sprechen, deren Erfahrungsort im Privaten und Intimen liegt, stellen wir sie heraus in einen Bereich, in dem sie eine Wirklichkeit erhalten, die sie ungeachtet der Intensität, mit der sie uns betroffen haben mögen, vorher nie erreicht haben.“28 23 24 25 26 27 28 Vgl. Gert Mattenklott, Kalte Augen, in: ders., Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Bd. II, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 47 ff., zit. nach Dieter Reifarth/Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Die Kamera der Henker. Fotografische Selbstzeugnisse des Naziterrors in Osteuropa, in: Fotogeschichte 3 (1983) 7, S. 57–71. Ebenda, S. 57–71. Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, München 2003, S. 86. Vgl. Patricia Holland, „Sweet it is to scan …“ Personal photographs and popular photography, in: Liz Wells (Hrsg.), Photography. A critical introduction, London 1997, S. 107. Vgl. Manuel Köppen, Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg 2005, S. 1. Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 2001, S. 63. 83 petra bopp Literatur Arendt, Hannah, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 2001. Henschel, Christhardt, Das nördliche Masowien zwischen polnischer Staatlichkeit und deutscher Besatzungsherrschaft in der Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Deutsches Historisches Institut (DHI) Warschau, Forschungsprogramm „Gewalt und Fremdherrschaft im ‚Zeitalter der Extreme‘“, Teilprojekt 2, www.dhi.waw.pl/forschung/for schungsprogramm/gewalt-und-fremdherrschaft.html [17. 5. 2019]. Holland, Patricia, „Sweet it is to scan …“. Personal photographs and popular photography, in: Liz Wells (Hrsg.), Photography. A critical introduction, London 1997, S. 107–150. Köppen, Manuel, Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg 2005. Mattenklott, Gert, Kalte Augen, in: ders., Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Bd. II, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 47 ff., zit. nach Dieter Reifarth/ Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Die Kamera der Henker. Fotografische Selbstzeugnisse des Naziterrors in Osteuropa, in: Fotogeschichte 3 (1983) 7, S. 57–71. Meindl, Ralf, Ostpreußens Gauleiter: Erich Koch – eine politische Biographie, Osnabrück 2007. Sontag, Susan, Das Leiden anderer betrachten, München 2003. Starl, Timm, Knipser. Eine Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München 1995. Quellen Anonym, Fotoalbum, Polen, 19. August bis 14. Oktober 1939, Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie, Inv.Nr. 2009/253-1. Der Photo-Fachhändler 8 (1937), S. 288. Frerk, Willy, Das Erlebnis des Einzelnen ist zu einem Volkserlebnis geworden und das durch die Kamera!, in: Photofreund (1933), S. 417. Goebbels, Joseph, Eröffnungsrede, in: Druck und Reproduktion (1933) 1, S. 3–6. Grobleben, Paul, Heimatfotografie. Ein neues Jahr, neue Aufgaben, in: Photofreund (1934) 1, S. 7–8. Kretzschmar, B., Die Camera ging mit in den Krieg, in: Photoblätter 18 (1941). Kriegsphotographie; in: Photoblätter 18 (1941). Leonhardt, Hans, Das Photoalbum im Kriege, in: Photoblätter 20 (1943), S. 6. Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, Befehl an Armeen von 10. 9. 1939, zit. nach Jochen Böhler, Die Wehrmacht in Polen 1939 und die Anfänge des Vernichtungskrieges, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hrsg.), „Größte Härte …“. Verbrechen der Wehrmacht in Polen. September/Oktober 1939, Ausstellungskatalog, Osnabrück 2005, S. 18. 84 „Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten Photoblätter 18 (1941), S. 29. Reichsbund Deutscher Amateurfotografen, Fotos, die gesucht werden, in: Der FotoBeobachter (1937) 12, S. 320. Schöppe, Wilhelm, Das neue Deutschland, Sommer Wettbewerb des Foto-Betrachters, in: Der Foto-Beobachter (1938) 5, S. 123. Soldaten photographieren Soldaten, in: Photoblätter 18 (1941). Soldaten-Weihnacht 1940, in: Die Fotografie mit Spiegelreflex-Kameras (1940) 42. Starke, Herbert, Fotografische Notizen von der Weltausstellung Paris 1937, in: Fotoblätter 14 (1937) 12, S. 370. – Und trotzdem: Amateurphotographie!, in: Photofreund 1939, S. 349. Stiewe, Willy, Foto und Volk, Halle 1933. Tischer, Heinz, 10 Minuten Flakfeuer, in: Photoblätter 18 (1941). Verordnungsblatt der Waffen-SS vom 15. Juni 1941, in: Peter Jahn/Ulrike Schmiegelt (Hrsg.), Foto-Feldpost. Geknipste Kriegserlebnisse 1939–1945, Berlin 2000, S. 75. Wehrphotographische Mitteilungen für die Bildstellen und Labors der gesamten Wehrmacht einschließlich der PK und der SS-Formationen, in: Photoblätter 18 (1941). Weizsäcker, Dr., Vom Amateur zum Bildberichterstatter, in: Photoblätter 18 (1941). Online Deutscher Verband für Fotografie (DVF), Chronik des Deutschen Verbandes für Fotografie, https://www.dvf-westfalen.de/dvf/Datenpool/dvf-chronik-1908-1998.pdf [22. 6. 2019]. Film Harriet Eder/Thomas Kufus, Mein Krieg, BRD 1989/90. 85 Paweł Machcewicz Kriegserinnerung und -wahrnehmung in Polen Der Zweite Weltkrieg bleibt im polnischen kollektiven Gedächtnis eine Schlüsselerfahrung, die in der Belletristik, im Film, in der Massenkultur und selbstverständlich im Schulunterricht sowie bei staatlichen Feierlichkeiten stark präsent ist. Obwohl inzwischen mehr als siebzig Jahre seit dem Kriegsende vergangen sind und der Anteil derer, die diese Zeit selbst erlebt haben, in der heutigen Bevölkerung relativ gering ist, weckt der Krieg in der polnischen Gesellschaft weiterhin lebhafte Emotionen und führt zu politischen Auseinandersetzungen über die Frage, wie er interpretiert und dargestellt werden soll. Ein Beispiel dafür ist der Konflikt um die Eröffnung des Museums des Zweiten Weltkrieges in Danzig im Jahr 2017, der sich in den vergangenen Jahren als die wichtigste und mit besonderer Vehemenz geführte öffentliche Geschichtskontroverse erwies. Es soll hier versucht werden, in tiefere Schichten der polnischen Kriegserinnerung und -wahrnehmung vorzudringen, die sich nicht allein auf politische Auseinandersetzungen zurückführen lassen. Diese haben im Übrigen weit mehr gemeinsam mit der sich schnell verändernden Gegenwart und den politischen Intentionen als mit der wirklichen Erfahrung der Jahre 1939–1945 und der Art, wie sie von der Erlebnisgeneration erinnert oder von jüngeren Generationen wahrgenommen wird. Letztere bilden sich ihre Vorstellung vom Krieg sowohl aus dem Familiengedächtnis (dem „kommunikativen Gedächtnis“, wie es Jan Assmann bezeichnet)1 als auch aus dem kulturellen Gedächtnis, das sich aus der Sozialisation in einer Gesellschaft ergibt, die bestimmte Muster und Rituale des Gedenkens an gemeinschaftliche historische Erfahrungen pflegt. Meinungsumfragen, die im Jahr 2009 im Auftrag des Museums des Zweiten Weltkrieges in Danzig von dem renommierten Warschauer Institut Pentor durchgeführt wurden, eröffnen die Chance, eine authentische gesellschaftliche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu rekonstruieren. Die Ergebnisse wurden von führenden polnischen Soziologinnen und Soziologen ausgewertet, die schon zuvor zahlreiche Analysen des polnischen historischen Gedächtnisses, nicht nur zum Bereich des Zweiten Weltkriegs, publiziert hatten. Die Erhebungen von 2009 waren nach dem Fall des kommunistischen Systems 1989 der erste komplexe Versuch, die Kriegserinnerung in Polen zu diagnostizieren. Zur Zeit der Volksrepublik waren soziologische Untersuchungen wegen der politischen Beschränkungen und der Zensur nur von begrenztem Wert. Das offizielle Gedächtnis hatte selektiven Charakter, denn alles, was mit der Aggression, Okkupation und Repression vonseiten der Sowjetunion zu tun hatte, stand außerhalb der Betrachtung, wie beispielsweise das für die polnische Erinnerung so bedeutende Verbrechen von Katyń und 1 Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis: Zehn Studien, München 2000. 87 paWeł maChCeWiCz der Verlust eines beträchtlichen Teils des polnischen Staatsgebietes zugunsten der Sowjetunion. Aber auch die soziologischen Forschungen nach 1989 im demokratischen und unabhängigen Polen bezogen sich nur auf Teilbereiche der Kriegserfahrung. Sie konzentrierten sich, meist im Zusammenhang mit bestimmten Jahrestagen, auf ausgewählte Ereignisse und Probleme. Nach 2009 wurden keine fortlaufenden, ähnlich komplexen und systematischen Erhebungen zur Kriegserinnerung mehr durchgeführt. Daher sind die hier skizzierten Ergebnisse die aktuellsten. Sie bilden im Grunde den einzigen ganzheitlichen Versuch, ein Bild von der Wahrnehmung des Krieges in der modernen polnischen Gesellschaft zu zeichnen. Die Erhebungen basieren auf einer repräsentativen Stichprobe von 1200 erwachsenen Polinnen und Polen, die nach Alter, Bildungsniveau und Wohnort ausgewählt wurden. Die quantitativen Erhebungen wurden durch qualitative Daten ergänzt, die sich auf vertiefende Gespräche in zwölf fokussierten Diskussionsgruppen stützten. Diese wurden in verschiedenen Regionen Polens geführt, die die unterschiedlichen Erfahrungen der Jahre 1939–1945 repräsentieren. Sie umfassten demnach die 1939 an das Deutsche Reich angegliederten Landesteile – Westpreußen (heute: Pomorze Gdańskie), Großpolen und Ostoberschlesien –, das Gebiet des von den Deutschen im Oktober 1939 geschaffenen sogenannten Generalgouvernements (Zentralpolen mit Warschau und Krakau) sowie jene Teile des heutigen Ostpolen, die in den Jahren 1939–1941 sowjetisch besetzt gewesen waren (u. a. das Gebiet um Przemyśl und Białystok).2 1. Kriegserfahrungen Aus den quantitativen Daten geht hervor, dass sich die meisten Kriegserinnerungen auf den Alltag und die Erlebnisse der Zivilbevölkerung beziehen. Über diese existenzielle Dimension des Krieges (im Gegensatz zur „heroischen“) sprechen Frauen öfter als Männer, was sich aus ihrer traditionellen Lebenswirklichkeit ergibt (Sorge um die Kinder und den Erhalt der Familie); dies entspricht auch Erhebungen aus anderen Ländern. In den in polnischen Familien geführten Gesprächen über den Krieg wurde am häufigsten das Thema Lebensbedingungen berührt (18,8 %), gefolgt vom Schicksal der Angehörigen, den persönlichen Überlebenserinnerungen (12,4 %) sowie der Zwangsarbeit für die Deutschen (11,2 %). Die übrigen Themen, die jeweils von mehr als 5 Prozent der Befragten angegeben wurden, lauteten: Konzentrationslager, Vernichtungslager (7,7 %), Zwangsaussiedlungen, Vertreibung vom Wohnort (7,6 %), Erfahrung von Hunger, Armut und Mangel, schwere Zeiten (6,8 %), sowjetische Okkupation, Repressionen der Sowjetunion, Deportationen ins Innere der Sowjetunion (6,4 %), Untergrundorganisationen, 2 88 Siehe die tiefergehende Forschungsanalyse in dem Buch von Piotr T. Kwiatkowski/Lech M. Nijakowski/Barbara Szacka/Andrzej Szpociński, Między codziennością a wielką historią. Druga wojna światowa w pamięci zbiorowej społeczeństwa polskiego, Einleitung: Paweł Machcewicz, Historischer Kommentar: Marcin Kula, Danzig/Warschau 2010. KriegSerinnerung und -Wahrnehmung in polen Partisanen und Konspiration (6,0 %), Flucht, Sich-Verstecken, Vermeiden von Gefahren, Verbergen von Besitz (5,9 %), Deutsche, Einmarsch der deutschen Wehrmacht, deutsche Soldaten (5,9 %). Betrachtet man nur die Gruppe der Befragten mit persönlichen Kriegserinnerungen (d. h. der nicht nach 1936 Geborenen), kommt das Bild dem oben genannten, das sich auf die gesamte Stichprobe bezieht, sehr nahe. Personen, die selbst Krieg und Okkupation (die deutsche und/oder sowjetische Besatzung) erlebt hatten, benannten Erinnerungen in der folgenden Reihenfolge: Erfahrung von Armut, Hunger und Not (9,3 %), Bombardierung, Luftangriffe (8,8 %), Zwangsaussiedlung, Vertreibung von Grund und Boden (8,2 %), Flucht, Sich-Verstecken, Vermeiden von Gefahren (7,7 %), Verbergen von Besitz, Einmarsch der Roten Armee 1944/1945 (7,1 %), Exekutionen, Völkermord (6,0 %) sowie Zwangsarbeit für die Deutschen (5,5 %). Auffällig an dieser Kriegserinnerung ist vor allem ihr „ziviler“ Charakter: Nicht Erfahrungen von Menschen in Uniform oder von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Widerstandsbewegung im Untergrund dominieren, sondern von einfachen Leuten, die Armut, Angst und Unterdrückung durch die Besatzer erlebt hatten. Allerdings – hierauf hat Barbara Szacka hingewiesen – spielen Verbindungen zum Widerstand auch keine nebensächliche Rolle: Ein sehr großer Teil der Befragten gibt an, Familienangehörige gehabt zu haben, die am bewaffneten Kampf teilgenommen hatten. 39,2 % nannten Angehörige, die während des Krieges in militärischen Einheiten gedient hatten, 28,2 % hatten Familienmitglieder, die zu konspirativen Organisationen gehört und an verschiedenen Formen des Widerstandes teilgenommen hatten. Trotz allem wird der Krieg in polnischen Familien überwiegend durch das Prisma der alltäglichen und allgemein traumatischen Erfahrungen von Zivilistinnen und Zivilisten erinnert. Dieses Bild des Krieges wurde auch durch die Gespräche in den fokussierten Diskussionsgruppen bestätigt. Selten werden darin Erfahrungen des bewaffneten Kampfes erwähnt, dagegen beträchtlich häufiger Alltagserlebnisse von Familienmitgliedern. „Dies verweist auf die Unterschiede zwischen dem öffentlichen Narrativ vom Krieg als historische Erfahrung und privaten Narrativen vom Krieg als persönliche Erfahrung“, kommentierte die Warschauer Soziologin.3 Dieser Unterschied zwischen der offiziellen Kriegserinnerung, die sich auf die heroische Dimension und den bewaffneten Kampf konzentriert, und einer Alltagserinnerung, die hauptsächlich „zivile“ Erfahrungen umfasst, ist einer der interessantesten und wichtigsten Befunde der Meinungsforschung des Jahres 2009, die das Danziger Museum des Zweiten Weltkriegs in Auftrag gegeben hatte. Die Ergebnisse waren mit ausschlaggebend für die Entscheidung, in der Dauerausstellung, die damals vorbereitet wurde, vor allem die Erfahrungen der Zivilbevölkerung einzubeziehen, natürlich unter Berücksichtigung aller Aspekte des bewaffneten Kampfes, an dem Polen teilgenommen hatten. Dieser Fokus auf die Erfahrungen der Zivilistinnen und Zivilisten geriet dann in 3 Barbara Szacka, II wojna światowa w pamięci rodzinnej, in: Kwiatkowski/Nijakowski/Szacka/ Szpociński, Między codziennością a wielką historią, S. 122. 89 paWeł maChCeWiCz den Mittelpunkt der Kritik am Museum des Zweiten Weltkriegs. Die Vorwürfe kamen vonseiten der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) und ihrer Regierung, die seit dem Frühjahr 2015 im Amt ist, sowie den mit ihr verbundenen Publizistinnen und Historikern. Einer der Kritiker, der im Auftrag des Ministers für Kultur und Nationales Erbe die Ausstellung beurteilte, beanstandete, es handle sich hier vor allem um ein „Museum des Leidens der Zivilbevölkerung“.4 Er ging aber ebenso wenig wie andere mit der PiS verbundene Kritiker des Museums darauf ein, dass die Mehrheit der Polinnen und Polen, wie dies die Untersuchung des Jahres 2009 deutlich gemacht hatte, den Zweiten Weltkrieg auf genau diese Weise betrachtet. 2. Die gesamtpolnische Erinnerung und unterschiedliche regionale Erfahrungen Die Meinungsforschung zeigte auch eine andere wichtige Besonderheit der polnischen Kriegserinnerung und -wahrnehmung, die in keinem der früheren soziologischen Diagnoseversuche so deutlich erfasst worden war. Als wesentliches Charakteristikum stellten sich die regionalen Unterschiede heraus, die vom jeweiligen Kriegsschicksal der Teile Polens abhingen, in denen die Befragten in den Jahren 1939–1945 gelebt hatten, bzw. ihre Nachkommen, die die Erinnerungen ihrer Eltern und Großeltern kannten, lebten. Sie sprachen beispielsweise über Erfahrungen der sowjetischen Okkupation in den Jahren 1939–1941, vor allem über den Terror und die Deportationen ins Innere der Sowjetunion. Bei soziologischen Erhebungen in der Zeit der Volksrepublik war die Veröffentlichung solcher Erfahrungen noch ein Tabu. Jetzt berichteten vor allem jene Befragten darüber, die mit den östlichen Gebieten des heutigen Polen familiär verbunden waren (vor allem mit der Umgebung von Przemyśl im Südosten und von Białystok im Nordosten) oder mit noch weiter östlich gelegenen Landstrichen, die Polen nach dem Zweiten Weltkrieg an die Sowjetunion verloren hatte. Im letzteren Fall waren sie selbst oder ihre Vorfahren in den Jahren während des Krieges oder kurz danach auf das heutige polnische Staatsgebiet in den Staatsgrenzen von 1945 gezogen. In den Aussagen der Befragten wurde auch eine andere, in der kommunistischen Zeit ebenfalls verschwiegene Erfahrung angesprochen, nämlich der Terror der ukrainischen Nationalisten, der sich in den Jahren 1943–1944 gegen die polnische Bevölkerung in Wolhynien und in Ostgalizien (an die Sowjetunion bzw. die heutige Ukraine verlorene Gebiete) gerichtet hatte. Damals wurden etwa 100 000 polnische Zivilistinnen und Zivilisten getötet, und ein noch größerer Teil der Polinnen und Polen musste nach Westen flüchten. Das waren aber nicht die einzigen regionalen Unterschiede in der Kriegserinnerung, die im Laufe der Erhebungen ans Tageslicht kamen. Sehr deutlich angesprochen wurden 4 90 Zu den Auseinandersetzungen über das Museum des Zweiten Weltkriegs und zur Kritik an seinem „zivilen“ Charakter siehe u. a. Paweł Machcewicz, Der umkämpfte Krieg. Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig. Entstehung und Streit,Wiesbaden 2018. KriegSerinnerung und -Wahrnehmung in polen die besonderen Erfahrungen jener Polinnen und Polen, die in den 1939 an das Deutsche Reich angegliederten Gebieten gelebt hatten. Dort hatten die Deutschen die Verfolgung der Polinnen und Polen sowie die Germanisierung (u. a. Schließung aller polnischen Institutionen, Verbot, in öffentlichen Gebäuden die polnische Sprache zu benutzen) noch brutaler und konsequenter durchgeführt als in den Gebieten Zentralpolens, die dem Generalgouvernement zugeschlagen wurden. In den Aussagen der Befragten aus jenen Gebieten dominiert die Erinnerung an den von den Deutschen verübten Terror, und einen wesentlichen Raum nimmt die Erinnerung an die Deportationen ein, bei denen in den Jahren 1939–1940 einige hunderttausend Polinnen und Polen aus ihren Häusern vertrieben, ihres Eigentums beraubt und in das Generalgouvernement „umgesiedelt“ wurden. Ein wichtiger Teil der Erinnerung, besonders in Pommern und Schlesien, bezieht sich auch auf die erzwungene Aufnahme in die Deutsche Volksliste. Diese Germanisierungserfahrung betraf fast drei Millionen Menschen. Hinzu kam der Dienst in der Wehrmacht, den einige hunderttausend Männer ableisten mussten.5 Letztere konnten vorher, im Jahr 1939, Soldaten der polnischen Armee gewesen sein und später noch den polnischen Streitkräften im Westen angehört haben, in die sie an der Westfront massenhaft aus der Wehrmacht desertiert sind. Dies zeigt die gesamte Komplexität der polnischen Schicksale, die in den Erhebungen gut erfasst werden konnten. Menschen, die aus den ans Deutsche Reich angegliederten Gebieten stammen, erinnern sich auch seltener an antideutschen Widerstand und Konspiration, was ganz natürlich ist, da die Auflehnung gegen die Besatzer in diesen Regionen bedeutend schwächer ausgeprägt war als im Generalgouvernement, wo das Übergewicht der polnischen Bevölkerung die Basis für die Untergrundarbeit darstellte. Bezeichnend ist, dass die offizielle Kriegserinnerung in Polen die Erfahrungen der an das Deutsche Reich angegliederten Gebiete in nur geringem Maße berücksichtigt. Belletristik, Filme, Schulbücher und auch das offizielle staatliche Gedenken in der Volksrepublik hatten sich auf die kommunistische Widerstandsbewegung und den Kampf an der Seite der Sowjetunion konzentriert. Nach 1989 wurden dann vor allem der Polnische Untergrundstaat, die Heimatarmee (Armia Krajowa, AK) und der Warschauer Aufstand 1944 thematisiert, die aber nur ein Teil der Polinnen und Polen erlebt hatte, der zahlenmäßig nicht einmal der größte war. Diese Themen korrespondierten mit der Erinnerung derer, die auf dem Gebiet des Generalgouvernements gelebt hatten, vor allem in Warschau. Diese Stadt war trotz des deutschen Terrors während der gesamten Kriegszeit im besetzten Polen die geistige und politische Hauptstadt und Hauptsitz der Intelligenz geblieben, der Gruppe mit der stärksten Vorbildfunktion. Die problematische Erfahrung mit der Volksliste und dem Zwangsdienst in der Wehrmacht wurde nur verschämt behandelt, da sie nicht zum heroischen Bild des Widerstandes passte; im Grunde wurde sie sowohl in der kommunistischen Zeit als auch im freien Polen nach 1989 offiziell verschwiegen. 5 Zu diesem Thema siehe Ryszard Kaczmarek, Polacy w Wehrmachcie, Kraków 2010. 91 paWeł maChCeWiCz Das in den Erhebungen rekonstruierte Familiengedächtnis des Krieges erwies sich als komplex und vielstimmig und in hohem Maße abhängig von der Region, aus der die Befragten oder ihre Vorfahren stammten. Dies war ein empirischer Befund ohne ideologische oder politische Konnotationen. Trotzdem wurde er in Polen Gegenstand einer Kontroverse. Die Kommentatoren der politischen Rechten brachten die Befürchtung zum Ausdruck, die breit gefächerte Kriegserinnerung könnte die nationale Identität der Polinnen und Polen schwächen, indem sie die Verschiedenartigkeit der Erfahrungen der Jahre 1939–1945 unterstreiche anstelle ihres einheitlichen und eindeutigen Bildes, das als Grundlage ihres Patriotismus dient.6 3. Polen und andere Nationen Auf die Frage, welche Bevölkerungsgruppen während des Krieges besonders gelitten hatten, nannten die Befragten am häufigsten zwei: Polinnen und Polen (93,4 %) sowie Jüdinnen und Juden (92,2 %), alle anderen Bevölkerungsgruppen wurden in der Hierarchie im Hinblick auf das erlittene Leid beträchtlich niedriger angesiedelt. Als Nächste in der Reihe wurden die Russinnen und Russen genannt (69,0 %). Einerseits kann man diese Aussagen als Zeichen des Bewusstseins vom tragischen Schicksal der Jüdinnen und Juden während des Krieges betrachten, andererseits auch als Unverständnis, dass die jüdische Bevölkerung von den Nazis zur völligen Vernichtung verurteilt wurde, was ihr Schicksal von dem der Polinnen und Polen unterschied, unabhängig vom massenhaften Terror und der breiten Skala des Völkermords, deren Opfer auch Letztere waren. Generell ergaben die Erhebungen ein Bild der Polinnen und Polen als einer Nation, die sich sowohl des eigenen Martyriums als auch ihres Heldentums bewusst ist. Fast 90 Prozent der Befragten waren der Auffassung, dass sich die Polinnen und Polen „oft“ oder „sehr oft“ im Kampf gegen die Besatzer engagiert hatten, und eine ähnlich hohe Zahl behauptete, dass die Polinnen und Polen „oft“ oder „sehr oft“ Jüdinnen und Juden geholfen hätten. Negative Aspekte der nationalen Geschichte werden wesentlich seltener erinnert. Immerhin haben aber über 70 Prozent der Befragten von dem Verbrechen in Jedwabne gehört, wo im Juli 1941 polnische Einwohner dieser Ortschaft, angestiftet von Deutschen, einige hundert jüdische Nachbarn ermordet hatten.7 Die größte Gruppe der Befragten (37 %) wies indes auf die Verantwortlichkeit der Deutschen hin, und ein beträchtlich geringerer Prozentsatz auf die der Polen. Die zweite Gruppe war durch 6 7 92 Dazu die Stimmen der rechten Kritiker: Andrzej Nowak, Co naprawdę przechowuje polska pamięć, in: Rzeczpospolita, 19. August 2009; Paweł Lisicki, Przeklęta polska pamięć, in: Rzeczpospolita, 22./23. August 2009; die Erwiderung von Paweł Machcewicz, W okopach pamięci, in: Gazeta Wyborcza, 28. August 2009. Siehe Dazu Edmund Dmitrów/Paweł Machcewicz/Tomasz Szarota, Der Beginn der Vernichtung. Zum Mord an den Juden in Jedwabne und Umgebung in Sommer 1941. Neue Forschungsergebnisse polnischer Historiker, Osnabrück 2004. KriegSerinnerung und -Wahrnehmung in polen Historiker darüber informiert gewesen, was in den Jahren 2000–2001 in den Massenmedien breit besprochen worden war. Dies zeigt, wie heftig die Abwehr war, die Fakten über schreckliche, bisher unbekannte Verbrechen unter Beteiligung der polnischen Bevölkerung oder polnischer Hilfskräfte wie die „blaue Polizei“ zur Kenntnis zu nehmen. Interessant ist auch die Wahrnehmung anderer Nationen, besonders jener, die als Verursacher der von den Polen erfahrenen Leiden betrachtet werden. Die Befragten verwiesen auf drei Feinde während des Krieges: die Deutschen, die Russen und die Ukrainer. An erster Stelle standen, wenn es um schlimme Erinnerungen im Familiengedächtnis ging, paradoxerweise die Ukrainerinnen und Ukrainer (63,8 %), erst nach ihnen rangierten (wenn auch mit geringem prozentualen Unterschied) die Deutschen (62,6 %). Dies ist angesichts der riesigen Disproportion in Bezug auf die von beiden Nationen den Polinnen und Polen während des Krieges zugefügten Verbrechen verblüffend. Von den Befragten sprachen auch mehr über „gute“ Kontakte zu Deutschen, die sich im Familiengedächtnis erhalten hatten, als zu Russen oder Ukrainern. Ähnlich tauchten auch in den fokussierten Diskussionen Geschichten vom „guten“ Deutschen auf, der geholfen oder sich wenigstens nicht so brutal verhalten habe, wie er das unter den Bedingungen von Krieg und Besatzung hätte tun können. Dies kann ein Ergebnis der nun schon Jahrzehnte währenden polnisch-deutschen Aussöhnung sein (in den polnisch-russischen oder polnisch-ukrainischen Beziehungen ist dieser Prozess von kürzerer Dauer und anscheinend oberflächlicher) sowie des Abbaus von Barrieren und des gegenseitigen Kennenlernens in größerem Ausmaß. Wie Barbara Szacka anmerkt, wurde „nach der Systemtransformation, nach Polens Beitritt zur Europäischen Union, der Öffnung der Grenzen sowie dem damit verbundenen freien Grenzverkehr und nachdem persönliche Kontakte geknüpft worden waren, das Bild des Deutschen umgeformt. Die Gegenwart überwog die Vergangenheit. Das Bild des Deutschen als ständig bedrohlicher Erbfeind, wie es während der gesamten Zeit der Polnischen Volksrepublik propagiert worden war, ist durch die Realität unhaltbar geworden, und damit wurden die mit ihm verbundenen Emotionen abgeschwächt.“8 Auch in diesem Fall spielten die regionale Differenzierung und das jeweils anders gelagerte Schicksal im Krieg eine Rolle. „Wie die Erhebungen zeigen, ist sich die polnische Gesellschaft in ihrem negativen Bezug auf dieselben Kategorien von Feinden (Russen, Deutsche und Ukrainer) einig, aber in welcher Rangfolge sie erscheinen, ist von den Kriegserfahrungen der Vorfahren und dem Familiengedächtnis abhängig. Allgemein haben Personen, die vor dem 22. Juni 1941 unter der deutschen Besatzung gelebt hatten, ein stärker entwickeltes negatives Bild des Deutschen, während diejenigen, die sich unter sowjetischer Besatzung befunden hatten, sich negativer über Russen und Ukrainer äußerten. Diese zweite Gruppe ist nach den Umsiedlungen und Migrationen der Nachkriegszeit meist in den ‚wiedergewonnenen Gebieten‘ [die bis 1939 zu Deutschland gehört hatten und 1945 von Polen übernommen wurden] ansässig.“9 8 9 Szacka, II wojna światowa, S. 123 f. Lech Nijakowski, Regionalne zróżnicowanie pamięci o II wojnie światowej, in: Kwiatkowski/ Nijakowski/Szacka/Szpociński, Między codziennością a wielką historią, S. 221. 93 paWeł maChCeWiCz Es wäre höchst interessant, solche Fragen zu den einzelnen Nationen nach nunmehr weiteren zehn Jahren, in einer anderen politischen und gesellschaftlichen Situation, erneut zu stellen. Wir würden dann erfahren, ob die antideutsche Propaganda der regierungstreuen Medien in den letzten Jahren, in der Amtszeit der PiS-Regierung, das Bild der Deutschen während des Krieges beeinflussen konnte. Ebenso interessant wäre es andererseits zu beobachten, ob sich das Bild von den Ukrainern im Krieg angesichts der Situation, dass zahlreiche Ukrainerinnen und Ukrainer im Laufe des letzten Jahrzehnts in Polen erwerbstätig und für die polnische Ökonomie und einen größeren Teil der polnischen Gesellschaft unentbehrlich geworden sind, verbessern würde, wenn es im alltäglichen Zusammenleben der beiden Nationen nicht zu spürbaren Spannungen kommt. Ebenfalls bemerkenswert sind die Antworten auf die Frage, wer für den Ausbruch des Krieges verantwortlich sei. Die Mehrheit der Befragten gab sowohl Deutschland als auch die Sowjetunion an. Wenn wir die Aussagen „in entscheidendem Maße“ und „in bedeutendem Maße“ zusammenfassen, entfallen auf Deutschland 96,6 Prozent der Stimmen und auf die Sowjetunion 79,8 Prozent. Der Unterschied ist in diesem Fall also ziemlich beträchtlich, weist aber auch darauf hin, dass die Mehrheit der Befragten der Sowjetunion eine Mitverantwortung zuschreibt, was die polnische Kriegserinnerung deutlich unterscheidet von der, die zurzeit in Westeuropa oder in Deutschland selbst vorherrscht. 4. Die Erinnerung nach dem Kommunismus Ein wichtiger Befund der Erhebungen des Jahres 2009, 20 Jahre nach dem Ende der Volksrepublik Polen, besteht auch darin, dass die Manipulationen des historischen Gedächtnisses, die von den regierenden Kommunisten mit großem Aufwand an Kräften und Mitteln über vier Jahrzehnte betrieben wurden, gegenwärtig kaum mehr sichtbar sind. Die Erinnerung an den Krieg und seine Wahrnehmung trägt keine deutlichen politischen und propagandistischen Spuren der Verzerrungen aus dieser Zeit. Im Pantheon der Kriegshelden gibt es auf den vorderen Plätzen keine einzige Person mehr, die mit der kommunistischen Bewegung verbunden ist. Der Kult um sie war vor 1989 durch den gesamten Staatsapparat, die offizielle Propaganda und die Schulen aufgebaut worden. An erster Stelle unter denen, an die mit Anerkennung erinnert werden sollte, nennen die Befragten General Władysław Sikorski, den Premier der Exilregierung in London und Oberbefehlshaber der Jahre 1939–1943, sowie Władysław Anders, den Befehlshaber des II. Corps, das an der italienischen Front gekämpft und Monte Cassino erobert hatte. Beide wurden in kommunistischer Zeit verschwiegen oder geschmäht, Anders wegen seiner antikommunistischen Haltung. Als Helden nannten die Befragten am häufigsten auch Irena Sendler, die im Warschauer Ghetto jüdische Kinder gerettet hatte, worüber man erst in jüngster Zeit allgemein zu sprechen begann, sowie die Befehlshaber und Offiziere der Heimatarmee (Armia Krajowa, AK), General Emil Fieldorf und Rittmeister Witold Pilecki. Beide Männer wurden nach 1945 in von den Kommunisten fingierten 94 KriegSerinnerung und -Wahrnehmung in polen Gerichtsverfahren verurteilt und hingerichtet. Sie wurden in der Zeit bis 1989 konsequent totgeschwiegen. Die Mehrheit der Polinnen und Polen kennt auch die grundlegenden Fakten über die sowjetische Aggression gegen Polen 1939 und über die Verbrechen von Katyń, was vielleicht nicht so überraschend ist, da dies trotz des Verschweigens und aller Lügen der kommunistischen Zeit stets ein wichtiger Teil des nichtoffiziellen Familiengedächtnisses war. Diese Themen wurden seit den 1970er-Jahren unter Umgehung der Zensur auch in illegalen Publikationen oppositioneller Kreise konsequent aufgegriffen. Überraschender ist wohl der Befund, dass bis zu 57 Prozent der Befragten angaben, von den während des Krieges von Ukrainern begangenen Verbrechen an Polinnen und Polen gehört zu haben. In kommunistischer Zeit wurde über dieses Thema überhaupt nicht gesprochen, und auch im ersten Jahrzehnt nach 1989 wurde es selten öffentlich erwähnt. Das historische Gedächtnis des Krieges erweist sich also langfristig als resistent gegen politische Verzerrungen und als offen für Themen, die aus verschiedenen Gründen jahrzehntelang verschwiegen oder marginalisiert wurden. Daraus kann man optimistische, auch für die Gegenwart wichtige Folgerungen ziehen. Manipulationen von Politikerinnen und Politikern, die Geschichte und Erinnerung als Propagandawerkzeug und Soziotechnik benutzen, erleiden auf lange Sicht bezüglich der authentischen Schichten der Erinnerung eine Niederlage. Literatur Assmann, Jan, Religion und kulturelles Gedächtnis: Zehn Studien, München 2000. Dmitrów, Edmund/Machcewicz, Paweł/Szarota, Tomasz, Der Beginn der Vernichtung. Zum Mord an den Juden in Jedwabne und Umgebung in Sommer 1941. Neue Forschungsergebnisse polnischer Historiker, Osnabrück 2004. Kaczmarek, Ryszard, Polacy w Wehrmachcie, Kraków 2010. Kwiatkowski, Piotr T./Nijakowski, Lech M./Szacka, Barbara/Szpociński, Andrzej, Między codziennością a wielką historią. Druga wojna światowa w pamięci zbiorowej społeczeństwa polskiego, Danzig/Warschau 2010. Lisicki, Paweł, Przeklęta polska pamięć, in: Rzeczpospolita, 22./23. August 2009. Machcewicz, Paweł, Der umkämpfte Krieg. Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig. Entstehung und Streit, Wiesbaden 2018. – W okopach pamięci, in: Gazeta Wyborcza, 28. August 2009. Nijakowski, Lech, Regionalne zróżnicowanie pamięci o II wojnie światowej, in: Piotr T. Kwiatkowski/Lech M. Nijakowski/Barbara Szacka/Andrzej Szpociński, Między codziennością a wielką historią. Druga wojna światowa w pamięci zbiorowej społeczeństwa polskiego, Danzig/Warschau 2010, S. 239–286. Nowak, Andrzej, Co naprawdę przechowuje polska pamięć, in: Rzeczpospolita, 19. August 2009. 95 paWeł maChCeWiCz Szacka, Barbara, II wojna światowa w pamięci rodzinnej, in: Piotr T. Kwiatkowski/ Lech M. Nijakowski/Barbara Szacka/Andrzej Szpociński, Między codziennością a wielką historią. Druga wojna światowa w pamięci zbiorowej społeczeństwa polskiego, Danzig/Warschau 2010, S. 81–132. 96 Irmgard Zündorf „Stumme Zeugnisse 1939“ Ein studentisches Projekt zur Erinnerung an den deutschen Überfall auf Polen Studierende werden zunehmend dazu angehalten, sich im Studium nicht nur theoretisch mit ihren jeweiligen Themenschwerpunkten auseinanderzusetzen, sondern auch praktische Erfahrungen in der Konzeption und Entwicklung eigener Projekte zu sammeln. Im Studiengang Public History an der Freien Universität Berlin1 ist das Ziel sogenannter Praxisprojekte, dass die Studierenden sich sowohl mit der allgemeinen Projektplanung befassen als auch Antworten auf die Frage finden, wie Geschichte einer interessierten, aber nicht fachhistorisch vorgebildeten Öffentlichkeit präsentiert werden kann. Als Orientierungspunkte gelten dabei sowohl geschichtswissenschaftliche als auch geschichtsdidaktische Standards. Die Projekte sollten stets auf dem neuesten Stand der Forschung sein, die benutzte Literatur wie auch die Quellen nachvollziehbar ausgewiesen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter namentlich benannt werden. Das Projekt selbst sollte multiperspektivisch und kontrovers angelegt sein, Kontexte erläutern, Narrative vermitteln, Imaginationen ermöglichen und Emotionen ansprechen, ohne zu überwältigen. Wünschenswert wäre zudem, dass die Projekte im Sinne der Inklusion für eine möglichst breite Öffentlichkeit konzipiert werden und wenn möglich sogar partizipativ als handlungs- und produktionsorientiertes Lernen mit dieser erarbeitet werden.2 Nicht alle genannten Aspekte können in vollem Umfang in jedem Projekt umgesetzt werden. Die Studierenden sollten sich jedoch bei der Arbeit ihrer Verantwortung sowohl gegenüber der Gesellschaft, der sie ihr Projekt vorstellen, als auch gegenüber den historischen Personen, deren Geschichte sie darstellen, bewusst sein.3 Im Folgenden wird das Vorgehen im Praxisprojekt „Stumme Zeugnisse 1939. Der deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten“ von der Klärung der Rahmenbedingungen über die Ausarbeitung der Projektidee bis hin zur Umsetzung erläutert 1 2 3 Nähere Informationen zum Studiengang finden sich auf der Website: https://www.geschkult.fuberlin.de/e/phm [8. 5. 2019]. Martin Lücke/Irmgard Zündorf, Einführung in die Public History, Göttingen 2018, S. 166. Christoph Kühberger/Clemens Sedmak, Die Verantwortung der Historikerinnen und Historiker – Systematische Reflexionen zu einem Teilbereich einer Ethik der Geschichtswissenschaft, in: Christoph Kühberger/Christian Lübke/Thomas Terberger (Hrsg.), Wahre Geschichte – Geschichte als Ware. Die Verantwortung der historischen Forschung für Wissenschaft und Gesellschaft, Rahden 2007, S. 1–26. 97 irmgard zÜndorF und die Frage diskutiert, wie ein Studierendenprojekt nicht nur für die Öffentlichkeit, sondern partizipativ mit dieser entwickelt werden kann und inwieweit dabei geschichtswissenschaftliche und didaktische Grundlagen berücksichtigt werden können. 1. Rahmenbedingungen Dem Projekt stand ein Zeitraum von fast einem Jahr zur Verfügung, um die finanziellen und organisatorischen Bedingungen zu klären, eine Idee für die Ausgestaltung zu entwickeln, die Konzeption auszuarbeiten und schließlich die Präsentation vorzubereiten. Neben dem zeitlichen Rahmen bestanden die weiteren Vorgaben darin, dass, erstens, das Projekt organisatorisch an die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz (GHWK) angebunden wurde. Inhaltlich sollten, zweitens, private Fotografien und Dokumente über den Krieg in Polen 1939 behandelt werden. Als Präsentationsformat war, drittens, eine Online-Ausstellung in deutscher, polnischer und englischer Sprache angedacht, um ein möglichst internationales Publikum zu erreichen. Vorbild war die bereits an der GHWK entwickelte Website über den Überfall auf Polen mit Fotografien des Soldaten Kurt Seeliger.4 Das Team bestand aus Studierenden des Masterstudiengangs Public History der Freien Universität Berlin,5 einer Projektleiterin6 aus der GHWK und einer Projektberaterin7 vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), das auch als Kooperationspartner fungierte. Darüber hinaus standen für die Vertiefung spezieller Fragen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der GHWK und dem ZZF sowie des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden (MHM), das als weiterer Kooperationspartner gewonnen werden konnte, zur Verfügung. Partnerin der Präsentationsveranstaltung im September 2019 war zudem die Polnische Akademie der Wissenschaften. Außerdem wurde im Verlauf des Projekts ein Finanzierungsantrag bei der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) gestellt und bewilligt. Damit standen Mittel für die Beauftragung einer professionellen Webagentur,8 für die Übersetzung der Texte ins Polnische und ins Englische, für ein Lektorat und schließlich auch für die Organisation der Eröffnungsveranstaltung zur Verfügung. 4 5 6 7 8 98 Siehe: Digitale Foto-Ausstellung zum deutschen Überfall auf Polen 1939. Aus dem Bestand Kurt Seeligers, https://onlinesammlungen.ghwk.de/seeliger/ [8. 5. 2019] sowie den Beitrag von Svea Hammerle in diesem Band. Johanna Blender, Sara Elkmann, Marcel Haug, Anna Linnéa Herrmann, Michaela Hofmann, Dario Treiber. Svea Hammerle. Irmgard Zündorf. Es wurde die Agentur Culture to go beauftragt, die bereits eine Online-Ausstellung für die GHWK umgesetzt hat. „Stumme zeugniSSe 1939“ 2. Forschungsstand Im Sinne der oben genannten geschichtswissenschaftlichen Leitlinien musste zunächst eine grundlegende Literaturrecherche erfolgen. Aus der Fülle der Forschungen zum Thema hat sich die Gruppe neben verschiedenen älteren Aufsätzen9 vor allem mit Jochen Böhlers Buch über den Überfall der Wehrmacht auf Polen auseinandergesetzt, um den Verlauf der Kampfhandlungen und die Motivationen der deutschen Soldaten nachvollziehen zu können.10 Böhlers grundlegende These lautet, dass bereits mit den Kriegshandlungen im September 1939 der nationalsozialistische Vernichtungskrieg begann. Das brutale Verhalten der Wehrmachtsoldaten spiegele sowohl die Wirkung der NS-Propaganda wider, die vor polnischen „Freischärlern“ warnte, als auch den Einfluss der NS-Rassenideologie, die im Bewusstsein der Soldaten bereits tief verankert gewesen sei. Im Projekt sollte der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich diese Dispositionen auch in den privaten Fotografien und schriftlichen Aufzeichnungen der Soldaten wiederfinden. Neben der thematischen Literatur zum Zweiten Weltkrieg war es wichtig, Texte zum Umgang mit Bildern und speziell zu Fotografien zu rezipieren. Allen voran sei hier Susan Sontags Buch über Gewaltbilder genannt,11 das eine Grundlage für die Diskussion um die Frage der Darstellbarkeit des Leidens bietet. Die Annäherung an Fotos als Quelle der Geschichtswissenschaft erfolgte darüber hinaus mittels der Texte von Gerhard Paul zur Visual History 12 und von Jens Jäger zur Bildforschung.13 3. Social-Media-Strategie Das Projekt sollte gemäß den oben genannten didaktischen Leitlinien möglichst multiperspektivisch angelegt sein. Dementsprechend galt es, unterschiedliche Quellenbestände, in diesem Fall private Fotoalben und Dokumente, zu sammeln und dabei im Sinne der Partizipation die Öffentlichkeit in das Projekt einzubinden. Da kaum noch ehemalige Wehrmachtsoldaten leben, wurde schnell deutlich, dass nicht die Produzenten 9 10 11 12 13 Wolfgang Jacobsmeyer, Der Überfall auf Polen und der neue Charakter des Krieges, in: Christoph Kleßmann (Hrsg.), September 1939: Krieg, Besatzung, Widerstand in Polen, Göttingen 1989, S. 16–37; Horst Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg“ und seine Auswirkungen auf Nordosteuropa, in: Klaus A. Maier/Horst Rohde/Bernd Stegemann/Hans Umbreit (Hrsg.), Die Errichtung der Hegemonie auf dem Europäischen Kontinent, Stuttgart 1979, S. 79–158. Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006. Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, München 2003. Gerhard Paul, Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006; ders., Bilder des Krieges. Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004. Vgl. Jens Jäger, Photographie. Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung, Tübingen 2000; ders., Fotografie und Geschichte, Frankfurt a. M. 2009. 99 irmgard zÜndorF der Quellen die Ansprechpartner für die Sammlung waren, sondern deren Kinder und Enkelkinder. Um diese als potenzielle Besitzerinnen und Besitzer von Fotoalben wie auch als mögliche Interessentinnen und Interessenten des Projekts zu erreichen, entwickelten die Studierenden eine Social-Media-Strategie. Dafür wurden zunächst die Kanäle ausgewählt, die den Studierenden als besonders sinnvoll für die öffentliche Kommunikation erschienen. In unserem Fall waren dies Twitter, Instagram und Facebook: Twitter, um regelmäßig kurze Nachrichten über den Projektverlauf zu publizieren; Instagram, um dem Medium Fotografie zu entsprechen und schon einmal Einblicke in die ersten Funde zu präsentieren; und schließlich Facebook, um eine, wenn auch aus Sicht der Studierenden bereits veraltete, Plattform für die Präsentation zu nutzen, die vielleicht noch von einer etwas älteren Generation stärker frequentiert wird. Den Start stellte ein Sammelaufruf dar, in dem nach einer kurzen Beschreibung des Themas das Anliegen sowie der Zweck des Projekts erläutert wurden. Dabei sollte deutlich werden, wer die Akteurinnen und Akteure des Projekts waren, worin das Ziel bestand und was den potenziellen Leihgeberinnen und Leihgebern für ihre Beteiligung geboten wurde, nämlich die historische Kontextualisierung der privaten Dokumente, die Kinder und Enkelkinder vielleicht schon gar nicht mehr einordnen können. Die Partizipation der Öffentlichkeit sollte somit über die Abgabe von Fotos und Dokumenten erfolgen sowie über die Weitergabe der von ihnen noch erinnerten Informationen über die Materialien und deren Produzenten. Sehr schnell wurde jedoch deutlich, dass bei den aktuellen Besitzerinnen und Besitzern der Materialien nur relativ wenige weiterführende Informationen vorhanden waren. Die Social-Media-Strategie hatte über die Verbreitung des Sammelaufrufs hinaus das Ziel, das Projekt schon vor der Veröffentlichung bekannt zu machen und es auch darüber hinaus zu begleiten. Daher haben die Studierenden regelmäßig ihre Arbeit kommentiert, aber auch auf andere ähnliche Projekte verwiesen. Um die Reichweite des Aufrufs noch zu erhöhen, wurde zudem eine Medienkooperation mit ZEIT ONLINE und ZEIT Geschichte eingegangen, die sowohl online als auch im gedruckten Heft „Hitlers Krieg. 1939 – Europas Weg in den Abgrund“ auf das Projekt hinwiesen.14 In der Rückschau zeigt sich, dass bei Facebook relativ schnell ein dreistelliger „Freundeskreis“ erreicht werden konnte und sich bei Twitter interessante Diskussionen anbahnten, die Reichweite von Instagram jedoch eher begrenzt blieb. Die meisten konkreten Angebote ergaben sich jedoch aufgrund des Aufrufs bei ZEIT ONLINE. Das bereits etablierte Medium verfügt über eine große Leserschaft, die die User-Zahl der neu angelegten Social-MediaAccounts weit übertraf. Zugleich profitierten diese von den Verweisen auf die ZEIT und konnten ihren eigenen Anhängerkreis erweitern. 14 100 Vgl. Hans-Christian Jasch/Svea Hammerle/Ann-Kristin Tlusty, Überfall auf Polen. Schreiben Sie Geschichte mit, 30. 1. 2019, in: ZEIT ONLINE, https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2019-01/ ueberfall-polen-nazis-zweiter-weltkrieg-fotografien-aufruf#comments [14. 5. 2019]; Fotos gesucht, in: ZEIT Geschichte, Epochen. Menschen. Ideen (2019) 2, S. 111. „Stumme zeugniSSe 1939“ 4. Sammlungsergebnisse Die eingegangenen Fotoalben, Einzelbilder, Tagebücher, Briefe und sonstigen Textquellen wie Postkarten oder auch ein Fluglogbuch wurden zunächst in der Gruppe gesichtet, bevor gemeinsam darüber beraten wurde, welche Dokumente aufgenommen und welche abgelehnt werden sollten. Entscheidendes Kriterium war der persönliche Bezug der Schenkerin oder des Schenkers zu den Objekten. Fotos oder Alben, die von professionellen Sammlerinnen und Sammlern angeboten wurden, blieben daher unberücksichtigt. Schließlich wurden fünf Fotoalben, vier Tagebücher, drei Briefbestände, ein Bestand an Farbdias und ein Fluglogbuch aus dem angebotenen Material ausgewählt. Zusätzlich konnten Kooperationspartner gewonnen werden, die weitere Quellen beisteuerten: zwei Fotoalben und ein Konvolut aus dem Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden sowie ein Fotoalbum aus dem Münchner Stadtmuseum. Um neben den Fotografien von Wehrmachtsoldaten auch polnisches Material zu bekommen, wurde der Aufruf zudem über deutsch-polnische Institutionen verbreitet. Leider schlug diese Initiative fehl, sodass kaum private polnische Dokumente oder Fotografien in das Projekt einbezogen werden konnten. Allein sechs Fotos, die in einem Fotoalbum eines deutschen Soldaten als „erbeuteter polnischer Film“ gekennzeichnet sind, konnten gesichtet werden. Sie zeigen sowohl Soldaten, die offensichtlich für die Kamera mit der Waffe posieren, als auch Soldaten, die mit weiblichen Zivilisten am Tisch sitzen. Die Gruppe entschied sich, diese Fotos mit Erläuterung ihrer Herkunft zu präsentieren, um wenigstens einen kleinen Einblick in den polnischen Soldatenalltag bzw. in dessen fotografische Repräsentation zu geben. Darüber hinaus sollte im Sinne der Transparenz auf der Projektwebsite über den gescheiterten Versuch der Sammlung polnischer Fotoalben berichtet sowie im Sinne der Multiperspektivität auf passende polnische Dokumentenpräsentationen im Netz verwiesen werden.15 5. Fotos und Fotoalben als Quelle Die Gruppe wählte den Projekttitel „Stumme Zeugnisse 1939. Der deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten“, um das Thema, aber zugleich auch die Problematik der Fotografien als Quellen zu verdeutlichen. Denn für sich genommen sind die Bilder zunächst einmal „stumm“, erst im historischen Kontext, durch Ergänzung mit weiteren Quellen wie Bildunterschriften oder mündlichen Aussagen der Bildproduzenten und durch zusätzliche Erläuterungen können sie verständlich werden. Die Erläuterungen 15 So zum Beispiel die Website des KARTA Center Foundation Photographic Archive: http://www. foto.karta.org.pl/, das Delet Portal mit Bildern der Association of the Jewish Historical Insti tute (AJHI) und des Jewish Historical Institute (JHI): https://delet.jhi.pl/; die Website der Cen tral Jewish Library https://cbj.jhi.pl/ und die Präsentation der National Digital Archives: https:// www.nac.gov.pl/ [14. 5. 2019]. 101 irmgard zÜndorF sollten sich auf die Ästhetik der Bilder und die ihnen „eigenen Realitäten“ beziehen,16 sind sie doch nur über die ihnen eingeschriebenen kulturellen und zeitgenössischen Codes überhaupt zu verstehen, die wiederum erst einmal herausgearbeitet werden mussten. So wurde bei der Sichtung der ersten Fotobestände zum Beispiel schnell deutlich, dass die Soldaten mit ihren privaten Fotos vielfach die bekannten NS-Propagandabilder reproduzierten.17 Die Bilder zeigen, „wie der Krieg gesehen wurde – nicht, wie er war“.18 Diese Sichtweise herauszuarbeiten war eine der Hauptaufgaben des Projekts. Dabei galt es, nicht in die Falle der eigenen Erwartung zu geraten, also zu suchen, was man finden wollte, sondern in der Bildbetrachtung ergebnisoffen zu bleiben. Die Studierenden gingen in der Bildanalyse in drei Schritten vor: Sie beschrieben das auf dem Bild zu Sehende und ordneten es der entsprechenden Bildbeschriftung, sofern vorhanden, zu. Im nächsten Schritt wurden die typischen, aber auch die besonderen Eigenschaften des Bildes sondiert und auf dieser Basis Kategorien gebildet. Im dritten Schritt konnten anhand der Gruppierungen schließlich Interpretationen des Dargestellten vorgenommen werden, die wiederum mit der Forschungsliteratur abgeglichen wurden. Neben der Analyse einzelner Fotografien wurde bei der Sichtung der Alben deutlich, dass diese eine eigene, zusätzliche Quellengattung darstellen, insofern sie eine Komposition der Fotos vornehmen. Dabei müssen nicht alle Fotos vom selben Fotografen stammen; die unterschiedlichen Bildformate lassen vielmehr darauf schließen, dass es sich um verschiedene Urheber handelte. Dies scheint typisch für Wehrmachtsalben zu sein, weil Fotos untereinander getauscht oder verkauft wurden. Zudem wurden Fotos der Propagandakompanie (PK) der Wehrmacht für die privaten Alben genutzt. Mithilfe der Quelle Fotoalbum lässt sich somit bisweilen weniger über die verschiedenen Fotografen aussagen als über den Besitzer des Albums, der bestimmte Fotos und deren Motive ausgewählt und in einer ganz bestimmten Weise zusammengestellt und kommentiert hat. Häufig beginnen die Alben mit dem Porträt des Albumbesitzers, gefolgt von Aufnahmen aus der Vorkriegszeit, von Übungen in der Kaserne. Erst danach wird die Zeit ab September 1939 thematisiert. Die Alben haben somit eine Art Prolog und einen Hauptteil. Für das Projekt wurde der Frage nachgegangen, welche Bilder aus den Alben zusammen auf einer Seite präsentiert, welche Gemeinsamkeiten und Themenschwerpunkte, aber auch Gegensätze damit betont werden sollten. 16 17 18 102 Gerhard Paul, Visual History, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29. 10. 2012, http:// docupedia.de/zg/paul_visual_history_v2_de_2012 [10. 6. 2019]. Dies entspricht einer Erkenntnis ähnlicher Projekte, siehe Petra Bopp, Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009, S. 47. Ebenda, S. 10. „Stumme zeugniSSe 1939“ 6. Bildethik Das Projekt legte den Fokus auf die Darstellung der abgelichteten Menschen in den Alben. Hier galt es herauszuarbeiten, ob und wie sich die These Böhlers, dass beim Überfall auf Polen rassistische Vorurteile der deutschen Wehrmachtsoldaten gegenüber der polnischen und der jüdischen Bevölkerung sichtbar wurden, mithilfe der privaten Fotografien und Dokumente belegen lässt. Mit dem Blick auf die Personen rückten Fragen der Bildethik in den Fokus. Auf einem Workshop in der GHWK wurde gemeinsam mit Mitarbeitern aus dem Bereich der Gedenkstättenpädagogik am Beispiel der dortigen Dauerausstellung die Frage nach der ethischen Verantwortung im Umgang mit Fotografien diskutiert, die Gewalt oder NS-Propaganda zeigen. Zur Vertiefung nahmen einzelne Studierende auch an dem Workshop „Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet“19 am ZZF teil. In beiden Veranstaltungen wurde deutlich, dass die ethischen Fragen im Umgang mit Fotografien weder in Gedenkstätten noch in Online-Projekten einheitlich beantwortet, sondern jeweils von Fall zu Fall entschieden werden. Grundsätzlich einigte sich die Gruppe darauf, keine Bilder mit diskriminierenden Inhalten zu verwenden, wenn die Diskriminierung nicht explizit Thema der Präsentation sein sollte und als solche in einem begleiteten schriftlichen Beitrag erläutert würde. Bilder von Leichen, nackten oder gedemütigten Menschen sollten auf keinen Fall zu rein illustrativen Zwecken verwendet werden. Als Richtlinie für die Veröffentlichung der einzelnen Bilder galt es für die Gruppe, jeweils die Intention der Fotografierenden und die Rolle der Fotografierten unter der Fragestellung zu diskutieren, ob die Abgebildeten der Darstellung zugestimmt hätten. Daher erlegte sich die Gruppe in erster Linie ein Kontextualisierungsgebot auf und kein allgemeines Veröffentlichungsverbot. Allein Bilder von Leichen, deren Gesichter zu erkennen sind, sollten nur in einer verwischten Version gezeigt werden. Dies entspricht einer Art ungeschriebenem Gesetz, das sich von jeher in der Kriegsfotografie finden lässt.20 Die Gruppe stellte damit die Würde der Toten über das Bestreben, den Krieg in seiner gesamten Dimension darzustellen. Allerdings sollte die Bandbreite der von Soldaten fotografierten Motive weiterhin deutlich werden, wozu eben auch die Leichenbilder zählen. Deshalb wurden diese Bilder nicht einfach aus dem Bestand genommen, sondern in der Präsentation belassen, jedoch ohne dass die Toten zu erkennen waren. Nur die Bilderläuterung sollte das Bildmotiv benennen. Die Gruppe entschied sich damit, die Bilder – immerhin also ihre historischen Quellen – in Teilen zu verändern, dies jedoch für die Betrachterinnen und Betrachter deutlich herauszustellen. 19 20 Zum Inhalt des Workshops siehe die Ankündigung „Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet“ am ZZF, https://zzf-potsdam.de/de/veranstaltungen/bildethik-umgang-bildern-iminternet [8. 5. 2019]. Sontag, Das Leiden anderer betrachten, S. 83. 103 irmgard zÜndorF 7. Konzeption der Website Das Projekt „Stumme Zeugnisse“ konnte auf Erfahrungen ähnlicher Präsentationen aufbauen.21 Neben dem eingangs erwähnten Projekt zum Fotobestand von Kurt Seeliger regte vor allem die Ausstellung „Fremde im Visier – Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg“22dazu an, eigene Ideen zu entwickeln. Sandra Starke, eine der beiden Kuratorinnen der Ausstellung, konnte für ein Gespräch gewonnen werden, in dem sie ihre Herangehensweise bei der Sammlung von privaten Fotoalben sowie bei der Auswahl einzelner Bilder und ihrer Präsentation darlegte. Diese Ausstellung, die, ähnlich wie das hier skizzierte Projekt, vor allem private Fotoalben von Wehrmachtsoldaten zeigte, nahm in vielerlei Hinsicht eine Vorbildfunktion ein. Allerdings war sie von Anfang an als analoge Ausstellung in einem Museum geplant, umfasste den gesamten Zweiten Weltkrieg und baute auf einem Forschungsprojekt zu privaten Kriegsfotografien von Wehrmachtsoldaten auf.23 Das hier beschriebene Projekt hingegen nutzte allein die Forschungsergebnisse Dritter, konzentrierte sich auf den ersten Monat des Zweiten Weltkrieges und war für eine Online-Darstellung konzipiert. Die grundlegende Entscheidung für den Aufbau der Präsentation betraf die Sortierung der Bilder und Dokumente. Einerseits war bei der Sichtung der Alben deutlich geworden, dass es einzelne Themen gab, die in allen Alben immer wieder auftauchen und daher auch gemeinsam präsentiert werden sollten. Andererseits bestand Konsens unter den Studierenden, dass nicht nur einzelne Fotos gezeigt werden sollten, sondern auch komplette Alben. Daher entschied sich die Gruppe für eine Website mit zwei Zugängen zu den Quellen: einerseits über die Rubrik „Themen“ und andererseits über das „Archiv“. Unter „Themen“ sollten einzelne Fotos und Dokumente unter einem Oberbegriff zusammen präsentiert und erläutert werden,das „Archiv“ hingegen die zusammenhängenden Bestände zeigen. Texte sollten in beide Kategorien einführen. Darüber hinaus war vorgesehen, ausgewählte Fotos im Bereich „Themen“ zusätzlich vertiefend zu beschreiben, um auf die besonderen oder typischen Elemente hinzuweisen. Für die Themenauswahl konnten die Fotos zunächst danach sortiert werden, ob sie Menschen oder vor allem Landschaften, Gebäude und Gerätschaften zeigten. Wie angedeutet, lag der Fokus der weiteren Betrachtung auf Menschen. Bei ihnen konnte grob zwischen Fotos unterschieden werden, die Wehrmachtsoldaten oder die polnische Bevölkerung zeigen. Nur auf wenigen Bildern sind beide Gruppen gemeinsam abgelichtet. Auf diesen sind entweder sogenannte Volksdeutsche zu sehen, die freudig die Wehr- 21 22 23 104 Dazu zählten allgemeine Portale zur Deutschen Geschichte mit Themenschwerpunkten zum Zweiten Weltkrieg wie die Website: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/ kriegsverlauf/ueberfall-auf-polen-1939.html oderauch die sehr spezielle polnische militärhistorische Webseite: http://www.1939.pl/galerie/prywatne/index.html [14. 5. 2019]. Vgl. die Webseite zur Ausstellung „Fremde im Visier – Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg“: http://www.fremde-im-visier.de/ [8. 5. 2019]. Das Forschungsprojekt: http://www.fremde-im-visier.de/forschungsprojekt.html [10. 6. 2019]. „Stumme zeugniSSe 1939“ machtsoldaten begrüßen, oder polnische Gefangene, die im Kreis ihrer deutschen Bewacher als eine Art Kriegstrophäe präsentiert werden. Der Großteil der Bilder trennt jedoch klar zwischen den deutschen Soldaten, dem „wir“, und der polnischen Bevölkerung, den „anderen“. Die Selbstdarstellung der Deutschen findet sich zunächst häufig in gestellten Gruppenfotos. Daneben existieren vor allem Bilder des sogenannten Soldatenalltags, die wie Schnappschüsse erscheinen. Sie lassen sich wiederum in die Schwerpunkte Essen/Verpflegung, Körperpflege und Spiele untergliedern. Der eigentliche Krieg findet sich schon deshalb kaum in den Fotos, weil die Soldaten während der Kampfhandlungen in der Regel nicht fotografieren konnten. Nur wenige Bilder behandeln aber auch Krankheit und Verletzungen bzw. das Lazarett. In fast allen Alben wird jedoch das Thema „Tod“ in der Darstellung deutscher Kriegsgräber aufgegriffen. Die polnische Bevölkerung wird in den Bildunterschriften unterschieden in „Soldaten“ bzw. „Kriegsgefangene“, „Zivilisten“, „Juden“, „Zigeuner“ oder allgemein „Flüchtlinge“. Thematisch zeigen die meisten Fotos Menschen auf der Flucht bzw. auf Wagen oder zu Fuß unterwegs. Sie blicken überwiegend starr oder ängstlich in die Kamera. Es wurden aber auch Leichen fotografiert. Eine besondere Gruppe stellen zudem die bereits erwähnten „Volksdeutschen“ dar, die immer mit freudigem oder freundlichem Gesichtsausdruck abgelichtet sind. Neben der Darstellung der Menschen finden sich Fotos von Militärfahrzeugen und Kriegsgerät, von Landschaften, unversehrten oder auch zerstörten Städten und Gebäuden. 8. Fazit Mithilfe privater Fotografien, von Briefen und Tagebucheinträgen sollte die OnlineAusstellung „Stumme Zeugnisse“den privaten Soldatenblick abbilden – bzw. den Blick, den die Soldaten für ihre Angehörigen und die Nachwelt festgehalten und zusammengestellt hatten. Gemäß den eingangs genannten Leitlinien war die Präsentation multiperspektivisch und kontrovers angelegt, sie sollte Kontexte erläutern, Narrative vermitteln, Imaginationen ermöglichen und Emotionen ansprechen, ohne zu überwältigen. Vor allem die Multiperspektivität konnte aus den relativ homogenen Quellen jedoch nicht immer gewährleistet werden. Vielmehr wurde deutlich, dass die deutschen Soldaten Bilder der NS-Propaganda reproduzierten. Die Selbstdarstellungen zeigen gesunde, kräftige, überwiegend freundlich blickende Wehrmachtsoldaten, die sich vor allem mit Essen, der eigenen Hygiene oder Spielen beschäftigen. Nicht thematisiert aber wurden die Schrecken des Krieges. Die Fotos, die die Soldaten von Polinnen und Polen gemacht hatten, zeigen hingegen verängstigte, armselig wirkende und schlecht gekleidete Menschen. Der Blick auf sie ist eindeutig abwertend, wie nicht nur die Fotos, sondern auch die Bildunterschriften sowie Tagebucheinträge und Briefe belegen. Die starke Ähnlichkeit der verschiedenen Alben und Dokumente ließ sich nur durch transparente Erläuterungen verständlich machen. Im Ergebnis wurde deutlich, 105 irmgard zÜndorF dass der Blick der Soldaten eben gerade nicht multiperspektiv war, sondern ganz im Gegenteil fast einheitlich die überhöhte Perspektive des Siegers auf den vermeintlich unterprivilegierten Besiegten widerspiegelt. Literatur Böhler, Jochen, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006. Bopp, Petra, Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009. Jacobsmeyer, Wolfgang, Der Überfall auf Polen und der neue Charakter des Krieges, in: Christoph Kleßmann (Hrsg.), September 1939: Krieg, Besatzung, Widerstand in Polen, Göttingen 1989, S. 16–37. Jäger, Jens, Fotografie und Geschichte, Frankfurt a. M. 2009. – Photographie. Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung, Tübingen 2000. Kühberger, Christoph/Sedmak, Clemens, Die Verantwortung der Historikerinnen und Historiker – Systematische Reflexionen zu einem Teilbereich einer Ethik der Geschichtswissenschaft, in: Christoph Kühberger/Christian Lübke/Thomas Terberger (Hrsg.), Wahre Geschichte – Geschichte als Ware. Die Verantwortung der historischen Forschung für Wissenschaft und Gesellschaft, Rahden 2007, S. 1–26. Lücke, Martin/Zündorf, Irmgard, Einführung in die Public History, Göttingen 2018. O. V., Fotos gesucht, in: ZEIT Geschichte, Epochen. Menschen. Ideen (2019) 2, S. 111. Paul, Gerhard, Bilder des Krieges. Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004. – Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006. Rohde, Horst, Hitlers erster „Blitzkrieg“ und seine Auswirkungen auf Nordosteuropa, in: Klaus A. Maier/Horst Rohde/Bernd Stegemann/Hans Umbreit (Hrsg.), Die Errichtung der Hegemonie auf dem Europäischen Kontinent (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 2), Stuttgart 1979, S. 79–158. Sontag, Susan, Das Leiden anderer betrachten, München 2003. Online Association of the Jewish Historical Institute in Poland, https://delet.jhi.pl/ [14. 5. 2019]. Bopp, Petra, Fremde im Visier – Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, http://www. fremde-im-visier.de/ [8. 5. 2019]. Central Jewish Library, https://cbj.jhi.pl/ [14. 5. 2019]. Deutsches Historisches Museum, Der Überfall auf Polen 1939, https://www.dhm.de/ lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/ueberfall-auf-polen-1939.html [14. 5. 2019]. 106 „Stumme zeugniSSe 1939“ Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Digitale Foto-Ausstellung zum deutschen Überfall auf Polen 1939. Aus dem Bestand Kurt Seeligers, https:// onlinesammlungen.ghwk.de/seeliger/ [8. 5. 2019]. Jasch, Hans-Christian/Hammerle, Svea/Tlusty, Ann-Kristin, Überfall auf Polen. Schreiben Sie Geschichte mit, 30. 1. 2019, in: ZEIT ONLINE, https://www.zeit.de/ wissen/geschichte/2019-01/ueberfall-polen-nazis-zweiter-weltkrieg-fotografienaufruf#comments [14. 5. 2019]. Kampania Wrześniowa 1939, http://www.1939.pl/galerie/prywatne/index.html [14. 5. 2019]. KARTA Center Foundation Photographic Archive, http://www.foto.karta.org.pl/ [14. 5. 2019]. National Digital Archives, https://www.nac.gov.pl/ [14. 5. 2019]. Paul, Gerhard, Visual History, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29. 10. 2012, http://docupedia.de/zg/paul_visual_history_v2_de_2012 [10. 6. 2019]. Public History Master an der Freien Universität Berlin, https://www.geschkult.fu-berlin. de/e/phm [8. 5. 2019]. Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), Ankündigung zum Workshop „Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet“, https://zzf-potsdam.de/de/veran staltungen/bildethik-umgang-bildern-im-internet [8. 5. 2019]. 107 Abb. 1: Das Fotokonvolut 108 Svea Hammerle Ein Fotokonvolut zum Überfall auf Polen Die Aufnahmen des Batterieführers Kurt Seeliger Im Jahr 2015 übergab M. Seeliger der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der WannseeKonferenz eine Kiste mit der Bitte, deren Inhalt der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In der Kiste befanden sich 97 Fotografien, die vor, während und nach dem Überfall auf Polen zwischen August und Oktober 1939 von seinem Großvater Kurt Seeliger zusammengestellt und auf Pappbögen aufgeklebt wurden. Auf der Rückseite hatte dieser jede Fotografie mit Kommentaren, die Mehrzahl auch mit Datums- und Ortsangaben, in Sütterlinschrift versehen. Drei Jahre später konnte die Gedenk- und Bildungsstätte dank einer Förderung des Forschungs- und Kompetenzzentrums Digitalisierung Berlin (digiS) dieses Fotokonvolut digitalisieren. Zusätzlich wurden die Meta- und Geodaten erfasst und der historische Hintergrund – mit der Hilfe von Experten und Expertinnen aus den Bereichen der Militär- und Geschichtswissenschaft – recherchiert. Die Ergebnisse wurden im November 2018 in einer Online-Ausstellung1 der Öffentlichkeit präsentiert. Der Wert dieser Quelle liegt nicht nur in der Darstellung des Krieges, den der geschickte Fotograf Kurt Seeliger in teils aufwendigen Inszenierungen eindrücklich visualisierte. Darüber hinaus können das Arrangement und die Kommentierung der Fotografien einen Einblick in seine – offenbar durch die nationalsozialistische Propaganda geprägte – Interpretation des Krieges und seinen Blick auf das eroberte Polen geben. Welche Motive wählte der Fotograf? Wie wurden Sieger und Besiegte, Täter und Opfer des Krieges präsentiert? Welche zusätzlichen Informationen gab Seeliger in den Kommentaren und welche verschwieg er? 1. Zur Person des Fotografen Kurt Bruno Seeliger wurde am 26. Januar 1895 in Harwood, Australien geboren. Sein Vater Paul Seeliger war 1885 von Braunschweig nach Australien ausgewandert, um an der Ostküste eine Zuckerfabrik für die Colonial Sugar Company zu leiten. Als Kurt Seeliger zehn Jahre alt war, kehrte die Familie nach Braunschweig zurück. Dort machte er 1914 das Abitur. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Frontsoldat „hauptsächlich im Osten“2 teil 1 2 Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Digitale Foto-Ausstellung zum deutschen Überfall auf Polen 1939. Aus dem Bestand Kurt Seeligers, https://onlinesammlungen. ghwk.de/seeliger [28. 5. 2019]. Familiengeschichtliche Aufzeichnungen der Familie Seeliger, unveröffentlicht, S. 15. 109 Svea hammerle Abb. 2: Porträt Kurt Seeligers um 1950 und studierte anschließend Architektur an der Technischen Hochschule Braunschweig. 1922 heiratete er. Mit seiner Frau Edith, hatte er vier Kinder. Seeliger wurde Regierungsbaurat für das Land Braunschweig und leitete in den späten 1920er- und 1930er-Jahren die Hochbauämter in Wolfenbüttel und Blankenburg.3 Bereits am 1. Mai 1933 trat Seeliger in die NSDAP und SA-Reserve ein und wurde bis 1936 Mitglied mehrerer nationalsozialistischer Organisationen, darunter des NS-Beamtenbundes, des Nationalsozialistischen Bundes Deutscher Technik, des Reichskolonialbundes und des Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen.4 Am deutschen Überfall auf Polen nahm Kurt Seeliger als Hauptmann der Reserve der 1. Batterie der motorisierten Beobachtungs-Abteilung 13, einer Gliederung der 13. Infanterie-Division, teil. Diese gehörte wiederum zur 10. Armee der Heeresgruppe Süd und stieß von Schlesien aus über Wieluń und Radom bis nach Puławy an der Weichsel vor. Schließlich war seine Einheit an der Schlacht bei Kock, der letzten dieses Feldzugs, beteiligt.5 3 4 5 110 Ebenda, S. 14–17. Niedersächsisches Landesarchiv (NdsLA), 3 Nds 92/1 Nr. 12814, Entnazifizierungsakte Seeliger, o. P. Veit Scherzer, Deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg, Bd. 4: Die Divisionen. Divisionen und Brigaden mit den Nummern 9 bis 14. Gliederung, Kommandeure, Einsatz, Inhaber höchster Auszeichnungen, Bayreuth 2008, S. 328 f. ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen Während die Tätigkeit der Infanterie-Division in Grundzügen bekannt ist, gibt es nur wenig Sekundärliteratur zur Geschichte und Funktion der Beobachtungs-Abteilungen. Bei den publizierten Titeln handelt es sich überwiegend um unkritische MilitariaDarstellungen oder Erinnerungsberichte der ehemaligen Mitglieder der Einheiten, wie zum Beispiel Hermann Kochs Buch „1937 bis 1945. Die Geschichte der Beobachtungsabteilung 13“, dessen Ziel es ist, „die Einsätze und Erlebnisse unserer stolzen Bb [Beobachtungs-Abteilung] 13 in chronologischer Reihenfolge aufzuzeichnen“.6 Eine wissenschaftliche Untersuchung zur Rolle und Funktion dieser Einheiten steht hingegen noch aus. Beobachtungs-Abteilungen bestanden aus Vermessungs-, Schall-, Licht-, Ballon-, und Wetterdiensten, die sich bei der Bestimmung der Position der gegnerischen Geschütze und Stellungen gegenseitig ergänzten.7 Zu ihren Aufgaben gehörte es, „aus verdeckter Stellung feuernde feindliche Artillerie aufzuklären und die eigene schwere Artillerie darauf einzuschießen“.8 Darüber hinaus waren sie an der schnellen Nachrichtenverbreitung an der Front beteiligt. Seeliger führte eine Batterie der Beobachtungsabteilung. Es liegt nahe, dass er sich bei diesem Einsatz auch auf seine mathematisch-technischen Fähigkeiten stützen konnte, die er in seinem Studium und seiner beruflichen Tätigkeit erworben hatte. Die Beobachtungs-Abteilung 13 war seit 1938 in Calbe an der Saale stationiert. Im Mai 1938 nahm Seeliger auf dem Truppenübungsplatz Groß Born (heute: Borne Sulinowo) an Sonderkursen für Reservisten, Reserveoffiziersanwärter und Unterführer teil. Offiziell wurde er ab 1. August 1939 als Reserveoffizier der 1. Batterie der BeobachtungsAbteilung 13 zugeordnet.9 Von ihrem Bereitstellungsort Scheidelwitz (heute: Szydłowice) aus überquerte die motorisierte Abteilung in der Nacht vom 2. auf den 3. September die deutsch-polnische Grenze und rückte in den folgenden Wochen in nordöstlicher Richtung über Wieluń, Radom, Końskie und Zwoleń bis an die Weichsel vor. Ende September bis Anfang Oktober lag die Einheit westlich der Weichsel in Antoniówka, bevor sie bei der Schlacht bei Kock eingesetzt wurde. Mit dieser Schlacht endeten am 6. Oktober 1939 – nach der Kapitulation des polnischen Generals Franciszek Kleeberg– die Kampfhandlungen. Nach Ihrem Einsatz kehrte die Beobachtungs-Abteilung 13 nach Calbe an der Saale zurück. In seinem Erinnerungsbuch schildert Hermann Koch die Heimkehr der Abteilung: „Über Oels, Breslau und Magdeburg verlegten die Batterien ihren Standort [nach] Calbe/Saale. Unter dem Jubel der Bevölkerung zogen die Einheiten am 14. Oktober 1939 wieder in das Kasernengebäude ein.“10 6 7 8 9 10 Hermann Koch, 1937 bis 1945. Die Geschichte der Beobachtungsabteilung 13, o. O. 1970, Dankeswort nicht paginiert. H. J. Froben, Aufklärende Artillerie. Geschichte der Beobachtungsabteilungen und selbständigen Beobachtungsbatterien bis 1945, München 1972, S. 45. Koch, Beobachtungsabteilung 13, S. 13. Ebenda, S. 25–31. Ebenda, S. 37. 111 Svea hammerle Vom 22. April bis zum 22. Juni 1940 gehörte Kurt Seeliger der in Braunschweig stationierten Beobachtungsersatzabteilung 31 an.11 Da er als gebürtiger Australier vormals die britische Staatsangehörigkeit besessen hatte, wurde er bis Juni 1941 vom Militärdienst zurückgestellt und nahm nicht am Krieg gegen Frankreich teil.12 1942 wurde Seeliger zum Major der Reserve befördert und war zunächst als Regimentsführer, ab 1943 als Bataillonsführer, Teil einer Kraftfahrparktruppe in Russland und Italien.13 Gegen Ende des Krieges geriet er in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung traf er seine Familie in Bad Harzburg, dem Heimatort der Schwiegereltern, wieder. Seeliger wurde im Rahmen seines Entnazifizierungsverfahrens aus dem Staatsdienst entlassen und schlug sich die nächsten Jahre als Drechsler, Büromaschinenvertreter und mit kleinen Bauaufträgen durch.14 Gegen die Entnazifizierungsentscheidung und die ursprüngliche Einstufung in Kategorie III („Mitläufer“) legte er erfolgreich Berufung ein und wurde am 14. Dezember 1948 in Kategorie IV heruntergestuft, da „kein Grund zur Annahme [bestünde], dass er den Nationalsozialismus wesentlich gefördert [habe] oder Nutznießer desselben gewesen [sei]“.15 Im August 1949 konnte er seine Stelle als Regierungsbaurat und Leiter des Hochbauamtes Wolfenbüttel wieder erlangen. Kurt Seeliger starb am 18. Juli 1968 in Bad Harzburg. 2. Die Quelle Bei dem Fotokonvolut von Kurt Seeliger handelt es sich nicht um ein „Wehrmachtsalbum“, sondern um eine Fotosammlung. Die Negativabzüge auf Sibergelatinepapier sind auf graue Pappbögen in den Maßen 33 x 24 cm aufgeklebt. Seeliger versah jede Fotografie mit einem sorgfältig von Hand gezogenen Rahmen. Die Fotografien selbst haben variable Maße, meist um die 12 x 17 cm. Der letzte Bogen des Bestands zeigt exemplarisch die Originalgröße der ursprünglichen Abzüge mit dem üblichen Maßen 6,5 x 6,5 cm. Die meisten Abzüge sind matt, einige wenige glänzend, und auch die weißen Bildränder sind nicht einheitlich in ihrer Breite. Diese Unterschiede weisen darauf hin, dass das Konvolut nicht in toto in einem Fotolabor entwickelt wurde, sondern dass dies möglicherweise an unterschiedlichen Orten und in verschiedenen Arbeitsschritten geschehen ist. Hierfür sprechen auch die Hinweise auf verschiedene Fotografen: Die Mehrheit der Fotografien stammt wohl von Seeliger selbst: 74 der 97 Bilder signierte er mit seinem Namen. Drei Abzüge stammen laut Signatur von einer Person namens Reinhardt und 20 sind unsigniert. 11 12 13 14 15 112 Auskunft der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt) vom 15. 8. 2018. NdsLA, 3 Nds 92/1 Nr. 12814, Entnazifizierungsakte Seeliger, o. P. Ebenda. Familiengeschichtliche Aufzeichnungen der Familie Seeliger, S. 17. NdsLA, 3 Nds 92/1 Nr. 12814, Entnazifizierungsakte Seeliger, o. P. ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen Abb. 3: Rückseite des ersten Bogens mit „Laufende Nummer“ und „Bestellnummer“ Die Pappbögen sind rückseitig mit zwei Nummerierungen versehen. In arabischen Zahlen sind alle Bögen durchlaufend von 1 bis 97 nummeriert und in chronologischer Reihenfolge – entsprechend den angegebenen Daten – geordnet. 76 Bögen haben zusätzliche römische Ziffern, die auf dem ersten Bogen als Bestellnummern ausgewiesen werden. Da es sich bei diesen Fotografien immer um von Seeliger signierte handelt, liegt die Vermutung nahe, dass er diese Bilder seinen Kammeraden für Abzüge angeboten hat.16 Nur Bild 34 ist unsigniert und trotzdem mit einer Bestellnummer versehen. Da der rückseitige Kommentar (Abb. 4) Seeliger eindeutig als Fotografen des Bildes ausweist, ist zu vermuten, dass er schlicht vergessen haben könnte, das Bild zu signieren. Sechs der unsignierten Bilder unterscheiden sich erheblich vom übrigen Bestand. Sie sind auf glänzendem Sibergelatinepapier abgezogen, haben einen breiteren Rand und auch die Farbtiefe erscheint qualitativ besser. Diese Bilder zeigen Generalleutnant Paul Otto, Kommandeur der 13. Infanterie-Division, und den General der Panzertruppen Traugott Herr während der Kapitulation des polnischen Generals Franciszek Kleeberg nach der Schlacht von Kock. Die Qualität der Fotografien und die Motivauswahl legen nahe, dass sie von einer Propagandakompanie der Wehrmacht stammen.17 Seeliger 16 17 Vgl. hierzu den Beitrag von Petra Bopp in diesem Band. Vgl. ebenda. 113 Svea hammerle Abb. 4: Bild 34 * 114 Abb. 5: Bild 34. „8. 9. 1939. Poln.[ische] Bauernfamilie beim Mittagbrot – gekochte Kartoffeln mit Milch – in einem Dorf vor Govarczov*. Die Armut der Bauern ist unbeschreiblich. An Möbelstücken standen auf dem Lehmfußboden der Küche nur zwei Bettstellen mit Stroh, eine Bank und zwei Stühle. Die Leute hatten ihr Sonntagszeug an, um es leichter retten zu können. Die Aufnahme ist nicht gestellt. Ich wollte mich bei einer kurzen Rast am Brunnen waschen, als ich durch das Fenster das hübsche Bild sah und dann von der Tür aus schnell die Aufnahme machen konnte.“ Die fehlerhafte Schreibweise der polnischen Ortsnamen wird mit Rücksicht auf den Lesefluss in den Zitaten wie im Original belassen und nicht mit [sic] ausgezeichnet. Die korrekte Schreibweise findet sich in der Online-Ausstellung. ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen war zwar zum gleichen Zeitpunkt bei Kock, da ein Teil der 13. Infanterie-Division „zum Abtransport der Gefangenen und vor allen Dingen der Beute zur Verfügung [stand]“.18 Seine eigenen Bilder haben als Motiv jedoch die polnischen Kriegsgefangenen und nicht die hochrangigen Generäle. Alle Pappbögen sind rückseitig von Seeliger in Sütterlinschrift kommentiert. Bei einigen dieser Kommentare handelt es sich um kurze Bildunterschriften, bei anderen um ausführliche Schilderungen des Gezeigten, des militärischen Geschehens oder um anekdotische Erzählungen. Über seine Tätigkeit für die Beobachtungs-Abteilung 13 finden sich hingegen keine Angaben. Auch seine Einstellung zum Krieg reflektiert Seeliger nicht ausdrücklich. Hinweise auf seine Haltung lassen sich jedoch „zwischen den Zeilen“ seiner Kommentare und in der Motivauswahl seiner Fotografien finden. Einige Kommentare erscheinen in dieser Hinsicht wie ein Kriegstagebuch. Ob Seeliger ein solches geführt hat oder die Kommentare nachträglich aus der Erinnerung schrieb, ist nicht bekannt. Ungeachtet dessen müssen sie als historische Quelle kritisch geprüft werden. Hierzu wurden die in ihnen erwähnten Orte, Daten und militärischen Ereignisse mit dem Kriegstagebuch der 13. Infanterie-Division abgeglichen. So zeigt zum Beispiel Bogen 42 ein Bild eines deutschen Panzers im Wald. Der rückseitige Kommentar schildert ausführlich die Bewegungen von Seeligers Einheit: „9.–10. 9. 1939. Der Marsch auf Warschau ist für Teile der Division abgeblasen. Unser I.R. [Infanterie-Regiment] 33 und 66 sind gestern vor Warschau eingetroffen. Wir werden mit dem Rest der der [sic] Division bei Radom eingesetzt. Die Sonne brennt unbarmherzig und der Staub setzt sich wie eine Kruste auf alles. Es geht nur sehr langsam vorwärts über Odrzyvol, Klwov, Przytyk, Jedlin. Gegen Morgen fuhren wir durch das geräumte Radom in Richtung Kozienice. Da aus allen Richtungen geschossen wurde, wußte keiner, was vorn und hinten war. Die Nacht wurde wieder durchgefahren, ohne Licht im dichten Staub. Die Wege waren grundlos, nichts war zu sehen, jeder fuhr blindlings in der Richtung des vor ihm brummenden Motors seines Vordermannes. Wehe dem Fahrzeug das liegen blieb. Die Augen brannten vor Staub und Überanstrengung. Als die Sonne aufging überholten uns Panzerabteilungen im Walde vor Slezki.“ Das Kriegstagebuch der 13. Infanterie-Division berichtet für den 9. September von „unbeschreiblich schlechten Wegen“ und dass „im Walde nördl. Jedlinsk [sic]starker Feind gemeldet“ werde. Der Großteil der Division sei „von Jedlinsk [sic] über Radom in das Waldgelände halbwegs Radom, Kozeniece [sic] beiderseits der Straße Radom, Kozeniece [sic] in Marsch zu setzen“.19 Für den 10. September findet sich der Vermerk für 18 19 Bundesarchiv (BArch), RH 26-13/1, Kriegstagebuch der 13. Division (mot), Eintrag vom 6. 10. 1939, S. 49. BArch, RH 26-13/1, Kriegstagebuch der 13. Division (mot), Eintrag vom 9. 9. 1939, S. 15 f. 115 Svea hammerle Abb. 6: Itinerar der Beobachtungs-Abteilung 13 am 9. und 10. September 1939 die Beobachtungs-Abteilung 13: „In Stellung westl. Sieciechow [sic]“.20 Somit konnte ihr Marschweg rekonstruiert und ihr Aufenthaltsort am 10. September als das Waldgebiet zwischen Kozienice und Sieciechów bestimmt werden. Insgesamt zeigte sich, dass sich Seeligers Einheit tatsächlich an den genannten Daten in den angegebenen Orten befand. Damit bestätigt das Kriegstagebuch die Chronologie der Fotografien und das dort widergespiegelte Itinerar.21 Nicht überprüfen ließen sich hingegen die anekdotischen Erzählungen Seeligers, so zum Beispiel die Schilderung der Ereignisse in Drzewica, die später ausführlicher behandelt werden. Hierfür wäre eine intensive Recherche nach überlieferten Augenzeugenberichten in polnischen Archiven nötig, die im Rahmen dieses Projekts nicht geleistet werden konnte. Das Kriegstagebuch der 13. Infanterie-Division beinhaltet keine Belege für diese Erzählungen, da es sich bei ihnen häufig um Berichte über Gewalthandlungen handelt, die von Wehrmachtsoldaten an der polnischen oder polnisch-jüdischen Bevölkerung verübt wurden. 20 21 116 BArch, RH 26-13/1, Kriegstagebuch der 13. Division (mot), Eintrag vom 10. 9. 1939, S. 17. Für die digitale Präsentation dieses Forschungsergebnisses wurden die Fotografien geodatenreferenziert. Hierfür wurden die Fotomotive, insbesondere markante Gebäude, Kirchtürme und Brücken, mit Google Maps-Bildern abgeglichen. Zum Teil gelang die zentimetergenaue Rekonstruktion des Aufnahmeortes, häufig aber nur die Ermittlung der Ortschaften oder Wegabschnitte. Alle Aufnahmeorte, und somit das Itinerar der Beobachtungs-Abteilung 13, können auf der interaktiven Karte der Online-Ausstellung nachvollzogen werden. Siehe: https://online sammlungen.ghwk.de/seeliger/map[28. 5. 2019]. ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen 3. Nationalsozialistische Ideologie im Fotokonvolut Auch über Seeligers persönliche Beteiligung an (Kriegs-)Verbrechen lassen sich keine fundierten Aussagen machen. Zwar scheint er Gewalthandlungen, die von Wehrmachtangehörigen an polnischen Zivilisten und Soldaten verübt wurden, beobachtet und fotografiert zu haben,22seine eigene aktive Mitwirkung kann daraus jedoch nicht belegt werden. Rückschlüsse auf seine politische und weltanschauliche Einstellung lassen sich hingegen sowohl aus seinen Kommentaren, der Juxtaposition der Fotografien und aus der Motivauswahl ziehen. Im Rahmen seines Entnazifizierungsverfahrens betonte Seeliger erwartungsgemäß, dass er keine nationalsozialistische Einstellung gehabt habe. Er habe sich „lediglich aus völlig uneigennützigen Motiven heraus dem Vaterlande in zwei Weltkriegen fast 11 Jahre lang als Feldsoldat zur Verfügung“ gestellt, „habe [sich] niemals parteipolitisch aktiv betätigt“ und fühle sich „frei von jeder Schuld“.23 Ein Oberstudiendirektor namens Weller stellte ihm ein positives politisches Leumundszeugnis aus, in dem es heißt: „Herrn S’s Naturell ist das ganze Gegenteil eines Fanatikers. Sein gesunder Humor, ein Hang zur Satire und harmlosem Sarkasmus, eine leicht ironische Betrachtung der Welt aber auch seiner selbst zeichnen ihn als Menschen aus, und Leute solchen Temperaments können gar keine Extremisten sein.“24 Diese exkulpierenden Aussagen im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens kontrastieren aber mit seinem relativ frühen Eintritt in die NSDAP und seiner Mitgliedschaft in diversen nationalsozialistischen Organisationen. Die Mitgliedschaften lassen, auch angesichts seiner Position als leitender Beamter auf kommunaler Ebene, die in den 1930er-Jahren zumindest den Beitritt in in eine der NS-Organisationen nahezu unumgänglich machte, noch kein definitives Urteil über Seeligers tatsächliche politische und ideologische Einstellungen zu. In seinen Kommentaren finden sich jedoch zeittypische rassistische, antisemitische und antipolnische Äußerungen, die zumindest auf eine Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie hinweisen. Polnische Jüdinnen und Juden sind ein wiederkehrendes Motiv auch im Konvolut Kurt Seeligers.25 Obwohl seine Kommentare im Vergleich zu anderen Zeitzeugnissen deutscher Soldaten nicht als exzessiv antisemitisch bezeichnet werden können, reproduziert er die damals gängigen antisemitischen Stereotype. So vermerkt er auf der Rückseite einer Fotografie vom 11. Oktober, die Personen auf dem zerstörten Marktplatz von Szczerców zeigt: „Die Bevölkerung hatte sich wieder eingefunden und die Juden handelten und feilschten.“ 22 23 24 25 Fotokonvolut Seeliger, Bogen 35, 36, 37, 40. NdsLA, 3 Nds 92/1 Nr. 12814, Entnazifizierungsakte Seeliger, fol. 1 (Die Akte ist nicht durchgängig paginiert). NdsLA, 3 Nds 92/1 Nr. 12814, Entnazifizierungsakte Seeliger, fol. 5 (Die Akte ist nicht durchgängig paginiert]. Fotokonvolut Seeliger, Bogen 22, 23, 24, 52, 53, 54, 92, 93. 117 Svea hammerle Abb. 7: Bild 92 Noch deutlicher erscheint diese Haltung in Bild 54, auf dem ein lächelnder Wehrmachtsoldat im weißen Drillich und mit umgehängtem Gewehr eine Gruppe jüdischer Männer in Zwoleń zur Zwangsarbeit führt. Seeliger kommentierte dieses Bild jüdischer Zwangsarbeit höhnisch „Sie werden freundlich zur Arbeit aufgefordert.“26 Der Ende des 19. Jahrhunderts propagierte rassistische Antisemitismus, der auf dem jahrhundertealten europäischen Antijudaismus beruhte und der im 20. Jahrhundert vom NS-Regime zur Vorbereitung und Durchführung des Genozids an den Jüdinnen und Juden instrumentalisiert wurde, war auch unter Wehrmachtsoldaten weitverbreitet.27 Die häufig orthodoxen und überwiegend sehr armen Jüdinnen und Juden der polnischen Schtetl stellten aufgrund ihres identifizierbaren Erscheinungsbildes eine geeignete Projektionsfläche für derartige Vorurteile dar.28 Dies äußerte sich in gewalttätigen 26 27 28 118 Fotokonvolut Seeliger, Bogen 54. Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006, S. 45. Jochen Böhler, Die Judenverfolgung im deutsch besetzten Polen zur Zeit der Militärverwaltung ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen Abb. 8: Bild 54 Ausschreitungen, „Blitzpogromen“ und öffentlichen Demütigungen. Zudem wurde die jüdische Bevölkerung vielerorts für körperlich schwere Arbeiten wie die Beseitigung der Kriegstrümmer oder die Bestattung gefallener Soldaten zwangsrekrutiert oder musste zum Teil unsinnige, aber harte körperliche Arbeit leisten. Diese Schikanen waren von dem verbreiteten antisemitischen Vorurteil, wonach Jüdinnen und Juden „arbeitsscheuen Parasiten“ seien, beeinflusst. Gewalthandlungen und Demütigungen waren die Folge und endeten für die jüdischen Betroffenen nicht selten tödlich.29 Auch wenn nicht geklärt werden kann, unter welchen Bedingungen die Juden auf Seeligers Fotografie zu arbeiten hatten, ist nicht von einer tatsächlich nur „freundlichen Aufforderung“ auszugehen. Die Darstellung der polnischen Bevölkerung in Seeligers Konvolut reproduziert ebenfalls Stereotype und Feindbilder der nationalsozialistischen Propaganda. So zeigen 29 (1. September bis 25. Oktober 1939), in: Jacek Andrzej Młynarczyk/Jochen Böhler (Hrsg.), Der Judenmord in den eingegliederten polnischen Gebieten 1939–1945, S. 79–98, hier: S. 84. Böhler, Vernichtungskrieg, S. 191 f. 119 Svea hammerle Abb. 9: Bild 57. Ende September u.[nd] Anfang Oktober lag die Batterie in dem Dorfe Antoniowka (nördl.[ich] Zwolen). Erst lagen wir in den Scheunen, als es aber kälter wurde, zogen wir zu den Panjes in die Häuser. Ich wohnte u.[nd] schlief mit 5 meiner Leute u.[nd] der Hälfte der auf dem Bilde zu sehenden Panjefamilie in dem Zimmer mit dem Giebelfenster. Bis auf ein paar Wanzen und Flöhe sind wir ungezieferfrei geblieben. Abb. 10: Bild 64. „Die ‚Hupfdohle‘ hütete die Gänse und die Kühe, wurde aber von der Panjefamilie nur im Kartoffelkeller geduldet. Sie war lahm, hatte die Krätze und saß voller Läuse.“ 120 ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen fast alle Fotografien die polnische Landbevölkerung in ärmlichen Verhältnissen, auf der Flucht vor den deutschen Truppen oder vor zerstörten Gebäuden.30 Hier spiegelt sich das von den Nazis behauptete west-östliche Kulturgefälle wider, das die Bewohnerinnen und Bewohner des ländlichen Polen als vermeintlich kulturell und zivilisatorisch rückständig ansah.31 Ende September bis Anfang Oktober 1939 war die Beobachtungs-Abteilung 13 in dem kleinen Dorf Antoniówka westlich der Weichsel stationiert. Die Soldaten wurden in den Wohnhäusern der einheimischen Bevölkerung einquartiert. Im rückseitigen Kommentar von Bild 57, das eine polnische Familie vor ihrem Haus zeigt, wird das Motiv des angeblichen Kulturgefälles klar ersichtlich. Seeliger nennt die Personen „Panjes“, ein deutscher Spottbegriff für die polnische Landbevölkerung, der vom polnischen Wort „Pan“ („Herr“) abgeleitet, hier aber herablassend gemeint ist. Seeliger scheint in seinem Kommentar überrascht, dass sich seine antipolnischen Vorurteile in diesem Fall jedoch nicht bestätigten: „Bis auf ein paar Wanzen und Flöhe sind wir ungezieferfrei geblieben.“32 Die Magd der Familie entsprach jedoch wieder seinem vorgefertigten Bild, denn „sie war lahm, hatte die Krätze und saß voller Läuse“.33 Das behauptete Kulturgefälle stärkte bei vielen deutschen Soldaten das Selbstbewusstsein einer zivilisatorischen Überlegenheit und beförderte Gefühle des Abscheus. Es wurde jedoch auch zum Anlass genommen, Rückschlüsse auf den angeblich „hinterhältigen slawischen Charakter“ zu ziehen, ein Feindbild, auf das die Wehrmachtführung ihre Soldaten vor Beginn des Krieges regelrecht eingeschworen hatte. Die Vorurteile förderten die Gewaltbereitschaft der Soldaten auch gegenüber der zivilen Bevölkerung und machten sie unempfänglicher für deren Leid.34 Die antipolnischen Einstellungen kulminierten schließlich in dem von Jochen Böhler beschriebenen „Freischärlerwahn“.35 „Freischärler“, „Franktireure“, „Fenster-“, „Baum-“, oder „Heckenschützen“ sind eines der am häufigsten wiederkehrenden Themen in den Selbstzeugnissen der Soldaten im Krieg gegen Polen und in der nationalsozialistischen Propaganda. Tatsächlich handelte es sich bei den angeblichen „Heckenschützen“ selten um Zivilisten, sondern um Einheiten der polnischen Armee, die aufgrund des schnellen deutschen Vormarsches hinter die Frontlinien geraten waren und dort weiterkämpften. Die Wehrmachtsoldaten nahmen sie jedoch „als unsichtbaren Feind [wahr], der nach ihrem Empfinden feige und heimtückisch aus dem Verborgenen kämpfte“ und somit das Vorurteil des „hinterhältigen Slawen“ bestätigte.36 Auch stellten die deutschen Soldaten die polnische Zivilbevölkerung unter Kollektivverdacht, sich an den bewaffneten Kämpfen zu beteiligen. Dies 30 31 32 33 34 35 36 Fotokonvolut Seeliger, Bogen 13, 14, 15, 33, 34, 57, 63, 64, 92, 93, 95. Böhler, Vernichtungskrieg, S. 42. Fotokonvolut Seeliger, Bogen 57. Fotokonvolut Seeliger, Bogen 64. Böhler, Vernichtungskrieg, S. 43. Ebenda, S. 54–60. Ebenda, S. 62. 121 Svea hammerle Abb. 11: Bild 35. „8. 9. 1939. Auf dem Marktplatz in Drevica wurden zwei polnische Baumschützen vorgeführt. Kurz darauf wurde ein Unteroffizier hinter der Kirche ins Knie geschoßen. Da der Schuß aus dem Pfarrhause abgegeben worden war, wurde der Pfarrer verhaftet und, als er mit uns Pfarrei und Kirche durchsuchen mußte, und im Turm einen Soldaten von der Leiter stoßen wollte, erschossen.“ Abb. 12: Bild 36. „8. 9. 1939. Auf dem Marktplatz in Drevica wurde inzwischen die Bevölkerung zusammengetrieben, da wieder auf deutsche Soldaten geschossen wurde. Die Frauen schrien, jammerten und beteten, aber keiner wußte angeblich, wer geschossen hatte.“ 122 ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen Abb. 13: Bild 37. „8. 9. 1939. Drevica. Erst nachdem damit gedroht wurde, daß alle erschossen würden, wurden einige Leute seitens der Bevölkerung als Freischärler angezeigt.“ führte zu Gewalthandlungen, Brandstiftungen und (Massen-)Erschießungen von Zivilistinnen und Zivilisten sowie Soldaten.37 Der „Freischärlerwahn“ wurde sowohl von der Wehrmacht befördert als auch im Nachhinein zur Rechtfertigung der gewalttätigen Übergriffe auf Kriegsgefangene und die Zivilbevölkerung genutzt.38 Dieses Thema lässt sich auch in Seeligers Konvolut wiederfinden.39 Besonders anschaulich wird es an einer Bildstrecke von drei Fotografien aus dem Dorf Drzewica vom 8. September 1939. Die erste Fotografie zeigt die Festnahme angeblicher „Baumschützen“ vor einem Kirchturm, das zweite die als Geiseln genommene Bevölkerung auf dem Marktplatz und das dritte eine Gruppe von Männern, die von den Geiseln als weitere „Baumschützen“ denunziert und von Wehrmachtsoldaten bewacht wurden. Die Kleidung der drei auf dem Marktplatz festgenommenen Männer verweist darauf, dass es sich bei ihnen vermutlich um polnische Soldaten und nicht um zivile „Baumschüt37 38 39 Ebenda, S. 75. Vgl. Die Wehrmacht, Der Freiheitskampf des großdeutschen Volkes. Das Buch des Krieges 1939/40, Berlin 1940, S. 38–40. Fotokonvolut Seeliger, Bogen 35, 36, 37, 38. 123 Svea hammerle zen“ handelt. Seeligers Kommentar lässt darauf schließen, dass er die Ermordung des Pfarrers von Drzewicafür wesentlich brisanter hält als die Verhaftung der „Baumschützen“. Verwunderlich ist daher, dass er die Erschießung beziehungsweise die Leiche nicht fotografierte. Es lässt sich nur spekulieren: Vielleicht wollte er eine Verletzung des Kriegsrechts nicht abbilden – obschon er keine Bedenken gehabt zu haben scheint, darüber zu schreiben –, oder er hatte keine Gelegenheit, das Geschehen in der Kirche zu fotografieren. Möglicherweise hatte er auch Hemmungen, einen toten Geistlichen aufzunehmen. Der Bevölkerung Drzewicas, die gefangen genommen und mit dem Tod bedroht wurde, scheint Seeliger kein Mitgefühl entgegenzubringen. Er versucht eher, die Szene möglichst anschaulich zu beschreiben. Unter den Männern, die schließlich als weitere „Baumschützen“ denunziert worden waren, ist einer minderjährig, die Mehrheit im mittleren oder Greisenalter. Bei einem der älteren Männer scheint es sich um einen Juden zu handeln. Am rechten Bildrand ist ein Wehrmachtsoldat zu sehen, der seine Hände wie zum christlichen Gebet faltet. Er scheint diese Geste den Gefangenen vorzumachen, einige von ihnen sind im Begriff, die Geste zu imitieren. Seeliger äußert sich nicht zum weiteren Schicksal der gefangenen Männer. Die im Bild sichtbaren und auf die Gefangenen gerichteten halbautomatischen Waffen ebenso wie die gängige Praxis, als „Freischärler“ Verdächtigte zu exekutieren, legen aber die Vermutung nahe, dass sie erschossen wurden. Offen bleibt, warum Seeliger das Ende dieser Episode nicht in seinen Kommentaren erwähnte. Hielt er es für selbstverständlich oder unterzog er sich einer Selbstzensur? Da diese Fotografie nicht von ihm signiert ist, war er möglicherweise bei der Festnahme der Männer selbst nicht anwesend und konnte auch nicht wissen, was mit den Personen danach geschah. Das Preisgeben einiger und Verschweigen anderer Informationen sowie die Diskrepanz zwischen dem auf den Fotografien Gezeigten und in den Kommentaren Thematisierten werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Es wird jedoch ersichtlich, dass Seeliger die Anordnung der Fotografien innerhalb seines Konvoluts wichtig war. Über die reine Chronologie hinaus kann er hier, kontextualisiert durch die rückseitigen Kommentare, ganze Ereignisketten präsentieren und miteinander in Bezug setzen. Dadurch wird, wenn auch nicht explizit angesprochen, Seeligers Einstellung zum Geschehen erkennbar. Dies lässt sich anschaulich an der Juxtaposition zweier Fotografien vom 9. September aus Zakościele nachvollziehen. Das erste Bild (Abb. 14.) zeigt ein kleines polnisches Mädchen in lokaler Tracht. Ohne den rückseitigen Kommentar erscheint diese Szene zunächst beschaulich. Seeliger gibt jedoch folgenden Kontext: „9. 9. 1939 Kind aus Zakosciole. Die Batterie lag in der Nacht am Dorfrand und wurde zweimal durch wüstes Geschieße alarmiert, daß aus dem nahen Waldrande herübertönte. Die Posten wollten poln.[ische] Kavallerie gesehen haben. Die Nacht verlief aber wieder ohne Zwischenfälle. Am nächsten Morgen lag das Dorf so friedlich da, daß ich das Mädchen im Sonntagsstaat aufnehmen konnte. Erst wollte es weinen, aber mit etwas Schokolade wurde die Stimmung heiter. Im Graben lag ein toter Pole, vor der Scheune noch einer.“ 124 ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen Abb. 14: Bild 39. Abb. 15: Bild 40 125 Svea hammerle Hier zeigt sich nicht nur der Gegensatz zwischen dem „wüsten Geschieße“ der Nacht und der idyllischen Dorfszene am Morgen. Auch der Kontrast zwischen dem Mädchen und den beiden Toten wird durch den sprachlichen Aufbau des Kommentars, der die Leichen nicht in einen inhaltlichen Bezug zum Motiv des Bildes setzt, zusätzlich betont. Zudem scheint Seeliger diese Situation – ein Kind mit Schokolade zu locken, damit es neben Toten posiert – nicht problematisch zu finden. Ganz im Gegenteil, er verstärkt die Diskrepanz noch zusätzlich durch die Auswahl des nächsten Bildes (Abb. 15 auf der vorigen Seite), auf dem ist ein toter Mann zu sehen ist. Ob es sich hierbei um den zuvor erwähnten toten Polen im Graben handelt, ist jedoch zweifelhaft, da Seeliger das Bild nicht signiert und vermutlich einem seiner Kameraden abgekauft hat. Seeliger belegt durch die Juxtaposition die im ersten Kommentar geschilderte Szene visuell, jedoch eventuell mit dem Bild einer anderen Leiche. Der Kommentar zu diesem Bild lautet „Toter Pole in Zakosciola“ und vermittelt den Eindruck, es würde sich bei dem toten Mann um einen Zivilisten handeln. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass die Hände des Mannes gefesselt zu sein scheinen und seine Kleidung vermutlich die eines polnischen Soldaten ist, wobei ihm bezeichnenderweise die Fußbekleidung weggenommen wurde. Sowohl das Hemd als auch die Hose lassen auf eine polnische Militäruniform schließen. Die Längsfalten am Hosenbein deuten darauf hin, dass der Mann Wickelgamaschen getragen hatte.40 Da der gefesselte und halb entkleidete Mann vermutlich nicht während der Kampfhandlungen erschossen wurde, kann auch hier angenommen werden, dass es sich um einen als „Freischärler“ deklarierten und nach der Gefangennahme ermordeten polnischen Soldaten handelt. Dass Seeliger ihn nicht als solchen bezeichnet, sondern das Bild primär als Hilfsmittel für das Narrativ seiner Sammlung einsetzt, ist jedoch verwunderlich. Eventuell wollte er die kriegsrechtswidrige Handlung verschleiern. Die Fotografie sticht jedoch als einzige Abbildung eines toten Menschen aus dem restlichen Konvolut hervor. Auf den anderen 96 Bildern sind keine Leichen zu sehen, und gefallene deutsche Soldaten werden nur durch Fotografien ihrer Grabkreuze visualisiert. Die bisher dargestellten Motive stehen in starkem Kontrast zu den anderen Themen des Konvoluts. Aufnahmen, die den Alltag der Soldaten, das deutsche Kriegsgerät, die „Volksdeutschen“ und selbst die polnischen Kriegsgefangenen zeigen, sind anders arrangiert und vermitteln somit eine differierende Einstellung Seeligers zu den Bildinhalten. Besonders deutlich wird dieser bildliche Gegensatz, wenn die Darstellungsweise der polnischen beziehungsweise polnisch-jüdischen Bevölkerung mit der von Deutschen beziehungsweise „Volksdeutschen“ verglichen wird. Wie bereits erläutert, betonen Seeligers Fotografien das angenommene „Kulturgefälle“, die Armut der polnischen Bäuerinnen und Bauern und ihre vermeintlich unhygienischen Lebensumstände. Das einzige Bild, das „Volksdeutsche“ porträtiert, zeigt diese hingegen auffallend anders. Die eher 40 126 Ich bin Herrn Łukasz Suska für seine Beratung bezüglich polnischer Uniformen zu Dank verpflichtet. ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen Abb. 16: Bild 47. „Ruhetag im deutschen Dorf Leokadiow.“ Abb. 17: Bild 68. „Morgens wuschen wir uns auf dem Hof.“ Abb. 18: Bild 69. „– auch als es nachher kälter wurde.“ 127 Svea hammerle Abb. 19: Bild 8. „Die Siegerehrung wird von der Ehrenjungfrau Mroß vorgenommen.“ bürgerliche Kleidung der jüngeren Frau, die hochhackigen Schuhe, die eleganten Stühle und das Spinnrad auf dem unbefestigten und eher dreckigen Boden wirken gestellt und unpassend. Obwohl die Personen ebenfalls im dörflichen Umfeld gezeigt werden, scheint die Bildkomposition eine kultiviertere Lebensweise dieser Bevölkerungsgruppe illustrieren zu wollen. Das Motiv des geordneten Lebens findet sich auch in der Darstellung der deutschen Soldaten wieder. Hier sind die Körperpflege und das Waschen der Kleidung ein wiederkehrendes Thema.41 Seeliger betont sowohl in den Fotografien als auch in den Kommentaren, dass die Soldaten trotz widriger Umstände großen Wert auf ihre Reinlichkeit legten. Andere Bilder, die den Alltag der Soldaten zeigen, visualisieren vor allem das kameradschaftliche Zusammensein, den hohen Stellenwert von Essen und jungenhafte Spielereien.42 Offenbar will der Fotograf damit andeuten, dass es deutschen Soldaten leichtfiel, den Krieg als bloßes Abenteuer oder als Entdeckungsreise wahrzunehmen. Dies belegen auch die idyllischen Aufnahmen der polnischen Landschaftsszenen. 41 42 128 Fotokonvolut Seeliger, Bogen 26, 49, 60, 68, 69. Fotokonvolut Seeliger, Bogen 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 17, 51, 60, 61, 62, 70. ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen Unter den Aufnahmen des Soldatenalltags sticht Bild 8 hervor, da es einen Soldaten, ausgestattet mit behelfsmäßigem Büstenhalter und Blumenkranz, zeigt, der als Ehrenjungfrau bezeichnet wird. Auf das Thema Cross-Dressing in der Wehrmacht hat der Künstler Martin Dammann aufmerksam gemacht. Das zunächst befremdlich erscheinende Motiv von Soldaten, die sich als Frauen verkleiden, kommt überraschend häufig vor. Dammann gibt an, dass „sich in zwanzig bis dreißig Alben normalerweise ein oder zwei Fotografien“ dieser Art finden lassen.43 Er definiert vier Grundsituationen, in denen Wehrmachtsoldaten in Frauenkleidung fotografiert wurden: Erstens in „Ulk- und Klamaukszenen“ junger Rekruten vor ihren Fronteinsätzen, zweitens bei einstudierten Aufführungen, die vor Publikum und meist in den rückwärtigen Heeresgebieten stattfanden, drittens an der Front, wo sich die Soldaten an den Kleidern der einheimischen Bevölkerung bedienten und durch das Verkleiden in die Rolle der „abwesenden Partnerinnen“ schlüpften, viertens bei aufwendig inszenierten Aufführungen in den Kriegsgefangenenlagern der Alliierten.44 Die Fotografie Seeligers ist am ehesten der ersten Kategorie zuzuordnen. Der Krieg als solcher wird in Seeligers Konvolut nur selten sichtbar. Aktive Kampfhandlungen fotografierte er nicht. Die militärischen Auseinandersetzungen werden hauptsächlich durch Fotografien von zerstörten polnischen Ortschaften und von Kriegsgerät dokumentiert. Hierbei fällt auf, dass deutsche Panzer und Fahrzeuge meist voll funktionstüchtig abgebildet werden (ein einziges Bild zeigt einen zerstörten deutschen Panzerspähwagen45), während das polnische Kriegsgerät bevorzugt beschädigt fotografiert wurde. Auch bei der Darstellung polnischer Soldaten in Seeligers Fotosammlung lässt sich das gängige Propagandabild der polnischen Armee als nicht ebenbürtiger Gegner aus den Kommentaren herauslesen. Tatsächlich war die polnische Armee der Wehrmacht technisch unterlegen, da sie in den 1930er-Jahren nicht im gleichen Maße motorisiert und mechanisiert worden war. Die polnische Panzerwaffe war der deutschen weder quantitativ noch qualitativ gewachsen. Darüber hinaus scheint das ikonografische Bild „Pferd versus Panzer“ (siehe Abb. 20 und 21 auf der folgenden Seite), das als Legende sowohl in die deutsche als auch in die polnische Propaganda einfloss, sich auch auf Seeligers Motivwahl ausgewirkt zu haben.46 Insgesamt zwölf Mal bildete er die polnische Kavallerie, zum Teil idyllisch inszeniert, ab. Zwar war sie in unwegsamem Gelände den deutschen Militärfahrzeugen zum Teil überlegen, letztendlich konnte sie sich aber nicht gegen die technisch und zahlenmäßig überlegene Wehrmacht behaupten.47 43 44 45 46 47 Martin Dammann, Soldier Studies. Cross-Dressing in der Wehrmacht, Berlin 2018, S. 2. Ebenda, S. 4 f. Fotokonvolut Seeliger, Bogen 44. Vgl. hierzu den Beitrag von Jens Wehner in diesem Band. Markus Pöhlmann, Der Panzer und die Mechanisierung des Kriegs. Eine deutsche Geschichte 1890 bis 1945, Paderborn 2016, S. 508–511. 129 Svea hammerle Abb. 20: Bild 91. „Der von unseren Fliegern in den ersten SeptemberTagen zerstörte Flugplatz bei Deblin.“ Abb. 21: Bild 78. „Der Marsch in die Gefangenschaft. Der Einfluß der Kav.[vallerie] Führer im polnischen Heer war groß, sie bekämpften die Motorisierung unter Hinweis, daß in einem so waldreichen Lande nur der Kavallerist erfolgreich sich betätigen könne. Vorschläge, doch wenigstens an militärisch wichtigen Objekten, wie Straßenkreuzungen, Eisenbahnknotenpunkten, Brücken etc. starke Flak aufzustellen, wurden abgeschlagen. Obwohl den höchsten polnischen Kommandostellen die im deutschen Heere besonders im letzten Jahre stark forcierte Motorisierung bekannt war, bezweifelte man polnischerseits die taktisch wirkungsvollste Anwendung der Flieger und Panzerwagen.“ 130 ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen Abb. 22: Bild 85. „Diese Brüder scheinen nicht sehr geknickt zu sein.“ Abb. 23: Bild 88. „An der Tränke.“ Polnische Soldaten sind, wenn als solche identifiziert, nur als Kriegsgefangene abgebildet. Besonders die rund 17 000 nach der Schlacht bei Kock Gefangengenommenen wurden von Seeliger mehrfach fotografiert. Auffällig bei dieser Bildstrecke ist die augenscheinlich fröhliche Stimmung der polnischen Kriegsgefangenen. Auch Seeligers Blick fürs Idyllische zeigt sich hier erneut. Offenbar herrschte nach der letzten militärischen Auseinandersetzung auf beiden Seiten Erleichterung. Seeliger hatte Zeit, malerische Motive zu fotografieren, und die polnischen Soldaten scheinen sich eher gelassen in die Kriegsgefangenschaft zu begeben. Doch die Momentaufnahmen sollten nicht als repräsentativ bewertet werden, da zahlreiche polnische Kriegsgefangene im September 1939 entweder direkt nach der Gefangennahme oder in den Gefangenenlagern von Wehrmachtsoldaten erschossen wurden.48 4. Fazit Die in vielen Wehrmachtsalben wiederkehrenden Motive machen deutlich, welche Themenkomplexe den Sammelnden oder Fotografierenden wichtig erschienen. Die Auswahl lässt Rückschlüsse auf den Erfahrungsraum der Soldaten zu. Hierin zeigt sich auch die Wirkung der nationalsozialistischen Propaganda, die Aufnahme und Wiedergabe von Freund-Feind-Narrativen und die Einstellung zum Krieg. 48 Böhler, Vernichtungskrieg, S. 171–173. 131 Svea hammerle Die Analyse der Fotosammlung Kurt Seeligers vermittelt weitere Einblicke. Die rückseitigen Kommentare geben den temporalen und geografischen Kontext sowie anekdotische Erzählungen der Ereignisgeschichte. Obwohl Seeliger kaum explizit Position zu den Aufnahmen bezieht, kann seine ideologische Einstellung und seine Bewertung des deutschen Überfalls auf Polen aus dem Zusammenspiel von Motivauswahl, Kommentaren und Juxtaposition der Fotografien rekonstruiert werden. Er bedient sich rassistischer, antipolnischer und antisemitischer Stereotype und kontrastiert sie mit einem positiven Bild der deutschen Soldaten und „Volksdeutschen“. (Kriegs-)Verbrechen und Gewalthandlungen bildet er ab, ohne sie als solche zu bezeichnen oder zu reflektieren. Mitgefühl für die zivilen Opfer des Krieges lässt sich aus seiner Fotosammlung nicht erkennen, im Gegenteil, er betont deren Leid sogar in seinen Kommentaren oder durch die Aneinanderreihung kontrastreicher Bilder. Der Krieg wird bei ihm zu einem Abenteuer verklärt, das im Spannungsfeld von kameradschaftlichen Albereien, zerstörten Ortschaften, Flüchtlingsströmen und idyllischen Landschaften stattfindet. Wie bei textuellen Quellen des Zweiten Weltkrieges muss auch bei der Analyse von Fotosammlungen und Wehrmachtsalben „zwischen den Zeilen“ gelesen werden. Die Frage, warum einige Bilder gezeigt werden und andere nicht, muss geprüft und nach den Standards der historischen und der fotohistorischen Forschung beantwortet werden. Erst dann können visuelle Quellen weiterführende Antworten auf größere Fragestellungen geben. Aufgrund der Qualität der Fotografien, der sorgfältigen Zusammenstellung und der akribischen Kommentierung ist die Sammlung Kurt Seeligers hierfür eine sehr ergiebige Grundlage. Literatur Böhler, Jochen, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006. – Die Judenverfolgung im deutsch besetzten Polen zur Zeit der Militärverwaltung (1. September bis 25. Oktober 1939), in: Jacek Andrzej Młynarczyk/Jochen Böhler (Hrsg.), Der Judenmord in den eingegliederten polnischen Gebieten 1939–1945 (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, Bd. 21), S. 79–98. Dammann, Martin, Soldier Studies. Cross-Dressing in der Wehrmacht, Berlin 2018. Froben, H. J., Aufklärende Artillerie. Geschichte der Beobachtungsabteilungen und selbständigen Beobachtungsbatterien bis 1945, München 1972. Koch, Hermann, 1937 bis 1945. Die Geschichte der Beobachtungsabteilung 13, o. O. 1970. Pöhlmann, Markus, Der Panzer und die Mechanisierung des Kriegs. Eine deutsche Geschichte 1890 bis 1945, Paderborn 2016. Scherzer, Veit, Deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg, Bd. 4. Die Divisionen. Divisionen und Brigaden mit den Nummern 9 bis 14. Gliederung, Kommandeure, Einsatz, Inhaber höchster Auszeichnungen, Bayreuth 2008. 132 ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen Quellen Auskunft der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt) vom 15. 8. 2018. Bundesarchiv (BArch), RH 26-13/1, Kriegstagebuch der 13. Division (mot). Die Wehrmacht, Der Freiheitskampf des großdeutschen Volkes. Das Buch des Krieges 1939/40, Berlin 1940. Familiengeschichtliche Aufzeichnungen der Familie Seeliger, unveröffentlicht. Fotokonvolut Seeliger. Niedersächsisches Landesarchiv (NdsLA), 3 Nds 92/1 Nr. 12814, Entnazifizierungsakte Seeliger, o. P. Online Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Digitale Foto-Ausstellung zum deutschen Überfall auf Polen 1939. Aus dem Bestand Kurt Seeligers, https:// onlinesammlungen.ghwk.de/seeliger [28. 5. 2019]. 133 Kurt Lehnstaedt · Stephan Lehnstaedt Der Angriff der „Schleswig-Holstein“ auf die Westerplatte Aus dem Logbuch des Seekadetten Hans Buch1 Deutschland begann den Zweiten Weltkrieg am 1. September 1939 um 4:47 Uhr mit dem Beschuss der polnischen Festung Westerplatte durch das Schulschiff „SchleswigHolstein“ der Kriegsmarine unter ihrem Kapitän Gustav Kleikamp. Obwohl inzwischen weitgehend davon ausgegangen wird, dass in Wieluń ein Bombenangriff der Luftwaffe bereits um 4:40 Uhr begann,2 dominiert in der Erinnerung dennoch das Geschehen in Danzig und besonders auf der Westerplatte. In Polen sind die dort im September 1939 stationierten Soldaten längst in den Kanon der nationalen Helden eingegangen. Ihr Abwehrkampf war Anlass für ein Museum und mehrere Denkmale, und keine größere Stadt Polens kommt heute ohne eine Straße aus, die den Verteidigern der Westerplatte gewidmet ist.3 Die Westerplatte trennt als eine vorgelagerte Landzunge den Hafen Danzigs von der Ostsee. Sie war von der nach dem Ersten Weltkrieg wiedergegründeten Republik Polen als Munitionshafen und -depot ausgebaut worden. Dies geschah vor allem deshalb, weil Deutschland seinem Nachbarn keinen Zugang zu den Anlagen im unter Völkerbundmandat stehenden Danzig gewähren wollte. Und während zugleich im Westen der historischen Hansemetropole mit dem polnischen Gdynia ein Dorf zur Stadt umgewandelt wurde, das die Bedürfnisse nach einem modernen Militärhafen erfüllte, war das Bauprojekt auf der Westerplatte vor allem symbolischer Natur: Das Gelände war schlicht nicht groß genug, um umfangreichere logistische Bedürfnisse zu erfüllen. Anders als gedacht, erwiesen sich die Befestigungsanlagen aber als ein ernsthaftes Hindernis, das die deutschen Aggressoren nicht wie erwartet in wenigen Stunden überwinden konnten. Deren Aufklärung war völlig unzureichend, sie hatten kein Wissen über die Unterstände und Bunkeranlagen, außerdem war ihnen entgangen, dass die Polen unmittelbar vor Kriegsausbruch die auf der Westerplatte arbeitenden Zivilisten 1 2 3 Die Autoren danken Thomas Buch sowie Klara und Peter Werner für die Überlassung des „Logbuchs“ von Hans Buch sowie für die Hilfe bei der elektronischen Erfassung und Transkription. Wertvolle Hinweise und Hilfe erhielten wir von Dr. Peter Lieb und Fregattenkapitän Dr. Christian Jentzsch, beide Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Vgl. etwa Joachim Trenkner, Wieluń, czwarta czterdzieści. 60 lat temu wybuchła II wojna światowa, in: Tygodnik Powszechny (1999) 36, S. 1–7. Eine ausführliche Dokumentation bei Tadeusz Olejnik, Wieluń. Polska Guernica, Wieluń 2009. Krzysztof Zajączkowski, Westerplatte jako miejsce pamie̜ci. 1945–1989, Warszawa 2015. 135 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt durch Soldaten ersetzt und so die Verteidigungsstärke erhöht hatten. Deshalb stürmten am 1. September nach nur sieben Minuten Beschuss durch die „Schleswig-Holstein“ 150 Marinesoldaten, die das Schiff abgesetzt hatte, von der Landseite gegen die Polen, während drei weitere Züge von See aus angriffen. Allerdings war der Beschuss weitgehend wirkungslos gewesen, weil Bäume und Hügel direkte Wirkungstreffer an den Befestigungen verhinderten. Im dichten Maschinengewehrhagel brach der deutsche Vorstoß schnell zusammen, und die Angreifer mussten sich unter schweren Verlusten zurückziehen. Eine zweite Beschießung setzte ein, diesmal auch von Land durch Einheiten der Danziger Landwehr. Nach beinahe einer Stunde griff die Marineinfanterie wieder an – und wurde erneut zurückgeschlagen; unter den Toten war auch der Kommandeur Oberleutnant Wilhelm Henningsen. Am 2. September richtete die „Schleswig-Holstein“ ihre Artillerie nur gegen polnische Befestigungen in Gdynia, denn trotz Hitlers Befehl, die Westerplatte noch am selben Tag einzunehmen, musste ein erneuter Angriff vertagt werden. Allerdings bombardierte die Luftwaffe am Abend mit zwei Stuka-Divisionen die Festung. Am nächsten Tag gab das deutsche Schulschiff erneut keinen Schuss auf die Westerplatte ab, denn Kleikamp war inzwischen sehr pessimistisch, was die Wirksamkeit eines Beschusses betraf – die polnischen Unterstände und Bunker waren für seine Geschütze kaum erreichbar. Der 4. September brachte die nächste deutsche Artillerieattacke, diesmal von der Seeseite durch den Zerstörer T-196 und das Minensuchboot „Von der Groeben“, während die „Schleswig-Holstein“ erneut in Richtung Gdynia feuerte. Abermals wagten es die Deutschen nicht, ihre Soldaten vorzuschicken. Daran änderte sich auch am 5. September nichts, an dem der mit Verstärkung eingetroffene Oberstleutnant Carl Henke die Lage sondierte und Feldhaubitzen sowie einmal mehr die „Schleswig-Holstein“ auf die Westerplatte schießen ließ. Der darauffolgende Tag sah vereinzelte weitere Vorstöße, die gewisse Geländegewinne brachten, aber keinen entscheidenden Sieg – auch weil es nicht gelang, den Wald auf der Westerplatte abzubrennen, der ein freies Schussfeld für die Schiffsgeschütze verhinderte. Am 7. September hatten die Angreifer beinahe 600 Mann zusammengezogen, die nach einer Kanonade durch die „Schleswig-Holstein“ ab 4:26 Uhr vorrückten. Die von jeglichem Nachschub abgeschnittenen Verteidiger, die ihre vielen Verwundeten kaum versorgen konnten, hatten dieser erneuten Attacke nicht mehr viel entgegenzusetzen. Gegen 9:45 Uhr hissten sie die weiße Fahne und kapitulierten.4 Die fünf polnischen Offiziere und 206 Unteroffiziere und Mannschaften unter Major Henryk Sucharski hatten ihren ursprünglichen Befehl, der einen hinhaltenden Widerstand für mindestens zwölf Stunden vorsah, weit übererfüllt. Die Verluste betrugen 50 Mann auf deutscher Seite sowie 15 Mann bei den Polen, dazu kamen zahlreiche Verletzte.5 4 5 136 Vgl. die Darstellungen bei Piotr Derdej, Westerplatte, Oksywie, Hel 1939, Warszawa 2009, S. 72–107; Jarosław Tuliszka, Westerplatte 1926–1939, Toruń 2011, S. 155–230; Bertil Stjernfelt/ Klaus-Richard Böhme, Westerplatte 1939, Freiburg 1979, S. 78–122. Tuliszka, Westerplatte 1926–1939, S. 245–254. der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte Der Kampf um die Westerplatte war dennoch weit mehr als nur das erste Gefecht des Zweiten Weltkriegs. Die „Schleswig-Holstein“ war explizit mit dem Auftrag eines Angriffs auf die Westerplatte nach Danzig geschickt worden. Selbstverständlich war in Berlin klar, dass ein Krieg gegen Polen nicht dadurch entschieden würde. Aber so wie Polen diese Festung vorwiegend aus symbolischen Gründen gebaut hatte, sollte sie nun aus symbolischen Gründen möglichst publikumswirksam vor den Augen der Danziger Bevölkerung erobert werden. Darüber hinaus wollte die Marine in einer Art Leistungsschau demonstrieren, welchen Beitrag sie zum Erfolg der Wehrmacht – den niemand ernsthaft bezweifelte – zu leisten in der Lage war. Doch das Gefecht entwickelte sich ganz anders und konnte, trotz des letztlichen Erfolgs, kaum als glorreicher Sieg zelebriert werden. Das militärische Geschehen ist aus polnischer Perspektive umfassend dokumentiert,6 wohingegen die deutschsprachige Forschung den „Polenfeldzug“ allgemein7 und die Belagerung der Westerplatte im Speziellen seit vielen Jahren weitestgehend ignoriert. So liegt das Kriegstagebuch der „Schleswig-Holstein“ zwar in verschiedenen polnischen Editionen vor, aber nicht auf Deutsch.8 Auch über die Wahrnehmungen der zahlreichen deutschen Soldaten auf der „Schleswig-Holstein“ ist kaum etwas bekannt, lediglich ein Logbuch des Musikmeisters Willi Aurich – Dirigent des Schiffsorchesters und Sanitätsoffizier – ist bislang ediert worden, ebenfalls in einem polnischen Verlag.9 Diese Lücke ist angesichts der prominenten Stellung der Westerplatte in der deutschen Propaganda umso bemerkenswerter. Der polnische Militärstützpunkt stand wie kein anderer Ort für die vorgeblich widerrechtliche Aneignung gewissermaßen ureigenster deutscher Erde durch Polen. Als eine Art Stachel im Fleische war seine Eroberung eine Frage der Ehre, an der sich alle Waffengattungen beteiligten. Bereits wenige Monate später schilderten verschiedene offizielle Publikationen das Überwinden der polnischen Verteidigung,10 die – entgegen jeglicher Tatsachen – meist als hinterhältig 6 7 8 9 10 Vgl. etwa die Materialsammlung bei Zbigniew Flisowski (Hrsg.), Westerplatte, Warszawa 1959. Eine Ausnahme stellen die Forschungen von Jochen Böhler dar, die sich vor allem den deutschen Kriegsverbrechen widmen: Jochen Böhler (Hrsg.), „Größte Härte …“. Verbrechen der Wehrmacht in Polen September/Oktober 1939, Osnabrück 2005; ders., Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt 2006; ders./Klaus-Michael Mallmann/ Jürgen Matthäus, Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008. Vgl. auch die Dokumentationen von Stephan Lehnstaedt/Jochen Böhler (Hrsg.), Die Berichte der Einsatzgruppen aus Polen 1939. Vollständige Edition, Berlin 2013; Jacek Zygmunt Sawicki/ Jochen Böhler (Hrsg.), Kariera SS-Oberscharführera Hermanna Baltruschata 1939–1943. Album fotograficzny funkcjonariusza Einsatzgruppe i Geheime Staatspolizei na ziemiach polskich wcielonych do Rzeszy, Warszawa 2014 (zweisprachig deutsch-polnisch). Vgl. etwa Jacek Żebrowski (Hrsg.), Zanim poddał się Hel. Niemiecki dokument z 1939 roku, Łódź 2003. Marian Pelczar (Hrsg.), Relacja niemieckiego oficera o walce na Westerplatte we wrześniu 1939 roku, Warszawa/Poznań 1974 (zweisprachig deutsch-polnisch). Beispielsweise Oberkommando der Wehrmacht (Hrsg.), Die Wehrmacht. Der Freiheitskampf des großdeutschen Volkes. Das Buch des Krieges 1939/40, Berlin 1940, S. 29–31; Rolf Bathe, Der Feldzug der 18 Tage. Chronik des polnischen Dramas, Berlin 1939, S. 41 und 44; Friedrich 137 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt und heimtückisch dargestellt wurde. Einmal mehr galten die Polen als unehrenhafte Gesellen, die mit allen Tricks die Deutschen nicht nur um einen Teil von Danzig, sondern auch um einen verdienten Sieg bringen wollten. Das war jedenfalls die Perspektive, die die deutsche Propaganda weithin einnahm.11 Wie Jochen Böhler gezeigt hat, hatte die permanente Indoktrination bei vielen Wehrmachteinheiten zu einer Art Heckenschützen-Trauma geführt,12 weshalb vielfach unschuldige Zivilisten auf den bloßen Verdacht hin, auf Deutsche geschossen zu haben, ermordet wurden. Auf diese Weise manifestierte sich die Wirkungsmacht der ideologischen Schulung. Was für das Heer inzwischen vielfach belegt und insbesondere für den späteren Russlandfeldzug auch ganz offensichtlich ist, bleibt für die Marine bislang im Unklaren. Sicher ist indes, dass weltanschauliche Erziehung auch dort einen wichtigen Stellenwert hatte. Die Wehrmacht als Ganze arbeitete gut mit der NSDAP zusammen, etwa in Lehrgängen. Die Truppenbetreuung selbst oblag allerdings den verantwortlichen Truppenführern, hier hatte die Partei wenig Einflussmöglichkeiten. Diese Autonomie zeigt sich bei der Marine etwa im 1937 erstmals erschienenen maßgeblichen Handbuch des Konteradmirals Siegfried Sorge,13 das hauptsächlich im Kapitel über Offiziersausbildung gewisse ideologische Elemente enthielt. Darüber hinaus gab es zwischen der Kriegsmarine und der NSDAP auch keine institutionalisierte Kommunikation. In gewissem Sinne war das aber gar nicht notwendig: Als Teil der Wehrmacht, die im nationalsozialistischen Staat als dessen Institution agierte, handelte sie natürlich im Rahmen der politischen Vorgaben; darüber hinaus bestanden selbstverständlich personelle Verknüpfungen.14 Das spiegelte auch die Offiziersausbildung wider. Während des Zweiten Weltkrieges wurden etwa 12 700 Marineoffiziersanwärter ausgebildet: Auf eine viermonatige infanteristische Grundausbildung mit den Zielen Selbstüberwindung, Härte und Unterord- 11 12 13 14 138 Ruge, Tätigkeit der Kriegsmarine insbesondere der Minensuchboote gegen Polen, in: Nauticus 24 (1941), S. 42–59, hier S. 45 f. (Runge war Kommandant der gegen Polen eingesetzten Minensuchboote); Carl Lange, Die Befreiung Danzigs, Stuttgart 1940, S. 35–40; Artur Bassarek, Danzigs Befreiung. Ein Tatsachenbericht mit Bildern, Danzig 1939, S. 20–24; Hanns Strohmenger, Danzigs Heimkehr ins Reich, Danzig 1939, S. 46 und 50; Hugo Landgraf, Kampf um Danzig. Mit Mikrophon und Stahlhelm an der Danziger Front, Dresden 1940, S. 41–45 und 68 f.; Fritz-Otto Busch, Unsere Kriegsmarine im polnischen Feldzug, Berlin 1940, S. 24 f.; Hans Steen, Blaue Jungen schlagen Polen. Erlebnisse von den Kämpfen unserer Truppen um die Danziger Bucht im Blitzkrieg, Stuttgart 1940, S. 32–38. Daniel Brewing, Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten 1939– 1945, Darmstadt 2016, S. 144–148 und 157 f.; Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 33–38. Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 54–75. Siegfried Sorge, Der Marineoffizier als Führer und Erzieher, Berlin 1937. Armin Nolzen, Kriegsmarine, NSDAP und „wehrgeistige Führung“ im Zweiten Weltkrieg, in: Stephan Huck (Hrsg.), Die Kriegsmarine. Eine Bestandsaufnahme, Bochum 2016, S. 173–188, hier S. 174 f. und 182. der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte nung folgten sechs Monate Flottenpraktikum, dann sechs Monate theoretische Ausbildung an der Marineschule Mürwik, die mit der Seeoffiziershauptprüfung endete. Danach begannen sechs bis acht Monate praktische Waffenlehrgänge, z. B. Schiffsartillerie, Torpedos, Minen, Nachrichtendienst sowie nochmals sechs Monate Flottenpraktikum als Fähnrich, wo die Kadetten schon Offiziersfunktionen wahrnahmen. Insgesamt also dauerte die Ausbildung maximal 30 Monate, wobei sie 1944 sogar auf 23 Monate verkürzt wurde. Die angehenden Offiziere mussten Abitur haben sowie die volle Wehrtauglichkeit mit mindestens 1,65 m Körpergröße und 6/8 Sehkraft vorweisen; das Höchstalter war 24 Jahre.15 Bis Kriegsbeginn 1939 gab es Segelschulschiffe („Gorch Fock“, „Horst Wessel“ und „Albert Leo Schlageter“) sowie Schiffe der Inspektion des Bildungswesens („Emden“, „Schlesien“, „Schleswig-Holstein“). Mit Kriegsbeginn fand das Praktikum nur mehr auf Schiffen der Flotte statt, wobei sich das der angehenden Ingenieure deutlich von dem der Seeoffiziere unterschied. Sie alle aber waren in den Tagesdienst integriert, was auf der „Schleswig-Holstein“ hieß, beim Bekohlen mitzumachen und Geschütze zu bedienen. Die Beschießung der Westerplatte als ersten Kampfeinsatz werteten die Kadetten im Anschluss mit einem Artillerieoffizier aus. Nationalsozialistische Ideologie im Dienst hing angesichts dieser durchaus umfassenden militärpraktischen Tätigkeiten vor allem von den jeweiligen Vorgesetzten ab. Explizite Schulungen gab es insbesondere an Land, in Mürwik, wo Geschichte und Staatskunde auf dem Lehrplan standen. An der Marineschule besuchten die Kadetten vormittags fünf, nachmittags vier Stunden Unterricht und hatten an zwei Tagen Arbeitsstunden bis 21:30 Uhr. Die Prüfungsergebnisse, auch in den genannten propagandaaffinen Bereichen, waren Grundlage für die spätere Beförderungsreihenfolge, weshalb die präzise Rezeption der Inhalte durchaus Relevanz besaß. Am Ende der Ausbildung stand die Offizierswahl: Um Leutnant zur See zu werden, stimmen alle Offiziere eines Schiffs oder einer Flottille darüber ab, wer von den Kadetten in das Offizierskorps aufgenommen wurde.16 Rein wissenschaftlich betrachtet besteht hinsichtlich der ideologischen Schulung das Problem, dass sich kaum zwischen der Wirkung von Erziehung und Sozialisation differenzieren lässt. Deshalb lässt sich nur schwer sagen, was Disposition für das individuelle Verhalten bedeutet. Aber letztlich waren theoretische Inhalte und der Umgang mit den Lehrern und Kameraden sowie deren Verhalten, Gruppendruck, Erwartungsnormen und dergleichen mehr für das jeweilige Verhalten der Kadetten wichtig.17 Einen Niederschlag fanden die entsprechenden Perzeptionen und Deutungsmuster in den Aufzeichnungen der Kadetten. Sie alle mussten ein sogenanntes Logbuch führen, 15 16 17 Christian Jentzsch, Die Ausbildung zum Marineoffizier während der Kriegsjahre 1939–1945, in: Stephan Huck (Hrsg.), Die Kriegsmarine. Eine Bestandsaufnahme, Bochum 2016, S. 161–172, hier S. 161 f. Ebenda, S. 164–168. Nolzen, Kriegsmarine, NSDAP und „wehrgeistige Führung“, S. 183. 139 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt Abb. 1: Hans Buch als Kadett. Foto aus dem 1940 publizierten Jahrgangsbuch, dort versehen mit dem Vers: „Das Leben ist ein Jammertal, / doch Liebe versüßt mir die Qual, / dazu oft auch viel’ Flaschen Wein, / so leb’ ich in den Tag hinein.“* *Kadettenzeit der Großdeutschland-Crew. 28. Juni bis 15. Oktober 1939, Flensburg 1940, S. 131. das immer wieder von den Vorgesetzten kontrolliert wurde.18 Allerdings gab es bislang vom Angriff der „Schleswig-Holstein“ keine derartigen Aufzeichnungen. Ein privater Fund liefert nun das Tagebuch des Kadetten Hans Buch, der sich mit den Kameraden seines Offiziersanwärterjahrgangs 1938 am 30. Juni 1939 auf der „Schleswig-Holstein“ einschiffte und sich bis zum 12. Oktober an Bord aufhielt.19 Hans Buch wurde am 29. Juni 1920 in Hannover geboren. Nach der Volksschule besuchte er dort die Oberrealschule, die er im März 1938 mit dem Abitur abschloss. Den Arbeitsdienst leistete er von März bis September 1938 beim Bunkerbau am Westwall ab.20 Unmittelbar danach begann er die Offiziersausbildung bei der Marine. Die ersten Abschnitte in Flensburg-Mürwik und auf dem Dänholm vor Stralsund schloss er als Kadett Ende Juni 1939 ab, als die nächste Ausbildungsphase auf der „SchleswigHolstein“ begann. In Buchs Worten: „Der Augenblick ist gekommen, auf den wir schon Jahre gewartet haben, von dem wir als kleiner Junge träumten, als Pennäler davon schwärmten.“21 Nach dem Einsatz in der Danziger Bucht stand die weitere theoretische Fortbildung auf dem Programm, die über den Dienst als Fähnrich zur Offiziershauptprüfung führte. Nach der Fachprüfung wurde Buch zur 19. Minensuchflottille auf Boot 1903, danach als Oberfähnrich und 1. Wachhabender Offizier auf Boot 1907 eingesetzt. Weitere Einsatzstationen waren u. a. die 4. und die 2. Minensuchflottille, wo er zum Leutnant befördert 18 19 20 21 140 Jentzsch, Die Ausbildung zum Marineoffizier, S. 163. Das Logbuch aus dieser Zeit ist in der Bibliothek der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz einsehbar. Angaben im Logbuch vom 3. und 22. September 1939. Logbuch, Deckelblatt; Zitat: Eintrag v. 30. 6. 1939. der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte wurde, und die Marineschule Kiel-Wik.22 Während seines Minensuchdienstes entwickelte er ein Gerät, das Minen explodieren ließ, die auf Geräusche reagierten. Es war eine Art Schleppboje, die beim Einsatz laute Klappergeräusche von sich gab. Buch heiratete 1943; der Ehe entstammt ein Sohn. Nach drei Jahren wurde die Ehe geschieden. Nach dem Krieg, den er als Oberleutnant beendete, schloss er ein Lehramtsstudium ab. Damals lernte er seine spätere zweite Frau kennen. Deren Vater setzte jedoch als Bedingung für eine Heirat voraus, dass er in seine Firma in Herne eintreten müsse. Buch absolvierte daraufhin eine Ausbildung zum Industrie- und Handelskaufmann. Der zweiten Ehe entstammen zwei Söhne. Das Ehepaar lebte später in Bad Homburg, wo Buch am 4. März 1990 starb. Hans Buchs Logbuch ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil er nicht nur das Geschehen schriftlich festhielt, sondern darüber hinaus zahlreiche karikaturistische Illustrationen hinzufügte. Dank seiner zeichnerischen Begabung hat Buch wenig später auch einige Bilder zum Absolventenbuch seines Jahrgangs beigetragen, das die Kadetten noch vor dem Einsatz gegen Hel konzipierten.23 Den Inhalt seiner persönlichen Aufzeichnungen umreißt er auf dem Deckblatt mit: „Stralsund – Flensburg – Infanteriedienst auf dem Dänholm, in den Werkstätten der Marineschule – das ist der Inhalt des ersten Logbuches. Die folgenden Seiten bringen die Erlebnisse als Kadett auf dem Schulschiff.“ Auf 110 nicht paginierten Seiten behandelt Buch die Zeit als Kadett auf dem Schulschiff „Schleswig-Holstein“ vom 30. Juni bis 12. Oktober 1939. Es sind Einträge zu jedem Tag, die in deutscher Kursivschrift gehalten sind, einzelne Überschriften sind in lateinischer oder Druckschrift, gelegentlich auch in Sütterlin ausgeführt. Das Logbuch enthält 210 Zeichnungen, drei Seiten sind mit ganzseitiger Zeichnung und zwei mit ganzseitig roter Schrift ausgefüllt. Die Zeichnungen wurden mit Farbstiften angefertigt, bevor der Text geschrieben wurde. Einige dieser Illustrationen sind schwarz-weiß mit Bleistift gemacht, vermutlich sind es Kopien von Postkarten. Was das Logbuch aus der großen Zahl von Kriegstagebüchern hervorhebt, sind eben diese Zeichnungen. Ihr besonderer Reiz liegt darin, dass sie eine hohe Kunstfertigkeit zeigen und häufig mit leichter (Selbst-)Ironie Einzelheiten karikieren, die Buch im Text beschreibt. Zudem drücken sie eine Lebendigkeit aus, die auch die hohe emotionale Teilnahme am Geschehen bezeugt. Letzteres verdeutlichen z. B. die jeweils über den Text gezeichnete Verbindung des Schiffes mit der Stadt Danzig durch einander gegenübergestellte Wappen am 23. und 24. August oder das ganzseitige Grabkreuz am 2. September, als die ersten Toten des Stoßtrupps von der Westerplatte auf das Schiff gebracht wurden. Die Niederschrift beginnt mit einem Eintrag am 30. Juni 1939, mit dem Einschiffen auf der „Schleswig-Holstein“ in Flensburg nach einem viermonatigen Ausbildungsabschnitt: „Also, adieu Festland, wir sind jetzt tatsächlich Seeleute, oder sollen es noch 22 23 Diese Angaben sind den Nachträgen im Logbuch auf der letzten Seite entnommen. Kadettenzeit der Großdeutschland-Crew, z. B. S. 13 ff., 24, 30 f.Eintrag Logbuch v. 23. 9. 1939. 141 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt Abb. 2: Linke Seite einer Doppelseite aus dem Logbuch Hans Buchs, 18.–20. August 1939. 142 der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte Abb. 3: Rechte Seite einer Doppelseite aus dem Logbuch Hans Buchs, 18.–20. August 1939. 143 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt werden.“24 Die erste Zeit verbrachten die Kadetten auf dem Schiff im Hafen, wurden in die neue Umgebung und den Dienst eingewiesen, der auch Mannschaftsarbeiten wie Reinschiffmachen einschloss,25 bevor die „Schleswig-Holstein“ am 6. Juli auslief. Die Tage auf See brachten Gefechtsdienst, Exerzieren am Geschütz, Wacheschieben, Putzen, Unterrichtseinheiten, Torpedo-Übungsabwürfe von Fliegern, danach Rückkehr nach Kiel.26 Unannehmlichkeiten des Alltags wie die erfolglose Jagd nach einer Kakerlake im Spind oder der Verlust des Spindschlüssels erwähnte Buch ebenso wie die Zuweisung einzelner Dienstposten auf dem Schiff.27 Nach einer Liegezeit und einem Tag Kaliberschießen auf See signalisierte nächtens der Austausch von Übungsgeschossen gegen scharfe Munition am 21. August eine Änderung der politischen Lage. Tags darauf stellte Buch vor einer Kurzfassung der politischen Vorgänge fest: „Die Ereignisse überstürzen sich.“28 Die Tage von der Abfahrt nach Danzig am 22. August bis zum 7. September 1939 sind im hier edierten Auszug aus dem Logbuch festgehalten, wobei auch die Zeichnungen zum Abdruck gebracht werden. Mit der Kapitulation der polnischen Verteidiger der Westerplatte war der Einsatz der „Schleswig-Holstein“ noch nicht beendet. Buch schildert, wie das Schiff in der Danziger Bucht verblieb und zusammen mit dem Schwesterschiff „Schlesien“ und kleineren Booten weiter Gdyna und Hel beschoss, jeweils bis zur Kapitulation dieser Orte.29 Und erst ein Treffer der polnischen Verteidiger von Hel, der auf dem Schiff zwei Tote, vier Schwer- und drei Leichtverletzte verursachte, hinterließ bei Buch den Eindruck, mehr als nur ein aufregendes Abenteuer zu erleben: „Wir haben den Krieg in seiner grausigsten Wirklichkeit erlebt.“30 Noch vor dem Angriff auf Hel besichtigten die Kadetten die zerstörten Anlagen auf der Westerplatte und begeisterten sich am eigenen Anteil daran, besonders als ihnen an Bord die Wochenschau mit dem Beginn der Kampfhandlungen in Polen vorgeführt wurde. Drei Tageseinträge allein nimmt die Schilderung von Hitlers Besuch in Danzig und auf der Westerplatte ein. Hitler ging an Bord, grüßte die Besatzung und führte ein kurzes Gespräch mit dem Kommandanten: „Das war die schönste Anerkennung, der schönste Dank.“31 Den Einsatz beendete eine Siegesparade in Danzig, zu der die Mannschaften der in der Danziger Bucht eingesetzten Schiffe aufmarschierten, vorweg die Crew der „Schleswig-Holstein“. Drei Tage später nahm das Schiff Kurs auf Kiel, und die 24 25 26 27 28 29 30 31 144 Logbuch, Eintrag v. 30. 6. 1939. Logbuch, Eintrag v. 1. 7. 1939. Logbuch, Einträge v. 10.–15. 7. 1939. Logbuch, Einträge v. 18.–22. 7. 1939. Logbuch, Eintrag 21. u. 22. 8. 1939. Logbuch, Einträge v. 8.–14. 9. u. v. 25. 9.–1. 10. 1939. Logbuch, Eintrag v. 27. 9. 1939. Logbuch, Einträge v. 19.–21. 9. 1939, in Letzterem das Zitat. der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte Abb. 4: Logbuch, Eintrag vom 13. 9. 1939. Kadetten mussten wieder die Bänke der Offiziersschule Mürwik drücken.32 Den ganzen Stolz, mit der „Schleswig-Holstein“ an der „Befreiung“ von Danzig beteiligt gewesen zu sein, drückte Buch kurz vor dieser Heimfahrt aus: „Lebe wohl, alte Stadt, die wir heim geholt haben ins Reich, die wir befreit haben aus den Händen der polnischen Unterdrücker, um die wir gekämpft haben. Wir werden dich nie vergessen, du warst unser Erleben, das tiefste das wir bisher in unserem Leben hatten.“33 Das Logbuch zeigt deutlich, wie weit die Generation der unter Zwanzigjährigen, die ihre Sozialisation als Jugendliche im Nationalsozialismus erfahren hatte, von einer Ideologie beeinflusst war, die Gewalt als politisches Mittel propagierte.34 Wie die große Mehrheit der Deutschen war Buch davon überzeugt, dass Deutschland nach 1918 von Polen betrogen worden sei.35 Er notierte schon am 24. August, dass die „Schleswig-Holstein“ nicht nur zum Besuch nach Danzig fahre, sondern mit geladenen Geschützen, „bereit zur Verteidigung deutscher Rechte“. Die Stadt kontrolliere, wie Buch einen Tag später aufschrieb, „unser Feind, der Pole“, doch bei deren Einwohnerinnen und Einwohnern handle es sich 32 33 34 35 Logbuch, Einträge v. 7. u. v. 10. 10. 1939. Logbuch, Eintrag v. 10. 10. 1939. Vgl. etwa Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, 2 Bde., München 2003. Vgl. zu den entsprechenden Propagandainhalten etwa Rudolf Jaworski, Deutsch-polnische Feindbilder 1919–1932, in: Internationale Schulbuchforschung 6 (1984), S. 140–156; Lars Jockheck, Propaganda im Generalgouvernement. Die NS-Besatzungspresse für Deutsche und Polen 1939–1945, Osnabrück 2006, S. 41 und 55–68. 145 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt Abb. 5 und 6: Titel des „Logbuchs“ von Hans Buch. Abgebildet sind die Wappen von Stralsund (links oben), Flensburg (rechts oben) und Schleswig-Holstein. Mit „Kadett (w)“ bezeichnet Buch korrekt seine Stellung als Marineoffiziersanwärter, was im Schriftverkehr durch das zugesetzte Kürzel benannt wird. um „deutsche Menschen, die zu Deutschland gehören, wer will und kann das abstreiten?“ So dokumentiert das Logbuch in seiner Verbindung von Karikaturen und Text exemplarisch, wie leicht es vielen Deutschen fiel, den Krieg gegen Polen als gerecht und notwendig zu empfinden. Eine derartige Stimmung war nicht nur im Heer weitverbreitet. Ebenfalls in Übereinstimmung mit der Propaganda war Buchs Sicht auf Polen als nicht ebenbürtiger Gegner36 – trotz des überraschenden Widerstandes auf der Westerplatte. Der Überfall auf den Nachbarn erschien deshalb nicht verwerflich, stattdessen dominierte Stolz auf die eigenen Erfolge. Als pars pro toto dient im Logbuch die Identifikation mit dem Schiff. Die Lektüre vermittelt den Eindruck, als habe deren Besatzung die Danziger Bucht quasi im Alleingang erobert, zumal Buch andere deutsche Einsatzkräfte nur selten erwähnt: „Es ist etwas Besonderes um unser Schiff. Wir lösen im Krieg gegen Polen den ersten Schuss und nehmen die letzte Stellung.“37 Im folgenden Auszug wurden kleine Fehler der Interpunktion und Orthografie im Original stillschweigend korrigiert. Ferner wurden Seitenzahlen in Klammern einge36 37 146 Jochen Böhler, Der Überfall. Deutschlands Krieg gegen Polen, Frankfurt a. M. 2009, S. 39 f. mit Zitat der Ansprache von Franz Halder, Generalstabschef des Heeres, vom Frühjahr 1939. Logbuch, Eintrag v. 2. 10. 1939. der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte fügt, die im Original nicht vorhanden sind. Dies dient vor allem dazu, den Zusammenhang von Zeichnungen, die auf einer Seite angebracht sind, und dem zugehörigen Text festzuhalten. 22. August 1939 – Dienstag (S. 49) Die Ereignisse überstürzen sich.38 Immer noch ist es Dienstag, die Dunkelheit hat sich über den Kieler Hafen gebreitet, aus dem, gleich einem schwarzen Schatten, unser Schiff hinaus gleitet. Immer weiter zurück bleiben die roten Lichter, die das Hafenbecken umsäumen. Wieder geht es durch die Ostsee. Unser Ziel ist Swinemünde. 23. August 1939 Mittwoch Swinemünde Der kommenden Erlebnisse wegen muss ich die Ereignisse der letzten Tage, die der Nachrichtendienst und die Tagesblätter brachten, berichten: Deutschland steht kurz vor dem Abschluss eines Nichtangriffspaktes mit Russland, so dass uns dort der Rücken frei bleibt. Die Lage zu Polen hat sich durch das rücksichtslose Verhalten des polnischen Militärs den deutschstämmigen Bewohnerinnen und Bewohnern gegenüber sehr verschärft. Englands Botschafter übergibt dem Führer einen Brief, der den Inhalt der englischen Parlamentssitzung enthält. Im Vordergrund steht die Lösung der Danziger Frage. Danzig soll, muss und wird heimkehren ins Reich. Jeden von uns beschäftigt die Lösung dieser Frage. Werden wir mit eingreifen im Verbunde der Flotte zur Sicherung deutschen Bodens? Wann, wann wird etwas geschehen, das die verzweifelnde Ungewissheit von uns nimmt. (S. 50)39 Gegen Mittag kommt Arkona und Stubbenkammer in Sicht. Wir hatten die Ottern40 ausgefahren und machen nun die Pinassen klar zum Minensuchen, Böcke, Leinenwinden werden eingebaut. Krallengreifer und Bojen liegen bereit. Kurz vor Einlaufen in Swinemünde werden wir ausgesetzt. Der Funker, der in der Kajüte sitzt, murmelt ins Mikrophon und streckt eine Antennenverlängerung nach der anderen aus. Das Manöver der Boote geschieht glatt auf Trillerpfiffe. Unser Signalgast übermittelt die längeren Befehle. Der Strand kommt in Sicht, und während unsere „Sophia“ hinten hinter einer Waldwand verschwindet, steuern wir auf den Landungssteg zu. Der Heizersgast drückt ordentlich auf den Hebel. Baden in der Ostsee, die Wellen spülen um unsere Füße, Strand und Sonne … schwer können wir uns davon trennen. Unsere Fahrt geht durch den Hafen, ein Torpeboot,41 ein Zerstörer neben dem anderen. 38 39 40 41 Zwischenüberschrift, in lateinischer Schrift gehalten. Der Verfasser hat im Original die Schrift ganzseitig mit einer Zeichnung des Wappens der „Schleswig-Holstein“ unterlegt. Minenräumgeräte. Gemeint: Torpedoboot. 147 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt Unser Schiff liegt an einem Eiland, das verdient hätte „Mückensumpf“ genannt zu werden. Wie die Banditen haben sich die Jungens vermummt; ihre Augen schauen hinter einem Taschentuch hervor. Während der Ronde schmuggle ich mich auf die Nürnberg.42 Oben am Vormars blinken die Lampen: „Benötige am 24. 8. 39 um 11 Uhr Schlepper zum Ablegen.“ 24. August 39 Donnerstag See Danzig Es geht los! Ein Vierlingslauf – MG wird morgens übernommen. Unser Schiff hat abgelegt. An der Mole vorbei rauschen wir ostwärts. Unsere Musik spielt. Die Sonne meint es gut … „Alle Mann achteraus.“ Der Kommandant43 spricht, endlich, wir haben diese Minute herbeigesehnt … jeder fühlt: es ist etwas Besonderes. Ganz still ist es, nur das Sausen des Lüfterschachtes ist zu hören. Wir sind in See, abgeschnitten von der Außenwelt, wir sind allein, die Besatzung der „Schleswig Holstein“. „Kameraden“, sagt der Kommandant, „jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich Ihnen die Aufgabe, die unser Schiff (S. 51)44 bekommen hat, berichten darf.“ Und alle verfolgen mit gespannten Gesichtern seine Worte. „Sie alle wissen, dass ich vor wenigen Tagen in Berlin war, um die Befehle des Ob. d. M.45 und des Führers entgegenzunehmen. Die allgemeine politische Lage hat für uns folgende Aufgabe vorgesehen. An Stelle der ‚Königsberg‘ werden wir zu einem offiziellen Besuch in Danzig einlaufen.“ Auf allen Gesichtern steht die Freude geschrieben, die diese Worte auslösen. „Doch während das äußere Bild unseres Schiffes den Anschein eines Besuches erweckt, werden unsere Geschütze geladen sein, bereit zur Verteidigung deutscher Rechte. Kameraden, es ist eine hohe Aufgabe, die unser Schiff erfüllen soll, und gerade das beweist, dass unser Schiff noch nicht zum alten Eisen gehört. Vielleicht werden wir das Teuerste, das wir besitzen, das Leben einsetzen müssen. Als ich mit dem Ob. d. M. über den Verlauf der kommenden Stunden sprach, bat ich mir aus, dass die Besatzung in ihrer jetzigen Zusammensetzung zusammenbleibt, nicht, dass wie üblich die Kadetten ausgeschifft würden. Ich glaube, ich habe da mit dem Einverständnis der Besatzung gesprochen. Außerdem sind alte, bewährte Spezialisten für die einzelnen Waffen an Bord kommandiert worden. Ab 16 Uhr heute Nachmittag gehen wir Kriegswache. Gegen Abend wird uns eine Minensuchflotille erreichen, die eine Kompanie Stoßtruppsoldaten aus Memel an Bord bringt und uns anschließend gegen Minen und U-Boote sichert. Wir müssen trotz der schon engen Verhältnisse an Bord die Kameraden des Stoßtrupps aufnehmen und Ihnen soviel Bequemlichkeit wie möglich bieten. 42 43 44 45 148 Leichter Kreuzer. Gemeint ist Kapitän zur See Gustav Kleikamp (1896–1952). Der Verfasser hat im Original die Schrift ganzseitig mit einer Zeichnung des Danziger Wappens unterlegt, sodass die beiden Wappen einander gegenüberstehen. Oberbefehlshaber der Marine, Großadmiral Erich Raeder (1876–1960). der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte Dass über alle diese Dinge größte Verschwiegenheit zu wahren ist, ist wohl selbstverständlich.“46 Welchen Eindruck diese Worte auf uns machen ist klar. Die freudige Erregung ist gewachsen. Besonders stolz sind wir, die Kadetten, dass wir mitmachen dürfen. Da pfeifen wir gern auf Heimaturlaub. Die werden ja Augen machen zu Hause. (S. 52) Ich sitze in meiner Kasematte, in der wie immer Tag und Nacht das Licht brennt. Ja, es ist ein seltsames Durcheinander. Es ist wildromantisch. Um endlich mal wieder einmal Logbuch zu schreiben, sitze ich auf „fertig gemachten“ Handgranaten, die fein in Kisten verpackt sind. Meine Beine liegen auf einem Ponton, neben dem sich die Blasebälge türmen. Das schöne Gummipolster ist eine willkommene Schlafmatratze für unsere „Jungs“, so nennen wir die Stoßtruppsoldaten. Auf den Spinden liegen Stahlhelme, Pistolen, Gewehre, Spaten … keine Ecke ist frei, überall liegen Rucksäcke, Handgranatentaschen. Auf einem Kasten mit Sprenggerät wird fleißig ein Skat gedroschen. In den Netzhängematten schaukeln müde Krieger … es ist heiß. Ich lasse die letzten Tage an mir vorüberziehen, die unvergesslich bleiben werden, um sie hier auf den noch leeren Blättern meines Logbuches festzuhalten. 24. August 1939 Donnerstag Unser Schiff braust etwas schneller als gewöhnlich vorwärts … Die Kriegswache ist aufgezogen … Kriegswache, ein leichtes Lächeln über dieses Wort, und doch ist es für uns ernst, sehr ernst. Wir haben unsere Erkennungsmarke, die ulkige Hundemarke, umgebunden, haben Verbandspäckchen und „Losantin“ (ein Gelbkreuzschutz) empfangen und stehen mit der Gasmaske bereit auf Posten. Posten Ausguck, ich stehe an der großen Sichtsäule auf der Brücke, das Gerät ist auf einen bestimmten Winkel eingerichtet … auf der ganzen Brücke befinden sich Ferngläser … das Meer wird abgesucht. Wellen, nur Wellen zeigt die Linse … die Augen ermüden, brennen, tränen. Langsam wird es dunkel … voraus kommen rote Lichter in Sicht, die Minensuchflotille … Der Kommandant gibt Befehle zum Signaldeck … unsere ausgefahrenen Ottern werden eingenommen. Die Minensuchboote kommen längsseits, wir haben gestoppt. In dem fahlen Licht erkennt man am Oberdeck Feldgraue. Während der Stoßtrupp übersteigt, von kräftigen Händen gehalten, schwenken die Bootskräne aus und holen Minenwerfer, Pontons, Sprengkisten herüber.47 (S. 53) 25. August Freitag Danzig Gegen Mitternacht komme ich hinunter in Steuerbord fünf; mein Fuß stockt … Kisten, Kästen mit und ohne Munition und Landsoldaten … Um Mitternacht ziehen wir auf 46 47 Eine polnische Übersetzung der vollständigen Rede, die die Notizen Buchs ergänzt, in: Żebrowski (Hrsg.), Zanim poddał się Hel, S. 5 f. Umfassend dokumentiert im Kriegstagebuch der „Schleswig-Holstein“, Żebrowski (Hrsg.), Zanim poddał się Hel, S. 2 f. 149 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt Kriegswachplätze … Vier Stunden lang stehen wir an unserem Geschütz, das Schiff ist abgeblendet … Die schlechte Luft ist konzentriert, der Schweiß bricht aus allen Poren … Um vier sinken wir ziemlich groggy auf die Hängematte. Eine Stunde später ist wieder Wecken … um 6 Uhr stehe ich schon wieder als Ausguckposten, ein wenig hungrig … aber das vergesse ich schnell, denn es kommt Land in Sicht. Ganz leicht hebt sich aus dem Nebel die Küste ab … Eddie steht vor mir, er hat die Marienkirche entdeckt … nicht lange danach sehe ich sie auch. Gdingen liegt an Steuerbord … voraus kommt das erste Zollboot … Die Zollbeamten grüßen mit dem deutschen Gruß … langsam fahren wir in die große Bucht, mehrere Boote steuern auf uns zu … es sind schon Gäste an Bord, die ersten Willkommensgrüße werden überbracht. Die Ausgucksposten verschwinden … Das ist Danzig. Unser Schiff biegt in die Hafeneinfahrt … „Steuerbordwache an die Geschütze.“ Am Oberdeck stehen die Kameraden in Weiß. Wir peilen durch die Sehschlitze, an der Mole stauen sich die Massen, alles winkt, jubelt, grüßt … immer tiefer in den Hafen hinein geht es … HJ, Arbeitsdienst, und Mädels … es ist eine winkende, bunte Masse, Flaggen flattern, das Danziger Wappen neben dem Hakenkreuzbanner. Oben an Oberdeck ist alles feierlich, Musik spielt … und unter Deck sind die Geschütze besetzt … Der Pole findet uns nicht unvorbereitet vor. Plötzlich rast Werner Peters … unser Danziger Junge, der angesichts der Heimat außer Rand und Band ist, zu Hein … ehe wir dahinterkommen, sind wir schon im V-Boot, Leinenkommando … erste an Land. An unserem Liegeplatz ein riesiges Transparent „Willkommen Schleswig-Holstein“. Wir sind den Schleppern vorausgebraust, die unseren Koloss um die Biegung schleppen. Als er näher kommt, müssen wir feststellen, dass er sich sehr gut hier macht unser Kahn. Während wir am Quai die Wurfleinen auffangen und (S. 54) die Stahltrossen um die Poller belegen, muss die Polizei die Menschenmenge zurückhalten. Das sind deutsche Menschen, die zu Deutschland gehören, wer will und kann das abstreiten? Eine lange Reihe von modernen Autos erwartet den Kommandanten und seine Gäste. Kriegswachweise besetzen wir die Geschütze, während oben der große Empfangsrummel beginnt: Ehrenwache, Fallreepsgäste, Hornist. Mit der Steuerbordseite liegen wir der Westernplatte [sic] gegenüber. Die Polen haben in der letzten Zeit hier schwere Befestigungen, Bunker und Munitionslager gebaut. Die Besatzung kommt nicht an Land, die Lage ist zu ernst. So stehen die Menschen unten auf dem Quai und schauen hinauf zu uns, die wir an der Reling stehen. Fröhliche Zurufe fliegen uns zu und, als es dämmert, singen wir, einer hat angefangen. Alle Soldatenlieder klingen auf und jedes Lied wird von denen dort unten mit stürmischem Beifall aufgenommen. Um acht Uhr besetzt die Steuerbordkriegswache die Geschütze … Die Stunden, die ich nie vergessen werde, nehmen ihren Anfang. Das Schiff wird abgeblendet, noch einmal schauen wir auf die rote Mauer, hinter der unser Feind, der Pole liegt und mit wachen Augen alle unsere Bewegungen beobachtet. 150 der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte In dem fahlen Blaulicht stehen die Geschützbedienungen an den Munitionsaufzügen … rack, rack, eine Granate nach der anderen poltert auf die Matte und wird weggeschafft … Die nackten Oberkörper glänzen … Alle Packs werden mit Bereitschaftsmunition gefüllt. Kartuschen kommen hoch, die Aufzüge surren und heulen, eine endlose Kette empfängt die verpackten Kartuschen, dreht die Büchsendeckel auf. Mir rinnt der Schweiß den Hals und Rücken entlang. In Steuerbord fünf steht der Stoßtrupp um seinen Oberleutnant48, der in seiner humorvollen, derben Art über die bevorstehende Nacht erzählt. „Jungs“, sagt er lachend, „wir liegen hier gegenüber der Western- (S. 55)platte [sic]“, er hebt einen Meldeblock hoch und deutet auf eine Bleistiftskizze. „Der Pole hat, wie wir festgestellt und erfahren haben, die bestehenden Befestigungsanlagen in der letzten Zeit verstärkt.49 Unsere Aufgabe ist es, die Platte heute Nacht um 000 Uhr (Zeit X) zu nehmen. Die M. A.50 des Schiffes wird uns eine Bresche in die Mauer schießen und möglichst die dahinter befindlichen Stacheldrahtverhaue zusammenballern. Die elektrisch geladenen Drähte dürften uns dann nicht mehr schaden.“ Atemlose Stille, alles ist gespannt. „Die M. A. wird nun immer vor uns weggehen. Wir werden, nachdem wir von Dampfern übergesetzt worden sind, von Polizisten geführt und dann in einer breiten Front, Ihr müsst mir auf Verbindung der Züge achten, sonst knallt Ihr noch Euch selber übern Haufen. Und dann – caracho – stecht in die Büsche, nicht, dass wir nachher die Schweinerei im Rücken haben. An den Bunkern bleiben je zwei Mann mit Handgranaten und lassen niemanden raus. Schmeißt in der Begeisterung nicht Eure Eier in die Dinger, sonst fliegen Euch die Klamotten um die Ohren. Übrigens, sollte bei der Ballerei der M. A. das Munitionsdepot hochgehen, zieht die Köppe ein, sonst kriegt Ihr was davor. Auf der Platte sind, wie wir erfahren haben, Fallgruben mit netten Schweinerein ausgehoben. Wenn Ihr fallt, macht die Arme auseinander. Nebenbei sind auch noch Minen gelegt. Also, Jungs, aufpassen. Sonst geht alles klar. Ich brauche nicht mehr zu sagen.“ Schweigend treten alle auseinander, machen Handgranaten fertig, stecken sie in die Brustbeutel, nehmen Sturmgepäck um und sitzen zwischen uns, rauchen, knabbern an ihrer Schokolade … „Die Letzte“ sagt einer lächelnd und zeigt auf seine Zigarette. Ein anderer knurrt los … „Wenn ihr schießt, Mensch, da gehen die stiften.“ So saßen unsere Väter vor dem Angriff, so starrten sie in die Dunkelheit und rauchten Zigarettenketten. 48 49 50 Gemeint ist hier vermutlich Oberleutnant Walter Schug (1910–1943), stellvertretender Kompaniechef des Stoßtrupps und später Kommandant von U 86; sein Vorgesetzter war Oberleutnant Wilhelm Henningsen (1904–1939). Demgegenüber erwähnt das Kriegstagebuch der „Schleswig-Holstein“, dass die Danziger Verbindungsoffiziere am 25. 9. 1939 keine Auskünfte zu Bewaffnung und Besatzung der Westerplatte machen konnten; die eigene Sturmkompanie aber auf den Angriff gut vorbereitet sei. Żebrowski (Hrsg.), Zanim poddał się Hel, S. 8 und 10 f. Marineartillerie. 151 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt Unten im Zwischen51 stehen auf den Tischen des Gefechtsverbandsplatzes die Sterilapparate und blinken silbern. (S. 56) Und wir sitzen an unserer Kanone, Hein spricht zu uns. „Dreht nicht, Jungs, wenn einer ausfällt. Bin ich dabei, hier hängt die Verbandstasche, dort ist die Taschenlampe …“ Ein seltsames Gefühl überkommt uns, ganz ruhig ist man … jeder geht seinen eigenen Gedanken nach. So warten wir und rauchen, … ja, so haben wir es uns gewünscht. Das wollten wir einmal erleben. Es geht auf Mitternacht zu, gleich geht’s los … keiner schläft … In diesen Augenblicken trifft, wie wir am anderen Morgen erfahren,52 ein Befehl aus Berlin ein, dass die geplante Einnahme der Westernplatte nicht eintreten darf. Der Stoßtrupp kommt zurück, legt die Sachen ab, und dann dämmern wir alle auf unseren Hängematten ein, langsam in einen traumlosen Schlaf, aus dem uns erst wieder zur Ablösung der Pfiff der Bootsmannsmaatenpfeife weckt. Alle vier Stunden lösen die Backbord- und die Steuerbordkriegswache sich ab. 26. August 1939 Sonnabend Wieder ist es ein unvergleichlich schöner Morgen, wir sitzen auf unseren Hängematten und schlürfen Tee mit Rum. Wenn wir durch die Sehschlitze an Backbord peilen, sehen wir die schon am frühen Morgen harrenden Danziger. Gegen Mittag sickert es durch. Die Backbordwache kann an Land, nach Danzig. Donner und Doria; eigentlich sollten wir nur auf den Quai die Beine vertreten. Na, wenn’s hinhaut, ist morgen die Steuerbordwache dabei. Während die Kameraden an Land schießen, spielt unser Bordkino in einem alten Getreideschuppen: Heinz Rühmann in „Der Florentiner Hut“.53 Ein konzentrierter Unsinn, aber wir lachen, lachen … und das ist schließlich die Hauptsache.54 Abb. 7 und 8 „Alle Mann an Bord“, der Quai wird leer, unser Schiff bekommt einen anderen Platz. (S. 57) Leinen werden losgeworfen, und wieder mühen sich die kleinen Schlepper. Im Batteriedeck sind wir wieder auf der Hut, der Pole wird uns nie55 überraschen. Langsam biegt das Schiff in die Kurve des Hafenkanals und macht an der Mauer unter der alten Festung fest. Abb. 9 Die anderen werden sich aber wundern, wenn sie vom Urlaub kommen und unser Schiff nicht mehr vorfinden am alten Platz. 51 52 53 54 55 152 Zwischendeck. Laut Kriegstagebuch der „Schleswig-Holstein“ um 21:20 Uhr: Żebrowski (Hrsg.), Zanim poddał się Hel, S. 11. Der Filmtitel ist im Original in lateinischen Buchstaben geschrieben. Vom Kinobesuch berichtet auch Willi Aurich, vgl. Pelczar (Hrsg.), Relacja niemieckiego oficera, S. 20. Aurich erwähnt auch, dass die Soldaten des Stoßtrupps in Zivil erscheinen, um kein Aufsehen zu erregen. Am Rand links ist Abb. 7, rechts Abb. 8 eingefügt. Links am Rand ist Abb. 9 eingefügt. der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 153 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt 27. August Sonntag Wie jede vergangene Nacht filzten wir auch dieses Mal auf Hängematten, angezogen, standen zum Wecken auf und räkelten die zerschundenen Glieder. „Mensch, heute56 wäre Bordfest gewesen“, sagt Fritze.57 Ach ja, heute ist Sonntag, wir merken es kaum … erst als wir fleißig Reinschiff machen auf der Back, hören wir die Kirchenglocken. Abb. 10 Hipp, hipp, hurra, an Land. Wir stürzen uns in unsere Kadettenuniform, lassen dieses Mal den Dolch zu Hause und warten auf die Gulden,58 die uns Onkel Jonathan59 nach langem Hin und Her überreicht. Mit einem Hechtsprung geht es ins V-Boot60. Die Straßenbahn bringt uns umsonst in die Stadt, und dann stehen wir auf der Hauptstraße, die trotz ihrer Breite Langgasse61 heißt. Abb. 11 Ein reges Leben flutet62 an uns vorüber, Großstadt. In dem Stadtbild fallen die vielen verschiedenen Uniformen auf. Eine große Grußfreudigkeit herrscht. Die Stadt prangt in einem wunderbaren Festschmuck. An den Fahnen wehen Goldbänder, verschlingen sich im Winde. Die alten Patrizierhäuser, die eng zusammenstehen,63(S. 58) sind in ihrer Schönheit das Gesicht der Stadt, die den Charakter einer altdeutschen Hansestadt trägt. Abb. 12 Hier, die Marienkirche, Danzigs Wahrzeichen, dort der Turm der Brigittenkirche, die ich nach einer Irrfahrt durch die engen Gässchen erreiche. Hinter der Langgasse schaut man von der Brücke auf das Krantor, das in allen deutschen und auch ausländischen Blättern abgebildet war. Stadt der Schicksalstage, die ereignisreich und schwer vor uns liegen. Wir wissen, bald wirst du wieder zu unserem64 Reich gehören. Abb. 13 und 14 Man schaut uns nach, alte Herrschaften strahlen vor Wohlwollen. Die blauen Jungen sieht man hier nur zu gern. In unserer Kadettenuniform werden wir Feldwebel und Decksoffiziere genannt. Nach dem langen Spaziergang durch die Stadt kehrten wir an Bord zurück, müssen berichten von unseren Eindrücken. Unsere Gulden sind schwer zusammengeschmolzen. 56 57 58 59 60 61 62 63 64 154 In der Mitte des Abschnittes zwischen dem Text ist Abb. 10 eingefügt. Fritz Zoller, Kadett der 3. Wache auf der „Schleswig-Holstein“. Der Danziger Gulden war die in der Freien Stadt gültige Währung. Bootsmann Jonathan Gottwald, von den Kadetten der „Schleswig-Holstein“ mit einem ausführlichen Gedicht in ihrem Band: Kadettenzeit der Großdeutschland-Crew 28. Juni bis 15. Oktober 1939, Flensburg 1940, gewürdigt (S. 31–33) und als „Mutter der Division!“ bezeichnet (S. 149). Verkehrsboot, ein nicht bewaffnetes Motorboot. Heute ulica Długa. Am Ende des vorigen und am Beginn dieses Abschnittes mitten im Text ist Abb. 11 eingefügt. Rechts am Rand ist Abb. 12 eingefügt. Links am Rand ist Abb. 13, rechts Abb. 14 eingefügt. Es dürfte sich dabei um gezeichnete Kopien von Postkarten in Schwarz-Weiß handeln, da der Verfasser im Gegensatz zu seinen anderen, mit Buntstiften gefertigten Zeichnungen beide Objekte mit Bleistift zeichnete und Flächen weitgehend ausmalte. der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 155 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt Um acht ziehen wir wieder auf Wache, immer vorbereitet. Die V-Boote ziehen mit ihren bunten Lichtern ihre Bahn. Die Stoßtruppjungs schaukeln in Netzhängematten unter der Decke. Wir sitzen am Geschütz und klönen mit Hein. (S. 59) 28. August Montag Zur Abwechslung einmal Ex-Dienst.65 Wir empfangen wie in Kiel unsere Schießinstrumente, schnallen um und werden vom V-Boot übergesetzt, neben uns liegt die Feste Weichselmünde … Dann stehen wir auf einer Wiese, die von mächtigen Bäumen überschattet wird, und schon geht es los … wie damals in Mürwik.66 Abb. 15 Die lauten Kommandos unserer Korporäle belebten unsere Lebensgeister und oftmals rennen wir um die „vier Akazien“ marsch, marsch. Meiner Ansicht nach waren es Platanen, aber ich wusste trotzdem, welche Bäume zu umkreisen waren. Es ist kaum zu glauben, aber ich schwitzte aus allen Knopflöchern. Ein bisschen Bewegung soll der Mensch haben. 29. August Dienstag Was mögen nur die Danziger gedacht haben, als wir so bewaffnet Dorf Weichselmünde67 besetzten. Steuerbord Kriegswache Ausgang, wer lässt sich das zweimal sagen. Hinein in die blaue Uniform, in das V.-Boot, in die Straßenbahn, nach Danzig … hinein mit den letzten Gulden. Was hat ein Seemann immer … lakonische Antwort: Durst. Ach, und es68 gab wunderbares, herrliches Eis. Das meinten alle und schnalzten mit der Zunge. Abb. 16 Unser Weg durch die Stadt führte am Verkehrsbüro vorbei, das wir mit einem Stoß von Werbeprospekten verließen. Spät, das heißt um 19 Uhr kehrten wir an Bord zurück und zogen eisern auf Kriegswache. Unsere göttliche Ruhe wurde gestört durch eine groß angelegte Ölübernahme von der 30. August Mittwoch PolishOil Company deren Vorräte uns sehr willkommen waren. Drei Prahme lagen quer über das Fahrwasser und auf ihnen lagerten die dicken Schlauchverbindungsstücke. Es macht sich bemerkbar, dass Steuerbord 5 bei Arbeiten sehr gefragt ist.69 Abb. 17 65 66 67 68 69 156 Exerzieren, also auch bei der Kriegsmarine übliche infanteristische Übungen. In Flensburger Stadtteil Mürwik befindet sich seit 1910 die Offiziersschule der deutschen Marine. – Links am Rand ist Abb. 15 eingefügt. Die Festung Weichselmünde (poln. Twierdza Wisłoujście) wurde bereits im 14. Jahrhundert als Zollstation an der damals dort in die Ostsee einmündenden Weichsel angelegt. Sie befindet sich etwa auf halbem Weg zwischen Danziger Altstadt und Westerplatte und ist eine frühneuzeitliche Wehranlage, die 1939 nicht mehr militärisch genutzt wurde. In die Zwischenräume ist Abb. 16 eingefügt. Links ist Abb. 17 eingefügt. der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 157 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt (S. 60) LANDESSENDER DANZIG! steht auf dem großen roten Haus vor uns, das den Eindruck einer Schule macht. Der SS-Posten fährt zusammen, antwortet kurz auf unsere Frage nach dem Sendeleiter. Wir drei Kadetten: Kuhlmann,70 Turck71 und ich sind bei der Musterung zum Rundfunk befohlen, ohne zu wissen, worüber wir berichten sollen. Abb. 18 Die Treppen hinauf, durch große Flure, am72 Sendesaal vorbei, in dem das Orchester die Nachmittagsmusik spielt … kommen wir in die Abteilung Zeitfunk. Durch Telefon geht es durch das Haus: „Die Herren von der ‚Schleswig-Holstein‘ sind da.“ Wir lachen über diese Meldung der kleinen Telefonistin. Und dann sitzen wir mit dem Ansager, Herrn Schwender,73 um einen großen runden Tisch, rauchen und sprechen über die entstehende Sendung. Wir sollen das Einlaufen der Schleswig-Holstein schildern, unseren Gefühlen Ausdruck geben. Über alldem soll stehen Danzig ist deutsch und muss deutsch bleiben. Der M. O.74 ist ebenfalls bei dieser Besprechung. Dann gehen wir durch abgedichtete Türen, über dicke Teppiche, die kein Geräusch entstehen lassen,75 an den großen Schreibtisch mit den beiden Mikrophonen. Über uns flammt es rot auf: RUHE SENDUNG! Abb. 19 Der Ansager spricht langsam, eindringlich, dann schildert Ernst Turck unser Auslaufen aus Swinemünde. Ich setze den Bericht fort über das Einlaufen und Jürgen Kuhlmann hält den ersten Ausgang fest. Fast jedes Wort, das wir sprechen, mahnt und weist darauf hin: Danzig, die deutsche Stadt, muss zurück ins Reich. Die letzten Worte verebben … sind eingraviert in die Wachsplatte.76 Abb. 20 (S. 61) Wir verlassen den Senderaum, gehen in das gegenüberliegende Zimmer … und da schlagen uns unsere Stimmen entgegen. Ernst Turck, seltsam klar … dann höre ich mich … Das soll meine Stimme sein, unfassbar, wie anders, wie verändert und doch erkennen sie die Kameraden. Die Kopfresonance muss im eigenen Gehör eine große Rolle beim Sprechen77 mitspielen. Wir lachen uns an, freuen uns über dieses Erlebnis, in das wir erst mit ein wenig Lampenfieber hineingingen. Abb. 21 Morgen wird die Sendung durch die Lautsprecher gehen, man wird sie auf dem Schiff hören …, auch die Polen werden aufhorchen. Und nach der Wachsplattenaufnahme schmieden wir Pläne zur Gestaltung eines bunten Nachmittags durch die Besatzung unseres Schiffes (dazu sollte es nicht kommen) und dann haben wir unsere Aufgabe erledigt, verabschieden uns aus dem Funkhaus. Die Kette der Erlebnisse reißt nicht ab. 70 71 72 73 74 75 76 77 158 Jürgen Kuhlmann (1920–1945), Kadett des Jahrgangs 1938, im späteren Kriegsverlauf U-BootKommandant und im Januar 1945 mit U 1172 versenkt. Ernst Turck (1919–1999), Kadett des Jahrgangs 1938, im späteren Kriegsverlauf U-Boot-Kommandant. Links ist Abb. 18 eingefügt. Nicht ermittelt. Meldeoffizier. Rechts ist Abb. 19 eingefügt. Links ist Abb. 20 eingefügt. Links ist Abb. 21 eingefügt. der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte Abb. 18 Abb. 19 Abb. 21 Abb. 20 Abb. 22 159 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt 31. August Donnerstag Wir machen Reinschiff und raten herum, was der auf dem Dienstplan festgesetzte Sonderdienst wohl bringt. Zwei Stunden später ziehen wir mit fröhlichen Liedern zum Strand in Turnhosen … es geht zum Baden. Hei, war das ein Indianergefühl … ein alter SA-Mann mit Gewehr schaut uns versunken nach … Und dann sind wir in den Dünen, Schuhe aus … in Reihe stürmen wir hinein in das Salzwasser der Ostsee, bis wir keinen Grund mehr unter den Füßen haben, schwimmen weit hinaus und kehren leicht ermüdet an den Strand zurück, kleine Muscheln und bunte Steine säumen den Strand ein, wir lassen uns die Wellen um die Füße spielen, ein paar „Soldaten“ bauen wie kleine Jungen Sandburgen. Es ist ein Morgen fröhlichster Ausgelassenheit und Unbeschwertheit, ohne Gedanken an die kommenden Stunden, von denen wir nichts ahnen.78 Abb. 22 (S. 62) 31. August 1939 Donnerstag Danzig Weichselmündung79 Wir drei: Reiner,80 Arno81 und ich, kommen nach einem recht vergnügten Urlaubsnachmittag aus Danzig zurück, erzählen im V-Boot von der Schlagsahnetorte im „Astoria“. An Bord ist eine seltsame Hochstimmung, die gegen Abend noch steigt. Nach Wachwechsel sitzen wir, unsere Geschützbedienung, mit Hein82 zusammen. In einer Barkasse stehen Bierflaschen in Eis, es ist ein großartiger Abend. Wir ahnen, dass etwas Großes bevorsteht. Unsere Jungs vom Stoßtrupp sitzen zwischen uns … Als Sperrkadett83 muss ich mit Pinaß-Gerät klarmachen und werde eine Zeit lang aus dem munteren Kreis geholt … als ich zurückkomme, macht der Stoßtrupp sich klar. Wieder stehen sie um ihren Zugoffizier … „Um 24 Uhr werden wir mit den Booten übergesetzt“ … wie vor wenigen Tagen spricht er … „um 4. 45 Uhr setzt die Artillerie des Schiffes ein und dann gehen wir vor.“ 1. September 1939 Freitag Jetzt wissen wir es 4.45 Uhr … reines Weißes wird angezogen … der Stoßtrupp rückt ab. Noch einmal schütteln wir den Jungs die Hand, wir haben sie alle gern gehabt … Dann ist es dunkel und still … das Schiff ist abgeblendet. 78 79 80 81 82 83 160 Rechts ist Abb. 22 eingefügt. Die Aufzeichnungen sind zu zwei Dritteln rot unterlegt mit „Danzig“ in gebrochener Grotesk, z. T. mit Zusätzen des Verfassers. Reiner Thietz, Kadett auf der „Schleswig-Holstein“ (3. Wache „Unterwasser“). Arno Zagatowski, Kadett auf der „Schleswig-Holstein“ (3. Wache „Überwasser“). Nicht ermittelt. Buch war für Sperrwaffen – also Minen – zuständig, wobei es hier um Minensuchen bzw. -räumung ging. Die Besatzungsangehörigen haben immer zwei bis drei Funktionen inne („Rollen“ im Marinejargon), je nach aktuellem Auftrag des Schiffes. der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte Wir dämmern bis zum Morgengrauen hin … das Schiff setzt sich in Bewegung auf die Westerplatte zu. Unsere Geschützbedienung wird aufgeteilt zum Munitionsmannen84 … das passte natürlich keinem von uns in den Kram … während ich tief unten in der Munitionskammer Hülsen aus den Buchsen ziehe … geht es oben los … wumm, Turm Anton war das … ein leichtes Zittern geht durch das Schiff und dann geht Schuss auf Schuss, zehn Minuten lang auf die Mauer und die Platte85 … als wir aufhören, … weiß jeder … der Stoßtrupp geht vor. Verworrene Meldungen kommen in die Kammer, aus denen keiner recht schlau wird … Nicht lange danach setzt unsere Artillerie wieder ein, und dieses Mal donnert das Trommelfeuer 1 ½ Stunden86 … „An Backbord soll ein Rohrkrepierer 4 Kadetten verletzt haben. Der Stoßtrupp ist auf heftigste (S. 63)87 Gegenwehr gestoßen. Die Westerplatte stark besetzt von Polen … erste Verletzte.“ Dann ist Gefechtspause … in den Kasematten an Backbordseite sieht es toll aus … Backbord zwo88 hat den Seitenschutz und Verschluss zerfetzt … unser kleiner Petersen89 hat einen schweren Splitter oberhalb der Lunge, stark verletzt … Neumann90 ist die Flamme in die Augen geschlagen … Apel, Großkurth, Schmidt91 sind verletzt … Dann werden wir unten in der Munitionskammer abgelöst, kommen wieder an unser Geschütz … überall schlafen Übermüdete … Es ist ein scheinbar wirres Durcheinander … Auf der Back! von den Pollern sind die Deckel fortgeflogen, Holzplanken sind herausgebrochen, der Luftdruck hat hier toll gehaust. Die Geschütze sehen braun, schwarz aus, die graue Farbe hat Blasen geworfen. Die Schiffswand ist braungrün von Pulverdampf … ruhig, ganz ruhig ist es … Wir liegen wieder der Festung gegenüber … auf der Westerplatte belfern MGs, einzelne Granatschüsse peitschen durch den Morgen. Krankenwagen fahren fortlaufend den schmalen Weg entlang … ganz spiegelglatt ist das Wasser … weit voraus brennt ein Schuppen, dessen zusammengeschossene Eisenstreben seltsam gehackt in die Luft ragen … von der Westerplatte her ziehen dicke Rauschschwaden zu uns herüber. Die Fensterscheiben der gegenüberliegenden Häuser sind zersplittert, Gardinen wehen durch die Rahmen … Das ist der Krieg? denken wir. 84 85 86 87 88 89 90 91 Mannen: Seemannssprache, von Mann zu Mann weitergeben. Geschossen wurde von 4:48–4:55 Uhr, acht Granaten 28 cm, 59 Granaten 15 cm und 600 Schuss der 2 cm-Flak. Stjernfelt/Böhme, Westerplatte 1939, S. 79. Kleikamp ließ von 7:40–8:15 Uhr und nach einer kleinen Pause wieder von 8:29–8:55 Uhr schießen. Stjernfelt/Böhme, Westerplatte 1939, S. 82. Diese Seite ergänzt die vorige in derselben Schriftform und -farbe mit „deutsch“. Gemeint ist das zweite 15 cm-Geschütz an Backbord. Gotthold Petersen (1919–1939), Kadett des Jahrgangs 1938, am 4. 12. 1939 seinen in Danzig erlittenen Verletzungen erlegen. Hermann Neumann (1919–1994), Kadett des Jahrgangs 1938, später Kommandant von U 3057. Karl-Heinz Großkurth, Horst Apel, Manfred Schmidt, Kadetten der 3. Wache auf der „Schleswig-Holstein“. 161 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt Der Führer spricht92 … unten aus den Wohndecks, in denen die Lautsprecher stehen, klingen manchmal die Heilrufe herauf. Langsam ist es Nachmittag geworden … unzählige Zigaretten haben wir geraucht … irgendwo gegessen und nun warten wir … Wir haben nur wenig Gegenfeuer bekommen heute Morgen … scheinbar ist die Artillerie dort drüben ausgefallen. Die ersten Verwundeten kommen an Bord mit zerrissenen Uniformen erd- und blutverschmiert … erzählen … mein kleiner Tille93 vom Pionierzug ist dabei … er hat drei Oberschenkelschüsse. Wie er erzählt, ist er umringt von uns, die wir zuhören. (S. 64) Nach unserem Feuer sind sie vorgegangen, und dann setzte das Feuer der Polen ein von allen Seiten und von oben … „Die Baumschützen, das ist die größte Sauerei“, sagt er. Dann ging der Stoßtrupp zurück, ohne einen der Polen entdeckt zu haben. Unser Trommelfeuer setzte ein … wieder gingen die Jungs vor, und nun war es, als sei der Teufel losgelassen … (Der Pole hatte sich festgebissen in seinen ausgezeichneten Verteidigungsanlagen.) Wir fragen noch dieses und jenes, … der dicke Möller ist tot … unser lustiger Hamburger ist nicht mehr … der kleine Schwarze Herzschuss … Arthur wird vermisst … ganz still sind wir …94 Gegen Abend kommt eine Pinasse voller Klamotten … eine traurige Bestätigung der entsetzlichen Nachrichten. Wir müssen ausladen, … zerschossene Feldflaschen, Gasmasken, blutige Hosen, aufgeschnittene Stiefel, blutig schwammige Socken, ein Stahlhelm von oben durchschossen … eine Jacke, ein halber Fetzen, vollkommen blutig … (Schuss in den Handgranatenbeutel, der Junge wurde zerfetzt), ich weiß, ich brauche es nicht im Logbuch festzuhalten, das wird mir auch so in Erinnerung bleiben … Der Oberleutnant, der Draufgänger kommt zurück, zerfetzte Hosen, blutige Knie … er ist jetzt Ko-Chef …95 Der Stoßtrupp ist zurückgekommen … wartet auf „Stukas“, unsere Sturz-Kampfbomber. In der Dunkelheit fahren wir mit Proviant und Kaffee hinüber … im Schulhaus liegt die Kompanie, die etwas kleiner geworden ist … fünf Mann vom Pionierzug treffen wir an … Die Wiedersehensfreude ist unbeschreiblich … auch in der Nacht bleibt es nicht ruhig … Dumpfe Detonationen in der Ferne, … der Rundfunk meldet deutsche Truppen im stetigen Vormarsch … Sieg auf Sieg … im Halbschlaf höre ich die Nachrichten, die wie gewöhnlich mit dem „Marsch der Deutschen in Polen“ enden. 92 93 94 95 162 Gemeint ist Hitlers Ansprache vor dem Reichstag, in der er den Überfall mit den Worten „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ bekanntgab. Nicht ermittelt. Nicht ermittelt. Auch ausweislich der Verlustliste bei Tuliszka, Westerplatte 1926–1939, S. 253 f., macht das keinen Sinn. Tuliszka nennt 50 Namen und weist darauf hin, dass insgesamt 53 deutsche Soldaten in Danzig beerdigt wurden, von denen 50 den Kämpfen um die Westerplatte zuzuordnen sind (S. 251, 256); dazu kommen weitere 150 Verletzte (S. 256). Kompaniechef. Walter Schug übernahm das Kommando von Wilhelm Henningsen, der schwer verwundet wurde und am 2. September starb. der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte 2. September 1939 Sonnabend Noch einmal um drei Uhr früh fahren wir mit heißem Kaffee zu unseren Jungs … unser S. M. G-Zug96 von Sophie97 fährt mit hinüber. (S. 65) Der Sonnabend Morgen bricht an. Um 4 Uhr stehen wir zur Ablösung auf der Schanz angetreten. Der Vollmond scheint über der stillen Landschaft. Voraus türmen sich am Himmel Wolkenberge. Wir sind abgeteilt zum Munitionstransport, die für den Stoßtrupp bestimmt ist, inzwischen sind neue Truppen aus dem Reich übergesetzt worden … Kasten für Kasten schleppen wir Munition vorbei am Gefechtsverbandplatz … Krankenträger mit der Rot-Kreuzbinde liegen an Deck, müde wie wir alle. Gegen Mittag feuert unsere Artillerie wieder … Wir liegen jetzt an einem anderen Platz … Flak-Batterien der Polen werden zwischen Gdingen und Zoppot unter Feuer genommen98 … unsere Funker liegen drüben am Höhenzug und geben die Schussverbesserung. In regelmäßigen Abständen funken die Rohre die schweren Sachen ins Gelände … bis das Feuer plötzlich anhält, warum, erfuhren wir abends … Gegen achtzehn Uhr nimmt Gefechtsgruppe Steuerbord fünf die Nebelkannen vom Bootsdeck ins V-Boot über, wir fahren hinüber … finden einen kleinen Handwagen und fahren durch die leeren Straßen, vorbei an verlassenen Häusern auf die Felder. Unheimlich still ist es … unser Wagen poltert einen Schienenstrang entlang, rasselt auch ausgerechnet über meinen linken Fuß … dann stellen wir die Kannen auf den Feldern auf, klar zum Vernebeln unseres Schiffes … Während dieser Arbeit hören wir einen tiefen, singenden Ton hoch in der Luft. Wir schauen hinauf … die Stukas kommen … in atemloser Spannung verfolgen wir die Bomber. Der erste dreht und geht steil hinunter auf die Westerplatte zu, unter den Tragflächen lösen sich fünf Bomben … vier kleine und eine schwere rasen hinunter … eine riesige Dreck- und Rauchsäule schießt hoch und dann dringt erst die dumpfe Detonation zu uns herüber … Der zweite, dritte, vierte saust in steilem Flug hinunter, Strich für Strich wird die Festung belegt, Detonation auf Detonation erfolgt … Zement, Erde fliegt (S. 66)99 hoch … Der Erdboden unter unseren Füßen erzittert … eine riesige schwarze Rauchwand erhebt sich über der Westerplatte … und immer neue Bomber werfen ihre mörderische Last ab, es sind über dreißig … dann sammeln sich die Flugzeuge wieder, wenig von feindlichen Flaks unter Feuer genommen … wieder beginnt der Anflug … Abwurf auf Abwurf erfolgt …100 Zwei Gewehrschüsse peitschen durchs Feld, die scheinbar uns gelten … 96 97 98 SMG: Schweres Maschinengewehr „Sophie“ war das Codewort für den Stoßtruppangriff auf die Westerplatte. Zwischen 12:20 und 13:10 Uhr feuerte die „Schleswig-Holstein“ insgesamt 41 Schuss der Kaliber 28 cm und 15 cm. 99 Die Seite ist unterlegt mit einem braunen (Grab-)Kreuz, um dessen Fuß ein Kranz gelegt ist. 100 Der Angriff erfolgte zwischen 18:05 und 18:45 Uhr durch die zweite und dritte Gruppe des Sturzkampfgeschwaders Immelmann 2 mit etwa 60 Flugzeugen. Insgesamt wurden Bomben mit einer Sprengkraft von ca. 25 000 kg abgeworfen. Sternfjelt/Böhme, Westerplatte 1939, S. 89. 163 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt Der zweite Anlauf ist vorbei, wir fahren an Bord zurück, an den Nebelkannen bleibt ein Posten bis zur Dunkelheit … Einen Toten haben wir nun an Bord … der Funkobergefreite Schuhmann101 … während der Schussverbesserung schlug eine polnische Granate ins Funkgerät … nun liegt er drüben auf der Bahre an Land. Wir nehmen diese Nachricht still hin. Der Ko-Chef der Stoßtruppkompanie ist nun auch seinen Verletzungen erlegen.102 An den Schotts hängt der Aufruf des Kommandanten: Namens der Besatzung spreche ich der Kompanie die aufrichtigste Anteilnahme anläßlich des Ablebens ihres tapferen Kompanieführers und des tödlichen Verlustes von etwa 10 tapferen Soldaten aus. Wir werden alle Zeit nie den bewundernswürdigen und unübertrefflichen Angriffsgeist der Kompanie vergessen und besonders nicht die tapferen Toten, die uns in wenigen Tagen zu besten Kameraden und Freunden geworden waren. Kommandant „SX“103 Unsere Kasematte ist nun leer, die Schlauchboote und Tornister haben wir fortgeschafft, und nichts mehr erinnert daran, dass hier der Stoßtrupp mit uns gewohnt und gelebt hat. Uns aber sind sie ewig in Erinnerung, der dicke Möller, der lustige Hamburger, die nun ihr Leben gelassen haben. 3. September Sonntag Die Verluste des Stoßtrupps haben sich erhöht auf 19 Tote, 50 Schwer- und 40 Leichtverletzte.104 (S. 67) Es ist Sonntag, dieses Mal merken wir es wirklich gar nicht. Die Nacht war empfindlich kalt, nun scheint die Sonne. Ich sitze auf der Hütte, die Flak bereitet Großes vor. Aus den Decks dringen dumpf die Lautsprecher. Nachrichten. England hat ein Ultimatum gestellt, dass bis 11 Uhr die deutschen Truppen zurückzuziehen seien, anderenfalls steht England in Kriegszustand. Des Führers Antwort ist klar und eindeutig. Der Engländer hat endlich die Maske abgerissen und zeigt unverhüllt den Hass. Sein Wille ist Vernichtung des deutschen Volkes und Reiches. Der Führer hat einen Aufruf an seine Soldaten der Ostfront erlassen, er begibt sich selbst an unsere Front. Im Westen stehen die Soldaten der Westfront in den Bunkern des Westwalles. Nun ist auch mein Bunker besetzt, den ich vor einem Jahr mit meinen fünf Arbeitsdienstkameraden baute. Ich denke zurück an die Zeit vor einem Jahr. Damals ging es um die Tschechei. Damals stand der Arbeitsdienst militärisch geschult bereit, die selbst gebauten Bunker und Feuerstellungen zu besetzen. – Eine Pionierlehrabteilung mit Flammenwerfern und Mörsern ist bereit zum Endangriff auf die Westerplatte, der auch der gestrige Bombenangriff kaum geschadet hat. Erst 101 Maat Joseph Schumann. 102 Vermutlich verwechselt Buch hier Walter Schug und Wilhelm Henningsen, die beide den Rang eines Oberleutnants hatten. Dafür spricht auch der gleich darauf wiedergegebene Aushang des Schiffskommandanten, der Kompaniechef und Stellvertreter richtig zuordnet. 103 Kürzel der „Schleswig-Holstein“. 104 Eine komplette Verlustliste bei Tuliszka, Westerplatte 1926–1939, S. 253 f. 164 der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte jetzt erkennt man das ungeheuere Befestigungswerk, das der Pole dort drüben unter den Augen der nichts ahnenden Danziger angelegt hat. Vor wenigen Tagen vermeinte man noch mit einer kleinen SS- und Polizeitruppe die Platte zu nehmen. Erst als der Stoßtrupp sich schwere Verluste holte in diesem hochmodernen Panzerwerk, horchte man auf. Nachmittags 17 Uhr. Der Franzose, der ein ähnliches Ultimatum an uns gestellt hatte, ist nun ebenfalls mit uns in den Kriegszustand getreten. Die alten Widersacher von 1914 sind wieder auferstanden, in ihnen hat der Neid über den Aufstieg unseres Volkes gebohrt. Dieses Mal, das werden sie bald merken, beißen sie auf Granit und werden sich blutige Köpfe holen. Ab und zu vernehmen wir dumpfe Detonationen in der Ferne. Einzelne deutsche Flieger werden von polnischer Flak unter Feuer ge-(S. 68)nommen. Natürlich gehen die gutgemeinten Schüsse weit vorbei. Am dunklen Abendhimmel flackert es in der Ferne blutig rot, ein deutsches Dorf ist dort von den Polen angezündet worden.105 Über dem roten Schein ziehen dunkle Brandwolken vom Winde getragen gen Osten. Alles ist abgeblendet in Danzig, wie gestern liegt der fahle Vollmondschein über dem Schiff. In den Kasematten schlafen die Geschützbedienungen den Schlaf der Ermattung. Die Lautsprecher geben seltsam hohlklingend den Heeresbericht durch: „Deutsche Truppen in siegreichem Vormarsch. Die polnische Luftflotte zerschlagen. Ein großer Teil der Flugzeuge auf den Landungsplätzen bombardiert. Deutsche Luftoberhoheit über Polen.“ Dann schlafe auch ich ein. 4. September Montag Der Heeresbericht meldet: „Feindliches U-Boot in der Danziger Bucht versenkt, poln. Zerstörer ‚Wycha‘106 bombardiert und kampfunfähig, ein zweiter Zerstörer107 treibt kieloben. Polnische Minensuchboote ebenfalls bombardiert.“ Der gestrige geplante Angriff auf die Westerplatte wurde aufgeschoben, um die ganze Macht auf die Niederzwingung Polens zu konzentrieren. Unsere Artillerie soll Landziele beschießen. Um 9 Uhr stehen wir an den Backbordgeschützen. Endlich kommen wir (Steuerbord V) zum Feuern. Lange haben wir diesen Augenblick ersehnt. BÜ108 meldet: „Es wird das Gut Hohen-Pettlau und die Flak-Batterie beschossen.“109 105 106 107 108 109 Unklar, was damit gemeint sein könnte. So die Schreibweise im Original; gemeint: Zerstörer „Wicher“, s. unten Gemeint ist der schwere Minenleger „Gryf“. Befehlsübermittler. Zwischen 9:18 und 12:00 Uhr verschoss die „Schleswig-Holstein“ 56 Granaten des Kalibers 15 cm in Richtung Hochredlau (poln. Redłowo), südlich von Gdynia: Żebrowski (Hrsg.), Zanim poddał się Hel, S. 55. 165 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt Wir funken zehn Schuss durch das Rohr. Nach jedem Schuss bricht sich der Schall an den Wänden der gegenüberliegenden Schuppen, ein tolles Geklacker. Unsere Braken110 zischen mit einem gurgelnden Heulton landeinwärts. Ein Zug des Maschinenpersonals ist grau eingekleidet worden und soll zur Verstärkung des Stoßtrupps nach Weichselmünde. Zehn Jungkadetten sind dabei. Scherzworte fliegen hin und her. Am Nachmittag Geschützreinigen, draußen scheint die Sonne, wir (S. 69) Mittelartilleristen sehnen uns nach ein bisschen Sonnenlicht. Tag und Nacht brennen in unserer Kasematte die elektrischen Birnen. 5. September Dienstag Reinschiff! Wahrhaftig, das tut not. In drei Stunden geben wir unserem Schiff ein etwas besseres Aussehen und fühlen uns sofort wohler. „Englische Bomber griffen in der vergangenen Nacht die Nordseeküste an. Über die Hälfte der Langstreckenbomber wurden von unserer Flak und den Jägern heruntergeholt“, meldet der Rundfunk. Drüben auf der Westerplatte kracht es wieder, deutsche Mörser legen planmäßig ihre Braken auf die Kraftstation und das Pumpenwerk. Vom Getreidesilo holt Leutnant Hartwig111 mit MG C 30112 zwei Polen von den Bäumen. Wumm, wumm, dunkle Rauchwolken quellen hoch und stehen wie Pinien über der Festung. Die Steuerbordbatterie ist zur Beerdigung der toten Kameraden. Reiner,113 Fritze114 mit Paradejacke, ein seltener Anblick. Während dieser Zeit funken wir auf die Funkstation bei Gdingen.115 Die S. A.116 macht wieder einen Mordslärm. In der Achterbatterie fällt eine Glasbirne zu Boden, zersplittert. Die Backen hüpfen. Schon bald wird das Schießen gestoppt, denn bei der vierten Salve saßen unsere 28er in der Sendestation, die sich nicht mehr meldet. Erfolg der schweren Artillerie, Turm „Bruno“. Abb. 23 110 111 112 113 114 115 Geschosse. Heinrich Hartwig (1910–?), Leutnant des Maschinengewehrzugs der „Schleswig-Holstein“. Ein Flak-Geschütz. Reiner Thietz, siehe oben. Fritz Zoller, siehe oben. Zwischen 13:37 und 13:54 Uhr schoss die „Schleswig-Holstein“ 13 Granaten des Kalibers 28 cm: Żebrowski (Hrsg.), Zanim poddał się Hel, S. 58. 116 Schwere Artillerie, nicht die „Sturmabteilung“ der NSDAP. 166 der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte Der Danziger Vorposten117 Der Führer bei seinen Soldaten an der Ostfront! Der nördliche Korridor völlig abgeschnitten. Durchbruchsversuch der polnischen Korridortruppen blutig abgewiesen. Pommersche Spähtrupps in Danzig eingetroffen. Ein polnisches U-Boot und der Zerstörer „Wicher“ versenkt, der Minenleger „Gryf“ schwer beschädigt. England verletzt Hollands Neutralität! Schon 15 000 Gefangene in Südpolen! Sehr bezeichnend für die englische Politik ist wieder der Lügen- (S. 70) und Hassfeldzug gegen Deutschland. Wie im Weltkrieg der Fall „Lusitania“ den Amerikaner in den Krieg zog,118 soll heute derselbe Fall durch eine angebliche Torpedierung der „Athenia“119 durch ein deutsches U-Boot den Hass der Amerikaner entfachen. Es gelingt uns, dieses heuchlerische Spiel aufzudecken und Herrn Churchill bloßzustellen. Immer wieder kommen unsere Stoßtruppkameraden an Bord, um Verpflegung und Munition zu holen, und immer wieder werden sie von uns umarmt und müssen erzählen. Jenes mystische Dunkel, das um die Westerplatte herrscht, schafft aus Wirklichkeit und Phantasie die spannendsten Geschichten. So wird erzählt, dass sich die Bunker nach allen Richtungen hin bewegen und aus mehreren Stockwerken bestehen, während geschickte Tarnungen MGs hochbringen, künstliche Grasflächen sich heben und plötzlich das mörderische Feuer im Rücken der vorgedrungenen Schützen beginnt. Die, mit einer Maschinenpistole, einer furchtbaren Waffe, ausgerüsteten polnischen Baumschützen sollen grüne Stiefel haben und in einem kleinen Panzerkorb in den Astgabeln sitzen. Ein vorstürmender Soldat fiel und verschwand im selben Augenblick vor den Augen seiner Kameraden. Auf Wahrheit beruht folgender Fall: Spät abends in der Dunkelheit kam unser Pionier Goede120 sehr verwundert keine Kameraden mehr zu finden, von der Westerplatte zurück, unversehrt trotz des mörderischen Trommelfeuers. Ein anderer bekam einen Schuss durch die Handgranate. Nur das Pulver lief aus dem Topf, der soll große Augen gemacht haben. Wie stark die Befestigungsbauten dort sind, soll eine Fliegeraufnahme zeigen. Eine 117 Abb. 23, quer über die Seite in gebrochener Grotesk mit Bleistift geschrieben, „Der“ ist größtenteils mit einem Danziger Emblem (Marienkirche) unterfüttert. 118 Das englische Passagierschiff „Lusitania“ wurde am 7. 5. 1915 vom deutschen U-Boot U 20 versenkt. Wegen amerikanischer Proteste stellte Deutschland das unangekündigte Beschießen von Zivilschiffen durch U-Boote, den sogenannten uneingeschränkten U-Boot-Krieg, bis Februar 1917 ein. Die Wiederaufnahme dieser Praxis war Anlass für den Kriegseintritt der USA im April 1917. 119 Das englische Passagierschiff „Athenia“ wurde am 3. 9. 1939 im Ostatlantik durch U 30 versenkt; es gab 112 Tote. Deutschland leugnete seine Beteiligung daran, die Propaganda behauptete eine britische Verschwörung und eine Selbstversenkung. Vgl. Cay Rademacher, Drei Tage im September. Die letzte Fahrt der Athenia 1939, Hamburg 2009. 120 Nicht ermittelt. 167 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt Bombe der Stuka fiel mitten auf das Dach des Hauptkommandogebäudes, ohne großen Schaden anzurichten. Der K. O.121 erzählte von zwei polnischen Blindgängern, die friedlich zwischen Benzintanks und einer Benzinleitung liegen. 6. September Mittwoch Heute Morgen bot sich uns ein fesselndes Schauspiel. Um den Wald in Brand zu setzen, hatte man nachts einen Tankwagen voll (S. 71) Brennstoff in den Wald gefahren. Durch Zeitzünder wurde der Waggon in Flammen gesetzt und nun züngelten die schmutzigroten Flammen hoch, weit über sich eine schwarze Qualmfahne.122 Heute Mittag hörten wir zum ersten Mal im Radio seit langer Zeit wieder Musik. Wir hatten sie nicht vermisst, aber nun lauschten wir, als wäre es ein Geschenk. Komisch ist es mit uns beschaffen, vor wenigen Wochen hörten wir nie hin und mit einem Mal berührt uns eine kleine Ouvertüre. Hängematten miefen aus und wir toben in Sporthose auf Flößen herum, bewundern eine Dalie, nur weil es in diesem grauen Krieg eine Blume ist. Und wieder flammt es am Spätnachmittag auf. Eine gewaltige Stichflamme schießt hoch, mit einem Puff quillt der schwarze Rauch hoch und steht über der Brandstelle wie die geballten Rauchwolken eines Vulkans.123 7. September Donnerstag Seit vier Uhr ist Alarm. Der graue Schiffsrumpf gleitet ganz langsam in der Morgendämmerung auf die Westerplatte zu. Wir peilen an Backbordseite durch alle Fugen in dem „Elefantenpanzer“. Abgedeckte Dächer, herausgesprungene Fenster haben nahezu alle Häuser. Grotesk winken die Fensterflügel, die wie die Flügel eines lahmen Vogels von der Hauswand abstehen. Ein Haus ist zusammengestürzt. Aus den Trümmern stehen steif die Balken. Die Werft ist vollkommen niedergebrannt. Die Eisenstreben stehen kreuz und quer durcheinander. Der große Kran ist umgeknickt. Eine Barkasse liegt zerfetzt am Ufer. Und dann bleiben unsere Blicke auf der Westerplatte hängen. Direkt vor uns stand einmal ein Haus. Die Rückwand steht zerbröckelt mit tiefen Rissen. Alles andere ist ein 121 Kadettenoffizier, dazu S. 8 im Original: „K. O. heißt Kadettenoffizier und nicht etwa knock out.“ Hier Kapitänleutnant Karl-Friedrich Merten (1905–1993), der von Juli 1939 bis Mai 1940 Kadettenoffizier auf der Schleswig-Holstein war. Vgl. auch seine Memoiren: Karl-Friedrich Merten, Nach Kompass. Lebenserinnerungen eines Seeoffiziers, Berlin 1994. 122 Tatsächlich war dies eine misslungene Operation, weil der Bahnwaggon zu früh von der Lok abgekoppelt wurde und nicht an der vorgesehenen Stelle explodierte; auch Versuche, den Wald auf der Westerplatte mittels Flammenwerfern abzubrennen, führten nicht zum Ziel. Vgl. Stjernfelt/Böhme, Westerplatte 1939, S. 93 f. 123 Vgl. vorherige Fußnote: gegen 15:45 Uhr wurde ein erneuter Versuch mit zwei benzolgefüllten Eisenbahnwaggons unternommen; sie gelangten ans Ziel, aber der Brand erlosch nach 15 Minuten, ohne den gewünschten Effekt zu haben. 168 der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte schwelender Haufe. Leblos recken die zerfetzten Bäume ihre Splitter in die Luft. Es sieht aus, als sei ein riesiges Beil über die Kronen hinweggefahren. Die rote Mauer besteht nur noch aus großen Lücken. Mir scheint, als sehe ich einen Kriegsfilm, leblos grau liegt die Landschaft vor uns. Aber nicht mehr lange. Unser Schiff schiebt sich heran. Die ungeheure Größe des 13 000 Tonners muss in dieser schmalen Fahrstraße ungeheuer wirken. (S. 72) Und dann setzt das Feuer ein. Unsere Fla M. W.s124 rasseln Leuchtspurgeschosse durch die Baumkronen. Wie bunte Lampions liegen die Salvenketten in der Luft, prasseln durch die Bäume, rot, grün, gelb. Oft überschneiden sich die Garben, streichen alles ab. Die Flaks bollern los, kleine rote Wölkchen zerfetzen das Unterholz. Deutlich erkennbar ein Bunker. Die MA125 schießt mit Bdz126, rot sind auch die Qualmwolken. Drüben setzt das Feuer ein. Das hölzerne Tacken der 08, das helle Knattern der 34,127 dazwischen die Detonation von Handgranaten, mit einem tiefen absinkenden Ton. Überall flammt es grell auf, Dreck fliegt ins Wasser. Kurze zwitschernde Töne, Geschosse flitzen vorbei. Es klingt wie das abgehakte Pfeifen einer Grasmücke. Die Geschosse unserer 2 cm128 prasseln wieder durch die Wipfel, hier und da kracht einer herunter und fällt langsam auf den qualmenden Boden. Weiter zurück bleiben dumpfe Detonationen sekundenlang vibrierend in der Luft und ebben langsam ab. Schlag auf Schlag feuert jetzt die Mittelartillerie, jeder Aufschlag ist zu verfolgen. Die 15 cm bohren sich in den Boden, sprengen und reißen. Ein Feldgrauer129 hetzt geduckt am abfallenden Ufer entlang, wirft sich flach in den Dreck hinter einem Mauervorsprung, andere kommen nach in Schützenrudel. Keine 200 m weit ist es. Eine Maschinenpistole bellt auf und sofort liegen die Bäume unter Feuer. Der Trupp geht vor bis zu den Resten eines Hauses, dessen Strohdach in Fetzen herunterhängt, hastet zurück, eine Flammensäule, Detonation; wir sehen die zum Wurf ausgeholten Arme, Handgranaten … eine ganz bestimmte Stelle wird von dem Eisenhagel überschüttet … weiter zurück geht ein Verwundeter, gestützt auf einen Kameraden. Backbord 1 nimmt weiter zurück ein weißes Haus, es war einmal eines, unter Feuer … Die langsam vorgehenden Feldgrauen liegen flach auf dem Erdboden, während unsere Braken wieder durch die Gegend summen. Ab und zu ist es für Sekunden totenstill, unheimlich still … verloren klackert ein MG, dann setzt es wieder ein. 124 Flakmaschinenwaffen. 125 Mittlere Artillerie, Kaliber 15 cm. 126 Bodenzünder – sind nicht im Kopf, sondern im Boden des Geschosses platziert, um eine verzögerte Detonation zu verursachen. 127 Gemeint sind die beiden Maschinengewehre MG 08 sowie MG 34, wobei die Zahl jeweils das Konstruktionsjahr angibt. 128 Die „Schleswig-Holstein“ hatte vier Flak-Maschinengewehre Kaliber 2 cm. 129 Soldat der Wehrmacht in grauer Felduniform. 169 Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt Der Sprengtrupp hat sich zurückgezogen, unsere Artillerie (S. 73) setzt mit aller Wucht wieder ein. Explosionen, Detonationen zerreißen in schneller Folge die Luft, Krachen, Bersten. Dazwischen, wie der Wirbel einer Trommel, seltsam tot, MG-Feuer … … eine riesige Flamme vor meinen Augen, ein ungeheurer Luftdruck stößt mich vor die Brust, wirft mich nach achtern über die Kartuschbüchsen, dass ich längs an Deck liege … in den Ohren singt es, das Blut rauscht am Trommelfell vorbei, wie ein Wasserfall … Turm Anton hat gefeuert. Ich peile nicht mehr …130 Um 9 Uhr liegt das Schiff am alten Platz. 1015 Uhr. Wie ein Lauffeuer eilt es durchs Schiff, von Mund zu Mund: „Die weiße Flagge über der Westerplatte! Die Polen ergeben sich!“ Es klingt unwahrscheinlich, wir rasen auf die Brücke, stürzen an die Gläser. Tatsächlich, dort hinten auf der Laufbrücke … Polen in grüner Uniform gehen mit erhobenen Händen über den schmalen Steg … dann müssen wir verschwinden. Das hatten wir nicht erwartet … Eine Woche lang hat die Besatzung standgehalten … aus Angst, wir würden ihnen die Augen ausstechen und sie erschießen. Am Nachmittag steht am schwarzen Brett: Abschrift! Nach Fall der polnischen, starken Befestigungsanlagen auf der Westerplatte spreche ich der Sturmkompanie, Ihnen und Ihrer Schiffsbesatzung höchste Anerkennung aus für zähen, tapferen Einsatz, der zum vollen großen Erfolg führte. In stolzer Trauer gedenken wir unserer gefallenen Kameraden. Der Rundfunk meldet die Einnahme und am Abend steht unser Kampf im Heeresbericht. Literatur Böhler, Jochen, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006. – Der Überfall. Deutschlands Krieg gegen Polen. Frankfurt a. M. 2009. – /Mallmann, Klaus-Michael/Matthäus, Jürgen, Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008. – (Hrsg.), „Größte Härte …“. Verbrechen der Wehrmacht in Polen September/Oktober 1939, Osnabrück 2005. Brewing, Daniel, Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten 1939–1945, Darmstadt 2016. 130 Die „Schleswig-Holstein“ feuerte zwischen 4:26 und 7:14 Uhr insgesamt 5 Granaten Kaliber 28 cm, 6 Granaten mit 15 cm, 197 Granaten mit 8,8 cm und 2400 Schuss mit den Flakwaffen. Vgl. Stjernfelt/Böhme, Westerplatte 1939, S. 95. 170 der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte Buddrus, Michael, Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, 2 Bde., München 2003. Derdej, Piotr, Westerplatte, Oksywie, Hel 1939, Warszawa 2009. Flisowski, Zbigniew (Hrsg.), Westerplatte, Warszawa 1959. Jaworski, Rudolf, Deutsch-polnische Feindbilder 1919–1932, in: Internationale Schulbuchforschung 6 (1984), S. 140–156. Jentzsch, Christian, Die Ausbildung zum Marineoffizier während der Kriegsjahre 1939– 1945, in: Stephan Huck (Hrsg.), Die Kriegsmarine. Eine Bestandsaufnahme, Bochum 2016, S. 161–172. Jockheck, Lars, Propaganda im Generalgouvernement. 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(1920–2017) im Alter von 80 Jahren begonnen.1 Die Darstellung seiner Militärdienstzeit von 1939 bis 1945 umfasst darin etwas mehr als 30 Seiten, die des Krieges gegen Polen ungefähr fünf Seiten. In diesen Erinnerungen erwähnt er auch sein Tagebuch über die ersten Wochen des Krieges, aus dem er ganze Passagen zitiert. Sich an imaginierte Leser wendend, kommentiert er sechs Jahrzehnte nach ihrer Niederschrift seine historischen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1939: „Bisher habe ich mein Tagebuch über den Polenfeldzug fast wörtlich wiedergegeben, wie ich das […] aus der Sicht eines 19jährigen Soldaten erlebt habe. Es sind darin Gedanken zu Papier gebracht, wie sie eben nur jemand haben konnte, der ausschließlich in der Nazizeit groß geworden ist und keine Möglichkeit hatte, sich anderweitig zu informieren. Wenn in dem Bericht also Ansichten geäußert sind, die heute nur noch Kopfschütteln verursachen, so bitte ich, diesen Aspekt zu berücksichtigen und das nachzusehen.“2 Diese Passage kann einerseits als Ausdruck des Bemühens um eine Erklärung und (implizite) Entschuldigung verstanden werden. In ihr artikuliert sich aber zugleich eine basale Einsicht historischen Denkens. Der Autor historisiert sich selbst. Er benennt die Ursachen unterschiedlicher Wahrnehmungen und Interpretationen von Erlebtem im Wandel der Zeit. Denn weder der historische Laie noch die Historikerin betrachtet den Strom der Zeit gleichsam von außerhalb, von einem Ufer vermeintlicher Objektivität aus, das sie selbst außerhalb der Zeit situiert. Sie sind vielmehr selbst Teil des Zeitstromes, werden von ihm fort- und mitgetragen zu neuen Perspektiven und wandeln sich mit ihm auch selbst. So weit, so bekannt. Die wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Kontexte bzw. deren Wandel müssen also reflektiert und diskutiert werden: Woher, in welche Richtung, wie oder wie schnell 1 2 Gerhard W., Erinnerungen, Hildesheim 2000/2001 (unveröffentlichtes Ms.). Auf Bitten der Angehörigen wurde der Name anonymisiert. W., Erinnerungen, S. 53; eine ähnliche Stellungnahme auch S. 50. 173 ChriStoph hamann oder langsam ist der Zeitstrom bislang geflossen? All dies kann bei seriöser Arbeit als geübte Praxis gelten. Nicht immer aber nimmt die oder der Forschende auch sich selbst in den Fokus. Denn auch sie oder er schwimmt im Strom der Zeit, mal mit allen anderen, mal individuell. Auch ihre oder seine persönliche Perspektivität wie auch den eigenen Wandel gilt es bei der Analyse der Aufnahmen deshalb zu berücksichtigen. Denn nicht allein das Erkenntnisobjekt, auch das Erkenntnissubjekt unterliegt der Geschichtlichkeit.3 Die zwingende Anforderung lautet deswegen bei der Interpretation fotografischer Quellen: „Ein wirklich historisches Denken muss die eigene Geschichtlichkeit mitdenken.“4 Dies betrifft im fotohistorischen Kontext insbesondere die Geschichte der eigenen Mediensozialisation, die nicht selten geprägt ist von den ubiquitären geschichtskulturellen Bildern des Krieges in Film, Fernsehen und Publizistik. Denn die publizierten Bilder aus der Vergangenheit prägen das mentale Bild von der Vergangenheit. Und diese individuellen mentalen Bilderwelten beeinflussen den Blick des Rezipienten auf die vor ihm liegenden fotografischen Quellen. Die Bilder im Kopf sind deshalb ihrerseits selbstkritisch zu reflektieren. So begegnete der Zweite Weltkrieg dem Autor dieses Beitrags – wie vielen anderen seiner Generation ebenso – zunächst in Bildern von Propagandafotografen der deutschen Wehrmacht, die nach 1945 zum Beispiel in Schulbüchern oder der Publizistik weitgehend unkritisch veröffentlicht wurden. Der Historiker Gerhard Paul sprach angesichts dieser ungebrochenen Rezeption von Propagandabildern deshalb vom „späte[n] Triumph des Joseph Goebbels“.5 Später erst wurden – vor allem im Kontext der Wehrmachtsausstellung – auch die Gegenbilder des militärischen Grauens publiziert. Innerhalb der Spannbreite dieser Polarisierung bewegt(e) sich also die Rezeption von Knipser-Bildern deutscher Soldaten: Propaganda oder Grauen. Der Blick sucht(e) die Extreme. Nicht selten aber findet er in den Knipser-Alben eher unspektakuläre Bilder des Kriegsalltags. 2. Quellen und Fragestellung Die historiografische Auseinandersetzung mit dem Krieg gegen Polen kann in der vorliegenden biografischen Überlieferung auf Quellen unterschiedlicher medialer Art aus unterschiedlichen Zeiten zurückgreifen. Von Gerhard W. liegt ein Fotoalbum mit einer 3 4 5 174 Hans-Jürgen Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001, S. 34 ff. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, S. 305. Gerhard Paul, Bilder des Krieges/Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn/München/Wien/Zürich 2004, S. 268; zur Rezeption der Kriegsbilder in der deutschen Erinnerungskultur, S. 268–284. Vgl. dazu auch: Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998; Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001. der Krieg im album Sammlung von Aufnahmen zum – so der Titel – „Polenfeldzug Sept. 1939“ vor. Dieses ist mutmaßlich im engeren, jedoch mittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den historischen Ereignissen angelegt worden.6 Denn während der militärischen Auseinandersetzungen selbst wird er dazu kaum Zeit gehabt haben. Es ist als ein ausgesprochen glücklicher Umstand zu bewerten, dass von Gerhard W. auch ein Kriegstagebuch überliefert ist, das sich in wesentlichen Teilen ebenfalls auf die Zeit des Überfalls auf Polen bezieht.7 Seine Beteiligung am Zweiten Weltkrieg wiederum thematisiert W. in den schon eingangs erwähnten unveröffentlichten Erinnerungen, die er in den Jahren 2000/2001 geschrieben hat. In diesen zitierte er wiederum das Kriegstagebuch von 1939 – wie sich zeigen wird, nicht immer wörtlich. In seiner Beschäftigung mit dem eigenen Leben setzte sich W. wenige Jahre vor seinem Tod noch einmal mit dem Fotoalbum auseinander. Dies fand seinen Niederschlag in handschriftlichen Kommentaren, die er auf kleine Zettel geschrieben und im Sinne ergänzender Bildtexte hinter die jeweiligen Fotografien geklemmt hat. Außerdem bearbeitete er die Bildtexte von 1939 auf der Rückseite der Aufnahmen. Dies erfolgte ungefähr 2015 nach einem Gespräch von Gerhard W. mit dem Autor dieser Ausführungen über das Fotoalbum.8 Die Überlieferung der Quellen ist also dicht und stammt aus drei Zeiträumen, nämlich 1939/40, 2000/2001 und 2015. Die Überlieferungsdichte legt zwei Analyseschwerpunkte nahe. Nach biografischen Anmerkungen zu Gerhard W. und quellenkritischen Ausführungen zum Fotoalbum wird dieses in seiner temporalen wie thematischen Struktur sowie in Bezug auf die Perspektivität der Fotografien analysiert. Ergänzend werden bei diesem Vorgehen vereinzelt auch Passagen aus dem Kriegstagebuch herangezogen, die sich auf einzelne Motive der Aufnahmen beziehen. Der Fokus liegt bei diesem Schritt also auf dem Album selbst. Die weitere Analyse nutzt die Quellenüberlieferung aus unterschiedlichen Zeiten, um der Frage nachzugehen, wie das autobiografische Erinnern mit dem eigenen Leben bzw. den Quellen dieses Lebens umgeht, welche Strategien es verfolgt und welche Mittel es einsetzt. Den Abschluss bilden Reflexionen über die unterschiedliche Medialität der Quellen und die unterschiedlichen Reichweiten von Aussagen über Vergangenheit, die auf Grundlage der verschiedenen Medien (Fotografie – Text) getroffen werden können. 6 7 8 Dafür spricht auch, dass manche der Bildtexte auf der Rückseite der Aufnahmen in ihren Angaben zu Ort und Zeit der Aufnahme (mutmaßlich aus Gründen mangelnder Kenntnis bzw. des Vergessens) entweder unvollständig blieben (z. B. Abb. 9) oder korrigiert wurden (z. B. Abb. 10). Für seine Aufzeichnungen nutzte W. linierte Schulhefte im DIN-A-5-Format, die er handschriftlich (Bleistift) beschrieb. Es liegen drei Hefte vor, von denen die beiden ersten Eintragungen aufweisen, die den Überfall auf Polen betreffen. Den Aufdrucken auf der Titelseite zufolge hatte er diese Hefte in Polen erworben. Es sei darauf verwiesen, dass Gerhard W. der Schwiegervater des Autors dieser Zeilen war. Dies begünstigt einerseits ein Verstehen im hermeneutischen wie auch im emphatischen Sinne, birgt andererseits die Gefahr mangelnder Distanz zum Gegenstand der Analyse. Der Autor ist sich dessen wohl bewusst und hofft dennoch, hinlänglich professionell agiert zu haben. 175 ChriStoph hamann 3. Archivar und Autobiograf Gerhard W. (Abb. 1), gleichermaßen Archivar wie Biograf des eigenen Lebens, stammte aus einer Handwerkerfamilie in Hildesheim. Der Vater war, bevor er sich 1927 als Malermeister selbstständig gemacht hatte, angestellt im ortsansässigen Malerbetrieb von Heinrich Havemann (1871–1951). Dieser nahm für die DVP zwischen 1920 bis 1928 und dann nach dem Tod von Gustav Stresemann (1878–1929) als dessen Nachrücker noch einmal 1929/30 ein Mandat im Deutschen Reichstag wahr. Der mündlichen Überlieferung in der Familie zufolge war das Elternhaus jedoch unpolitisch. Nach dem Abitur 1938 und dem Reichsarbeitsdienst meldete sich W. im November 1938 freiwillig zur Wehrmacht und nahm in verschiedenen Regimentern der Flugabwehr am Zweiten Weltkrieg teil, nach sieben Beförderungen zuletzt im Rang eines Oberleutnants. Als Funker der 5. Batterie im Flakregiment 36 der 8. Armee/Heeresgruppe A war W. 1939 von Schlesien aus am Angriff gegen Polen beteiligt. Seine Batterie bestand aus vier Zügen, die mit je drei 2-cm-Flakgeschützen für die Abwehr von Tieffliegerangriffen ausgestattet war. Nach einer Verwundung in Frankreich wurde er auf der Kanalinsel Guernsey stationiert und kam nach dem Angriff auf die Sowjetunion schließlich mit der Heeresgruppe Mitte bis ca. 40 Kilometer vor Moskau. Das Kriegsende erlebte er in Ostpreußen und konnte von dort mit einer Gruppe seiner Einheit über die Ostsee nach Kiel fliehen. Ihm wurden das Eiserne Kreuz I. bzw. II. Klasse und weitere militärische Auszeichnungen verliehen.9 Nach kurzer englischer Gefangenschaft kehrte er im August 1945 in seine Heimatstadt zurück. Nach 1945 arbeitete er bis 1986 im Justizdienst, zuletzt als persönlicher Referent (Oberamtsrat) des Präsidenten des Landgerichts Hildesheim.10 4. Das Album 4.1 Die Quelle Die 49 Schwarz-weiß-Fotografien, unter dem Titel „Polenfeldzug Sept. 1939“ in einem Kapitel zusammengefasst, sind Teil eines Fotoalbums, das auch 28 Aufnahmen und eine farbige Bildpostkarte unter dem Titel, „am Westwall Sept. 39 – Anf. Mai 40“ präsentiert. Das mit einem Bezug aus grünem Lederimitat gebundene Album vermittelt einen hochwertigen Eindruck und beinhaltet im Querformat insgesamt 24 kartonierte Bildseiten, davon 13 Seiten mit den Aufnahmen aus Polen. Auf diesen Seiten sind jeweils drei bis vier Aufnahmen mittels Fotoecken auf einer Seite arrangiert. Diese Bilder dokumentieren – den Angaben auf den Rückseiten der Fotos zufolge – den Zeitraum zwischen dem 9 10 176 Verwundetenabzeichen, Medaille „Winterschlacht im Osten 1941/42“, Erdkampfabzeichen der Luftwaffe, Flakkampfabzeichen, Verwundetenabzeichen in Silber. Ich danke Frau Gudrun Bierbach (Hildesheim) für Auskünfte zur beruflichen Stellung von Gerhard W. der Krieg im album Abb. 1: Gerhard W. Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: „polyfoto 25 Breslau“ (Stempel) und handschriftlich „Sommer 1942“. 25. August und dem 13. September 1939. Dieses frühe zeitliche Ende der fotografischen Dokumentation des Überfalls auf Polen erklärt sich aus dem Abzug seines Flakregiments schon Mitte September. Die polnischen Flugzeuge waren binnen Kurzem der quantitativen wie militärtechnischen Überlegenheit der deutschen Luftwaffe zum Opfer gefallen.11 Die Anwesenheit einer deutschen Flugabwehr war aus militärischen Gründen daher nicht mehr notwendig. Mindestens zwei Hinweise lassen vermuten, dass in das Album Aufnahmen verschiedener Bildautoren Eingang gefunden haben. Zunächst fallen die unterschiedlichen Positiv-Abzüge auf. Es finden sich zwar durchweg kleinformatige Abzüge, diese haben sowohl gerade Bildränder wie auch (geriffelte) Büttenränder. Manche der Abzüge zeigen die Fotografien in einer Passepartout-Optik mit einem breiten Rahmen von bis zu 19 Millimetern, andere wiederum rahmen die Bilder mit nur zwei Millimetern. Anhaltspunkte geben auch die Rückseiten der Abzüge. Neben den erläuternden Bildtexten finden sich dort bei 14 Aufnahmen mit Bleistift geschriebene Hinweise. Neben Ziffern (nämlich „5“, „20“) sind dies Namensnennungen bzw. -kürzel wie „W.“, „Wxxx“12, „Hau. Wxxx 0,60“ oder „1 Wxxx“. Offensichtlich handelt es sich dabei um Abzüge, die Fotografen an Angehörige der Flak-Batterie verkauften. Die Ziffern „0,60“ bestimmten mutmaßlich den zu entrichtenden Preis für die Aufnahmen. Nicht auszuschließen, aber auch nicht zu belegen ist, dass W. auch selbst fotografiert hat. Dagegen spricht, dass er Abzüge ankaufte; dafür könnte wiederum angeführt werden, dass er auf keinem der Bilder des 11 12 W., Erinnerungen, S. 54: „Da es in diesem Feldzug aber praktisch keine polnische Luftwaffe gab und die meisten gegnerischen Flugzeuge bei dem Überraschungsangriff auf Polen schon am Boden zerstört waren, hatten unsere Flakbatterien praktisch keine Aufgabe. Und die wenigen Flugzeuge, die am Himmel erschienen, waren restlos veraltet und bedeuteten keine Gefahr für die Truppe, im Übrigen wurden sie eine leichte Beute der schnellen deutschen Jagdflugzeuge.“ Der Familienname ist bei den hier mit xxx versehenen Angaben im Original ausgeschrieben. 177 ChriStoph hamann Polen-Kapitels selbst zu sehen ist. Jedoch: Weder in seinen Erinnerungen noch in seinem Tagebuch erwähnt er, dass er selbst fotografiert hat. Von den Aufnahmen lässt sich also nur bedingt auf den Archivar schließen. Immerhin aber hat W. eben diese Bildmotive für sein Fotoalbum ausgewählt. Lässt man einen möglichen Mangel des Angebots an unterschiedlichen Bildmotiven außer Acht, dann scheint die Auswahl der Aufnahmen das zu repräsentieren, was ihm wichtig war, was er für repräsentativ für das Erlebte hielt. Die Gestaltung wie die Motivwahl der Aufnahmen lässt es bei den meisten ausschließen, dass es sich bei diesen um propagandistische Aufnahmen handelt. 4.2 Ordnung und Anordnung Fotoalben zeichnen sich durch eine Reihe von konstitutiven Merkmalen aus. Zu diesen gehören die Auswahl von Aufnahmen, die Ordnung der Seite und schließlich die Anordnung der Aufnahmen in einer Reihung. Letztere kann eine additive Häufung von Bildmotiven mit ähnlichem Thema sein. Oder der Reihe ist eine chronologische Folge unterlegt. Die Sammlung der Fotografien „Polenfeldzug“ ist eine Mischung aus beidem. Das Grundgerüst der Anordnung ist aber die lineare Chronologie, dies ergibt sich aus der Datierung. Im Folgenden werden zentrale thematische Cluster der chronologischen Folge nach vorgestellt und kommentiert. Fokus zerstörte Orte: Die ersten Motive der Sammlung zeigen Situationen in den oberschlesischen Orten Karlsmarkt (heute: Karłowice, Abb. 10) bzw. Kreuzburg (heute: Kluczbork) nördlich von Oppeln (heute: Opole) ca. 20 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt gelegen. Am 2. September rückt die Einheit W.s über die polnische Grenze. Schon im zeitgenössischen Tagebuch wird dies als ein entscheidender Schritt stilisiert: „Wir überschritten die Grenze bei Szyszkow. Diesen Augenblick werde ich wohl nie vergessen. Blutrot war schon am Abend die Sonne untergegangen, und jetzt hatte der Mond einen fast ebenso roten Schein. Längs der Grenze waren auf deutschem Gebiet mehrere Reihen spanische Reiter aufgestellt mit Stacheldraht verbunden. Am Grenzpfahl stand ein Grenzbeamter, und schlagartig setzten mit Grenzübergang andere Straßenverhältnisse ein. Hier asphaltierte Straßen. Dort huckelige Feldwege.“13 Die ersten Aufnahmen mit Motiven von Kriegszerstörungen stammen vom 3. September und zeigen das bombardierte Działoszyn, einer Stadt rund 57 Kilometer östlich von Kluczbork und 110 Kilometer südwestlich von Łódź. Sie war schon am 1. September von der Luftwaffe der Wehrmacht angegriffen und am 3. September besetzt worden. Im Kriegstagebuch findet sich ein Eintrag zum 3. September: „Weiter ging der Marsch […] nach Dzialozyn [!] an die Front. Hier hörten und sahen wir zum ersten Male etwas von der Front, vom Krieg. Das Städtchen liegt an der Warthe, deren jenseitige Höhen befestigt waren. […] Flak besetzt die Höhenrücken rings um die gebaute Brücke [über die Warthe]. Sie hat die Aufgabe, den 13 178 W., Kriegstagebuch I, o. P. (S. 12). Im identischen Wortlaut zitiert in den Erinnerungen, S. 51 f. der Krieg im album Abb. 2: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: „Dzialozyn 6. 9. 39“, mit Bleistift ergänzt „5“. Abb. 3: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: „Von diesem Haus wurde auf uns geschossen.“ (Im Hause Einschläge der Granaten eines 2-cm-Geschützes) Rawa 11. 9. 39. 179 ChriStoph hamann Schutz gegen feindliche Flieger zu übernehmen. […] Dort an der Warthe haben wir zum ersten Mal einen polnischen Flieger gesehen, der auch von der schweren 8.8 Batterie beschossen wurde. […] In der Runde rings um uns brennende Dörfer, die gerechte Sühne für feige Heckenschützen. Wieder waren an dem Tage einem gefangenem und später befreiten Leutnant beide Augen ausgestochen worden.“14 Sowohl bei den Ansichten über die eingenommene Kleinstadt Działoszyn zu Beginn des Einmarsches wie auch bei den später aufgenommenen Bildern über das zerstörte Rawa (heute: Rawa Mazowiecka), einer Kleinstadt rund 78 Kilometer südwestlich von Warschau, wird die Zerstörung der Ortschaften dokumentiert. In den raumgreifenden Blick werden dabei zentrale Punkte der Stadt genommen (Abb. 2, 3). Bei beiden Städten waren jeweils repräsentative Gebäude an einem großen Platz gelegen. Zumindest das Beispiel der Aufnahme aus Rawa lässt der Gestaltung des Gebäudes wegen vermuten, dass es sich um ein öffentliches Gebäude handelt. An der Fassade des Gebäudes in Rawa sind Schriftzeichen angebracht, die jedoch zum Teil zerstört sind. Erkennbar sind die Buchstaben „Dom Spol xxx zny“: Dom Społeczny ist der polnische Begriff für so etwas wie ein Gemeinschaftshaus. Auffallend an dieser Aufnahme wie auch an anderen motivähnlichen Bildern von Działoszyn ist, dass die zentralen Plätze bei allen im Hintergrund wahrnehmbaren Beschädigungen oder Zerstörungen der Randbebauung aufgeräumt und im Falle der Stadt Rawa geradezu unversehrt erscheinen. Der Krieg erfolgte hier, so die Wahrnehmung, mit überschaubaren Kriegsschäden. Fokus polnische Flüchtlinge: In der chronologischen Folge dominieren nach der Besetzung von Działoszyn neben Aufnahmen vom Bau einer Pontonbrücke über die Warthe bei Płaczki (91 Kilometer nördlich von Katowice) Fotografien von Flüchtenden (Abb. 4). In seinem Kriegstagebuch schrieb W. über diese Situationen am 5. September detailliert: „Die ersten Flüchtlinge kommen aus den Wäldern zurück und wollen in ihre Dörfer. […] Sie wurden alle nicht sonderlich gütig von uns behandelt. Man konnte ja nicht wissen, ob es sich nicht um Franktireurs handelte. Heute kommen sie in hellen Scharen an. Alles armes, elendes Volk. Auf Leiterwagen, von einem mageren Pferd gezogen, haben sie ihre wenige Habe verpackt, darauf sitzen 4–6 kleine 14 180 W., Erinnerungen, S. 52 sowie W., Kriegstagebuch I, o. P. (S. 16–18). An anderer Stelle heißt es im Kriegstagebuch, die vielfach kolportierten Gerüchte wiederholend: „Es ist uns erzählt worden, dass die gesamte Zivilbevölkerung der Gebiete, in die deutsche Truppen einmarschiert sind, aufgerufen worden ist, auf deutsche Soldaten zu schießen. So hat in einem Dorf der Pfaffe mit einem MG auf der Kirche gesessen und hat geschossen. Weitere 70 Heckenschützen sind in demselben Dorf festgestellt worden. Dass mit diesen Leuten nicht viel Federlesen gemacht worden ist, ist klar.“ Vgl. W., Kriegstagebuch I, o. P. (S. 10 f.); unter Verzicht auf den letzten Satz dieses Zitats, aber ansonsten nahezu wortgleich vgl. W., Erinnerungen, S. 51. der Krieg im album Abb. 4: Bildtext auf der Rückseite siehe Abb. 5: „Zivilbevölkerung auf der Flucht“ Abb. 5: Rückseite der Abb. 4: a) „Zivilbevölkerung auf der Flucht“ (vermutlich von ca. 2015), b) ein unkenntlich gemachter Text (mutmaßlich: „Ein ganzer Wagen voll Juden“) sowie c) „(zwischen Szczerkow und Bedkow) 7. 9. 39.“ (Bildtexte b) und c) aus dem Jahr 1939). 181 ChriStoph hamann Kinder, eine alte Frau, das andere läuft zu Fuß, noch 3 größere Kinder laufen nebenher. Der Hund ist an den Wagen angebunden und trottet stumpfsinnig zwischen den Hinterrädern mit. Der Mann, die Peitsche in der Hand, läuft barfuß, wenn er nicht Schaftstiefel an hat. Er ist langrasiert, wenn man es überhaupt so nennen kann. Größtenteils sind sie sehr schmutzig. Sie haben, glaube ich, alle Ungeziefer an sich. Man muss sich sehr in Acht nehmen, um bei der Untersuchung nach Waffen kein Ungeziefer auf sich überträgt [sic]. Auch deutsche Familien sind darunter. Man erkennt sie gleich. Sie sind sauber und adrett angezogen. Sie scheinen auch durchschnittlich wirtschaftlich besser dazustehen als die Polen derselben Gegend.“15 Fokus Deutsche in Polen: Zwei Aufnahmen des Albums fallen aus dem Rahmen der anderen Motive (Abb. 6, 8). Sie sind auf den 8. September datiert und waren in der Gemeinde Grünbach (auch Grömbach, heute: Łaznowska Wola) aufgenommen worden, etwa 25 Kilometer südöstlich von Łódź.16 Grünbach war seit 1800 zunächst von deutschen Kolonisten aus Württemberg und ab 1814/15 aus Pommern besiedelt worden. Im Jahr 1939 waren von 90 Bauernhöfen der Gemeinde 80 im Besitz deutschstämmiger Siedlerinnen und Siedler, 10 im Besitz von Polinnen und Polen.17 Während viele Aufnahmen des Albums in der Einstellungsgröße der Totalen gehalten sind, werden die deutschen Kolonisten frontal in der Halbtotalen bzw. der nahen Einstellung gezeigt. In beiden Aufnahmen sind inmitten der Dorfbewohnerinnen und -bewohner (jeweils) drei Wehrmachtsoldaten zu sehen. Eng umringt von freudig blickenden Frauen und Männern, sitzen sie in einem mit Blumen geschmückten Fahrzeug (Abb. 6). Die zweite Aufnahme (Abb. 8) zeigt rund 50 Frauen, Männer und Kinder, die als Gruppe frontal in Richtung des Fotografen sehen und – mutmaßlich auf dessen Anregung hin – den Arm zum „deutschen Gruß“ heben. Im Vordergrund der sichtbaren Freude der Grünbacher Bevölkerung steht mutmaßlich das Bekenntnis zur historischen Herkunft der Grünbacher aus Deutschland und deren Empfindung einer emotionalen bzw. kulturellen Verbundenheit mit dem Deutschen Reich. Ob mit dem von manchen Grünbachern gezeigten „deutschen Gruß“ auch ein politisches Bekenntnis zum Nationalsozialismus verbunden ist, muss offenbleiben. Immerhin hatten die deutschen Siedlerinnen und Siedler gleich zweifach konkreten Anlass zur Freude. W. schrieb am 8. September in sein Tagebuch: „Die Polen sind erst gestern [aus Grünbach] ausgerückt und haben alle Leute mitnehmen wollen. Die armen Leute sind aber geblieben, und die Pollacken 15 16 17 182 W., Kriegstagebuch I, o. P. (S. 22–24); In W.s Erinnerungen wird folgende Passage nicht zitiert: „Größtenteils …“ bis „… auf sich überträgt“. Vgl. W., Erinnerungen, S. 53. Zur Siedlungsgeschichte der Gemeinde Grünbach vgl. Otto Heike, 150 Jahre Schwabensiedlungen in Polen 1795–1945, Leverkusen 1979, S. 40–60. Ebenda, S. 56. der Krieg im album Abb. 6: Bildtext auf der Rückseite des Fotos oben: „Die Deutschen in Grünbach 8. 9. 1939“. Abb. 7: Handschriftliche Ergänzung Jahrzehnte später (ca. 2015): „freudige deutsche Dorfbewohner (sie wussten noch nicht, was später auf sie zukam!)“. Abb. 8: Bildtext auf der Rückseite des Fotos: „Ein deutsches Dorf in Polen (Grünbach) 8. 9. 39“. 183 ChriStoph hamann haben sicher nicht mehr die Zeit gehabt, sie mit Gewalt mitzunehmen. Nur in ihren Essenvorräten haben sie schwer gehaust. Sie haben den Deutschen sehr viel weggenommen. Alle sind jetzt sehr froh, dass die deutschen Soldaten da sind, alle möchten gern mal nach Deutschland, um ihr Vaterland, das sie größtenteils gar nicht kennen, zu sehen.“18 Wenige Tage zuvor waren außerdem unter dem Vorwurf der Spionage für die Deutschen der Kirchenvorsteher, der Lehrer, der Briefträger und ein Landwirt aus Grünbach von Polen festgenommen und mit der Erschießung bedroht worden. Nach der polnischen Kapitulation in der Schlacht um Warschau wurden diese aus dem Gefängnis in Warschau entlassen und konnten in ihr Heimatdorf zurückkehren.19 Die in den Fotos demonstrierte Freude kann sich also auch auf die erhoffte Entlassung bzw. Wiederkehr der inhaftierten Grünbacher beziehen. Fokus Waffen: Östlich von Brzeziny, einer Stadt, die etwa 15 Kilometer östlich des Zentrums von Łódź liegt, geriet die Flak-Batterie W.s am 9. September bei dem Dorf Jeżów in eine polnische Gegenoffensive. In diesem zeitlichen Zusammenhang werden neben Toten, Gefangenen und Verwundeten auch zwei Bilder eines erbeuteten polnischen Tanks, eines zerstörten polnischen Geschützes oder eines „polnischen Bagagewagen von deutscher Artillerie zusammengeschossen“ (Bildtext) gezeigt. Besonderes Interesse gilt Bildmotiven von abgestürzten Flugzeugen (Abb. 9). Zwei undatierte Aufnahmen zeigen einen „abgeschossenen polnischen Eindecker“, eine weitere ebenso undatierte Fotografie eine abgestürzte deutsche Ju 87. Fokus Verwundung, Tod: Das Blatt 8 des Albums bündelt Motive des Todes und schließt damit thematisch an das vorhergehende Blatt 7 an. Dort wird der einzige deutsche Verwundete gezeigt, ein zerstörtes „polnisches Geschütz“ sowie zwei Aufnahmen eines polnischen Verwundeten, „der von uns verbunden wurde in Jezow am 9. 9. 39.“ (Bildtext; zitiert wie im Original). Die deutsche Wehrmacht, so die Botschaft, verhält sich dem unterlegenen Gegner gegenüber fair und fürsorglich – der Krieg der Deutschen ist barmherzig. Die folgenden Aufnahmen auf dem Blatt 8 laden die Betrachtende oder den Betrachter durch ihre Zusammenstellung zu einem wertenden Vergleich ein. Im Tod, so die visuelle Anmutung, sind nicht alle gleich. Er ist grausam und einsam für die polnischen Soldaten (Abb. 10, 12). Sie liegen achtlos im Dickicht des Waldes, in ihren noch zu ahnenden Bewegungen tödlich erstarrt. Der Wald ist dicht, verwildert und durch die Nähe des Objektivs zum zentralen Motiv unübersichtlich und undurchschaubar. Der 18 19 184 W., Kriegstagebuch II, o. P. (S. 2–3). Fehlende Kommata im Original wurden nachträglich eingefügt. Diese Textstelle wurde in den Erinnerungen nur in einer knappen Zusammenfassung wie folgt wiedergegeben: „Grünbach. Die polnischen Soldaten waren erst gerade geflüchtet und hatten die deutschen Bewohner vorher ausgeplündert.“ Vgl. W., Erinnerungen, S. 54. Heike, Schwabensiedlungen, S. 57. der Krieg im album Abb. 9: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: „Abgeschossener polnischer Eindecker in“*; Ergänzung mit Bleistift „1 W.“ Späterer handschriftlicher Zusatz (ca. 2015): „pol. Militärflugzeug (uralte Dinger)“. * Eine örtliche Zuordnung erfolgt hier nicht (Auslassung so im Original). Ort des Todes liegt im irgendwo, eine ehrende Bestattung wird nicht visualisiert. Ganz anders dagegen das Grab des deutschen Soldaten (Abb. 11). Im Hintergrund ein lichter Wald mit gelockerter Baumbepflanzung. Im Vordergrund das Grabkreuz mit aufgesetztem Helm und eine mit Tannenzweigen bedeckte Sandaufschüttung. Die Erinnerung an den Gefallenen ist hier würdevoll. „‚Ein Soldatengrab‘“, formuliert der Bildtext auf der Rückseite und ergänzt: „Viele sind auf dem Feld der Ehre geblieben.“ Während bei den toten polnischen Soldaten eine Ortsangabe vorliegt („vor Jezow“), bleibt das deutsche Grab im Bildtext ohne Bezug auf einen Ort oder eine konkrete militärische Situation. Es steht damit stellvertretend für alle anderen Grablegungen deutscher Soldaten. Im Kriegstagebuch erwähnt W., bei der Verlegung seiner Einheit nach Frankreich seien sie am Wegesrand in Polen immer wieder auf Gräber deutscher Soldaten gestoßen. 4.3 Das Album als mediales Dispositiv „Die modernen Bildmedien Fotografie, Film und Fernsehen“, so Gerhard Paul in seinem Band über die Bilder des Krieges, „versuchten das katastrophisch antizivilisatorische Ereignis des Krieges zu einem zivilisatorischen Akt umzuformen, ihm eine Ordnungsstruktur zu verpassen, die dieser per se nicht besitzt. Auf diese Weise trugen und tragen 185 ChriStoph hamann Abb. 10: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: „Toter polnischer Soldat Wartheübergang Dzialoszyn Vor Jezow 9.9.39“ (Streichung im Original); Abb. 11: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: „‚Ein Soldatengrab.‘ Viele sind auf dem Felde der Ehre geblieben.“ Mit Bleistift „W.“; 186 Abb. 12: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: „Toter Pole vor Jezow 9. 9. 39“; Die Aufnahmen der Seite zusammenfassend ein handschriftlicher Zusatz (2015): „tote Polen, ein abgeschossener polnischer Panzer u. ein deutsches Soldatengrab“. der Krieg im album Abb. 13: Bildtext: „im Manöver im Raum Münster/Westf [sic] Juli/August 1939“. die medial generierten Bilder des Krieges zur immer wieder neuen Illusion seiner Planund Kalkulierbarkeit bei.“20 Dem Außeralltäglichen des Krieges wird auch im Medium eines privaten Fotoalbums eine alltägliche Form gegeben. Denn das Fotoalbum ist ein mediales Dispositiv, das eine kollektive Konvention des persönlichen Erinnerns zum Ausdruck bringt. Zum Fotoalbum gehören neben der Visualisierung zentraler Themen in einer temporalen Abfolge auch die Einführung am Beginn der Bildsammlung wie auch ein letztes Bild, welches das vorherige Narrativ rundet und – im vorliegenden Fall – implizit einen Ausblick auf das Kommende andeutet. Das Präludium: Wie bei Büchern ist auch bei Fotoalben die Rückseite des Einbands eine Vakatseite, sie bleibt ungenutzt und leer; sie ist im Grunde genommen eine Seite vor dem Beginn. Denn der Text oder die Sammlung von Aufnahmen setzt der Konvention entsprechend auf der rechten Seite nach der Titelei ein.21 Gerhard W. geht anders vor. Und dies macht temporalen Sinn. Er zeigt auf der Innenseite des Umschlags sechs kleine 20 21 Paul, Bilder des Krieges, S. 11. Bei Büchern folgt der Innenseite des Umschlags die Titelei, nämlich Schmutztitel, Vakatseite, Titelblatt und Impressumseite. 187 ChriStoph hamann Abb. 14: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: „Offiziersbesprechung bei Karlsmarkt O/S. etwa 25. 8. 39“ (Karlsmarkt, heute: Karłowice). Aufnahmen mit entspannt wirkenden Soldaten in Ruhepausen. Diese Aufnahmen wurden während eines Manövers im August 1939 aufgenommen (Abb. 13). Ein Manöver verweist als eine Übung auf den Ernstfall, ist dieser aber selbst (noch) nicht. Diese Aufnahmen visualisieren die militärische Bereitschaft der Einheit W.s für den Krieg noch vor dem Krieg. Sie sind gewissermaßen das vorbereitende Präludium vor dem entscheidenden Schritt. Sie sind – der editorischen Konvention eines Albums im Grunde genommen widersprechend, der semantischen und temporalen Kohärenz jedoch folgend – auf der üblicherweise leeren Innenseite des Einbands platziert. Die erste Aufnahme des Kapitels „Polenfeldzug Sept. 1939“ auf dem ersten Karton rechts zeigt eine Gruppe von Uniformierten am 25. August (Abb. 14). Nahegelegt wird der Betrachterin und dem Betrachter, es würde eine Besprechung stattfinden. Fokussiert um eine zentrale Person, vermutlich der Kommandeur der Einheit, gruppieren sich mehrere Offiziere, am Bildrand links steht stumm ein Funker stramm. Das Auftaktbild visualisiert in seiner Komposition die militärische Hierarchie von einem Führenden und mehreren Folgenden in einer Befehlskette. Was faktisch Gegenstand dieser Aussprache war, ist nachrangig. Durch seine Position zwischen den Bildern des Manövers vor dem Krieg und denen der ersten Kämpfe im Krieg nimmt diese Aufnahme des Albums „Polenfeldzug Sept. 1939“ den Status eines Auftakts ein. Anlass der Zusammenkunft war es – so die sich aus dem Motiv der Aufnahme und ihrer Platzierung in der 188 der Krieg im album Abb. 15: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: „Wir waren im Osten, wir fahren nach Westen …verladen in Ruthenau O/S. am 13. 9. 39“ (Ruthenau, heute: Chróścice). Sammlung ergebende Suggestion –, Anweisungen zu geben für das militärische Vorgehen vor dem und für den geplanten Einmarsch in Polen.22 Das Schlussbild: Die letzte Fotografie ist nicht allein deswegen ein Abschlussbild, weil sie die abschließende Aufnahme der Sammlung ist, sondern auch des Motivs und dessen Metaphorik wegen (Abb. 15). Das Foto zeigt militärisches Gerät auf einem Zug, der das Bild diagonal von rechts vorne nach links oben in Richtung der Tiefe des Raums quert. Auf der Rückseite der Aufnahme ist der handschriftliche Text notiert: „Wir waren im Osten, wir fahren nach Westen … verladen in Ruthenau am 13. 9. 39.“ Das fotografische Ende des „Polenfeldzugs“ ist also markiert mit einer Aufnahme, deren zentrales Motiv der Weg ist. Die Fotografie zeigt einen Schienenstrang, welcher von A nach B führt. Der Bildtext dupliziert das im Bild Gezeigte und markiert die Situation des Transits sprachlich und zugleich metaphorisch überhöhend. Der Weg gehe vom „Osten“ in den „Westen“. Dies deutet gar die hier gewählte kompositorische Diagonale an. Sie folgt der Konvention geografischer Kartenbilder, der zufolge der Westen von der Betrachterin 22 Faktisch steht die Aufnahme der Datierung zufolge (25. 8. 1939) noch im Kontext des AugustManövers; der Marschbefehl für die Einheiten erfolgte laut Tagebuch am frühen Abend des 2. September; W., Kriegstagebuch I, o. P. (S. 9). 189 ChriStoph hamann oder dem Betrachter aus gesehen links liegt.23 Die Tempusformen „waren“ und „fahren“ unterstreichen zudem sprachlich den gegenwärtigen Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft. Diese visuellen wie sprachlichen Markierungen von Beginn und Ende sowie die chronologische Reihung der Bildmotive konstituieren in der Summe W.s Narrativ vom Krieg in Polen. Diesem sind unterlegt die drei formalen Einheiten dramatischen Erzählens, nämlich die Einheit einer in sich geschlossenen Handlung (Krieg gegen Polen), die Einheit der Zeit (die beiden ersten Kriegswochen) wie die Einheit der Personen (seine Flakbatterie mit z. T. namentlich genannten Personen bzw. der anonym bleibende Feind als Kollektivsingular). Und ein das gesamte Narrativ grundierendes Handlungsmotiv nennt W. auch. Die Legitimität des Überfalls wird begründet mit dem Argument des Präventivschlags, der notwendigen Notwehr. So schreibt W. noch vor Kriegsbeginn in sein Tagebuch: „[…] die Lage [spitzte sich] in Polen immer mehr zu. Immer umfangreicher wurden die Ausschreitungen gegen die Volksdeutschen in Polen, angezettelt von einer wahnwitzigen Regierung, die, falls es zum Krieg kommen sollte, in ein paar Tagen dem Reich den Frieden von Berlin aus diktieren wollte, und ausgeführt von einer verführten Volksmenge oder auch behördlicherseits.“24 Solch ein Narrativ suggeriert als „Erzähl- und Handlungseinheit“ formal und semantisch Kohärenz und Sinn. Das Narrativ überformt den Krieg im Sinne Pauls mit einer „Ordnungsstruktur“ – das Geschehene ist demnach sinnvoll, schlüssig und in sich geschlossen. Krieg ist aber per se das Gegenteil von sinnvoller Ordnung. Für Gerhard W. war der Überfall 1939 im Kern weniger ein Drama denn ein militärisches Erlebnis. Schließlich gab es nur einen (zudem geringfügig) Verwundeten in seiner Batterie.25 Aus seiner zeitgenössischen Perspektive eines Flaksoldaten, der, wie er in den Erinnerungen schreibt, „dem Geschehen immer nur hinterher gefahren ist und den Kampf mit den Gegnern andern überlassen hat“,26 hat der Krieg den Charakter eines überschaubaren militärischen Feldzugs im Osten gehabt, der nun abgeschlossen ist und nun von einem – voraussichtlich ebenso überschaubaren – militärischen Feldzug in den Westen abgelöst wird. Der Krieg im Album von W. reproduziert so kleine erzählbare Erlebniseinheiten, illustriert auch durch Genrebilder in einer Passepartout-Optik, die stilistisch fotografische Wertigkeit suggeriert und den Krieg ästhetisiert. Die Orientierung 23 24 25 26 190 Westliche Konventionen des Lesens bzw. der Gestaltung bei Grafiken semantisieren eine nach rechts oben weisende Diagonale als Fortschreiten bzw. Fortschritt. Eine Aufnahme mit dieser Gestaltung hätte aus der Perspektive des Bildautors (oder W.s) ebenso Sinn ergeben. Kriegstagebuch I, o. P. (S. 5 f.). Diese Passage aus dem Tagebuch wurde in den Erinnerungen wörtlich zitiert; vgl. W.; Erinnerungen, S. 50 f. W., Kriegstagebuch II, o. P. (S. 9). W., Erinnerungen, S. 54. der Krieg im album an einem Urlaub wird wachgerufen durch W.s wiederholte Hinweise in seinem Tagebuch auf das „wunderbare Wetter“, die „wunderschöne Gegend“ (5. 9.) oder den „herrlichen“ bzw. „strahlenden Tag“ (7. 9./10. 9.). Der Überfall auf Polen scheint dem 19-Jährigen 1939/40 offenbar eine Abfolge von gut begründeten siegreichen Einmärschen zu sein. Der Zweite Weltkrieg hat als kumulierendes Drama aber viele Orte, Opfer, Handlungen und Perspektiven, viel Grauen und Sinnlosigkeiten. Diese sind narrativ nicht einzubinden, schon gar nicht in die konventionellen Formen des Erzählens. 5. Bildgestütztes Erinnern Gerhard W. betont in den Erinnerungen zwar, dass er das „meiste“ der Erzählung seines Lebens aus dem Gedächtnis niedergeschrieben habe. Aber er nutzte neben seinem Tagebuch über die ersten fünf Kriegswochen auch die Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg, auf die er sich in seinen Erinnerungen mehrfach bezieht. Diese Anmerkungen zu den Bildern des Krieges geben Aufschluss darüber, welche unterschiedlichen Funktionen die Bilder bei der Niederschrift seiner Autobiografie hatten. Und vor allem wird deutlich, welche persönliche Haltung er zu der visuellen Hinterlassenschaft zum Zeitpunkt der Niederschrift der Erinnerungen (2000/2001) eingenommen hatte. Wie die Aufnahmen zeigen würden, so schreibt er zum Beispiel, habe er sich beim Reichsarbeitsdienst „körperlich gut herausgemacht“; über seine Ausbildung an der Kriegsschule habe er zwar keine Erinnerung, aber „etwas Aufschluss“ für die Leserin und den Leser „ergibt mein Fotoalbum mit zahlreichen Bildern“. Beim Lesen der Erinnerungen „sollte man überhaupt immer auch mal die verschiedenen Alben zur Illustration heranziehen“. Oder: „Wie ich den Bildern aus meinem Album entnehme“, seien die Toten seiner Einheit 1940 in Frankreich in Feldgräbern beigesetzt worden – „ich war ja durch meine Verwundung nicht mehr dabei.“27 Die Fotografien dienen also dem vergewissernden Rückblick auf die eigene Biografie und der Dokumentation von Ereignissen, deren Zeuge er nicht war. Die Fotos sollen für die Leserin und den Leser eine Veranschaulichung und Illustration des Erzählten sein oder W. selbst als Ersatz bei Erinnerungslücken dienen. Wichtig auch die Erzählhaltung des Autors: Er schreibt für imaginierte zukünftige Leserinnen und Leser, in erster Linie für seine Familie, denn eine Veröffentlichung des Manuskripts war nicht vorgesehen. Er antizipiert zwar mögliche kritische Kommentare aus deren Kreis, empfiehlt den Angehörigen die Aufnahmen dennoch zur Ansicht: Sie seien dem Interessierten hilfreich. Deutlich wird dadurch auch: Zum Zeitpunkt der Niederschrift hegt der Autor keine (selbst-)kritischen Vorbehalte gegenüber den Fotografien – jedermann, zumindest in der Familie, könne, ja solle sie sich ansehen. Die Kriegsfotografien im vertrauten Kreise zu zeigen war ihm also kein Problem. 27 W., Erinnerungen, S. 42, 59, 65. Das letzte Zitat verweist noch einmal darauf, dass W. Aufnahmen von Fotografen übernommen hat. 191 ChriStoph hamann 5.1 Überschreibungen – Bild und Text als Palimpsest Insbesondere am Ende des Lebens ist bei einem autobiografischen Erinnern die Zukunft und nicht die Vergangenheit der „epistemische Bezugspunkt des Gedächtnisses“.28 Weil der Erinnernde in Hinblick auf sein hohes Alter davon ausgeht, zukünftig sein eigenes Leben nicht mehr deuten zu können, werden die Lebenserinnerungen zur abschließenden Bilanz und zur endgültigen Botschaft an die Nachwelt. Noch hat der Autor die Deutungshoheit. Deren Verlust antizipierend, sind Erinnerungen in der Regel darum bemüht, ein stimmiges wie auch positiv gestimmtes Bild zu bieten. W. bearbeitet dafür die Quellen der Vergangenheit, um sie in diesem Sinne passend zu machen: sowohl das Kriegstagebuch wie auch das Fotoalbum. Die in seinen Lebenserinnerungen (2000/2001) zitierten Passagen des Tagebuchs von 1939 geben zu einer Selbstkritik im Grunde genommen wenig Anlass. Der Vergleich von Tagebuch und Autobiografie jedoch zeigt: W.s eingangs zitierte selbstkritische Anmerkung („Kopfschütteln“) bezog sich auf Passagen aus dem handschriftlichen Original des Kriegstagebuchs, die er in den Erinnerungen eben nicht zitiert hatte. Diese ausgesparten Passagen rechtfertigen aber seine rückblickenden Bedenken in der Tat. Sie machen deutlich, wie sich der junge Mann ideologische Versatzstücke des Nationalsozialismus und dessen Propaganda zu eigen gemacht hatte und sie reproduzierte. Dazu gehören tagespolitische Propaganda wie die schon zitierten antipolnischen Ressentiments. Dazu gehören aber auch antisemitische Stereotype, die in ihm wachgerufen wurden, als er polnischen Juden begegnet, wie sie, so seine Formulierungen „immer beschrieben werden: Synagogengiebel [?], langen [!] Bart, schwarze Kappe auf dem Kopfe, schwarzer Anzug und dreckig. Das ganze Gesindel wird auf den Markt [von Rawa] getrieben.“29 Die reale Begegnung mit den jüdischen Gefangenen ist ihm der Nach- und Beweis, wie zutreffend die NS-Propaganda Juden beschrieben hat. Er sieht die Propagandabilder bzw. seine daraus resultierenden Bilder im Kopf bestätigt. Der Vergleich des Tagebuchs von 1939 mit den Erinnerungen rund sechzig Jahre später macht nicht nur die Auslassungen offenbar. Außerdem wird deutlich, wie W. Tagebuchpassagen paraphrasierend zusammenfasst und dabei die lebendig erzählende IchPerspektive des Originals auf das ehemals persönlich Erlebte zugunsten abstrahierender und unpersönlicher Formulierungen ausblendet. Aus dem narrativen Nacherzählen wird zumeist ein geraffter, eher deskriptiv und nüchtern gehaltener Bericht. Bei übernommenen Passagen nimmt er sprachliche Glättungen vor, herabwürdigende Äußerungen über Polinnen und Polen im Original werden entweder umformuliert und, wie gezeigt, drastische judenfeindliche Äußerungen erst gar nicht zitiert. Am folgenden Beispiel werden die redaktionellen Umschreibungen und Textvarianten vergleichend analysiert. 28 29 192 Christian Gudehus/Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hrsg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, S. 9. W., Kriegstagebuch II, o. P. (S. 16). der Krieg im album Abb. 16: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme (mutmaßlich von 1939): „‚Heckenschützenkrieg in Rawa‘ Als Strafe mussten sämtliche männl. Personen die Stadt verlassen. Sie wurden unter Bewachung weitertransportiert 10. 9. 39“. Am Ende des Albums tauchen zwei Fotografien mit dem gleichen Motiv auf, von denen eine datiert ist auf den 11. September 1939. Sie sind in der Kleinstadt Rawa aufgenommen und zeigen jeweils eine lange Kolonne von Männern von vorne bzw. hinten eine Straße entlanglaufend, die den Bildraum diagonal quert (Abb. 16). Zur Gefangennahme von Polinnen und Polen in Rawa liegen von W. neben der Bildlegende (vgl. oben Abb. 16) noch drei weitere unterschiedliche Kontextualisierungen vor. Kriegstagebuch, Teil II (Datierung: 10. 9. 1939): „Unendlich viele Juden sind bei dem Volk, was aus den Häusern geholt wird. Wenn man dieses Volk schon sieht, ist man schon satt. So richtig wie die polnischen Juden immer beschrieben werden. Synagogengiebel (?), langen (!) Bart, schwarze Kappe auf dem Kopfe, schwarzer Anzug und dreckig. Das ganze Gesindel wird auf den Markt getrieben.“ (S. 16) Erinnerungen zum 10. September 1939 (Niederschrift: 2000/2001): „Ortswechsel nach Rawa, nun schon 75 Kilometer vor Warschau. Viele Häuser sind zerstört. Schießerei auf den Straßen. Dann tritt Ruhe ein. Viele Juden werden aus dem Ort geführt. Wohin wird man sie bringen?30 30 W., Erinnerungen, S. 54. 193 ChriStoph hamann Handschriftlicher Zusatz (ca. 2015): „gefangene Zivilisten, Grund der Festsetzung nicht mehr erinnerlich“ Der Holocaust in seiner gesamten Dimension ist für W. (und viele andere) im Jahr 1939 noch außerhalb des Denkbaren. Der zeitgenössische Bildtext fokussiert allein das militärische Geschehen, dies ist offensichtlich der maßgebliche Horizont seines zeitgenössischen Denkens. Der handschriftliche Zusatz wenige Jahre vor seinem Tod abstrahiert dagegen weitgehend vom historischen Kontext. Der militärische Zusammenhang wird nur indirekt angedeutet („Gefangene“) und der Holocaust vollkommen ausgeblendet. Der Text verbleibt auf der Ebene der bloßen Deskription und verweist auf die eigene mangelnde Erinnerung, obwohl W. die konkretisierenden Passagen aus dem eigenen Kriegstagebuch vorliegen. Dort wiederum umfasst die plastisch beschriebene und detailreiche Nacherzählung der Kämpfe in der schon besiegt geglaubten Stadt Rawa rund fünfeinhalb handschriftliche Seiten.31 Die Erinnerungen sechs Jahrzehnte später fassen dieses militärische Rückzugsgefecht bewaffneter Polen wiederum in sechs abstrakt und knapp gehaltenen Sätzen zusammen. Diese geben dem Lesenden zugleich eine räumliche Orientierung. Die sechs Sätze enden mit der rhetorischen Frage, die die Antwort im Grundsatz kennt, aber nicht explizit benennen will: „Wohin wird man sie bringen?“ In ihr artikuliert sich verdeckt das Wissen des 80-Jährigen um die Vernichtung der polnischen wie der europäischen Jüdinnen und Juden bzw. den Holocaust. Deutlicher zu werden scheut er sich offenbar, denn dies wäre mit dem Eingeständnis der eigenen Tatbeteiligung verbunden gewesen. Ein letzter analytischer Blick auf das Album selbst und dessen Bearbeitungen durch den Autobiografen bzw. Archivar Gerhard W. In den Erinnerungen konnte W. die Historisierung seiner selbst bzw. die Glättung der im Tagebuch beschriebenen Erfahrungen und Wertungen mit den Mitteln der Sprache diskursiv zur Geltung bringen. Im Umgang mit den Aufnahmen seines Kriegsalbums lassen die Medien, nämlich das Album selbst wie auch die Aufnahmen, diskursive Kommentierungen nicht oder nur sehr eingeschränkt zu. Er nutzt wie in den Erinnerungen auch hier das Verfahren der Auslassung. Es fehlt, wie an den Fotoecken zu erkennen ist, eine Aufnahme in der ansonsten akribisch überlieferten wie dokumentierten Sammlung. Andererseits hat er in zwei Fällen Bildtexte von 1939 auf den Rückseiten der Aufnahmen, die ihm kompromittierend erschienen, mit einem Filzstift nahezu unkenntlich gemacht. Ein an sich unverfängliches Bild von Menschen auf einem Pferdefuhrwerk hatte – so die Entzifferung des überschriebenen Textes – als zeitgenössische Legende den Text „Ein ganzer Wagen voll Juden“ (Abb. 4). In der Handschrift seiner späten Jahre ersetzte W. diesen Bildtext durch den folgenden zwar nicht verkehrten, jedoch die faktischen historischen Zusammenhänge kaschierenden Text: „Zivilbevölkerung auf der Flucht“. In einem zweiten Fall zeigt die Aufnahme frontal eine Gruppe von (mindestens) sieben älteren jüdischen Männern, die umringt 31 194 W., Kriegstagebuch II, o. P. (S. 11–15). der Krieg im album Abb. 17 und 18: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: Unkenntlich gemacht „Rawa 11. 9. 39.“; handschriftliche Ergänzung 2015: „nicht schön anzusehen: poln. Juden / Der dt. Soldat v. l. (Name entfallen) fiel 2 Jahre später in Russland“. 195 ChriStoph hamann sind von grinsenden Landsern – die Gefangenen werden als Beispiele und Beleg der propagandistischen NS-Pressebilder dem Fotografen zur Dokumentation und der Betrachterin und dem Betrachter der Fotografie zur Schau gestellt (Abb. 17/18). Bis auf die Ortsund Zeitangabe („Rawa 11. 9. 39“) wurde auch hier der Text der Rückseite unleserlich gemacht. Wie auch bei anderen Aufnahmen steckte W. Jahrzehnte später hinter diese Fotografie einen kleinformatigen Zettel mit einem handschriftlichen Bildtext kommentierender Art, der, so die Erinnerung des Autors dieser Ausführungen, nach der Tilgung der originalen Bildlegende ergänzt worden ist.32 Der handschriftliche Zusatz aus späterer Zeit lautet im vorliegenden Fall „nicht schön anzusehen: poln. Juden / Der dt. Soldat v. l. (Name entfallen) fiel 2 Jahre später in Russland“.33 Der Tod des einzelnen Landsers wird erwähnt, die Ermordung der polnischen Juden dagegen ausgeblendet. Die Formulierung „nicht schön anzusehen“ kann als ein sehr verqueres Schuldeingeständnis verstanden werden, das die Tatsachen als solche nicht benennen will oder – der Wucht der moralischen Schuld wegen – nicht kann. Die Überarbeitungen der Quellen sind der sichtbare Teil einer Erinnerungsarbeit, die Vergangenheit per se stets aus dem Horizont der jeweiligen Gegenwart immer wieder neu reformuliert. Denn neuropsychologisch wird Erinnern als ein „dynamischer Prozess […] eine in dauernder Metamorphose [sich] befindliche Performance“ beschrieben.34 Das Leben verändert das Erinnerte, wie das Leben sich selbst verändert. Im autobiografischen Erinnern wird die Textur des eigenen Lebens deswegen zum lebenslang überschriebenen Palimpsest. Diese vorbewusst ohnehin und notwendig sich vollziehenden Transformationen werden bei dem Erinnern von Gerhard W. an seine Beteiligung am Überfall auf Polen bewusst vollzogen. Gerhard W.s „Standpunkt“ war mit zunehmendem Alter die Scham über sein damaliges Ich und seine eigenen Wertungen zur Zeit des Geschehens. Diese verursachten ihm im hohen Alter zunehmend nur noch „Kopfschütteln“. 32 33 34 196 Die Tilgung erfolgte, nachdem Gerhard W. mit dem Autor dieser Zeilen die Aufnahmen angesehen hatte. Dieser hatte die originale Bildlegende dabei zwar gelesen, der Autor erinnert sich aber nicht mehr an den konkreten Wortlaut des Textes. Er war jedoch antisemitisch konnotiert. Weitere Bezüge auf die jüdische Bevölkerung Polens finden sich noch einmal im Album selbst sowie in seinem Kriegstagbuch. Auf der Rückseite einer Aufnahme, die zwei Wehrmachtangehörige sowie Frauen und Männer neben einem Brunnen zeigt, ist ohne eine weitergehende Erläuterung vermerkt: „Jüdischer Friedhof bei Dzialoczyn 5. 9. 39.“ Bernd Roeck, Gefühlte Geschichte, in: Recherche. Zeitung für Wissenschaft 1 (2008) 2, S. 13. Vgl. auch Erika M. Hoerning, Erfahrungen als biografische Ressourcen, in: Peter Alheit/ Erika M. Hoerning (Hrsg.), Biographisches Wissen. Beiträge zu einer Theorie lebensgeschichtlicher Erfahrung, Frankfurt a. M./New York 1989, S. 150. der Krieg im album 6. Sprache und Fotografie Die ebenso dichte wie diverse Überlieferung erlaubt abschließend auch Reflexionen über Potenziale bzw. Grenzen der unterschiedlichen medialen Artefakte für die historische Interpretation. Hier soll insbesondere die Eigenschaft (unterschiedlicher) Medialität (Sprache, Fotografie) fokussiert werden und weniger die der Perspektivität oder zeitlichen Nähe zum Ereignis. Eine Reflexion über die im Grundsatz bekannten Unterschiede zwischen Sprache und Fotografie drängten sich dem Autor im Verlaufe seiner Arbeit durch eine Beobachtung seines eigenen Interpretationsweges auf. Das verschollen geglaubte Kriegstagebuch wurde erst im Laufe seiner Analyse des Albums wiederentdeckt und zwang ihn, seine bisherigen Ausführungen zu überdenken und zum Teil auch zu revidieren. Zu fragen ist also: Welche Potenziale haben Sprache oder Fotografie beim historischen Erinnern, wo findet fotohistorische Forschung ohne sprachliche Kontextinformationen ihre Grenzen? Schließlich – welche Rolle spielt der Blick der Betrachterin oder des Betrachters von Fotografien? Die Sprache als ein hoch konventionalisiertes Zeichen- und Regelsystem mit seinen Subsystemen (Lexik, Semantik, Grammatik und Pragmatik) kann unendlich unterschiedliche kommunikative Leistungen erbringen: Sie kann zum Beispiel verschiedene Tempi und Modi nutzen und diese Nutzung selbst wiederum reflektieren. Sie kann auch eigene Erinnerungen oder das gegenwärtige Tun kommentieren oder auch Aussagen über sich selbst formulieren. Die Fotografie verfügt über alle diese Mittel nicht. Nicht alles, was gesagt werden kann, kann auch gezeigt werden.35 Im Moment der Aufnahme repräsentiert sie den Indikativ Präsens, zum Zeitpunkt der Betrachtung der Aufnahme den Indikativ Präteritum. Sie stellt so eine Verknüpfung zwischen Vergangenheit und Gegenwart her. Der Fotograf war vor Ort, seine Aufnahme beglaubigt durch den fotografischen Index das Gezeigte. Mit Roland Barthes lässt sich sagen: „Es-ist-so-gewesen.“36 Die Fotografie kann also nicht verneinen und zum Ausdruck bringen: Es ist nicht so gewesen. Denn, so noch einmal Barthes, das „Wesen der Fotografie besteht in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt“.37 Doch schon das „so“ bleibt schillernd. Sind die Aufnahmen von polnischen Flüchtlingen in W.s Fotoalbum Genrebilder des Pittoresken? Sind sie Ausdruck des kolonialen Blicks auf ein zunehmendes Zivilisationsgefälle im „Lebensraum im Osten“ oder (an-)teilnehmender fotografischer Ethnografie? Allen semantisch relevanten Gestaltungsmerkmalen der Fotografie zum Trotz: Das Foto selbst bleibt jenseits kulturell und gesellschaftlich konnotierter Zuschreibungen semantisch unbestimmt oder mindestens polysem. Aus den Aufnahmen des Albums selbst lässt sich nicht ablesen, ob der Bildautor oder Gerhard W. polnische Flüchtlinge für „dreckige Pollacken“ oder 35 36 37 So z. B. folgende Möglichkeiten einer sprachlichen Darstellung: Abstraktion, Negation, Häufigkeit, Möglichkeit. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M. 1985, S. 87. Barthes, Kammer, S. 95. 197 ChriStoph hamann „armes, elendes Volk“ und Juden für „Gesindel“ hält, so die Formulierungen im Tagebuch von Gerhard W. Und andererseits: Nicht alles, was als Bild gezeigt wird, kann auch gesagt werden.38 Die Leerstellen semantischer Unbestimmtheit der Fotografie füllt der Blick der Betrachterin und des Betrachters mit seinen Zuschreibungen. Denn „Sinn kann den abgelichteten Gegenständen nur von außen durch den Betrachter verliehen werden.“39 Diese oder dieser bringt dadurch unweigerlich auch sich selbst mit ein. „Das Bild entsteht im Auge des Betrachters“, formuliert Sabine Moller, Gedächtnisforscherin und Geschichtsdidaktikerin, und spitzt diese These gar noch zu. Ihre Forschungen zur Zeitgeschichte im Film könnten zeigen, „wie die Bildbetrachter als die eigentlichen Schöpfer von Bild und Geschichte“ zu betrachten seien.40 Blick und Bild sind Teil eines kommunikativen (und ebenso historischen wie pragmatischen) Zusammenhangs, aus dem heraus (Foto-)Geschichte(n) generiert werden. Am Ende der Argumentation lässt sich deshalb sagen: Es gibt nicht nur keine Geschichte ohne Historikerinnen und Historiker wie jene von diesen auch nicht zu trennen ist.41 Es gibt auch keine Auseinandersetzung mit den fotografischen Quellen ohne eine sehende Rezipientin oder einen sehenden Rezipienten. Und da ihr/sein Blick eben ihr/sein Blick ist und das Vetorecht der fotografischen Quelle – wider alle Gemeinplätze über Evidenz, Authentizität oder Realismus der Fotografie und den damit verbundenen Unterstellungen – im Kern eine doch ausgesprochen eingeschränkte Reichweite zur Generierung historischer Erzählungen hat.42 Zu Vermeidung bloßer Projektionen müssen die Betrachterin und der Betrachter bei der Auseinandersetzung mit den Quellen auch ihren und seinen eigenen Blick und dessen Prägung reflektieren und diesen (historisch, biografisch, kulturell, geschlechtsbezogen …) kontextualisieren. Und dies heißt in der Konsequenz schließlich auch: Diese Selbstreflexivität muss kommuniziert werden, um ebenso transparent wie diskursiv zugänglich zu sein. Am Ende der Argumentation schließt sich der Kreis: Blick und Bild. Die Geschichtlichkeit der Betrachterin oder des Betrachters und ihres oder seines Blicks trifft auf ein polysemes Medium. Eine redliche Auseinandersetzung mit den Knipser-Fotos aus privater Hand zum Zweiten Weltkrieg muss beide Bedingungen bei ihrer Annäherung fortwährend in Rechnung stellen. 38 39 40 41 42 198 Auch eine umfassende Beschreibung eines Bildes wird einem zeichnerisch zwar perfekten, jedoch blinden Zeichner nicht in die Lage versetzen, das beschriebene Bild so zu zeichnen wie es aussieht. Helmuth Lethen, Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit, Berlin 2014, S. 103. Sabine Moller, Zeitgeschichte sehen. Die Aneignung von Vergangenheit durch Filme und ihre Zuschauer, Berlin 2018, S. 19 f. Henri-Irénée Marrou, Über die historische Erkenntnis, Freiburg/München 1973 [EA 1955], S. 76. Fotografien können z. B. nicht erzählen, weil eine Erzählung eine sinnhafte Verknüpfung von mindestens zwei Ereignissen aus unterschiedlichen Zeiten ist. Eine Fotografie stellt die Zeit mit einer Blendenöffnung vom Bruchteil einer Sekunde still. der Krieg im album Literatur Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M. 1985. Brink, Cornelia, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998. – Bildeffekte. Überlegungen zum Zusammenhang von Fotografie und Emotion, in: Geschichte und Gesellschaft 37 (2011), S. 104−129. Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990. Goertz, Hans-Jürgen, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001. Gudehus, Christian/Eichenberg, Ariane/Welzer, Harald (Hrsg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010. Heike, Otto, 150 Jahre Schwabensiedlungen in Polen 1795–1945, Leverkusen 1979. Hoerning, Erika M., Erfahrungen als biografische Ressourcen, in: Peter Alheit/Erika M. Hoerning (Hrsg.), Biographisches Wissen. Beiträge zu einer Theorie lebensgeschichtlicher Erfahrung, Frankfurt a. M./New York 1989, S. 148–163. Knoch, Habbo, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001. Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979. Lethen, Helmuth, Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit, Berlin 2014. Marrou, Henri-Irénée, Über die historische Erkenntnis, Freiburg/München 1973 [EA 1955]. Moller, Sabine, Zeitgeschichte sehen. Die Aneignung von Vergangenheit durch Filme und ihre Zuschauer, Berlin 2018. Paul, Gerhard, Bilder des Krieges/Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn/München/Wien/Zürich 2004. Roeck, Bernd, Gefühlte Geschichte, in: Recherche. Zeitung für Wissenschaft 1 (2008) 2, S. 13–15. Quellen Gerhard W., Erinnerungen, Hildesheim 2000/2001 (unveröffentlichtes Ms.). Gerhard W., Fotoalbum „Polenfeldzug Sept. 1939 / am Westwall Sept. 39 − Anfang Mai 40“ [o. O.; o. J.]. Gerhard W., Kriegstagebuch I/II. 199 Abkürzungsverzeichnis AK AVO BArch Bdz. BlSchG Bp BÜ DV DVF DR EVZ Fla M. W. GHWK HJ IMT Inf. Div. IR/I. R. KdF K. O. Ko-Chef KZ M. A. MA MG MHM M. O. m. w. N. NdsLA NS NSDAP Ob. d. M. o. P. o. V. PK RAD RDA RfSS/RFSS RGBl. Armia Krajowa (Heimatarmee) Ausführungsverordnung Bundesarchiv Berlin Bodenzünder Blutschutzgesetz Beobachtungsabteilung Befehlsübermittler Deutsche Verwaltung (Zeitschrift) Deutscher Verband für Fotografie Deutsches Recht (Zeitschrift) Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft Flakmaschinenwaffen Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz Hitlerjugend Internationales Militärtribunal (Nürnberg) Infanterie-Divisionen Infanterie-Regiment Kraft durch Freude Kadettenoffizier Kompaniechef Konzentrationslager Marineartillerie Mittlere Artillerie, Kaliber 15 cm Maschinengewehr Militärhistorisches Museum Dresden Meldeoffizier mit weiteren Nachweisen Niedersächsisches Landesarchiv Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Oberbefehlshaber der Marine ohne Paginierung ohne Verfasser Propagandakompanie der Wehrmacht Reichsarbeitsdienst Reichsverband Deutscher Amateurphotographen Reichsführer SS (oder: Reichsführer-SS) Reichsgesetzblatt 201 abKÜrzungSverzeiChniS RMBliV RMdI RPrMdI S. A. SA SD SMG SS Stukas SX V-Boot VEJ VfZ VO ZfG ZfSG ZPwN ZZF 202 Reichsministerialblatt der inneren Verwaltung Reichsministerium des Innern Reichs- und Preußisches Ministerium des Innern Schwere Artillerie Sturmabteilung Sicherheitsdienst des Reichsführers SS Schweres Maschinengewehr Schutzstaffel Sturz-Kampfbomber Abkürzung für die „Schleswig-Holstein“ Verkehrsboot Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (Editionsreihe) Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Verordnung Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts Związek Polaków w Niemczech (Bund der Polen in Deutschland e. V.) Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Abbildungsverzeichnis Der Kriegsbeginn 1939 und die Erinnerung an die deutschen Verbrechen in Polen Abb. 1: Yad Vashem Jerusalem, 138 GO 2. „Völkische Flurbereinigung“ in den besetzten und annektierten Gebieten Polens Abb. 1: Bundesarchiv, Bild 183-B0527-0001-293. Abb. 2: Völkischer Beobachter vom 26. August 1939. Abb. 3: Bundesarchiv Berlin, R 58/825, Fol. 29. Abb. 4: Bundesarchiv Berlin, R 58/825, Fol. 30. Abb. 5: gemeinfrei. Abb. 6: Bundesarchiv, R 49 Bild-0705. Abb. 7: IPN Warszawa, 59745. „Wir glauben an die Objektivität der Kamera.“ Private Fotografie der Wehrmachtsoldaten im Zweiten Weltkrieg. Abb. 1: Friedrich Bilges, Album I, Polen 1939 © Privatbesitz Dr. Hartmut Bilges, Isernhagen. Abb. 2–5: Hans-Georg Schulz, Album I, Polen 1939 © Privatbesitz Schwarz/Dippold. Abb. 6–7: Hermann Jaspers, Album I, Polen 1939 © Privatbesitz Inge Jaspers. Abb. 8–12: Album anonym, Polen 1939 © Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie. Ein Fotokonvolut zum Überfall auf Polen: Die Aufnahmen des Batterieführers Kurt Seeliger Alle Abbildungen © Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Der Angriff der „Schleswig-Holstein“ auf die Westerplatte. Aus dem Logbuch des Seekadetten Hans Buch Alle Abbildungen © Privatbesitz Buch/Werner. Der Krieg im Album. Dem Außeralltäglichen eine alltägliche Form geben – Erinnern als Überschreiben Alle Abbildungen © Privatbesitz Hamann. 203 Namensregister Seitenzahlen provisorisch! K. Anders, Władysław 92 Apel, Horst 151 Arthur 152 Assmann, Jan 83 Aurich, Willi 129, 145 Barthes, Roland 189 Beck, Józef 22 Best, Werner 62 Bilges, Friedrich 71 Boehm, Hermann 26 Böhler, Jochen 8, 11, 13, 96, 100, 116, 130 Buch, Hans 16, 127, 132, 133, 134, 135, 136, 138, 154 Canaris, Wilhelm 63 Churchill, Winston 158 Dammann, Martin 121, 122 Datner, Szymon 64 Fieldorf, Emil 92 Franco, Francisco 25 Frick, Wilhelm 33, 35 Friedrich der Große 45 Frieser, Karl-Heinz 45 Gerhard W. 165, 167, 168, 170, 171, 173, 175, 177, 178, 181, 182, 183, 184, 186, 187, 188, 189 Goebbels, Joseph 22, 38, 73, 79, 166 Goede, Pionier 159 Göring, Hermann 36 Gottwald, Jonathan 146 Grass, Günter 11 Grimm, Hans 20 Großkurth,Karl-Heinz 151 Guderian, Heinz 52, 56 Halder, Franz 51, 62, 63, 66 Hartwig, Heinrich 157 Havemann, Henrich 168 Hein 144, 150 Henke, Carl 128 Henningsen, Wilhelm 128, 143, 152, 154 Heß, Rudolf 33, 35 Heydrich, Reinhard 24, 27, 28, 29, 36, 62, 67 Himmler, Heinrich 8, 20, 30, 33, 34, 35, 38, 39 Hitler, Adolf 8, 11, 20, 25, 26, 29, 30, 34, 45, 48, 49, 53, 54, 56, 62, 63, 65, 128, 135, 139, 152, 155, 158 Jäger, Jens 96 Jaspers, Hermann 72 Keitel, Wilhelm 33 Kennan, George F. 5 Kleeberg, Franciszek 108, 110 Kleikamp, Gustav 127, 139 Koch, Hermann 107, 108 Koppe, Wilhelm 33 Kuhlmann, Jürgen 148 Lammers, Hans-Heinrich 33 Lochner, Louis P. 62 Machcewicz, Paweł 35 Merten, Karl-Friedrich 159 Möller 152, 154 Moller, Sabine 189 Mussolini, Benito 49 Naujocks, Alfred 27 Neumann, Hermann 151 Otto, Paul 110 Paul, Gerhard 96, 166, 178, 182 Peters, Werner 142 Petersen, Gotthold 151 Pilecki, Witold 92 Piłsudski, Józef 22 Raeder, Erich 139 Rauff, Walther 28, 29 Ritter von Schobert, Eugen 78 Rommel, Erwin 55 Rühmann, Heinz 145 Schmidt, Manfred 151 Schug, Walter 143, 152, 154 Schuhmann, Joseph 154 Schulz, Hans-Georg 71, 72 204 namenSregiSter Schwender, Ansager 148 Seeliger, Edith 107 Seeliger, Kurt Bruno 14, 16, 95, 101, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125 Seeliger, Paul 106 Sendler, Irena 92 Sikorski, Władysław 92 Sontag, Susan 96 Sorge, Siegfried 130 Stalin, Josef 26, 31, 48, 49, 53, 55 Starke, Sandra 101 Stiewe, Willy 75 Stresemann, Gustav 168 Stuckart, Wilhelm 23, 29, 34, 35, 36 Sucharski, Henryk 129 Szacka, Barbara 85, 90 Thierack, Otto Georg 38 Thietz, Reiner 150, 157 Tille 152 Traugott, Herr 110 Turck, Ernst 148, 149 Uebelhoer, Friedrich 37 von Bismarck, Otto 45 von Brauchitsch, Walther 67 von Goethe, Johann Wolfgang 188 von Kleist, Ewald 56 von Manstein, Erich 11 von Moltke, Hans-Adolf 22 von Ribbentrop, Joachim 25, 31 Schlöndorff, Volker 11 von Vormann, Nikolaus 53 Wagner, Eduard 62, 63 Weller, Oberstudiendirektor 113 Zagatowski, Arno 150 Zoller, Fritz 145, 157 205 Ortsregister Seitenzahlen provisorisch! K. Aufgenommen wurden deutsche und polnische Schreibweisen von Orten jeweils dann, wenn sie so in Quellenzitaten vorkommen. Afrika 21 Antoniówka 110, 118 Arkona 142 Asien 5 Auschwitz 9 Bad Harzburg 111 Bad Homburg 136 Bedkow (Będków) 177 Belzec (poln. Bełżec) 10 Benelux-Staaten 6 Berlin 23, 24, 27, 40, 50, 72, 74, 75, 132, 147, 185 Beuthen 26 Białystok 85, 88 Blankenburg 109 Böhmen 40 Braunschweig 109, 111 Breslau 111, 171 Brest-Litowsk 21, 54 Bromberg siehe Bydgoszcz Brzeziny 179 Bydgoszcz (dt. Bromberg) 62, 72 Calbe an der Saale 110, 111 China 22 Chojnice (dt. Konitz) 26 Częstochowa (dt. Tschenstochau) 66 Dalmatien 6 Dänemark 6 Dänholm 136, 137 Danzig (polnisch Gdańsk) 8, 12, 16, 17, 26, 31, 33, 36, 38, 51, 84, 87, 130, 133, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 145, 148, 149, 150, 152, 153, 156, 159, 160, 161 DDR 7, 12 206 Deutschland 5, 6, 12, 13, 15, 21, 24, 27, 31, 38, 39, 49, 56, 74, 92, 93, 130, 139, 145, 162, 178 Dresden 16 Drzewica 115, 120, 121 Działoszyn 174, 175, 176 England 57 Estland 32, 33, 35 Europa 5, 6 Flensburg 137, 141 Frampol 54 Frankreich 6, 46, 47, 49, 58, 111, 172, 180, 186 Gdańsk siehe Danzig Gdingen siehe Gdynia Gdynia (dt. Gdingen) 130, 131, 138, 160, 161 Generalgouvernement 9, 10, 34, 35, 38, 85, 88, 89 Gleiwitz siehe Gliwice Gliwice (dt. Gleiwitz) 28 Główna 38 Govarczov (eigentlich Gowarczów) 113 Groß Born (heute: Borne Sulinowo) 110 Großbritannien 49 Grünbach (auch Grömbach, heute Łaznowska Wola) 177, 178, 179 Guernsey 172 Hannover 136 Harwood, Australien 109 Hel 137, 138 Herne 136 Hildesheim 171, 172 Hochredlau (poln. Redłowo) 160 Hultschiner Ländchen 26 Iran 57 Istrien 6 ortSregiSter Italien 5, 6, 33, 35, 111 Janów 79 Jedlin 114 Jedwabne 91 Jeżów 179, 180, 181 Jugoslawien 22, 33 Kałuszyn 73 Karlsmarkt (heute Karłowice) 174, 183 Katowice 176 Katyń 85, 93 Kiel 138, 139, 141, 150, 172 Kiel-Wik 136 Kluczbork 174 Klwov (eigentlich Klwów) 114 Kock 55, 109, 110, 113, 126 Konitz siehe Chojnice Końskie 110 Kozienice 114, 115 Krakau 39, 53, 85 Kraśnik 55 Kreuzburg (poln. Kluczbork) 79, 174 Kulmsee (poln. Chełmża) 72 Kuschten (poln. Kosieczyn) 72 Kutno 72, 73 Lausitz 35 Leokadiow 124 Lettland 32, 33, 35 Litauen 27, 32, 33 Łódź 38, 174, 177, 179 London 93 Lublin 38, 55 Luxemburg 39, 40 Madagaskar 25 Madrid 27 Magdeburg 111 Mähren 40 Manschukuo 27 Masowien 73 Memel 143 Memelland 27, 33 Modlin 55 Mokra 52 Monte Cassino 57, 93 Moskau 31, 172 München 80 Münster 182 Mürwik 134, 135, 136, 139, 150 Niederschlesien 79 Norwegen 6 Obersalzberg 63, 64 Oberschlesien 26, 35 Odrzyvol (eigentlich Odrzywół) 114 Oels 111 Olsagebiet (poln. Zaolzie) 26 Opoczno 79 Oppeln (heute Opole) 174 Osmanisches Reich 6 Österreich 6, 7, 25, 40 Österreich-Ungarn 6 Ostgalizien 88 Ostmitteleuropa 5, 6 Ostoberschlesien 33, 85 Ostpreußen 26, 49, 52, 74, 172 Paris 75 Pearl Harbour 5 Płaczki 176 Płock 72 Polen 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 21, 22, 25, 26, 27, 29, 31, 32, 33, 40, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 54, 55, 56, 58, 61, 62, 64, 65, 69, 72, 79, 84, 85, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 97, 108, 109, 111, 118, 119, 128, 130, 131, 132, 133, 139, 140, 141, 156, 159, 160, 172, 177, 179, 180, 183, 184, 185 Pommern 26, 38, 49, 52, 89, 177 Posen 35, 38 Prag 39 Preußen 13 Przemyśl 13, 68, 85, 88 Przytyk 114 Puławy 109 Pułtusk 73 207 ortSregiSter Radom 109, 110, 114 Rawa (heute Rawa Mazowiecka) 79, 175, 176, 187, 188, 189, 191 Riga 32 Różan 73 Rumänien 33, 54, 55 Russland 13, 111, 141, 190, 191 Ruthenau (heute Chróścice) 183, 184 Scheidelwitz (heute: Szydłowice) 110 Schlesien 89, 109, 172 Schleswig-Holstein 141 Schneidemühl (heute Piła) 38 Schnorke (poln. Ciarka) 79 Sieciechów 115 Slezki (eigentlich Siczki) 114 Sobibor (poln. Sobibór) 10 Sowjetunion 7, 8, 9, 12, 22, 23, 31, 32, 33, 35, 49, 54, 57, 58, 61, 63, 85, 88, 89, 92, 93, 172 Stettin (heute Szczecin) 38 Stralsund 136, 137, 141 Stubbenkammer 142 Sudetenland 26, 33 Südosteuropa 6, 9 Südtirol 33 Swinemünde (heute Świnoujście) 141, 142, 152 208 Szczerców 117, 174, 177 Teschener Land (Zaolzie) 26 Treblinka 10 Tschechei 159 Tschechoslowakei 26, 33 Tschenstochau siehe Cęstochowa Ukraine 33, 88 Ungarn 27, 33 USA 5, 162 Vilnius (poln. Wilno, dt. Wilna) 32 Warschau 9, 11, 25, 39, 48, 49, 52, 53, 54, 55, 62, 67, 73, 79, 85, 89, 93, 114, 175, 178, 188 Warthegau, Wartheland 31, 35, 36, 38, 39 Weichselmünde (poln. Wisłoujście) 150 Weißrussland 33 Westerplatte 12, 17, 51, 130, 131, 132, 133, 134, 137, 138, 139, 140, 146, 147, 150, 154, 155, 156, 157, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 166 Westpreußen 36, 85 Wieluń 51, 54, 67, 109, 110, 130 Wien 39 Wola 9 Wolfenbüttel 109, 111 Wolhynien 88 Württemberg 177 Zakościele 122, 123 Zbąszyń (Bentschen) 26 Zwoleń 110, 118