Svea Hammerle · Hans-Christian Jasch · Stephan Lehnstaedt (Hrsg.)
80 Jahre danach
Svea Hammerle · Hans-Christian Jasch · Stephan Lehnstaedt (Hrsg.)
80 JAHRE DANACH
BILDER UND TAG EBÜCHER DEUT S CHER S O LDATEN
V O M Ü B E R FA L L A U F P O L E N 1939
Umschlagabbildung:
Auf dem Marktplatz in Drewica, 8. 9. 1939
Aus: Ein Fotokonvolut zum Überfall auf Polen: Die Aufnahmen des Batterieführers
Kurt Seeliger, Bild 35 © Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz.
ISBN: 978-3-86331-484-2
ISBN: 978-3-86331-934-2 (E-Book)
© 2019 Metropol Verlag
Ansbacher Str. 70 · D–10777 Berlin
www.metropol-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Druck: buchdruckerei.de, Berlin
4
Inhalt
Svea Hammerle · Hans-Christian Jasch · Stephan Lehnstaedt
Der Kriegsbeginn 1939 und die Erinnerung an die deutschen Verbrechen
in Polen
7
Hans-Christian Jasch
„Völkische Flurbereinigung“ in den besetzten und annektierten
Gebieten Polens
21
Jens Wehner
Der deutsche Überfall auf Polen aus militärhistorischer Perspektive
45
Jochen Böhler
Die Wehrmacht und die Verbrechen an der Zivilbevölkerung während
des deutschen Überfalls auf Polen 1939
59
Petra Bopp
„Wir glauben an die Objektivität der Kamera.“
Private Fotografie der Wehrmachtsoldaten im Zweiten Weltkrieg.
Paweł Machcewicz
Kriegserinnerung und -wahrnehmung in Polen
Irmgard Zündorf
„Stumme Zeugnisse 1939“
Ein studentisches Projekt zur Erinnerung an den deutschen Überfall auf Polen
69
87
97
Svea Hammerle
Ein Fotokonvolut zum Überfall auf Polen
Die Aufnahmen des Batterieführers Kurt Seeliger
109
Kurt Lehnstaedt · Stephan Lehnstaedt
Der Angriff der „Schleswig-Holstein“ auf die Westerplatte
Aus dem Logbuch des Seekadetten Hans Buch
135
Christoph Hamann
Der Krieg im Album
Dem Außeralltäglichen eine alltägliche Form geben –
Erinnern als Überschreiben
173
5
inhalt
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Namensregister
Ortsregister
6
201
203
204
206
Svea Hammerle · Hans-Christian Jasch · Stephan Lehnstaedt
Der Kriegsbeginn 1939 und die Erinnerung an
die deutschen Verbrechen in Polen
Der 80. Jahrestag des Überfalls auf Polen markiert erinnerungspolitisch in Europa den
Beginn des Zweiten Weltkrieges. Tatsächlich global – und nicht lediglich europäischkolonial – betrachtet, beginnt dieser jedoch erst nach der Bombardierung Pearl Harbours
durch japanische Marineflieger und die gemeinsame Kriegserklärung des Königreichs
Italien und des Deutschen Reiches an die USA am 11. Dezember 1941. Erst hierdurch
wurden die Kriegsschauplätze in Asien, wo seit 1937 der Japanisch-Chinesische Krieg
tobte, und Europa miteinander verbunden.
Der Zweite Weltkrieg sollte mit weit über 50 Millionen Opfern – darunter etwa
13 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten, die die Deutschen und ihre Helfer außerhalb
der eigentlichen Kampfhandlungen töteten, etwa 6 Millionen Jüdinnen und Juden, aber
auch Kriegsgefangene oder andere zivile Opfer wie Sinti und Roma, kranke Menschen
sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter – noch blutiger und verlustreicher werden als der Erste, den George F. Kennan als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts
bezeichnet hat. Manchen gilt er sogar als die Fortsetzung des Ersten Weltkrieges nach
einer nur etwa 20-jährigen Zwischenkriegszeit, in dem sich jene Konflikte entluden, die
durch die Pariser Vorortverträge und den Zerfall der europäischen Imperien bereits
angelegt waren. Wie kein anderes Ereignis seit dem Dreißigjährigen Krieg sollten diese
beiden Kriege des Gesicht Europas verändern. Polen verlor damals mit ca. 5,7 Millionen
Menschen etwa ein Fünftel seiner Vorkriegsbevölkerung.1 Deutschland mit 6,36 Millionen etwa 9 Prozent seiner Bevölkerung. Der große Unterschied war allerdings, dass in
Deutschland die meisten Toten Soldaten waren (etwa 5,3 Millionen) während in Polen
weit überwiegend zivile Opfer (etwa 5,4 Millionen) zu beklagen waren.Neben Millionen
von Menschenleben wurden ganze Kulturen zerstört, etwa das religiös geprägte jüdische
Leben in Ostmitteleuropa.
Bereits während des Krieges kam es zudem zu gewaltigen und gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen: Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurden ins
Deutsche Reich gebracht, um die Kriegswirtschaft am Laufen zu halten. Viele starben.
Die Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen – „ethnische Säuberungen“ – , die
die Nationalsozialisten bei ihrer Besetzung Polens im Zuge ihrer „Lebensraum“-Dystopie begannen, setzte sich nach dem Krieg mit der Vertreibung von ca. 11 Millionen
1
Eine umfassende Diskussion zu Zahlen und Herkunft der polnischen Kriegstoten in Wojciech
Materski/Tomasz Szarota, Polska 1939–1945. Straty osobowe i ofiary represji pod dwiema okupacjami, Warszawa 2009.
7
Svea hammerle · hanS-ChriStian JaSCh · Stephan lehnStaedt
Deutschen aus Ostmittel- und Südosteuropa fort.2 Aber auch andere Bevölkerungsgruppen, wie etwa die ukrainische Bevölkerung in Polen („Aktion Weichsel“) oder die italienische Bevölkerung in Istrien und Dalmatien – um nur einige Beispiele zu nennen –,
erlebten gewaltsame und bis heute im Gedächtnis nachwirkende Zwangsumsiedlungen.
Viele Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, die bis 1939 überwiegend als „Erbmasse“ der Vielvölkerimperien Österreich-Ungarn, des Russischen Zarenreiches und
des Osmanischen Reiches ethnisch heterogen waren, wurden im Zuge des Krieges und
seiner Folgeerscheinungen zu ethnisch nahezu homogenen Gesellschaften. Europa ging
gespalten aus dem Krieg hervor: Für die meisten ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Staaten endete dieser auch gar nicht 1945,3 sondern setzte sich in Bürgerkriegen
und vielerorts in einer langen und oftmals brutalen sowjetischen Besatzungszeit fort.
Im Westen dagegen begann ein europäischer Integrationsprozess unter dem Schutz
der Pax Americana. Dennoch wurden Komplexe der Tat- und Verbrechensbeteiligung
lange tabuisiert. Dies galt nicht nur für Deutschland, Österreich und Italien als „Täterstaaten“, sondern auch für die Benelux-Länder, Frankreich, Dänemark und Norwegen, in
denen Kollaboration mit den deutschen Besatzern, Arisierungsgewinne oder Kunstraub
immer noch schwierige Themen darstellen.4 Stattdessen waren fast alle Staaten bemüht,
nach 1945 Widerstandsnarrative zu konstruieren, um die Verbrechensbeteiligung der
eigenen Bevölkerung bzw. Verwaltung zu überdecken. In der Bundesrepublik wurde der
20. Juli 1944 zum „anderen Deutschland“ und zum Vorbild der neuen Streitkräfte stilisiert, Österreich verstand sich „als erstes Opfer“ der NS-Aggression und die DDR setzte
sich ganz in die Tradition der kommunistischen Widerstandskämpfer.5 Noch 2018 glauben 18 Prozent derjenigen, die im Rahmen einer Studie der Stiftung EVZ befragt wurden, dass ihre Vorfahren Jüdinnen und Juden geholfen hätten.6
Diese Widerstandsmythen wirken bis heute nach und werden von rechtskonservativen politischen Akteuren gepflegt und instrumentalisiert, wie der in diesem Band
vorliegende Beitrag von Paweł Machcewicz exemplarisch für Polen zeigt. Dort herrscht
bis heute Unverständnis darüber, dass viele Jüdinnen und Juden die damalige polni2
3
4
5
6
8
Vgl. nach wie vor Michael G. Esch, „Gesunde Verhältnisse“. Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939–1950, Marburg 1998, sowie Philipp Ther, Die dunkle Seite
der Nationalstaaten. Ethnische Säuberungen im modernen Europa, Göttingen 2011.
Vgl. für Polen Marcin Zaremba, Die große Angst. Polen 1944–1947: Leben im Ausnahmezustand, Paderborn 2016.
Als Übersicht siehe Klaus Kellmann, Dimensionen der Mittäterschaft. Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich, Wien 2018.
Vgl. hierzu schon Peter Steinbach, Wem gehört der Widerstand gegen Hitler?, in: Dachauer
Hefte 6 (1990), S. 56–72, sowie als Fallstudie von Eckart Conze, Aufstand des preußischen Adels.
Marion Gräfin Dönhoff und das Bild des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 51 (2003), S. 483–508.
Andreas Zick/Jonas Rees, Ergebnisbericht Multidimensionaler Erinnerungsmonitor 2018,
https://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Studie_MEMO_Ergebnisbericht.
pdf [23. 5. 2019].
der KriegSbeginn 1939 und die erinnerung an die deutSChen verbreChen in polen
sche Bevölkerung während des Krieges als feindselig und nur selten als heroische Retter
wahrnahmen. Demgegenüber sieht man sich selbst als gemarterte Nation, als „Christus unter den Völkern“. Opferkonkurrenz prägt seit Langem den Diskurs, etwa wenn es
um die Frage der Erinnerung polnischer und jüdischer Opfer im Staatlichen Museum
Auschwitz geht.7 Hierbei wird oft vergessen, dass über die Hälfte der ca. 5,7 Millionen
polnischen Kriegstoten Jüdinnen und Juden gewesen sind.
Der deutsche Überfall 1939 ist dabei für die polnische Selbstsicht als Opfer und
zugleich heldenhafter Verteidiger der Freiheit von zentraler Bedeutung. Während
die kommunistische Propaganda der Volksrepublik nach 1945 hauptsächlich auf die
„faschistische“ Aggression und deren Morde abstellte, entwickelten sich mit dem Aufkommen der oppositionellen Solidarność-Bewegung seit den 1980er-Jahren komplexere
Geschichtsbilder. Im Zentrum stand eine Debatte um den Kriegsbeginn 1939 und die
folgende gemeinsame Besatzung Polens durch das Deutsche Reich und die Sowjetunion.
Deren Part versuchte das sozialistische Regime möglichst zu ignorieren, während die
Opposition ihn herausstellte. Der Zweite Weltkrieg diente so dazu, dem politischen Gegner in der Gegenwart die historische Legitimation zu entziehen.8
In den letzten Jahren stand der Krieg von 1939 nicht so sehr im Fokus des polnischen
Interesses. Geschichtspolitik kaprizierte sich auf die Gegnerschaft des Landes zur Sowjetunion und widmete sich kommunistischen Verbrechen und polnischen Widerstandskämpfern; dazu traten harte gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die eigene Rolle
als Helfer, Profiteure und Retter während des Holocaust. Dem Überfall und der Besatzung widmete sich vor allem das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig, das auch
vor seiner Eröffnung 2017 bereits einige Jahre als geschichtspolitischer Akteur wichtige
Impulse setzte. Ungeachtet aller innenpolitischen Streitigkeiten9 bedient es das Bedürfnis,
den Kampf polnischer Soldaten für die Unabhängigkeit 1939, den eigenen Beitrag für die
alliierten Siegesanstrengungen und natürlich den Besatzungsterror zu erzählen. Und der
1. September ist nach wie vor der Tag, an dem an die Tragödie Polens im Zweiten Weltkrieg
erinnert wird. Die ersten sechs Wochen des Krieges stellen dafür freilich eher „Anlass,
aber nicht Hauptgegenstand dieser hoch politisierten Form der Erinnerung“10 dar.
7
8
9
10
Vgl. etwa Marek Kucia, Die Symbolhaftigkeit von Auschwitz in der polnischen Erinnerungskultur von 1945 bis heute, in: Kerstin Schoor/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Gedächtnis
und Gewalt. Nationale und transnationale Erinnerungsräume im östlichen Europa, Bonn 2016,
S. 166–183; Linda Ferchland, Auschwitz: Plädoyer für die Entmystifizierung eines Un-Ortes,
in: Jörg Ganzenmüller/Raphael Utz (Hrsg.), Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten zwischen
Mahnmal und Museum, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 219–242.
Umfassend dazu Florian Peters, Revolution der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in der
Geschichtskultur des spätsozialistischen Polen, Berlin 2016.
Vgl. zuletzt Daniel Logemann/Juliane Tomann, Gerichte statt Geschichte? Das Museum des
Zweiten Weltkrieges in Gdańsk, in: Zeithistorische Forschungen 16 (2019), S. 106–117.
Jochen Böhler, Polenfeldzug. „Blitzsieg“ oder Vernichtungskrieg?, in: Hans Henning Hahn/
Robert Traba (Hrsg.), Deutsch-polnische Erinnerungsorte, Bd. 1: Geteilt / Gemeinsam, Paderborn 2015, S. 359–373, hier S. 369.
9
Svea hammerle · hanS-ChriStian JaSCh · Stephan lehnStaedt
Ganz im Gegensatz dazu ist es um die deutsche Erinnerung an den sogenannten
Polenfeldzug und seine Folgen schlecht bestellt. Das ist insofern erstaunlich, als er nicht
nur einen drastischen Bruch bisheriger „Polenpolitik“ darstellte,11 sondern auch den
„Auftakt zum Vernichtungskrieg“, wie Jochen Böhler es genannt hat.12 Das mag für die
Handlungen alleine der Wehrmachtangehörigen trotz aller brutalen Exzesse übertrieben sein, doch mindestens für das Vorgehen der Einsatzgruppen von SS- und Polizei
trifft es zu.13 Schon am 17. Oktober 1939 verlangte Hitler von Heinrich Himmler ausdrücklich einen „Volkstumskampf, der keine gesetzlichen Bindungen“ mehr kennt. Hitler und seinen Untergebenen ging es um die Vernichtung der polnischen Nation, selbst
wenn das nicht bedeutete, alle Polinnen und Polen umbringen zu wollen. Tatsächlich
wurden während des Kriegs keine Überlegungen in dieser Hinsicht angestellt. Allerdings war in der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus völlig klar, dass die slawische Bevölkerung höchstens die Rolle von Knechten für die deutschen Siedlerinnen
und Siedler im Osten einnehmen durfte.
Dementsprechend können die späteren deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges keinesfalls von jenem „Auftakt“ 1939 in Polen getrennt werden. Nicht zuletzt deshalb,
weil die Folgen der Besatzung für das Land katastrophal waren: Die „Polenpolitik“ wandelte sich zum Rassekrieg. Widerstand gegen die eigenen Pläne unterbanden die Deutschen mit höchster Brutalität und ermordeten alleine im Generalgouvernement annähernd 40 000 Menschen im sogenannten Partisanenkampf. Dass es sich bei den Opfern
in der großen Mehrzahl nicht um bewaffnete Kämpfer handelte, ist ein aus der besetzten
Sowjetunion und Südosteuropa bekanntes Phänomen.14
Aber auch anderswo war die Bevölkerung mörderischer Gewalt ausgesetzt. Über
100 000 nichtjüdische Polinnen und Polen starben allein in Auschwitz, mindestens
noch einmal so viele in den anderen Lagern auf polnischem Boden. Die Verfolgung und
Vernichtung der polnischen Elite, von echten oder nur angenommenen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern oder auch nur von Bäuerinnen und Bauern, die nicht in
der Lage oder willens waren, den Ablieferungspflichten der Besatzer nachzukommen,
forderten weitere Zehntausende Opfer. Die Niederschlagung des Warschauer Aufstands
1944 war ein letztes Fanal des untergehenden „Dritten Reiches“. Alleine in dem Stadtteil Wola mordeten die Deutschen in der Woche zwischen 5. und 12. August 1944 über
40 000 Menschen.15 Die Zerstörung Warschaus war zugleich Rache an der Stadt und
11
12
13
14
15
10
Stephan Lehnstaedt, Imperiale Polenpolitik in den Weltkriegen. Eine vergleichende Studie zu
den Mittelmächten und zu NS-Deutschland, Osnabrück 2017.
Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M.
2006.
Klaus-Michael Mallmann/Jochen Böhler/Jürgen Matthäus, Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008.
Daniel Brewing, Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten
1939–1945, Darmstadt 2016.
Der beste deutsche Überblick über den Aufstand ist nach wie vor Włodzimierz Borodziej, Der
Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt a. M. 2004. Zum Massaker von Wola: Piotr Gursztyn,
der KriegSbeginn 1939 und die erinnerung an die deutSChen verbreChen in polen
ihren Bewohnerinnen und Bewohnern wie Element einer dystopischen Vision eines germanischen Ostens. Pläne sahen die Umwandlung der Kapitale in eine Kleinstadt mit nur
mehr 40 000 deutschen Bewohnerinnen und Bewohnern vor, für die nach dem Vorbild
der künftigen Gauhauptstädte im Reich neue Insignien der Herrschaft im Osten wie
Türme und Foren entstehen sollten.16
Dazu gehörte zwingend die Umsiedlung und Vertreibung von Millionen. In Polen
sollte ein neues Ideal deutschen Lebens im Osten realisiert werden. Darauf liefen die
diskriminierenden Maßnahmen ebenso wie der Massenmord hinaus, und darauf zielte
auch die Behandlung der „volksdeutschen“ Minderheit ab. Bereits im Rahmen des „Ersten Nahplans“ zur Germanisierung des Landes bedeutete das für etwa 90 000 Polinnen
und Juden die Deportation ins Generalgouvernement, damit deutsche Siedlerinnen und
Siedler ihre Häuser und Höfe beziehen konnten.17 Der spätere „Generalplan Ost“, der
eine Neugestaltung noch zu erobernden Territoriums bis zum Ural umfasste, sah sogar
die Deportation von 31 Millionen Menschen vor, ein Großteil von ihnen aus Polen.18
Zuvor wurden Wirtschaft und Bevölkerung des Landes brutal ausgebeutet. Beispielsweise erreichten die offiziellen Lebensmittelrationen im Generalgouvernement 1944
lediglich die Hälfte der Menge, die bei überwiegend sitzender Tätigkeit benötigt wird. In
den anderen Jahren lagen sie noch darunter, 1941 und 1943 etwa bei rund 850 Kalorien
pro Tag – und die wenigsten Polinnen und Polen arbeiteten in Büros. Demgegenüber
erhielten die Deutschen im Reich bis ins letzte Kriegsjahr hinein zumindest 2000 Kalorien.19 Das Kalkül, auf diese Weise im Generalgouvernement zwei Millionen Menschen
von der Versorgung abzuschneiden und somit indirekt zur Arbeit in und für Deutschland zu bewegen, ging indes nicht auf. Dennoch gelangten bis Ende 1944 fast 1,2 Millionen Polinnen und Polen aus diesem Besatzungsgebiet als Zwangsarbeiterinnen und
-arbeiter ins Reich,20 was immerhin sieben Prozent der Bevölkerung entsprach – eine
Zahl, deren Dimension noch dadurch an Gewicht gewinnt, dass Kinder und Alte von
vornherein für die Deportation ausschieden.
16
17
18
19
20
Der vergessene Völkermord. Das Massaker von Wola in Warschau 1944. Ein ungesühntes Verbrechen, Berlin 2019.
Speziell zur Germanisierung Warschaus: Niels Gutschow/Barbara Klain, Vernichtung und Utopie. Stadtplanung Warschau 1939–1945, Hamburg 1994.
Gerhard Wolf, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen, Hamburg 2012, S. 148–164.
Gedruckt in: Czesław Madajczyk (Hrsg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan,
München 1994, S. 85–130.
Für einen europäischen Vergleich: Hans Umbreit, Die deutsche Herrschaft in den besetzten
Gebieten 1942–1945, in: Bernhard Kroener/Rolf-Dieter Müller/Hans Umbreit (Hrsg.), Das
Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5/2. Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Zweiter Halbband: Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942–1944/45, Stuttgart 1999, S. 3–272, hier S. 226.
Piotr Matusak, Przemysł na ziemiach polskich w latach II wojny światowej, Warszawa 2009,
S. 268.
11
Svea hammerle · hanS-ChriStian JaSCh · Stephan lehnStaedt
Noch schlechter als der polnisch-katholischen Bevölkerung erging es den Jüdinnen und Juden. Die „Aktion Reinhardt“, in deren Verlauf die SS im Sommer 1942 rund
1,8 Millionen Ghettoinsassen in die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka
deportierte und dort ermordete,21 hatte auch den Effekt, dass ebenso viele Menschen
nicht mehr versorgt werden mussten. Schon vorher war die Ernährungslage der Jüdinnen und Juden so katastrophal gewesen, dass allein im Warschauer Ghetto mindestens
80 000 Menschen an den direkten und indirekten Folgen der Unterversorgung starben. Doch bei einem absoluten Mindestbedarf von 250 Kilo Brotgetreide pro Person und
Jahr ließen sich durch die Ermordung von einer Million Menschen etwa 250 000 Tonnen „sparen“.22 Doch trotz der Spur von Gewalt und Verarmung, die die deutsche Besatzungswirtschaft in Polen hinterließ, erfüllte sie nicht annähernd die Erwartungen, die
man in Berlin gehegt hatte.
Nur schlaglichtartig können an dieser Stelle die deutschen Verbrechen in Polen
angedeutet werden. Am Ende, beim Einmarsch der Roten Armee 1944/45, der keinesfalls eine Befreiung darstellte, war das Land verwüstet und rund 20 Prozent seiner Vorkriegsbevölkerung tot. Dass all diese Schrecken, die Zerstörungen und Millionen Toten
für unsere Nachbarn bedeutsamer waren und sind als für uns, ist nicht wirklich überraschend, denn Deutschland musste sie nicht erleiden, sondern hatte sie zugefügt. Und
trotz allem war das für uns nur einer von vielen Kriegsschauplätzen und nur einer von
vielen Tatorten. Dennoch erstaunt angesichts der Monstrosität der Gewaltherrschaft, die
am 1. September 1939 ihren Ausgang nahm und ohne diese ersten sechs Kriegswochen
weder denkbar noch möglich gewesen wäre, hierzulande immer wieder der Mangel an
Beschäftigung mit dieser Geschichte. Sogar die Wissenschaft hat den Überfall weitgehend ignoriert, sieht man einmal von Jochen Böhlers Studien der letzten Jahre ab. Es ist
bezeichnend, dass es wohl mehr deutsche Untersuchungen zum „Bromberger Blutsonntag“ gibt23 – den polnischen Morden an etwa 400 „Volksdeutschen“ – als zu den Zehntausenden Morden der Deutschen selbst.
Die meisten dieser Untersuchungen erschienen in den 1950er- bis 1970er-Jahren und
hatten durchaus etwas Relativierendes an sich, so beispielsweise Im Hinblick auf den
Prozess gegen Erich von Manstein, der 1939 Generalstabschef der Heeresgruppe Süd
gewesen war; 1949 stand er vor Gericht und wurde wegen Kriegsverbrechen zu 18 Jahren
Haft verurteilt, nicht allerdings für Vergehen in Polen – was die Legende vom sauberen
Krieg zu bestätigen schien.
Immerhin ist in dieser Hinsicht ein Wandel zu beobachten, denn mindestens im
21. Jahrhundert sind die deutschen Verbrechen und der mörderische Charakter bereits
21
22
23
12
Hierzu Stephan Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust. Bełżec, Sobibór, Treblinka und die Aktion
Reinhardt, München 2017.
Bogdan Musial, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement.
Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939–1944, Wiesbaden 2000, S. 350.
Markus Krzoska, Der „Bromberger Blutsonntag“ 1939. Kontroversen und Forschungsergebnisse, in: VfZ 60 (2012), S. 235–248.
der KriegSbeginn 1939 und die erinnerung an die deutSChen verbreChen in polen
der ersten Wochen des Zweiten Weltkrieges in der Forschung nicht mehr umstritten,
sondern gefestigter Wissensstand.
Fraglich ist aber, ob das in der Öffentlichkeit so auch bekannt bzw. bewusst ist.
Erneut war es Jochen Böhler, der mit der deutsch-polnischen Ausstellung „Größte
Härte“ Pionierarbeit leistete. Die Schau thematisiert deutsche Verbrechen in Polen während der ersten Kriegswochen und brachte so zum ersten Mal diese Taten einem breiten
Publikum nahe. Sie war ein bemerkenswerter Erfolg und ist zwischen 2005 und 2011
an 22 Orten in Deutschland gezeigt worden. Dennoch dominiert in den allermeisten
Köpfen nach wie vor das nationalsozialistische Narrativ: Hitlers Rede „Seit 5 Uhr 45
wird zurückgeschossen“; das gestellte Foto der deutschen Soldaten, die in Zoppot einen
Schlagbaum einreißen, und natürlich der – selbstverständlich als inszeniert erinnerte –
Überfall auf den Sender Gleiwitz, sowie eventuell noch die „Schleswig-Holstein“ und
ihre Beschießung der Westerplatte.
Die DDR hatte den 1. September im Jahr 1957 zum „Antikriegstag“ erklärt und damit
zusätzliche Abwehrreaktionen im Westen hervorgerufen. Doch auch in der DDR verkam das Datum rasch zum ritualisierten Gedenken an „den“ Zweiten Weltkrieg und
zur allgemeinen Besinnlichkeit gegen Krieg und militärische Konflikte; das konkrete
Ereignis und die damit verbundenen Verbrechen schafften es aber nicht ins kollektive
Bewusstsein. Den Angriff auf Danzig hat zwar immerhin Günter Grass in seiner „Blechtrommel“ und Volker Schlöndorff in deren Verfilmung künstlerisch verewigt, aber dies
blieb eine Ausnahme – sieht man einmal vom DDR-Dokumentarspielfilm „Der Fall
Gleiwitz“ von 1961 ab.24 Und so gilt der Krieg gegen Polen in Deutschland weithin als
eine Art Vorspiel zum „eigentlichen“ Krieg, der 1941 in der Sowjetunion begann. Denn
erst dann stiegen die eigenen Verlustzahlen, gab es nicht mehr nur Blitzsiege, und erst
danach wurde auch die deutsche Zivilbevölkerung vom Krieg getroffen.
Weil das Deutsche Reich selbst gegen die Sowjetunion Krieg führte und verlor –
mit dem Unterschied freilich, dass dieser Krieg von Deutschland ausging – fiel außerdem Polens Niederlage gegen den gleichen Gegner im Jahr 1939 weitgehend dem öffentlichen Vergessen anheim. Das gilt mithin für die Tatsache, dass der Hitler-Stalin-Pakt
eine Grundvoraussetzung für den Überfall auf Polen war und die beiden übermächtigen
Nachbarn – auf deutscher Seite in Gestalt Preußens und der Habsburger Monarchie – das
Land zum vierten Mal nach 1772, 1793 und 1795 unter sich aufteilten. Die Verständigung
Deutschlands und der Sowjetunion gegen den dazwischen liegenden Staat ist deshalb in
Polen ein nationales Trauma, das hierzulande jedoch weitgehend ignoriert wird.25 In diesem Sinne war bereits der Krieg 1939 die eigentliche Ursache für die nach 1945 folgende
sowjetische Dominanz und die bis 1989 währende kommunistische Epoche in Polen.
Vor allem anderen aber führte die Totalität des Holocaust dazu, dass in Deutschland andere Verbrechen und sogar Völkermorde kaum angemessen wahrgenommen
24
25
Böhler, Polenfeldzug. „Blitzsieg“ oder Vernichtungskrieg?, S. 362 f.
Felix Ackermann, Hitler-Stalin-Pakt. Die vierte Teilung Polens?, in: Hahn/Traba (Hrsg.),
Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Bd. 1, S. 343–358.
13
Svea hammerle · hanS-ChriStian JaSCh · Stephan lehnStaedt
werden. Die eigene Täterschaft bei diesem Genozid überlagerte und überlagert bis in
die Gegenwart die Verantwortung für die weiteren Gewalttaten des Zweiten Weltkriegs, die kaum aus dem übermächtigen Schatten der präzedenzlosen Vernichtung
der europäischen Jüdinnen und Juden treten. Das gilt selbst bei so extremen Fällen
wie Polen. Tatsächlich befasst sich auch das Haus der Wannsee-Konferenz als Gedenkund Bildungsstätte vor allem mit der Erinnerung, Dokumentation und Aufklärung
des Holocaust. Aber der Zweite Weltkrieg bildet hierfür den Auftakt und den Rahmen.
Dieser Genozid war zwar kein Kriegsverbrechen, seine Opfer waren fast ausschließlich
Zivilpersonen, und das Morden geschah überwiegend abseits der eigentlichen Kriegshandlungen, auch wenn neben SS und Polizei auch Einheiten der Wehrmacht an Massakern beteiligt waren. Dennoch war der Holocaust ein Verbrechen „bei Gelegenheit
des Krieges“ und hätte ohne dessen spezifische Bedingungen so wohl kaum stattgefunden. Den Nationalsozialisten galten die Jüdinnen und Juden als „Gegenrasse“ und
als sogenannte Reichsfeinde, für die letztlich eine „Lösung“ gefunden werden sollte. So
ist es nicht verwunderlich, dass es schon in den ersten Kriegswochen 1939 zu Massakern an der polnischen Bevölkerung kam. Jüdinnen und Juden bildeten hierbei neben
„polnischer Intelligenz“ die zweitgrößte Opfergruppe. Deutsche Einheiten verübten
beispielsweise am 18. September 1939 in Przemyśl ein Massaker an über 500 Jüdinnen
und Juden. Jochen Böhler spricht in diesem Band von einem „Schlüsselereignis der
Shoah“.
Welche Haltung manche Soldaten bereits bei ihrem Einmarsch in Polen hatten, verdeutlicht das Foto eines Truppentransports mit dem Graffito: „Wir fahren nach Polen,
um Juden zu versohlen“ (siehe Abb. 1).
Die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz realisierte anlässlich
des 80. Jahrestags des Kriegsbeginns zwei Projekte zum deutschen Überfall auf Polen:
Erstens die Online-Ausstellung „Der deutsche Überfall auf Polen im Herbst 1939 – Aus
dem Fotobestand Kurt Seeligers“,26 gefördert durch das Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin (digiS) aus Mitteln der Senatsverwaltung für Kultur und
Europa, und zweitens das Kooperationsprojekt mit Studierenden des Masterstudiengangs Public History der Freien Universität Berlin „Stumme Zeugnisse 1939 – Der deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten“, das von der Stiftung „Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft“ gefördert wurde.
Im Rahmen des Projekts „Stumme Zeugnisse 1939“ veröffentlichte die Gedenk- und
Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz einen Sammelaufruf, mit dem die Öffentlichkeit in Deutschland und Polen gebeten wurde, Dokumente und Fotografien, die den
Krieg gegen Polen thematisieren, in Familiennachlässen zu suchen und der Gedenkund Bildungsstätte als Digitalisate zur Veröffentlichung und historischen Kontextua-
26
14
Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Digitale Foto-Ausstellung zum
deutschen Überfall auf Polen 1939. Aus dem Bestand Kurt Seeligers, https://onlinesammlun
gen.ghwk.de/seeliger [4. 6. 2019].
der KriegSbeginn 1939 und die erinnerung an die deutSChen verbreChen in polen
Abb. 1: Transport deutscher Soldaten und von Männern des Reichsarbeitsdienstes nach Polen,
September 1939.
lisierung zu überlassen. Das eingesandte Material wurde online zugänglich gemacht.27
Der Rücklauf des Sammelaufrufs zeigte, dass sich in Deutschland – in Polen hat der
Aufruf bedauerlicherweise nicht die gewünschte Verbreitung erreicht – noch viele Fotoalben, Tagebücher, Briefwechsel und andere Dokumente zum deutschen Überfall auf
Polen in privater Hand befinden. Zudem wird deutlich, dass die Nachkommen der ehemaligen Wehrmachtsoldaten – aus der Kinder- oder Enkelgeneration – mit diesen Familienerbstücken mittlerweile durchaus ein Interesse an der Erschließung solcher Hinterlassenschaften haben. Über die Hälfte der Leihgeberinnen und Leihgeber gestattete der
Gedenk- und Bildungsstätte, sowohl ihre eigenen Namen als auch diejenigen ihrer Vorfahren ohne Anonymisierung im Internet anzugeben – ungeachtet der zum Teil deutlich
antisemitischen und antipolnischen Einstellungen, die sich aus den eingesandten Quellen rekonstruieren lassen.
Fotoalben, deren Arrangement und Kommentierung die „geknipsten“ Aufnahmen
komplementieren, sowie Tagebücher und Briefe als – mal mehr, mal weniger wahrheits27
Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, „Stumme Zeugnisse 1939 – Der
deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten“, https://onlinesammlungen.ghwk.de/
stummezeugnisse.
15
Svea hammerle · hanS-ChriStian JaSCh · Stephan lehnStaedt
getreue – schriftliche Fixierung der subjektiven Wahrnehmung des Kriegs sind eindrückliche Zeitzeugnisse, die Einblicke in die Mentalitätsgeschichte der deutschen Soldaten geben können. Sie zeigen jedoch nur, „wie der Krieg gesehen wurde – nicht, wie
er war“,28 zumal es – in Ermangelung polnischer Quellen – leider nicht gelungen ist, ein
multiperspektivisches Bild zu zeichnen.
Bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den uns zur Verfügung gestellten deutschen Quellen ist deren Kontextualisierung unerlässlich. Hierbei müssen nicht
nur die ereignisgeschichtlichen Fakten des Kriegs und die Sozialisation der Soldaten im
nationalsozialistischen Deutschland berücksichtigt werden, auch fotohistorische und
kulturwissenschaftliche Fragestellungen sind aufschlussreich. Bei dieser Arbeit wurde
die Gedenk- und Bildungsstätte von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachgebieten unterstützt und beraten. Ihre spezifischen Expertisen fließen nun im vorliegenden
Band zusammen, um eine disziplinübergreifende Auseinandersetzung mit dem deutschen Überfall auf Polen zu dessen 80. Jahrestag zu ermöglichen.
Im ersten Teil des Bandes nehmen Forscherinnen und Forscher aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen eine historische Kontextualisierung des Überfalls
auf Polen vor. Daran schließen sich drei Beiträge an, die bisher unveröffentlichte Zeitzeugnisse vorstellen, die von ehemaligen Wehrmachtsoldaten während und nach dem
deutschen Überfall auf Polen angefertigt wurden und unter verschiedenen Fragestellungen analysiert werden.
Dr. Hans-Christian Jasch, Direktor der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und Initiator der Ausstellungsprojekte, skizziert die Vorgeschichte des
Krieges gegen Polen und konturiert die Leitlinien der deutschen Bevölkerungs- und
Vernichtungspolitik, die im Herbst 1939 und in der Folgezeit innerhalb der NS-Führung
entwickelt werden.
Jens Wehner M. A., Leiter des Sachgebiets Bildgut und Kurator des Bereichs „Zweiter Weltkrieg“ der Dauerausstellung des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr
in Dresden, thematisiert den deutschen Überfall auf Polen aus militärhistorischer Perspektive. Mit den zivilen Opfern des Kriegs und den von den Wehrmachtsoldaten verübten Verbrechen setzt sich PD Dr. Jochen Böhler, Imre Kertész Kolleg Jena, in seinem
Beitrag auseinander. Dr. Petra Bopp, Kunsthistorikerin und Kuratorin der Ausstellung
„Fremde im Visier – Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg“ (2009), analysiert den fotohistorischen Quellenwert von Fotoalben der Wehrmachtsoldaten. Indem sie deren Praxis des Fotografierens und den Umgang mit den Bildern beschreibt, kann sie zeigen,
wie die Erinnerungsräume der Kriegsgeneration konstruiert und bis heute wirkmächtig wurden.
Prof. Dr. Paweł Machcewicz, Professor am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften und bis April 2017 Gründungsdirektor des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig, thematisiert die gesellschaftliche Erinnerung in
Polen an den Beginn des Zweiten Weltkriegs anhand der Erhebungen zur öffentlichen
28
16
Petra Bopp, Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009, S. 10.
der KriegSbeginn 1939 und die erinnerung an die deutSChen verbreChen in polen
Meinung, die im Jahr 2009 im Auftrag des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig durchgeführt wurden. Abschließend gibt Dr. Irmgard Zündorf, Leiterin des Bereichs
Public History am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Koordinatorin
des Masterstudiengangs Public History an der Freien Universität Berlin, einen Einblick
in die Genese und den Verlauf des studentischen Projekts „Stumme Zeugnisse 1939“.
Svea Hammerle M. A.,wissenschaftliche Volontärin der Gedenk- und Bildungsstätte
Haus der Wannsee-Konferenz und Projektkoordinatorin der diesem Band zugrundeliegenden Online-Ausstellungen, stellt das Fotokonvolut Kurt Seeligers vor, der als
Reserveoffizier in einer Artilleriebeobachtungsabteilung diente. Die Fotografien zeigen
neben dem soldatischen Alltag vor allem den Blick Seeligers auf das eroberte Land und
seine Bevölkerung. Die Motivauswahl, das Arrangement der Fotografien und die Kommentare erlauben nicht nur eine Rekonstruktion des Itinerars von Seeligers Einheit, sondern lassen auch Rückschlüsse auf die ideologische Einstellung des Fotografen und seine
Haltung zum Krieg zu.
Dr. Kurt Lehnstaedt, Historiker aus Gröbenzell und Vater des Mitherausgebers
Prof. Dr. Stephan Lehnstaedt, Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien am
Touro College Berlin, analysieren das Logbuch des Kadetten Hans Buch, der an Bord
der „Schleswig-Holstein“ am 1. September 1939 den Angriff auf die Westerplatte in Danzig miterlebte. Der Offiziersanwärter hielt in diesem Tagebuch nicht nur das Geschehen
schriftlich fest, er versah es darüber hinaus mit zahlreichen kunstfertigen Illustrationen,
die zum Teil mit leichter (Selbst-)Ironie den geschilderten Alltag der Schiffsbesatzung
und die Kampfhandlungen karikieren.
Der Historiker und Referent am Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg, Dr. Christoph Hamann, verknüpft seine zwei Forschungsschwerpunkte Visual
History und Zeitgeschichte bei der Analyse des Nachlasses seines Schwiegervaters, der
als Funker von Schlesien aus am Angriff gegen Polen beteiligt war. Hierbei stützt er sich
auf unterschiedliche Quellen aus drei Zeiträumen: ein Kriegstagebuch und Fotoalbum
von 1939/40, unveröffentlichte Lebenserinnerungen aus den Jahren 2000/2001 und Bearbeitungen der Quellen und ergänzende Kommentare des Schwiegervaters im Jahr 2015.
Auf dieser Grundlage geht Hamann der Frage nach, wie das autobiografische Erinnern
mit dem eigenen Leben beziehungsweise den Quellen des Lebens umgeht.
Großen Dank schulden die Herausgeber dem Auswärtigen Amt, das eine Förderung
dieses Bandes in Aussicht gestellt hat. Insbesondere danken wir Herrn Martin Kremer,
Leiter des Referats für Mitteleuropa, für seine Unterstützung.
Zu weiterem Dank sind wir dem Metropol Verlag verpflichtet, der zum wiederholten Mal eine Publikation der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz
veröffentlicht. Dr. Beate Kosmala danken wir für ihre Übersetzungsarbeit. Darüber hinaus gilt unser Dank den Autorinnen und Autoren, die uns bei den Online-Ausstellungen
tatkräftig unterstützt und ihre Beiträge zu diesem Sammelband beigesteuert haben.
17
Svea hammerle · hanS-ChriStian JaSCh · Stephan lehnStaedt
Literatur
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– Polenfeldzug. „Blitzsieg“ oder Vernichtungskrieg?, in: Hans Henning Hahn/Robert
Traba (Hrsg.), Deutsch-polnische Erinnerungsorte, Bd. 1: Geteilt/Gemeinsam,
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onlinesammlungen.ghwk.de/seeliger [4. 6. 2019].
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19
Hans-Christian Jasch
„Völkische Flurbereinigung“ in den besetzten
und annektierten Gebieten Polens
1. Einleitung
Bereits während des Überfalls auf Polen begannen verschiedene Dienststellen des nationalsozialistischen Deutschland, das neueroberte Gebiet zu einem Experimentierfeld für
ihre umfassenden Pläne einer „rassische Neuordnung“ zu machen.1 Den NS-Strategen
ging es hierbei nicht nur um eine Revision des Versailler Vertrages, sondern um nicht
weniger als die Schaffung eines künftigen „Lebensraumes“, d. h. einer Siedlungskolonie,
die dem „Volk ohne Raum“ (Hans Grimm) eine koloniale Perspektive im Osten geben
sollte. Diese Ideen schlossen an Träume von einem „Ostreich“ an, die bereits während
des Ersten Weltkrieges und angesichts des „Siegfriedens“ von Brest-Litowsk im untergehenden Kaiserreich geträumt worden waren. Die im „Ostraum“ lebende slawische
und jüdische Bevölkerung sollte kurz- oder mittelfristig „verschwinden“ bzw. als bloßes
„Arbeitskräftereservoir“ erhalten bleiben, wie der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler, den Hitler am 7. Oktober 1939 zum Reichskommissar
für die Festigung deutschen Volkstums ernannt hatte, es in einer Denkschrift über die
Behandlung der „Fremdvölkischen im Osten“ vom 25. Mai 1940 bereits recht prägnant
formuliert hatte. Nach Himmlers Vorstellungen sollte hier eine „rassische Siebung“
durchgeführt werden. Die „rassisch Wertvollen“ seien zu assimilieren. Das Nationalbewusstsein der Polinnen und Polen, ihr Bewusstsein, eine ethnische Identität zu besitzen,
sollte verschwinden. Weiterbildende Schulen für nichtdeutsche Kinder sollten verboten
werden, sodass diese nur noch bis 500 zählen lernen konnten. Im Übrigen sollten sie
vor allem begreifen, dass es ein göttliches Gebot sei, den Deutschen zu gehorchen. Für
„rassisch-einwandfreie“ Kinder waren Ausnahmen vorgesehen. „So grausam und tragisch jeder einzelne Fall sein mag, so ist diese Methode, wenn man die bolschewistische
Methode der physischen Ausrottung eines Volkes aus innerer Überzeugung als ungermanisch und unmöglich ablehnt, doch die mildeste und beste.“ Hinsichtlich der jüdischen Bevölkerung Polens bemerkte Himmler nur lapidar: „Den Begriff Juden hoffe ich,
durch die Möglichkeit einer großen Auswanderung sämtlicher Juden nach Afrika oder
sonst in eine Kolonie völlig auslöschen zu sehen.“2
1
2
Für wertvolle Hinweise danke ich meiner Mitherausgeberin und meinem Mitherausgeber sowie
Eike Stegen von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz.
Im Wortlaut abgedruckt bei: Helmut Krausnick, Denkschrift Himmlers über die Behandlung der
Fremdvölkischen im Osten (Mai 1940), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 5 (1957),
21
hanS-ChriStian JaSCh
Diese Politik, die letztlich auch vor der millionenfachen physischen Ausrottung
nicht zurückschreckte, trug maßgeblich dazu bei, dass Polen im Zweiten Weltkrieg mit
ca. 5,7 Millionen Opfern etwa ein Fünftel seiner Vorkriegsbevölkerung verlor und damit
neben der Sowjetunion, China und Jugoslawien zu den Ländern gehörte, die im Zweiten
Weltkrieg die höchsten Opferzahlen zu beklagen hatten. Zudem wurde das besetzte und
unterjochte Polen auch zu einer der Hauptarenen des Völkermordes an den europäischen Jüdinnen und Juden. Hier wurden nicht nur etwa drei Millionen polnische Jüdinnen und Juden ermordet, sondern auch noch weitere Hunderttausende aus West- und
Südosteuropa, die zu diesem Zweck in die auf besetztem polnischen Territorium errichteten Ghettos und Vernichtungslager gebracht wurden.
Im Folgenden sollen daher die ersten Schritte der bevölkerungspolitischen Maßnahmen gegen die „Fremdvölkischen“, die zum Teil noch vor der vollständigen Eroberung
Polens Anfang Oktober 1939 getroffen wurden, kurz skizziert werden.3 Diese Darstellung
erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll nur den politischen Rahmen
konturieren, in dem die hier präsentierten Fotos und Dokumente entstanden sind – den
Rahmen einer katastrophalen Entwicklung, die in den millionenfachen Völkermord
mündete.
2. Das deutsch-polnische Verhältnis von 1933 bis zum Frühjahr 1939
Das deutsch-polnische Verhältnis verbesserte sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zunächst vordergründig. Zwar zeugen die Akten des Auswärtigen Amts
davon, dass die polnische Gesandtschaft im Frühjahr 1933 im Zuge der Gewalt von NSAnhängern immer wieder gegen Übergriffe und Tötungen polnischer Staatsangehöriger, meist Jüdinnen und Juden, protestierte und Entschädigung für die Angehörigen
verlangte,4 insgesamt bemühte sich die NS-Regierung jedoch um eine Annäherung mit
dem Nachbarstaat. Die Nationalsozialisten bewunderten Marschall Józef Piłsudski,
der 1920 als Bezwinger der Sowjetunion galt. Der deutsch-polnische Nichtangriffspakt,
der am 26. Januar 1934 in Berlin unterzeichnet wurde, stellte für das noch junge NSRegime einen wichtigen außenpolitischen Prestigeerfolg dar. Die bilaterale Erklärung
sollte – wie es programmatisch hieß – eine neue Phase der politischen Beziehungen
zwischen beiden Staaten einleiten. Der auf zehn Jahre befristete Vertrag sah vor, dass
3
4
22
S. 194–198. Im Internet ist die Denkschrift einsehbar unter: https://www.ns-archiv.de/krieg/
untermenschen/himmler-fremdvolk.php [25. 6. 2019].
Der Begriff „Fremdvölkische“ umfasst im NS-Jargon sowohl die slawische als auch die jüdischpolnische Bevölkerung. Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939–1945, Stuttgart
1961; Diemut Majer, „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen
Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung
der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard 1981.
Vgl. hierzu den Notenwechsel im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, R 100281.
„völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS
Abb. 1: Hans-Adolf von Moltke, Józef Piłsudski, Joseph Goebbels und Józef Beck (1934).
Bundesarchiv, Bild 183-B0527-0001-293
sich beide Staaten verpflichteten, Probleme wirtschaftlicher, politischer und kultureller Art friedlich zu lösen. Einen Verzicht auf Gebietsansprüche – immerhin stand auch
bei der NSDAP die Revision des Versailler Friedensvertrages schon seit 1920 ganz am
Anfang ihres politischen Programms – sah der Pakt ausdrücklich nicht vor. Ihm folgte
jedoch die Beendigung eines jahrelangen Zollkrieges und der Abschluss eines Wirtschaftskooperationsvertrages im November 1934. Polenfeindliche Propaganda fand in
der Folge in den gleichgeschalteten deutschen Medien nicht mehr statt. In Berlin gab es
sogar ein polnisches Kulturinstitut.5 Der 1922 in Berlin gegründete Bund der Polen in
Deutschland e. V. (Związek Polaków w Niemczech, ZPwN) durfte am 6. März 1938 in
Berlin einen Kongress der Polen in Deutschland im damaligen Theater des Volkes in der
Friedrichstraße durchführen, an dem – geduldet vom Propagandaministerium – über
5000 in Deutschland lebende Polinnen und Polen teilnahmen. Erst 1940 wurde diese
Organisation aufgelöst.6
5
6
Vgl. hierzu: Karina Pryt, Befohlene Freundschaft. Die deutsch-polnischen Kulturbeziehungen
1934–1939, Osnabrück 2010.
Verordnung über die Organisationen der polnischen Volksgruppe im Deutschen Reich. Ministerrat für die Reichsverteidigung, Berlin, 27. Februar 1940, RGBl. 1940, I, Nr. 39, S. 444.
23
hanS-ChriStian JaSCh
Anders als die jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich, für die bereits seit dem
Frühjahr 1933 ein Korpus an sonderrechtlichen Bestimmungen wie die Nürnberger Rassengesetze geschaffen wurde, galten Polinnen und Polen – zumindest bis 1939 – nicht als
„artfremd“. Dies macht Wilhelm Stuckart7 als einer der „Schöpfer“ und Kommentatoren
der Nürnberger Rassengesetzgebung deutlich, als er ausdrücklich hervorhob, dass das mit
dem Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 neugeschaffene Konstrukt der „Reichsbürgerschaft“ den in Deutschland lebenden „artverwandten Volksgruppen, wie Polen,
Dänen usw.“ offenstehen und nur den „art-und blutsfremden Staatsangehörigen“ verschlossen bleiben sollte. Da das Judentum von „Rassefremdheit“ und „Wurzellosigkeit“
gekennzeichnet sei und einen „Fremdkörper und Spaltpilz in allen europäischen Völkern“
bilde, sollte vor allem den Jüdinnen und Juden die Reichsbürgerschaft versagt werden.8
Auch in Polen gab es damals Kräfte, die nach „Lösungen“ für die sogenannte Judenfrage suchten. Am 5. Mai 1937 entsandte die polnische Regierung nach Verhandlungen mit
der französischen Regierung z. B. eine Prüfungskommission nach Madagaskar, die erkunden sollte, in welchem Umfang polnische Jüdinnen und Juden in Madagaskar „angesiedelt“ werden könnten. Ferner hatte man in Warschau die Befürchtung, dass es nach dem
„Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich und angesichts der dort von Angehörigen des SD eingeleiteten systematischen Vertreibungspolitik zu einer verstärkten „Rückwanderung“ von Jüdinnen und Juden nach Polen kommen könnte.9 Im Deutschen Reich
sowie den angeschlossenen Gebieten lebten zu dieser Zeit etwa 72 000 Juden polnischer
Staatsangehörigkeit. Der polnische Sejm verabschiedete daraufhin am 31. März 1938 ein
Gesetz, das die Möglichkeit vorsah, polnischen Staatsbürgern, die länger als fünf Jahre
ununterbrochen im Ausland lebten, die Staatsbürgerschaft zu entziehen.10 Am 9. Oktober
7
8
9
10
24
Hans-Christian Jasch, Wilhelm Stuckart – Reichsministerium des Innern. Ein heikler Gesetzesonkel, in: Hans-Christian Jasch/Christoph Kreutzmüller (Hrsg.), Die Teilnehmer. Die Männer
der Wannsee-Konferenz, Berlin 2017, S. 277–294; engl.: Wilhelm Stuckart (1902–1953), Reich
Interior Ministry: „A Legal Pedant“, in: The Participants. The Men of the Wannsee Conference,
New York/Oxford 2017; Hans-Christian Jasch, Civil Service Lawyers and the Holocaust: The
Case of Wilhelm Stuckart, in: Alan E. Steinweis/Robert D. Rachlin (Hrsg.), The Nazi Law in
Germany. Ideology, Opportunism, and the Perversion of Justice, New York/Oxford 2013; ders.,
Staatssekretär Dr. Wilhelm Stuckart. Der Vertreter des Reichsministeriums des Innern auf der
Wannsee-Konferenz und sein Prozess in Nürnberg, in: Einsicht 7 (2012), S. 28–38; ders., Staatssekretär Dr. Wilhelm Stuckart (1902–1953) und die Judenpolitik. Der Mythos von der sauberen
Verwaltung, München 2012; ders., Zur Rolle der Innenverwaltung im Dritten Reich bei der Vorbereitung und Organisation des Genozids an den europäischen Juden: Der Fall des Dr. Wilhelm
Stuckart (1902–1953), in: Die Verwaltung 2 (2010), S. 217–271.
Vgl. Wilhelm Stuckart, Die völkische Grundordnung des deutschen Volkes, in: Deutsches
Recht (DR) 5 (1935), S. 557–564.
Zu den Hintergründen: Jerzy Tomaszewski, Auftakt zur Vernichtung. Die Vertreibung der polnischen Juden aus Deutschland 1938, Osnabrück 2002.
Vgl. hierzu: Die Abschiebung polnischer Juden aus dem Deutschen Reich 1938/1939 und ihre
Überlieferung. Vorbemerkung zur Druckfassung von 2006, in: Bundesarchiv (Hrsg.), Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in
„völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS
1938 folgte eine Verfügung, nach der im Ausland ausgestellte Pässe ab 30. Oktober 1938
nur mit einem Prüfvermerk des polnischen Konsulats zur Einreise nach Polen berechtigten. Auf diese Weise wollte die polnische Regierung eine Massenausweisung der im
Deutschen Reich lebenden Juden polnischer Staatsangehörigkeit nach Polen verhindern.11
Daraufhin forderte die NS-Regierung am 26. Oktober 1938 die polnische Regierung in
einem Ultimatum auf, die Inhaberinnen und Inhaber polnischer Pässe auch künftig
ohne Sichtvermerk einreisen zu lassen, andernfalls werde man die polnischen Jüdinnen
und Juden noch vor Inkrafttreten des Gesetzes abschieben. Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, ließ zwischen dem 28. und 29. Oktober 1938 auf
der Grundlage der neugeschaffenen Ausländerpolizeiverordnung vom 22. August 193812
Tausende Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhaften und dann mit
bewachten Sonderzügen über die Grenze – vor allem bei Zbąszyń (Bentschen), Chojnice
(Konitz) in Pommern und Beuthen in Oberschlesien – abschieben. An manchen Grenzorten, insbesondere in Zbąszyń, internierten die polnischen Behörden etwa 8000 Jüdinnen und Juden, die das amerikanische Joint Distribution Committee versuchte zu unterstützen. Die Deportationen aus Deutschland wurden erst nach Protesten des polnischen
Außenministeriums eingestellt. Im Januar 1939 schlossen Polen und das Deutsche Reich
eine Vereinbarung, wonach rund 6000 Familienangehörigen der zuvor Ausgewiesenen
(Frauen und Kinder) die Einreise nach Polen ermöglicht wurde.
Kurz zuvor hatte Polen zunächst noch von der Schwächung der Tschechoslowakei
durch die deutsche Expansionspolitik und das Münchner Abkommen profitiert und
zwischen dem 2. und 11. Oktober 1938 den mittleren Teil des Olsagebiets oder Teschener
Landes (Zaolzie) besetzt, während das Deutsche Reich gleichzeitig die im Münchner
Abkommen zugestandenen Gebiete des Sudetenlandes und das Hultschiner Ländchen
okkupierte. Nur wenige Tage später unternahm das NS-Regime dann jedoch erstmals
offizielle Schritte, um die Frage des sogenannten Polnischen Korridors, der seit 1919 Ostpreußen vom Reichsgebiet trennte, und den Status der Stadt Danzig, die in der Versailler Friedensordnung zu einer „freien Stadt“ mit einem Völkerbundkommissar und polnischen Hafenrechten geworden war, in seinem Sinne zu „lösen“. Am 24. Oktober 1938
forderte Außenminister Joachim von Ribbentrop in Adolf Hitlers Auftrag die Rückgabe
Danzigs an das Deutsche Reich und die Erlaubnis zum Bau einer exterritorialen Autobahn, die Ostpreußen und das übrige Reichsgebiet verbinden sollte. Im Gegenzug würden Polens wirtschaftliche Interessen in Danzig berücksichtigt und die Staatsgrenzen
gegenseitig garantiert werden.13 Polen lehnte dieses Ansinnen ab, weil es nicht nur eine
11
12
13
Deutschland 1933–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/zwangsausweisung.html.
de?page=1 [25. 6. 2019].
Vgl. hierzu: Susanne Heim (Hrsg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden
durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (VEJ), Bd. 2: Deutsches Reich 1938 –
August 1939, München 2009, S. 52.
RGBl. 1938, I, S. 1053–1056.
Stefan Kley, Hitler, Ribbentrop und die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs, Paderborn 1996.
25
hanS-ChriStian JaSCh
Rückgabe Danzigs an das Deutsche Reich für unannehmbar hielt, sondern vor allem,
weil es befürchtete, in Abhängigkeit zu Deutschland zu geraten. Zudem wollte sich die
polnische Regierung nicht dem Antikominternpakt anschließen.14
Die von der NS-Regierung geschürten Spannungen wuchsen, und Hitler nahm eine
britisch-französische Garantieerklärung für Polen am 28. April 1939 zum Anlass, sowohl
das deutsch-britische Flottenabkommen als auch den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt einseitig zu kündigen. Das NS-Regime hatte zuvor das benachbarte Litauen
unter Druck gesetzt und erzwang am 20. März 1939 die Rückgabe des am 22. März 1920
vom Deutschen Reich getrennten, als Völkerbundmandat unter französische Verwaltung gestellten und schließlich 1923 von Litauen annektierten Memellandes. Kurz zuvor,
am 15. März 1939, war das Deutsche Reich zudem in die „Resttschechei“ einmarschiert.
Polen hatte also allen Grund, deutschen Garantieversprechen zu misstrauen. Bereits am
11. April 1939 erteilte Hitler dann auch der Wehrmacht die Weisung zur Ausarbeitung
eines Kriegsplanes gegen Polen. Die Angriffsplanungen liefen unter dem Codenamen:
„Fall Weiss“.15
3. Der Krieg gegen Polen und die „völkische Flurbereinigung“
Bereits in einer Ansprache vor Vertretern der Generalität auf dem Berghof am Vorabend
des Hitler-Stalin-Paktes, am 22. August 1939, gab Hitler die Brutalität vor, mit der der
Krieg gegen Polen geführt werden sollte. Diese nach einer Aufzeichnung des Generaladmirals Hermann Boehm wiedergegebenen Worte machen deutlich, dass dieser Krieg
kein „normaler“ Krieg werden sollte:
„Vernichtung Polens im Vordergrund. Ziel ist die Beseitigung der lebendigen
Kräfte nicht die Erreichung einer bestimmten Linie. […] Ich werde propagandistischen Anlass zur Auslösung geben, gleichgültig ob glaubhaft. Der Sieger wird
später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Bei Beginn
und Führung des Krieges kommt es nicht auf das Recht an, sondern auf den Sieg.
Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. 80 Millionen Menschen
müssen ihr Recht bekommen. Ihre Existenz muß gesichert werden. Der Stärkere
hat das Recht. Größte Härte.“16
14
15
16
26
Dem Antikominternpakt, den das Deutsche Reich und Japan am 25. November 1936 in Berlin
unterzeichnet hatten, traten am 6. November 1937 Italien, am 24. Februar 1939 Ungarn und der
japanische Satellitenstaat Manschukuo bei. Wenig später, am 27. März 1939, folgte auch Spanien, nachdem Francisco Franco die Hauptstadt Madrid besetzt hatte.
Vgl. Horst Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg“ und seine Auswirkungen auf Nordosteuropa, in:
Klaus A. Maier/Horst Rohde/Bernd Stegemann/Hans Umbreit (Hrsg.), Die Errichtung der
Hegemonie auf dem Europäischen Kontinent, Stuttgart 1979, S. 79–158, hier S. 82.
Nürnberger Dokument PS-1014, Staatsarchiv Nürnberg. Die gesamte Rede steht online zur Verfügung: https://www.ns-archiv.de/krieg/1939/22-08-1939-boehm.php [25. 6. 2019].
„völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS
Abb. 2: Titelseite des Völkischen
Beobachters vom 26. August 1939.
Propagandistische Anlässe wie den vermeintlichen polnischen Angriff auf den Sender
Gleiwitz organisierte der Sicherheitsdienst der SS. Bereits am 10. August 1939 soll der
Chef des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD), Reinhard Heydrich, dem SSSturmbannführer Alfred Naujocks befohlen haben, einen Anschlag auf die Radiostation
bei Gleiwitz in der Nähe der polnischen Grenze vorzutäuschen und es so erscheinen
zu lassen, als seien Polen die Angreifer gewesen.17 Welches Ausmaß die polenfeindliche
Propaganda in den letzten Tagen vor dem deutschen Überfall erreichte, mag die hier
abgebildete Titelseite des Völkischen Beobachter vom 26. August 1939 verdeutlichen.
Am Krieg gegen Polen nahmen neben der Wehrmacht auch Einheiten von SS und
Polizei als Einsatzgruppen teil, die an zahlreichen Verbrechen beteiligt waren.18 Ihre Aufgabe war die Bekämpfung sogenannter Reichsfeinde. Hierzu gehörten auch „rassische“
17
18
Vgl. Walther Hofer, Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, Frankfurt a. M. 1967, S. 327 f.
Die gesamte Aussage Naujocks ist im Internet abrufbar: https://www.ns-archiv.de/krieg/1939/
sender-gleiwitz/naujocks.php [25. 6. 2019].
Vgl. hierzu den Beitrag von Jochen Böhler in diesem Band sowie: Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996,
S. 234–240; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003, S. 419–485; Klaus-Michael Mallmann/Jochen Böhler/Jürgen
Matthäus, Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008.
27
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Gegnerinnen und Gegner, insbesondere Jüdinnen und Juden. Noch bevor die Kampfhandlungen abgeschlossen waren, traf Reinhard Heydrich in einem Befehl an die Einsatzgruppen eine grundlegende Regelung für den Umgang mit der jüdischen Bevölkerung,
die sich nicht nur auf die Jüdinnen und Juden in Polen bezog, sondern auch schon die aus
dem Reich vorzunehmenden Deportationen der jüdischen Bevölkerung thematisierte.
Die Grundlinien, die im Genozid mündeten, wurden hier bereits deutlich vorgezeichnet:
Der als „Geheim“ eingestufte Schnellbrief des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD an
die Chefs aller Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei vom 21. September 193919 enthält
zunächst die Formulierung eines „Nahziels“ bezüglich des Umgangs mit den Jüdinnen
und Juden und stellte ein „Endziel“ in Aussicht. Selbstverständlich sollten die „geplanten
Gesamtmaßnahmen [also das Endziel] streng geheim“ gehalten werden. Als „erste Vormaßnahme für das Endziel“ sei „zunächst die Konzentrierung der Jüdinnen und Juden
vom Lande in die größeren Städte“ (Ghettoisierung) zu erreichen, wobei die vom Reich
annektierten polnischen Gebiete „von Juden freigemacht werden“ bzw. dort nur wenige
„Konzentrierungsstädte“ gebildet werden sollten, die wiederum „entweder Eisenbahnknotenpunkte sind oder zumindest an Eisenbahnstrecken liegen“. Im Weiteren wies Heydrich die Bildung jüdischer Ältestenräte an, die „für die exakte termingemäße Durchführung aller ergangenen oder noch zu ergehender Weisungen“ wie die Zählung, Erfassung,
Unterbringung, Verpflegung der jüdischen Bevölkerung „voll verantwortlich zu machen“
seien. Als „Begründung für die Konzentrierung“ hatte „zu gelten, dass sich Juden maßgeblichlichst [sic!] an den Franktireurüberfällen und Plünderungsaktionen beteiligt“ hätten, die bereits in den ersten Tagen des „Polenfeldzuges“ als Vorwand für allerlei brutale
Willkürmaßnahmen von Wehrmacht und SS gegen die polnische Bevölkerung dienten.
Bei ihren „Maßnahmen“ war die Sicherheitspolizei angehalten, enge Fühlung mit Wehrmacht und Zivilverwaltung zu halten, damit durch die Verbringung in die Ghettos insbesondere kein größerer wirtschaftlicher Schaden entstünde. Darüber hinaus ordnete
Heydrich Berichtspflichten zur Ghettoisierung für die Chefs der Einsatzgruppen an und
ermahnte sie zu enger Zusammenarbeit. Am selben Tag hatte Heydrich mit den Führern
der Einsatzgruppen eine Besprechung abgehalten, über die der Leiter der Stabskanzlei
im zur selben Zeit gegründeten Reichssicherheitshauptamt Walther Rauff einen Vermerk
erstellte, der im Folgenden in Auszügen abgedruckt ist (siehe Seite 29 f.).
Auch die zivile Verwaltung wirkte in Gestalt des Staatssekretärs Wilhelm Stuckart aus dem Reichsministerium des Innern, der am 26. August 1939 auf der Titelseite
des Völkischen Beobachter abgebildet ist und als Kronzeuge für den „Beschuss durch
polnische Flak“ diente, an der raschen Zerschlagung des polnischen Staatswesens mit
und stellte das Personal für die neue Besatzungsverwaltung im Osten.20 Das Gesetz zur
19
20
28
Vgl. Nürnberger Dokument EC 307, Landesarchiv Berlin, Rep. 031-02-01, Nr. 12647.
Vgl. hierzu Stephan Lehnstaedt, „Ostnieten“ oder Verwaltungsexperten? Die Auswahl deutscher Staatsdiener für den Einsatz im Generalgouvernement Polen 1939–1944, in: Zeitschrift für
Geschichtswissenschaft (ZfG) 55 (2007), S. 701–721; Markus Roth, Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen, Göttingen 2009. Zur deutschen Besatzungspolitik in
„völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS
Abb. 3: Auszug aus dem Besprechungsvermerk Walther Rauffs über die Besprechung Heydrichs
mit den Führern der Einsatzgruppen in Polen vom 21. September 1939
BArch, R 58/825, Fol. 29–30.
29
hanS-ChriStian JaSCh
Abb. 4: Auszug aus dem Besprechungsvermerk Walther Rauffs über die Besprechung Heydrichs
mit den Führern der Einsatzgruppen in Polen vom 21. September 1939
BArch, R 58/825, Fol. 29–30.
30
„völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS
Eingliederung Danzigs ins „Dritte Reich“ hatte Stuckart schon fertig in der Schublade.
Es wurde zum 1. September 1939 verkündet.21 Am 6. Oktober 1939 erarbeitete er den
„Erlass über die Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete“ (Danzig/Wartheland)22
und legte Hitler am 8. Oktober 1939 einen weiteren „Erlass über die Verwaltung der
besetzten polnischen Gebiete“ zur Errichtung des Generalgouvernements vor, den dieser am 12. Oktober 1939 unterzeichnete.23 Damit war das besetzte und besiegte westliche Polen in deutsche Verwaltungseinheiten aufgeteilt, in denen sich die bereits in den
ersten Wochen des Krieges begonnene verbrecherische Vernichtungspolitik nunmehr
unter der Ägide einer zivilen Verwaltung fortsetzte.
Zu einer zentralen Figur dieser Vernichtungspolitik bestimmte Hitler am 7. Oktober 1939 seinen Polizeichef, Reichsführer SS Heinrich Himmler, den er zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums ernannte und damit beauftragte,
Reichs- und Volksdeutsche aus dem Ausland zur „endgültigen Heimkehr in das Reich“
zurückzuführen, die „Ausschaltung des schädigenden Einflusses“ von „volksfremden
Bevölkerungsteilen auf Reich und deutsche Volksgemeinschaft“ sicherzustellen und für
„die Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete durch Umsiedlung“ Sorge zu tragen.24
Anlass hierfür war, dass das Deutsche Reich in Ergänzung zum Nichtangriffspakt, dem Molotow-Ribbentrop-Pakt vom 23. August 1939,25 noch vor Beendigung der
Kampfhandlungen in Polen mit der Sowjetunion am 28. September 1939 in Moskau
den „Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag“, der allerdings erst zum
5. Januar 1940 im Reichsgesetzblatt bekannt gemacht wurde, geschlossen hatte. Ergänzt
wurde dieses Abkommen mit drei geheimen Zusatzprotokollen, die Osteuropa in Interessensphären aufteilten. Außerdem wurde vereinbart, dass die deutschen Bevölkerungsgruppen aus der sowjetischen Interessensphäre, „sofern sie den Wunsch haben“, nach
Deutschland umgesiedelt werden durften und dass die dafür Beauftragten der Reichsregierung diese Umsiedlung unter Billigung der Sowjetunion mit den „zuständigen örtlichen Behörden“ arrangieren würden („Vertrauliches Protokoll“ vom 28. September
1939).26 Die Sowjetunion schloss kurze Zeit später, am 10. Oktober 1939, ein völkerrechtli-
21
22
23
24
25
26
Polen vgl. Werner Röhr, Die faschistische Okkupationspolitik in Polen 1939 bis 1945 und die
Stellung dieses Landes in den Plänen für eine „Neuordnung“ Europas, in: 1999. Zeitschrift für
Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts (ZfSG) 7 (1992) 3, S. 43–63.
RGBl. 1939, I, S. 1547 f.
RGBl. 1939, I, S. 2042.
RGBl. 1939, I, S. 2077.
Hans Buchheim, Die SS – das Herrschaftsinstrument, Befehl und Gehorsam, München 1967,
S. 182 ff.
RGBl. 1939, II, S. 968. Der Nichtangriffsvertrag wurde erst am 25. September 1939 im Reichsgesetzblatt bekannt gemacht.
RGBI. 1940, II, S. 4, samt Zusatzprotokoll ratifiziert am 15. Dezember 1939. Die Bestimmungen der Zusatzprotokolle dieses Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrags werden häufig fälschlich als Vereinbarungen des Molotow-Ribbentrop-Paktes vom 23. August
1939 ausgewiesen. Die Zusatzprotokolle sind abgedruckt in: Zeitschrift für ausländisches
31
hanS-ChriStian JaSCh
ches Abkommen mit Litauen, in dem u. a. die 1920 im Vertrag von Riga zu Polen gekommene Stadt Vilnius (poln. Wilno, dt. Wilna) an Litauen abgetreten wurde. Der Vertrag
(„Pakt über gegenseitige Hilfeleistungen“) ermöglichte die Stationierung sowjetischer
Streitkräfte auf litauischem Territorium und bereitete wie ähnliche Abkommen mit Estland (28. September 1939) und Lettland (5. Oktober 1939) die spätere Eingliederung der
baltischen Staaten in das sowjetische Imperium vor.27
Im Gefolge des Deutsch-Sowjetischen Abkommens vom 28. September 1939 schloss
das Deutsche Reich im Herbst 1939 in kurzer Zeit eine Reihe von Verträgen, die nach der
„territorialen Neuordnung“ nun auch die im NS-Jargon als „Umvolkung“ oder „rassische Neuordnung Osteuropas“ bezeichnete Umsiedlung der „Volksdeutschen“28 vorbereiten sollten: zuerst am 15. Oktober 1939 die Übereinkunft mit Estland über die Umsiedlung der deutschen Volksgruppe (etwa 12 900 Personen).29 Am 21. Oktober 1939 folgte das
„Abkommen über die Umsiedlung von Reichsdeutschen und Volksdeutschen aus Südtirol in das Deutsche Reich“ mit Italien. Am 31. Oktober 1939 wurde ein Umsiedlungsvertrag mit Lettland unterzeichnet,30 von dem 48 600 Baltendeutsche betroffen waren
(bis 1940 werden ca. 88,6 Prozent der deutschbaltischen Bevölkerung umgesiedelt). Am
3. November 1939 schloss das Deutsche Reich mit der Sowjetunion ein Abkommen zur
Umsiedlung aller Deutschen aus der Ukraine und Weißrussland sowie aller Ukrainer,
Weißrussen und Russen aus den früher zu Polen gehörenden Gebieten. Die „Deutschsowjetische Vereinbarung über die Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung aus
dem zur Interessenzone der UdSSR und der ukrainischen und weißrussischen Bevölkerung aus dem zur Interessenzone des Deutschen Reichs gehörenden Gebiet des früheren
27
28
29
30
32
öffentliches Recht und Völkerrecht 9 (1939/40), S. 912 ff: http://www.zaoerv.de/09_1939_40/9_1
939_1_b_912_2_940.pdf [25. 6. 2019].
Vertrag zwischen der Sowjetunion und Litauen über die Abtretung der Stadt Wilna und des
Wilna-Gebiets an die Litauische Republik und über gegenseitige Hilfeleistung vom 10. Oktober
1939, in deutscher Übersetzung ebenda abgedruckt.
Bereits in einem Runderlass vom 29. März 1939 (RMBliV, S. 783) hatte das Reichsministerium
des Innern den Begriff „deutscher Volkszugehöriger“ folgendermaßen definiert: „Deutscher
Volkszugehöriger ist, wer sich als Angehöriger des deutschen Volkes bekennt, sofern dieses
Bekenntnis durch bestimmte Tatsachen, wie Sprache, Erziehung, Kultur usw. bestätigt wird.
Personen artfremden Blutes, insbesondere Juden, sind niemals deutsche Volkszugehörige, auch
wenn sie sich bisher als solche bezeichnet haben.“ 1938 lebten nach damaligen Schätzungen
etwa 8,6 Millionen Deutsche außerhalb der östlichen Reichsgrenzen: in der Tschechoslowakei
(hauptsächlich Sudetenland, 3,48 Millionen Sudetendeutsche), in Polen (Polnischer Korridor,
Ostoberschlesien, 1,15 Millionen), Rumänien (0,75 Millionen), in Ungarn (0,6 Millionen), Jugoslawien (0,55 Millionen) und in der Sowjetunion (1,15 Millionen) und weitere 0,6 Millionen in
Estland, Lettland, Litauen (Memelland) und in der Freien Stadt Danzig.
Vgl. Protokoll über die Umsiedlung der deutschen Volksgruppe Estlands in das Deutsche Reich
vom 15. Oktober 1939, abgedr. in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 9 (1939/40), S. 926–930.
Vertrag über die Umsiedlung lettischer Bürger deutscher Volkszugehörigkeit in das Deutsche
Reich vom 30. Oktober 1939, abgedr. ebenda, S. 932–940.
„völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS
Abb. 5: In Artikel I des Abkommens
vom 28. September 1939 hieß es: „Die
Deutsche Reichsregierung und die
Regierung der UdSSR legen als Grenze
der beiderseitigen Reichsinteressen
im Gebiete des bisherigen Polnischen
Staates die Linie fest, die in der anliegenden Karte eingezeichnet ist und in
einem ergänzenden Protokoll näher
beschrieben werden soll.“ Diese Karte
vom 28. September 1939 mit den Unterschriften von Stalin und Ribbentrop
wurde von der Verteidigung Ribbentrops und Görings im Nürnberger
Hauptkriegsverbrecherprozess 1946
fotografiert. Die kleineren Unterschriften Stalins bezeichnen abgestimmte
kleinere Veränderungen der Linie.
Abb. 6: Die „großzügigste Umsiedlungsaktion der Weltgeschichte“. NS-Propagandaplakat zur
Kolonisierung des „Warthegaues“ (1939/41).
Bundesarchiv, R 49 Bild-0705
33
hanS-ChriStian JaSCh
polnischen Staates“ vom 16. November 1939 bildete schließlich die Grundlage für weitere
„Bevölkerungstransfers“ bzw. Vertreibungen.
Hitler selbst hatte am 17. Oktober 1939, in kleinem Kreis vor den Spitzen von Wehrmacht (Wilhelm Keitel), SS (Heinrich Himmler), Partei (Rudolf Heß) und Verwaltung
(Wilhelm Frick und Hans-Heinrich Lammers) sein radikales Programm für Polen dargelegt: Keitel notierte, dass das Generalgouvernement keine „Musterprovinz deutscher
Ordnung“ und kein Verwaltungsbezirk des Reiches werden sollte, sondern dass für die
dortige Bevölkerung ein „niederer Lebensstandard“ genüge. Die deutsche Verwaltung
sollte „nur Arbeitskräfte dort schöpfen“ und es ermöglichen, „das Reichsgebiet zu reinigen von Juden und Polaken“. Keinesfalls dürfte das Generalgouvernement von Berlin
abhängig sein, sondern müsse selbstständig verwaltet werden.31
Bereits am 12. November 1939 erging der Befehl für umfassende „ethnische Säuberungen“. Der Himmler unterstehende Höhere SS- und Polizeiführer in Posen, Wilhelm Koppe, gab den Befehl zur Deportation von 200 000 Polinnen und Polen und
100 000 Jüdinnen und Juden aus dem Warthegau ins Generalgouvernement.32 Im Hinblick auf die im Herbst 1939 geschlossenen Verträge mit Estland, Italien, Lettland und
der Sowjetunion über die Umsiedlung der Volksdeutschen in die besetzten polnischen
Gebiete sollte „Lebensraum“ geschaffen werden, um den Volksdeutschen die „Heimkehr
ins Reich“ zu ermöglichen. Zudem sollten im Rahmen der Volkstumspolitik auch „Zwischenvölker“ – wie es Himmler in seiner eingangs zitierten Denkschrift genannt hatte –,
beispielsweise die Wenden oder Sorben in der Lausitz, die Schlonsacken, die Masuren,
die Windischen oder die „Wasserpolen“ in Oberschlesien, als eigene „Bevölkerungssplitter“ von der anderen polnischen Bevölkerung getrennt und in den „deutschen Lebensraum“ eingegliedert werden.
Innerhalb des Reichsministeriums des Innern wurde zudem über die „Reinerhaltung“ der „deutschen Rasse“ durch eine mögliche Ausweitung der in der Nürnberger
Rassengesetzgebung von 1935 niedergelegten Kategorisierung nachgedacht.33 Beispielhaft hierfür ist eine Initiative des Staatssekretärs Stuckart anlässlich einer Besprechung über die „Eheschließungen von Deutschen mit Tschechen und Polen“ vom
14. Mai 1940, in der Stuckart seine Überlegungen skizzierte, wie im Anschluss an § 6
der 1. Ausführungsverordnung des Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der
deutschen Ehre auf dem Erlasswege Ehehindernisse für Ehen von Deutschen mit den
31
32
33
34
Bleistiftnotizen Keitels, abgedruckt als Dok. PS-864, in: IMT XXVI, S. 382.
Das RSHA reduzierte den Befehl etwas später auf den „1. Nahplan“, nachdem rund 88 000 Menschen in den ersten Dezemberwochen aus dem Warthegau „ausgesiedelt“ wurden. Himmler
ordnete an, Juden und Polen, die versuchten zurückzukehren, „sofort standrechtlich zu erschießen“. Vgl. Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen
Juden, Frankfurt a. M. 1995, S. 68 f.; Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München
2008, S. 457 ff.
Vgl. hierzu Magnus Brechtken/Hans-Christian Jasch/Christoph Kreutzmüller/Niels Weise
(Hrsg.), Die Nürnberger Gesetze – 80 Jahre danach. Vorgeschichte, Entstehung, Auswirkungen,
Göttingen 2017.
„völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS
bisher als „artverwandt“,34 nunmehr jedoch als „fremdvölkisch“ geltenden Polinnen
und Tschechen eingeführt werden könnten. In seinem Schreiben vom 14. Mai 1940
erläuterte Stuckart, dass die Frage der Eheschließung von Deutschen mit fremden
Staatsangehörigen im Frieden einer gesetzlichen Regelung zugeführt werden sollte,
was auf Weisung Hitlers jedoch bis Kriegsende zurückgestellt wurde. Die Beschäftigung tschechischer und polnischer Arbeitskräfte im Reich und das „Zusammenleben von Deutschen mit Tschechen und Polen im Protektorat und in den eingegliederten Ostgebieten“ hätten allerdings „zu einer starken Zunahme“ der binationalen
Eheschließungen geführt. Hieraus erwachse „die Gefahr einer beträchtlichen ungünstigen Veränderung in der Zusammensetzung des deutschen Volkes“. Stuckart erschien
es daher „notwendig, eine rechtlich einwandfreie wirksame Möglichkeit zu schaffen,
in dieser Richtung unerwünschte Eheschließungen zu verhindern, da bloße Aufklärungsmaßnahmen keinen Erfolg gehabt“ hätten. „Inwieweit durch eine solche Grundlage die Möglichkeit geschaffen wird, auch außerehelichen Geschlechtsverbindungen
von Deutschen mit Tschechen und Polen wirksam entgegenzutreten“, sollte ebenfalls
geprüft werden.35
4. Die rechtlichen Instrumente der „völkischen Neuordnung“
Aus den bereits insbesondere in den neuen Gauen Danzig-Westpreußen und Wartheland praktizierten Verfahren entstand unterdessen am 12. September 1940 Himmlers
Volkstumserlass, dessen Regelungen am 3. März 1941 Eingang in die „Verordnung über
34
35
In einem vertraulichen Erlass vom 3. Januar 1936 hatte das RPrMdI festgelegt: (2) b) „Dem deutschen Blute artverwandt ist das Blut derjenigen Völker, deren rassische Zusammensetzung der
deutschen verwandt ist. Das ist durchweg der Fall bei den geschlossen in Europa siedelnden Völkern und denjenigen ihrer Abkömmlinge in anderen Erdteilen, die sich nicht mit artfremden
Rassen vermischt haben.“ Vgl.: Bundesarchiv (BArch), R 1501/5514, Bl. 155 f.
Der beigefügte Entwurf zu einer 2. AVO zum BlSchG enthielt lediglich eine Ermächtigung für
das RMdI, zu § 6 der 1. AVO zum BlSchG entsprechende Richtlinien zu erlassen, wobei ein ausdrückliches Verbot von Ehen mit Tschechen und Polen als „politisch unerwünscht“ angesehen wurde. In den Richtlinien wollte Stuckart dann das Erfordernis der Vorlegung eines Ehetauglichkeitszeugnisses normieren und die Gesundheitsämter anweisen, die Ausstellung des
Ehetauglichkeitszeugnisses im Falle derartiger Aufgebote „grundsätzlich zu versagen“. Ausnahmen sollten nur auf Weisung der höheren Verwaltungsbehörde geschehen, wenn es sich
„bei den Tschechen und Polen um rassisch besonders wertvolle Menschen mit einwandfreier
Gesinnung“ handele, „die eine loyale Einstellung zum deutschen Volkstum bewiesen“ hätten.
BArch, 1501/5517, Bl. 259 ff. Die schließlich am 31. Mai 1941 zusammen mit der „VO über die
Einführung der Nürnberger Rassengesetze in den eingegliederten Ostgebieten“ ergangene, von
Stuckart „in Vertretung“ unterzeichnete 2. AVO zum BlutSchG legte dann allerdings fest, dass
sich der Blutschutz nicht auf „ehemalige polnische Staatsangehörige“ erstrecken sollte, vgl.
RGBl. 1941, I, S. 297 f.
35
hanS-ChriStian JaSCh
die Deutsche Volksliste“36 fanden, deren Folgen Pawel Machcewicz in seinem Beitrag
kurz thematisiert. Hierbei ging es um die „Siebung“ der Bevölkerung, wie Himmler es
genannt hatte: Wer sollte als „deutsch“ oder „germanisierbar“ gelten und wer sollte als
„Fremdvölkischer“ „ausgesiebt“ werden?
Nach dieser Verordnung war eine mehrstufige Staatsangehörigkeit für die Bewohnerinnen und Bewohner der „eingegliederten Ostgebiete“ vorgesehen.37 Demnach gab es
vier als „Abteilungen“ bezeichnete Kategorien, nach denen die „eindeutschungsfähige“
Bevölkerung sortiert werden sollte. In Abteilung 1 sollten diejenigen „Volksdeutschen“
eingetragen werden, „die sich vor dem 1. September 1939 im Volkstumskampf aktiv für
das Deutschtum eingesetzt“ hatten, in Abteilung 2 „diejenigen Volksgenossen, die sich
in der polnischen Zeit zwar nicht aktiv für das Deutschtum eingesetzt, aber gleichwohl
ihr Deutschtum nachweislich bewahrt“ hatten. Abteilung 3 und 4 betrafen demgegenüber u. a. Personen, die „Bindungen zum Polentum“ eingegangen waren oder „gänzlich
im Polentum aufgegangen“ (Abteilung 4) waren. Während für die Abteilungen 1 und 2
der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit und Reichsbürgerschaft vorgesehen war,
sollten die in Abteilung 3 und 4 der Volksliste eingetragenen Personen nur deutsche
Staatsangehörige bzw. „Staatsangehörige auf Widerruf“ (Abteilung 4) werden.38
Für alle „nicht-deutschstämmigen“ Personen, die als nicht „eindeutschungsfähig“
galten und damit außerhalb der Abteilungen der „Volksliste“ blieben, hatten Himmler
bzw. der Jurist Stuckart die dem Kolonialrecht entlehnte Kategorie der „Schutzangehörigen des Deutschen Reiches mit beschränkten Inländerrechten“ vorgesehen. Hinsichtlich
36
37
38
36
„VO über die deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten
Ostgebieten“ vom 4. 3. 1941, RGBl. 1941, I, S. 118. Durch diese von Frick, Heß und Himmler unterzeichnete VO wurde die Feststellung der „deutschen Volkszugehörigkeit“ als Voraussetzung für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vereinheitlicht. Zum Erwerb der
Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten vgl. Hans Maria Globke, Die Staatsangehörigkeit der volksdeutschen Umsiedler, in: Deutsche Verwaltung (DV) 17 (1940), S. 18–22;
Hanns-Hermann Berger, Die deutsche Volksliste in den eingegliederten Ostgebieten, in: DV 18
(1941), S. 327–331; Joachim Neander, Das Staatsangehörigkeitsrecht des „Dritten Reichs“, in:
theologie.geschichte. Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte 3 (2008), http://universaar.
uni-saarland.de/journals/index.php/tg/article/view/471/510 [26. 6. 2019].
Vgl. hierzu die Darstellung bei Wilhelm Stuckart, Staatsangehörigkeit und Reichsgestaltung, in:
Reich, Volksordnung, Lebensraum, Bd. V (1943), S. 57–91, hier S. 81 f.
Nach der „VO über die Staatsangehörigkeit auf Widerruf“ vom 25. 4. 1943 (RGBl. 1943, I, S. 269)
war der Staatsangehörige auf Widerruf nicht Reichsbürger, er konnte also zum Beispiel kein
öffentliches Amt bekleiden. Die Staatsangehörigkeit auf Widerruf sollte nach zehn Jahren in die
unbeschränkte Staatsangehörigkeit übergehen, sofern sie nicht vorher widerrufen wurde oder
die zuständige Behörde auf den Widerruf verzichtete. Bei Widerruf konnte sie in die Schutzangehörigkeit übergehen (vgl. hierzu die „1. VO über die ‚Schutzangehörigkeit‘ des Deutschen Reiches“ vom 25. 4. 1943, RGBl. 1943, I, S. 271. Die „Schutzangehörigkeit“ „mit beschränkten Inländerrechten“ war an den Wohnsitz im Inland gebunden. Sie ist nie positiv definiert worden, und
in der Praxis hatte der „Schutzangehörige“ kaum mehr Rechte als ein Staatenloser. Vgl. hierzu:
Neander, Staatsangehörigkeitsrecht.
„völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS
der jüdischen Bevölkerung der eingegliederten Gebiete bestimmte eine von Staatssekretär Stuckart unterzeichnete „Anweisung zur Volkslisten-Verordnung“ vom 13. März 1941,
dass Juden und „Zigeuner“ keine „Staatsangehörigen auf Widerruf“ werden könnten und
mithin keinen Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit über die „Volksliste“ besaßen.
Dies macht bereits deutlich, dass es für diese beiden Bevölkerungsgruppen keine Zukunft
geben sollte.39 Die jüdische Bevölkerung sollte nach diesen Plänen nicht nur „umgesiedelt“, sondern, wie bereits in Heydrichs Befehl erwähnt, in „jüdischen Wohnbezirken“
konzentriert werden. Auf einer Sitzung über „Ostfragen“ unter Vorsitz Hermann Görings
am 12. Februar 1940 wurde festgehalten:
„Das Generalgouvernement wird die geordnete Judenauswanderung aus Deutschland und den neuen Ostgauen aufnehmen müssen. Es darf aber nicht vorkommen, dass Transportzüge ohne ordnungsgemäße und fristgerechte Anmeldung
bei dem Generalgouverneur ins Generalgouvernement geschickt werden.“40
Gleichzeitig begannen aus Pommern am 12. und 13. Februar 1940 die ersten Deportationen von über 1100 jüdischen Deutschen aus der Region Stettin – fast die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt – in den Raum Lublin; am 12. März erfolgte die Deportation
von 160 Menschen aus Schneidemühl nach Glownew bei Posen.41
Im Warthegau ordnete Regierungspräsident Friedrich Uebelhoer bereits am
10. Dezember 1939 die Bildung eines Ghettos in Łódź „als Übergangslösung“ zur Zusammenfassung der jüdischen Bevölkerung der Stadt an.42 Daraufhin wurde im Frühjahr
1940 ein Ghettobezirk mit Stacheldraht abgezäunt. Dort lebten auf engstem Raum
zunächst 164 000 Menschen. Infolge der späteren Deportationen aus Deutschland,
Wien, Prag, Luxemburg und dem Warthegau stieg die Bevölkerung 1941/42 auf über
39
40
41
42
Die „2. VO über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 31. 1. 1942 (RGBl. 1942, I, S. 51 f.) stellte in § 4 Abs. 2 noch einmal klar,
dass „Juden, Zigeuner sowie jüdische Mischlinge“ für die Eintragung in die Deutsche Volksliste außer Betracht blieben, ohne dass es hierfür „einer besonderen Feststellung“ bedurfte. Wer
hingegen von den ehemaligen Danziger oder polnischen Staatsangehörigen „die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Abteilungen 1 oder 2 der Deutschen Volksliste erfüllte“, erwarb
nach § 3 der 2. Volkslisten VO die deutsche Staatsangehörigkeit mit Wirkung vom 26. Oktober 1939, ohne Rücksicht auf den Tag der Aufnahme in die Volksliste. Wer jedoch nur in Abteilung 3 oder 4 aufgenommen war, erwarb gem. § 5 beziehungsweise § 6 nur noch die „deutsche
Staatsangehörigkeit auf Widerruf“. Alle anderen Personen wurden, sofern sie ihren Wohnsitz
im Inland hatten, „Schutzangehörige des Deutschen Reichs“, mit einer wichtigen Ausnahme:
„Juden (§ 5 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz […]) und Zigeuner können nicht
Schutzangehörige sein.“ Damit wurden die in den eingegliederten Ostgebieten einschließlich Danzigs ansässigen Jüdinnen und „Zigeuner“ staatenlos und außerhalb jeder rechtlichen
Zuordnung gestellt.
Vgl. IMT XXXVI, S. 299–307 (302).
Longerich, Himmler, S. 471.
Vgl. Aly, „Endlösung“, S. 72.
37
hanS-ChriStian JaSCh
Abb. 7: Anordnung über die Zwangskennzeichnung von Juden im Distrikt Krakau vom
18. November 1939.
38
„völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS
200 000 Menschen. In Warschau, der Stadt mit der größten jüdischen Gemeinde Europas, wurden im November 1940 mehr als 350 000 Jüdinnen und Juden in einen durch
hohe Mauern abgetrennten „jüdischen Wohnbezirk“ gezwängt. Aufgrund der völlig
unzureichenden Versorgung und der schlechten hygienischen Verhältnisse starben täglich Hunderte, besonders Kinder und alte Menschen, an Hunger, Krankheiten und den
im Ghetto grassierenden Epidemien.
Der Ghettoisierung ging vielerorts bereits im November 1939 die Kennzeichnung
der jüdischen Bevölkerung mit Armbinden oder Sternen voraus.43 Für Polen und Juden
wurde mit der Polenstrafrechtsverordnung vom 4. Dezember 194144 darüber hinaus
ein drakonisches Sonderstrafrecht geschaffen, das auch für geringe Vergehen enorme
Strafverschärfungen und ein abgekürztes Gerichtsverfahren vorsah und das weit über
die damals ohnehin allgemein angeordneten Verkürzungen des Rechtsschutzes von
Beschuldigten hinausging.45
5. Fazit
Diese kurze Übersicht wirft ein Schlaglicht auf die mörderischen politischen Maßnahmen, die die deutschen Okkupanten unmittelbar nach der Besetzung Polens trafen, um
das Land zu unterjochen und „völkisch“ „neu zu ordnen“. Die Bestimmungen leiteten
den Völkermord an der jüdischen Bevölkerung Polens und derjenigen Jüdinnen und
Juden ein, die in das besetzte Polen verschleppt wurden. Sie waren auch Grundlage für
den massenhaften Mord und die Vertreibung der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung, die den NS-Machthabern ebenfalls überwiegend als „fremdvölkisch“ galt. Anders
als bei der jüdischen Bevölkerung und bei den Sinti und Roma schufen die deutschen
43
44
45
Derartige Kennzeichnungen von Jüdinnen und Juden wurden im Deutschen Reich auf Initiative des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels erst zum 1. September 1941 getroffen und
dienten dazu, die nur wenige Wochen später, Mitte Oktober 1941, beginnenden systematischen
Deportationen aus dem Reich, Böhmen und Mähren, Österreich und Luxemburg in die Ghettos
und später in die Vernichtungsstätten im Osten vorzubereiten.
RGBl. 1941, I, S. 759. Beim Nürnberger Juristenprozess wurde die Verordnung 1947 als Kriegsverbrechen eingestuft. Der Deutsche Bundestag hob alle darauf beruhenden Urteile im Gesetz
zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile (NS-AufhG) erst 1998 auf.
Vgl. Diemut Majer, Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems. Führerprinzip,
Sonderrecht, Einheitspartei, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1987, S. 217 f. Thierack und Himmler verständigten sich kurze Zeit später darauf, dass alle Jüdinnen und Juden, die an sich aus
einer Strafvollzugsanstalt entlassen werden sollten, an den RFSS überstellt und auf „Lebzeit in
Konzentrationslagern“ untergebracht werden sollten. Da Himmler ausdrücklich eine gesetzliche Verankerung der Vereinbarung wünschte, erging am 1. Juli 1943 die 13. VO zum Reichsbürgergesetz, in der kurzerhand verfügt wurde, dass strafbare Handlungen von Jüdinnen und
Juden durch die Polizei geahndet würden. Bis Mitte 1943 waren aufgrund des Abkommens von
Thierack und Himmler 17 307 Justizgefangene an KZ überstellt worden, von denen am 1. April
1943 bereits 5935 gestorben waren, vgl. Longerich, Himmler, S. 657.
39
hanS-ChriStian JaSCh
Machthaber mit der sogenannten Volksliste jedoch auch ein Instrument, um Teile der
polnischen Bevölkerung zu „germanisieren“. Diese Politik blieb ambivalent und variierte stark in den unterschiedlichen Teilen Polens, die dem Reich angeschlossen worden waren. Sie wurde bestimmt durch die Interessen der lokalen Machthaber und der
Berliner Zentrale mit Heinrich Himmler als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums. Die Folgen waren zerstörerisch und hinterließen nach der deutschen
Niederlage 1945 ein ausgeblutetes und ruiniertes Land, das nunmehr unter sowjetische
Herrschaft geriet. Spuren der von den Deutschen verübten Gewalttaten wirken bis heute
nach und prägen das Verhältnis der beiden Nachbarstaaten.
Literatur
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Frankfurt a. M. 1995.
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auf der Wannsee-Konferenz und sein Prozess in Nürnberg, in: Einsicht 7 (2012),
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1953), Reich Interior Ministry: „A Legal Pedant“, in: The participants. The Men of the
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– Zur Rolle der Innenverwaltung im Dritten Reich bei der Vorbereitung und
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„völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS
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hanS-ChriStian JaSCh
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die Einführung der Nürnberger Rassengesetze in den eingegliederten Ostgebieten“
und „2. AVO zum BlutSchG“.
42
„völKiSChe Flurbereinigung“ in den beSetzten und anneKtierten gebieten polenS
RGBl. 1942
I, S. 51 f. – „2. VO über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit
in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 31. 1. 1942.
RGBl., 1943
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„1. VO über die ‚Schutzangehörigkeit‘ des Deutschen Reiches“ vom 25. 4. 1943.
Reichsministerialblatt der inneren Verwaltung (RMBliV)
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Staatsarchiv Nürnberg
Nürnberger Dokument PS-1014 (Die gesamte Rede steht online zur Verfügung:
https://www.ns-archiv.de/krieg/1939/22-08-1939-boehm.php [25. 6. 2019]).
Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (IMT): Der Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher. Amtlicher Wortlaut in deutscher Sprache, Nürnberg 1947
IMT XXVI, S. 382 – Bleistiftnotizen Keitels, abgedr. als Dok. PS-864.
IMT XXXVI, S. 299–307 (302).
43
Jens Wehner
Der deutsche Überfall auf Polen aus
militärhistorischer Perspektive
Der Überfall auf Polen wurde viele Jahrzehnte lang als „Blitzkrieg“ beschrieben. Erst
1995 widerlegte eine Studie von Karl-Heinz Frieser diesen Mythos nachhaltig, denn den
„Blitzkrieg“ hatte es nie gegeben.1 Stattdessen handelte es sich um einen Propagandabegriff. Militärisch betrachtet war der Überfall auf Polen ein Bewegungskrieg, der den Traditionen der preußischen Militärkultur entsprach. Schon Friedrich der Große bewegte
im 18. Jahrhundert seine Truppen schnell und flexibel, um die Gegner überraschend
zu schlagen. Diese Art der Kriegführung glich oft einem Vabanquespiel. Spektakuläre
Erfolge wie militärische Debakel waren die Folge.2 Im 19. Jahrhundert kultivierte der
preußische Generalstab diese Methode und gewann damit die Kriege Bismarcks. Im
Ersten Weltkrieg blieb der schnelle deutsche Vormarsch dagegen in Frankreich stecken
und mündete in einem Stellungskrieg mit bis dahin ungeahnten Verlusten an Soldaten
und Waffen.3
Aus dieser Katastrophe entstand nach 1918 für die deutschen Militärs die Aufgabe,
solch verlustreiche Kriege künftig zu vermeiden. Zur Lösung erschien die Wiederherstellung der Bewegung notwendig, die sich mit den wachsenden technischen Möglichkeiten von Kraftfahrzeugen und Panzern umsetzen ließ. Eine weitere technische Option
für mehr Schlagkraft lieferte die Luftwaffe. Ihre Flugzeuge konnten über 1000 Tonnen
Bomben mit Hunderten Kilometern pro Stunde über weite Teile Europas schleppen und
auf die Feinde abwerfen. Daher herrschte in den 1930er-Jahren eine große Angst vor
einem künftigen Luftkrieg in Europa.4
Moderne Waffensysteme wie Panzer und Bomber waren teuer, doch nach der Machteroberung Hitlers 1933 flossen dafür die erforderlichen ökonomischen Mittel in großen
Strömen. Am Ende einer sechsjährigen Aufrüstung stand 1939 die hochgerüstete Wehrmacht des zuvor finanziell zerrütteten „Deutschen Reiches“ zum Angriffskrieg parat.5
Im Folgenden soll anhand des zeitlichen Verlaufs ein grober Überblick über die wichtigsten militärischen Abläufe des deutschen Überfalls auf Polen gegeben werden. Am
Ende wird eine daraus resultierende militärhistorische Einordnung vorgenommen. Die
1
2
3
4
5
Karl-Heinz Frieser, Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940, München 1995.
Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, München 2005, S. 407.
Frieser, Blitzkrieg-Legende, S. 412 ff.
Richard Overy, Der Bombenkrieg. Europa 1939 bis 1945, Berlin 2014, S. 41–98.
Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus
(Schriftenreiheder Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 663), Bonn 2007, S. 349–352.
45
JenS Wehner
vielen deutschen Kriegsverbrechen, die mit den militärischen Abläufen einhergingen,
werden hier nicht dargestellt, da sie in diesem Band an anderer Stelle mit ausgewiesener
Expertise thematisiert werden.6
1. Voraussetzungen und Planungen
Ein Blick in die militärhistorische Fachliteratur offenbart, dass die Wehrmacht trotz der
gewaltigen Aufrüstung erhebliche Schwächen aufwies. Die schnellen Siege im ersten
Kriegsjahr 1939/40 verdeckten die Überdehnung der ökonomischen und militärischen
Kräfte des „Deutschen Reiches“.7 Panzer und Flugzeuge waren 1939 in zu geringer Zahl
vorhanden. Es fehlte an Offizieren und Spezialisten, und viele Rekruten waren nicht gut
ausgebildet.8
Trotz dieser Mängel war die Wehrmacht gegenüber den polnischen Streitkräften
deutlich überlegen. Das erklärt sich aus den Gesamtpotenzialen der beiden Staaten. Mit
rund 80 Millionen Einwohnern war das „Deutsche Reich“ erheblich größer als Polen mit
rund 35 Millionen Menschen.9 Die geringere Bevölkerungszahl korrelierte eng mit einem
Mangel an Soldaten, konnte jedoch von der polnischen Armee noch teilweise ausgeglichen werden. Während das deutsche Heer rund 1,6 Millionen Soldaten aufmarschieren
ließ, standen ihm bis zu 1,3 Million polnische Soldaten gegenüber.10 Dieses relativ ausgewogene Zahlenverhältnis lag auch in der unsicheren Situation im Westen begründet.
Hitler musste einen Teil seines drei Millionen Mann starken Heeres11 im Land belassen,
da bei Kriegsausbruch mit französischen Offensiven zu rechnen war. Materiell waren die
polnischen Armeen jedoch klar unterlegen. Konnte das deutsche Heer rund 3200 Panzer
aufbieten, waren es auf polnischer Seite viermal weniger. Ein erheblicher Teil der deutschen Panzer war den polnischen Panzerfahrzeugen zudem technisch überlegen.12 Oft
übersehen werden bei solchen Vergleichen die kleineren Waffensysteme wie die Handfeuerwaffen. Das modernste polnische Maschinengewehr „rkm. wz. 1928“ wurde im Jahr
1928 in einer Stückzahl von 10 000 aus Belgien importiert. Es basierte auf einem ame6
7
8
9
10
11
12
46
Siehe den Beitrag von Jochen Böhler.
Bernhard R. Kroener/Rolf-Dieter Müller/Hans Umbreit, Zusammenfassung, in: dies., Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereiches. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und
personelle Ressourcen 1939–1941, Stuttgart 1988, S. 1003.
Rolf-Dieter Müller, Der letzte deutsche Krieg, Stuttgart 2005, S. 25.
Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939 (Schriftenreihe
der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 550), Bonn 2006, S. 36.
Horst Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg“ und seine Auswirkungen auf Nordosteuropa, in:
Klaus A. Maier/Horst Rohde/Bernd Stegemann/Hans Umbreit, Die Errichtung der Hegemonie
auf dem europäischen Kontinent, Stuttgart 1979, S. 101.
Ebenda, S. 111.
Markus Pöhlmann, Der Panzer und die Mechanisierung des Krieges. Eine deutsche Geschichte
1890 bis 1945, Paderborn 2014, S. 305.
der deutSChe ÜberFall auF polen auS militärhiStoriSCher perSpeKtive
rikanischen Maschinengewehr und konnte rund 600 Schuss pro Minute verfeuern.13
Dagegen verfügte das deutsche Heer 1939 über rund 84 000 Stück des MG 34, mit dem
900 Schuss pro Minute abgegeben werden konnten.14 In der Luft war das Verhältnis für
Polen noch ungünstiger: 1581 deutschen Bombern und 439 Jägern standen 154 polnische
Bomber und 159 Jäger gegenüber. Die deutschen Flugzeuge waren, bis auf Ausnahmen,
den polnischen technisch überlegen.15 Somit bleibt festzuhalten, dass die Wehrmacht
trotz aller Defizite den polnischen Verteidigern personell und besonders materiell deutlich überlegen war.
Die polnischen Landstreitkräfte setzten sich im September 1939 aus sechs Armeen
und zwei kleineren Verbänden zusammen. Allein von der Zahl der Soldaten her betrachtet, hätten die polnischen Streitkräfte noch relativ gute Möglichkeiten besessen, den
deutschen Vormarsch zu stoppen. Jedoch erwies sich das große polnische Staatsgebiet
als ein strategisches Problem. Getreu dem alten militärischen Motto – „wer alles verteidigt, verteidigt gar nichts“ – entschied sich der polnische Generalstab, nur die strategisch bedeutsamsten Gebiete Polens zu verteidigen.16 Daraus erwuchs jedoch das
nächste Dilemma, denn diese wichtigen Gebiete mit ihren Großstädten und der Industrie lagen nahe der deutschen Grenze im Westteil des Landes. Aus militärischer Sicht war
das ungünstig, denn eine allzu große Grenznähe setzte die dort stationierten Armeen
überraschenden Angriffen des Gegners aus. Als Grenzmarke zwischen Ost- und Westpolen galt der Fluss Weichsel, in dessen ungefährer Nord-Süd-Mitte die Hauptstadt
Warschau lag.17
Der Plan des deutschen Oberkommandos war dazu beinahe passgenau angelegt. Das
deutsche Heer sollte in zwei Heeresgruppen unterteilt („Nord“ und „Süd“) angreifen.
Bei der Heeresgruppe „Nord“ befanden sich zwei Armeen (3. und 4.) und bei der Heeresgruppe „Süd“ drei Armeen (8., 10. und 14.). Die am südlichsten stehende 14. Armee
sollte Südpolen erobern, während die 8. Armee den Raum bis zur Heeresgruppe „Nord“
schützen sollte. Zwischen diesen beiden Armeen befand sich die 10. Armee, um den
Hauptangriff auf die polnische Hauptstadt zu führen. Für diesen Zweck war sie am
stärksten mit motorisierten und gepanzerten Verbänden ausgerüstet, während die
meisten deutschen Heeresverbände immer noch Pferde einsetzten und zu Fuß marschierten. Im Norden sollten die 4. Armee aus Pommern sowie die 3. Armee aus Ostpreußen aufeinander zu marschieren, um Ostpreußen mit dem „Deutschen Reich“ zu
verbinden. Anschließend sollten sich die deutschen Angriffskeile aus Nord und Süd bei
13
14
15
16
17
Michael Heider/David Th. Schiller, Zwischen den Kriegen, in: dies., Maschinengewehre (Visier
Special 45, 2007), S. 52–65, hier S. 54.
Ebenda, S. 64 ff. Das deutsche Heer verfügte 1939 über insgesamt 126 800 Maschinengewehre,
von denen rund zwei Drittel (84 000) MG 34 waren.
Overy, Bombenkrieg, S. 103.
Richard Lakowski, Der 1. September 1939 – historische und operative Probleme, in: Lothar
Schröter (Hrsg.), Der 1. September 1939 und der Überfall auf Polen. Erinnerung – Mahnung –
Verpflichtung, Schkeuditz 2010, S. 41 f.
Rohde, Hitlers Erster „Blitzkrieg“, S. 105.
47
JenS Wehner
Warschau vereinigen und die polnische Armee damit westlich der Weichsel einkreisen
und vernichten.18
Somit entstand für Polen eine ungünstige Komplementärlage. Die polnischen Generäle sahen sich gezwungen, Westpolen zu verteidigen, während die Wehrmacht genau in
dieser Region zuschlagen wollte.
2. Die Kriegsauslösung durch Hitler: Vom 23. zum 31. August 1939
Bei vielen Kriegsanfängen in der Geschichte der Menschheit war die Situation bereits
vor dem Anfang der Kampfhandlungen unruhig. Das traf auch auf den Beginn des
Zweiten Weltkrieges zu. Drei wesentliche Geschehnisse stachen in der letzten Friedenswoche besonders heraus: der Hitler-Stalin-Pakt, der Beinahe-Angriff der Wehrmacht
und die deutschen Grenzprovokationen.
Eröffnet wurde die letzte Friedenswoche durch den als diplomatische Sensation
wahrgenommenen Hitler-Stalin-Pakt. Mitte 1939 befand sich Hitler im Dilemma eines
möglichen Zweifrontenkrieges, der Deutschland bereits im Ersten Weltkrieg schwerwiegende militärische Probleme bereitet hatte. Im Westen existierten mit Frankreich
und Großbritannien zwei starke Nationen mit großen ökonomischen Ressourcen, die
ein Bündnis mit Polen im Osten eingegangen waren. Viel gefährlicher als das relativ
kleine Polen war die stalinistische Sowjetunion. Zwischen diesem kommunistischen
Großreich und dem nationalsozialistischen Deutschland bestanden tiefe ideologische
Gräben. Noch im Sommer 1939 verhandelten die Sowjetunion und Polen, vor dem Hintergrund der gemeinsamen Abneigung gegen das nationalsozialistische Deutschland,
über einen militärischen Pakt. Doch Polen misstraute aus historischen Gründen dem
russisch-sowjetischen Reich. Das Scheitern der polnisch-sowjetischen Verhandlungen
verhinderte auch einen sowjetisch-britisch-französischen Beistandspakt gegen Hitler.19
Dieses Zerwürfnis eröffnete Hitler neue Möglichkeiten. Zum Erstaunen vieler Beobachterinnen und Beobachter gelang es ihm im August 1939, den gordischen Knoten des
Zweifrontenkrieges teilweise zu zerschlagen, indem er mit Stalin einen Nichtangriffspakt schloss.
In einem geheimen Zusatzprotokoll wurde die Aufteilung Polens zwischen den
beiden Großmächten beschlossen.20 Hitler hatte somit den Zweifrontenkrieg in einen
Anderthalb-Fronten-Krieg umgewandelt. Seine Wehrmacht musste im Osten nur
schnell genug gegen Polen zuschlagen, während er darauf setzte, dass die Westmächte
lange genug stillhalten würden.
18
19
20
48
Ebenda, S. 95 ff.
Bernd Wegner, War der Zweite Weltkrieg vermeidbar? Anmerkungen zu Determinanten der
internationalen Politik in der Zwischenkriegszeit, in: Jörg Hillmann (Hrsg.), „Der Fall Weiß“.
Der Weg in das Jahr 1939, Bochum 2001, S. 28 f.
Müller, Der letzte deutsche Krieg, S. 31 f.
der deutSChe ÜberFall auF polen auS militärhiStoriSCher perSpeKtive
Als Angriffstermin hatte das deutsche Oberkommando den 26. August 1939 festgelegt. Doch an diesem Tag ergaben sich für Hitler zwei neue Entwicklungen. Zum einen
benachrichtigte der italienische Faschistenführer Mussolini Berlin, sein Land sei für
einen Krieg noch nicht bereit. Zum anderen waren die britischen Diplomaten wider
Erwarten noch verhandlungsbereit, weshalb Hitler die falsche Hoffnung hegte, auch die
britische Großmacht aus dem Krieg gegen Polen heraushalten zu können. Ein Haltbefehl
des Angriffs konnte gerade noch rechtzeitig an die Wehrmacht abgesetzt werden. Allerdings hatten einige deutsche Einheiten bereits polnisches Territorium betreten.21 Das
gab Polen ein deutliches Warnsignal.
Um den Angriff vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen, inszenierte die SS zahlreiche „Grenzzwischenfälle“ unter falscher Flagge, um damit den Eindruck einer polnischen Aggression zu konstruieren. SS-Angehörige lieferten sich beispielsweise in der
Nähe eines Zollhauses oder eines Forsthauses in polnischen und deutschen Uniformen
„Gefechte“ mit Platzpatronen. Am berühmtesten ist der Überfall auf den Radiosender
Gleiwitz. SS-Männer in polnischen Uniformen stürmten das Sendegebäude und verbreiteten in polnischer Sprache antideutsche Kriegspropaganda über die Radiofrequenz.
Zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit ließen sie einen ermordeten KZ-Häftling in polnischer Uniform zurück. Mindestens drei solcher Vorfälle wurden in der deutschen Presse
ausführlich thematisiert.22
Nachdem in den letzten Augusttagen alle Verhandlungen gescheitert waren, begann
am 1. September 1939 ohne Kriegserklärung etwa um 4:45 Uhr der deutsche Angriff auf
Polen.
3. Überfall und polnischer Widerstand 1. bis 8. September 1939
Trotz aller Vorwarnungen und Alarmzeichen kam der deutsche Angriff, den die Luftwaffe eröffnete, zunächst mit einer überraschenden Wucht. Sturzkampfflugzeuge (kurz:
Stuka) vom Typ Ju 87 erschienen zuerst am polnischen Himmel. Gegen 4:26 Uhr versuchten drei Stukas, polnische Sprengvorrichtungen an einer wichtigen Brücke zu zerstören. Das Vorhaben misslang. Polnische Pioniere sprengten die Brücke später wie
vorgesehen.23 Von Anfang an trafen deutsche Bomben auch polnische Zivilisten. Stukas
stürzten sich auf die völlig unvorbereitete Kleinstadt Wieluń. Bei diesem und weiteren
Luftangriffen starben Hunderte Einwohner in ihren Häusern.24 Der Luftüberfall auf
21
22
23
24
Lakowski, Der 1. September 1939, S. 47.
Jürgen Runzheimer, Die Grenzzwischenfälle am Abend vor dem Angriff auf Polen, in: Wolfgang
Benz/Hermann Graml (Hrsg.), Sommer 1939. Die Großmächte und der Europäische Krieg,
Stuttgart 1979, S. 107–147.
Mike Guardia, Junkers Ju 87 Stuka (Air Vanguard 15), Oxford 2014, S. 29.
Hans-Erich Volkmann, Wolfram von Richthofen, die Zerstörung Wieluńs und das Kriegsvölkerrecht, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 70 (2011) 2, S. 287–328.
49
JenS Wehner
die polnischen Flugplätze scheiterte dagegen. Nur sieben Prozent des polnischen Flugzeugparks wurden am Boden zerstört. Der Hauptgrund lag in einer vom polnischen
Oberkommando rechtzeitig durchgeführten dezentralen Stationierung der polnischen
Flugzeuge.25
Die bekannteste Feuereröffnung des Zweiten Weltkrieges kam von dem alten deutschen Linienschiff „Schleswig-Holstein“ in Danzig, dessen schwere 28 cm-Granaten auf
der polnischen Halbinsel Westerplatte einschlugen. Im Bauch des Schiffs hielten sich
über 200 Marinesoldaten zur handstreichartigen Erstürmung der polnischen Stellungen
bereit. Doch dieser Plan misslang, stattdessen konnten die polnischen Verteidiger trotz
schwerer Bombardements sieben Tage lang ihre Stellung halten.26
Trotz einiger Fehlschläge beim Überfall verlief der deutsche Vormarsch ab dem
1. September 1939 nach Plan. Allerdings leisteten die polnischen Soldaten immer wieder energischen Widerstand, wodurch sich Verzögerungen ergaben wie z. B. am ersten Kriegstag beim Angriff der 4. Panzerdivision der 10. Armee gegen ein polnisches
Kavallerieregiment in der Nähe des Dorfes Mokra. Plötzlich erschien der polnische
Eisenbahnpanzerzug Nr. 53 mit dem Spitznamen „Smialy“ (dt. „kühn“). Mit seinen vier
großen Kanonen und vielen Maschinengewehren feuerte der Zug auf die deutschen
Angreifer und vernichtete einige Panzer.27 Die militärische Lage veränderte dieser Einsatz des Panzerzugs jedoch nicht grundlegend. Die polnische Kavallerieeinheit wurde
schließlich zurückgeschlagen.28
Kennzeichnend für den polnischen Widerstandsgeist ist die Legende vom polnischen Reiterangriff mit gezücktem Säbel auf deutsche Panzer in der westpreußischen
Tucheler Heide. In Wirklichkeit waren die polnischen Kavalleristen bei einem Angriff
von deutschen Panzerspähwagen überrascht worden und mussten sich unter schweren
Verlusten zurückziehen.29 Obgleich es sich bei dieser Episode um eine Legende handelt,
zeigt sie doch, dass die polnischen Soldaten auch von ihren Gegnern als tapfere Kämpfer wahrgenommen wurden. Der Generalstabschef des Heeres Franz Halder notierte am
14. September 1939 in sein Kriegstagebuch, die polnischen Schützen ließen sich in ihren
Deckungslöchern freiwillig überrollen und träten danach wieder in den Kampf ein.30
Das war ein deutlicher Hinweis auf den Mut der polnischen Soldaten.
Bis zum 3. September 1939 hatten die polnischen Streitkräfte bereits einige Rückschläge erlitten, ohne dass die endgültige Entscheidung gefallen war. Im Korridor zwischen Ostpreußen und Pommern gelang es der deutschen 3. und 4. Armee, Verbände
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Olaf Groehler, Geschichte des Luftkrieges 1910 bis 1980, 6. Aufl., Berlin 1981, S. 226.
Wolfgang Schumann/Gerhart Hass (Autorenkollektiv), Deutschland im Zweiten Weltkrieg 1:
Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis zum 22. Juni 1941, Berlin 1974, S. 164.
Steven J. Zaloga, Poland 1939. The birth of Blitzkrieg (Campaign 107), Oxford 2002, S. 46.
Pöhlmann, Der Panzer, S. 307 f.
Zaloga, Poland 1939, S. 42 f.
Franz Halder, Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939–1942, Bd. I: Vom Polenfeldzug bis zum Ende der Westoffensive (14. 8. 1939–30. 6. 1940),
hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen/Alfred Philippi, Stuttgart 1962, S. 75.
der deutSChe ÜberFall auF polen auS militärhiStoriSCher perSpeKtive
der polnischen Pommerellen-Armee zu zerschlagen. Damit war eine Landverbindung
zwischen Ostpreußen und Pommern hergestellt.31 Die Armeen der Heeresgruppe „Süd“
stürmten ebenfalls schnell voran. Am 8. September 1939 stand die Angriffsspitze der
10. Armee mit der 4. Panzerdivision an der Stadtgrenze Warschaus. Ein Versuch, die polnische Hauptstadt handstreichartig einzunehmen, scheiterte allerdings schon im Ansatz.
Mit Molotow-Cocktails steckten die Verteidiger die deutschen Panzer in Brand.32 Der
deutsche Hauptstoß aus Süden war somit an den Grenzen Warschaus vorerst gestoppt.
Dagegen hatte die 14. Armee am 6. September fast ohne Widerstand Krakau eingenommen. Diese weit südlich kämpfende Armee stieß zusammen mit dem slowakischen Kontingent weiter Richtung Osten vor.33 Die Slowakei nahm als Verbündeter des Deutschen
Reiches am Überfall teil.
Indes zeichnete sich in der Wehrmachtführung die Erkenntnis ab, dass der organisiert verlaufende Rückzug polnischer Armeen zu einer Modifizierung des eigenen Plans
führen müsse,34 denn bislang war es noch nicht gelungen, große Teile der polnischen
Armeen zu vernichten.
4. Die Entscheidung: 9. bis 17. September 1939
Am 9. September 1939 kulminierte die kriegerische Entwicklung. Die nördlich der
10. Armee vorrückende 8. Armee wurde an diesem Tag vom größten polnischen Gegenangriff des Krieges überrascht.35 Im Zuge des deutschen Vormarsches waren die zwei
polnischen Armeen „Poznan“ und „Pomorze“ von den Hauptkräften abgetrennt worden. Nun griffen sie entschlossen die deutsche 8. Armee im Rücken an. Das Oberkommando der Heeresgruppe Süd sah sich gezwungen, den Vormarsch teilweise abzustoppen und von der 10. Armee Kräfte in Richtung des Flusses Bzura abdrehen zu lassen. Die
4. Panzerdivision wurde von der Warschauer Stadtgrenze abgezogen und sollte stattdessen die Westseite der 10. Armee gegen die beiden angreifenden Armeen sichern. Dabei
kam es zu schweren Kämpfen in der Puszcza Kampinoska (dt. Kampinos-Heide), für die
Panzer jedoch ungeeignet waren.36 Während die Heeresgruppe Süd umgruppierte, um
den polnischen Vorstoß an der Bzura aufzuhalten, drehte die Heeresgruppe Nord ihre
4. Armee nach Süden, um vom Norden in die Schlacht einzugreifen, und fiel nun den
angreifenden polnischen Armeen in den Rücken. Bis zum 16. September wurden diese
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Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg“, S. 113 f.
Adrian E. Wettstein, Die Wehrmacht im Stadtkampf 1939–1942, Paderborn 2014, S. 65 ff.
Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg“, S. 117.
Nikolaus von Vormann, Der Feldzug in Polen 1939. Die Operationen des Heeres, Weissenburg
1958, S. 85 und 90.
Rolf Elble, Die Schlacht an der Bzura 1939 aus deutscher und polnischer Sicht, Freiburg 1975,
S. 117 ff.
Pöhlmann, Der Panzer, S. 309.
51
JenS Wehner
durch die deutschen Gegenmaßnahmen vollständig eingekreist, konzentrisch angegriffen37 und bis zum 20. September zerschlagen. Die 8. und 10. Armee meldeten mehrere
Tausend eigene Verluste (Tote, Verwundete, Vermisste) und rund 180 000 Gefangene.38
Die genauen Verlustzahlen sind bis heute unbekannt. Die Schlacht an der Bzura war die
größte Kampfhandlung des Krieges 1939. In der Folge wurde Warschau eingekesselt.39
Zeitgleich mit dem Beginn der Schlacht an der Bzura hatte das deutsche Oberkommando am 9. September entschieden, vom ursprünglichen Plan abzurücken. Statt westlich der Weichsel sollte die polnische Armee nun östlich des Flusses umfasst und zerschlagen werden.40
Am weitesten im Osten kämpfte das XIX. Armeekorps (mot.) unter General Heinz
Guderian. Dieser voll motorisierte und teilgepanzerte Verband rollte im nordöstlichen
Hinterland von Warschau schnell vor und eroberte Brest-Litowsk am 17. September 1939.
Dieser Tag markierte die sich bereits abzeichnende Niederlage der polnischen Streitkräfte.
Am gleichen Tag überfiel die Sowjetunion Polen. Stalin ließ die Rote Armee nach
Ostpolen einmarschieren. Zeitgleich sah sich die polnische Regierung gezwungen, ins
Exil nach Rumänien zu flüchten.41
Zum brutalen Höhepunkt des Luftkrieges kam es jedoch erst Ende September mit der
Bombardierung Warschaus. Zwar peilte die Luftwaffe auf Hitlers Befehl nur bestimmte
Ziele wie Infrastruktur, Verwaltung und Industrie an, doch wurden dabei Wohnviertel getroffen und Tausende Zivilisten getötet.42 Die brutale Bombardierung Wieluńs bei
Kriegsanfang war nur der Auftakt zu weiteren schweren Luftangriffen. Besonders eindrücklich ist das Beispiel der Kleinstadt Frampol. Deutsche Bomben zerstörten den Ort
zu etwa 90 Prozent.43
Aufgrund der zahlenmäßigen deutschen Überlegenheit blieb der Luftkrieg ein einseitiger Kampf. Allerdings misslang der Luftwaffe die Zerschlagung der polnischen Flieger, die zwei Wochen lang zum Einsatz kommen konnten, um deutsche Bomber abzufangen und deutsche Heeresverbände zu bombardieren. Nach Schätzungen warfen die
polnischen Flugzeuge rund 160 Tonnen,44 die Luftwaffe hingegen knapp 20 000 Tonnen
Bomben ab.45 Insbesondere die Stukas hatten einen großen Anteil an den Angriffen auf
polnische Stellungen und Kolonnen.
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Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg“, S. 122 f.
Elble, Bzura 1939, S. 199 ff.
Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg“, S. 123 f.
Ebenda, S. 118.
Lakowski, Der 1. September 1939, S. 49.
Overy, Bombenkrieg, S. 104 ff.
Norman Davies, Europe at War 1939–1945. No Simple Victory, London 2007, S. 297.
Micheal Alfred Peszke, Polands Military Aviation. September 1939: It never had a chance, in:
Robert Higham/Stephen J. Harris (Hrsg.), Why Air Forces Fail. The Anatomy of Defeat, Lexington 2006, S. 32.
Groehler, Luftkrieg, S. 227.
der deutSChe ÜberFall auF polen auS militärhiStoriSCher perSpeKtive
Die polnische Armee war im Feld geschlagen und hielt Ende September nur noch
einige Städte und befestigte Plätze. Selbst als Warschau und Modlin am 27. September
kapituliert hatten, traten noch einige polnische Truppenteile mit – laut Wehrmachtgeneral Nikolaus von Vormann – „bewundernswerter Tapferkeit“ bei Kraśnik, Lublin
und Kock zum Kampf an. Bei Kock hatte die deutsche Aufklärung die Stärke einer polnischen Gruppierung zunächst unterschätzt, weshalb nur schwache Kräfte in Regimentsstärke angriffen und einen Rückschlag erlitten. Erst als das XIV. Armeekorps
(mot.) in überlegener Zahl angriff, konnten die polnische Einheit besiegt werden. Rund
17 000 Polinnen und Polen wurden daraufhin am 6. Oktober 1939 gefangen genommen.46
Mit diesem Gefecht endeten die militärischen Kämpfe in Polen. Hunderttausende
polnischer Soldaten gerieten in deutsche oder sowjetische Gefangenschaft. Einem kleineren Teil gelang die Flucht in benachbarte neutrale Staaten wie Rumänien oder die baltischen Länder.
5. Eine militärhistorische Bilanz
Trotz des entschlossenen Widerstandes der polnischen Soldaten hatte die technisch
überlegene Wehrmacht die polnische Armee in relativ kurzer Zeit besiegt. Selbst Hitler räumte jedoch in seiner Rede vom 6. Oktober 1939 vor der deutschen Öffentlichkeit ein: „Der polnische Soldat hat im einzelnen an manchen Stellen tapfer gefochten.“47
Zudem hatten die polnischen Gegenangriffe laut Hitler manche deutschen Regimenter
und Divisionen „sehr schwere Blutopfer“ gekostet.48 Wie erbittert die Kämpfe gewesen
waren, zeigt allein, dass der Munitionsverbrauch der Wehrmacht in Polen höher lag als
1940 bei der etwas länger andauernden Eroberung Westeuropas.49 Für den deutschen
Heeresgeneralstab und seinen Chef waren die harten Kämpfe jedoch keine Überraschung: Sie hatten den Mut der polnischen Soldaten bereits vor dem Krieg hervorgehoben. Allerdings unterstellten sie ihnen Dummheit und schlechte Ausbildung.50 Dass
dieses Stereotyp nicht zutraf, zeigte sich unter anderem im Luftkrieg, denn das Bedienen von Flugzeugen und Flugabwehrgeschützen benötigte relativ viel Ausbildung und
Know-how. Obwohl die deutsche Luftwaffe qualitativ und quantitativ weit überlegen
war, erlitt sie beträchtliche Verluste, die rund ein Siebtel der gegen Polen eingesetzten
Flugzeuge ausmachten.51 Ein Grund lag in der – angesichts der Umstände – effizienten
polnischen Luftkriegsführung. Die polnischen Jagdflieger sollen trotz ihrer in jeglicher
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51
Von Vormann, Feldzug in Polen, S. 187.
Philipp Bouhler (Hrsg.), Der großdeutsche Freiheitskampf. Reden Adolf Hitlers: Vom 1. September 1939 bis 10. März 1940, Bd. 1, München 1943, S. 69.
Ebenda, S. 71.
Schumann/Hass, Deutschland im Zweiten Weltkrieg 1, S. 183.
Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 38.
Schumann/Hass, Deutschland im Zweiten Weltkrieg 1, S. 183.
53
JenS Wehner
Hinsicht drastischen Unterlegenheit immerhin ein Abschuss-Verlustverhältnis von etwa
1:1 erzielt haben.52
Trotz des entschlossenen polnischen Widerstandes war der Überfall auf Polen allerdings lediglich ein militärisches Präludium gemessen an den Dimensionen des Zweiten Weltkrieges. Die Wehrmacht verlor in Polen rund 16 000 Soldaten53 – 0,3 Prozent
der insgesamt 5,3 Millionen toten deutschen Soldaten bis 1945.54 Der Zweite Weltkrieg
begann für die Deutschen somit weniger blutig als der Erste.55 Im Verlauf des Zweiten
Weltkrieges sollten die Verluste allerdings jene des Ersten übertreffen. Am Beispiel der
stärksten deutschen Armee in Polen lässt sich dies aufzeigen: Die 10. Armee wurde später in 6. Armee umbenannt und in Stalingrad 1943 vernichtet.56 Polen hatte 66 300 tote
Soldaten zu beklagen – mehr als vier Mal so viele wie die Wehrmacht.57 Das war jedoch
auch nur ein Bruchteil der Menschenverluste Polens im Zweiten Weltkrieg. Die meisten
der etwa fünf Millionen polnischen Opfer wurden von den Deutschen im Holocaust
oder im Zuge anderer Verbrechen ermordet und gehörten der Zivilbevölkerung an.
Die geflüchteten polnischen Soldaten waren bis Kriegsende in weitere Kampfhandlungen gegen Deutschland involviert. Drei polnische Marine-Zerstörer hatten sich
befehlsgemäß bereits vor Kriegsbeginn abgesetzt und kämpften an der Seite von Westalliierten gegen die deutsche Kriegsmarine. Weiterhin flogen über 140 polnische Piloten
im Jahr 1940 in der Luftschlacht um England gegen die Luftwaffe. Aufgrund ihrer guten
Ausbildung war ihr Einsatz sehr wirksam.58 Andererseits waren viele polnische Soldaten
und Offiziere in sowjetische Gefangenschaft geraten. 1940 ließ Stalin rund 15 000 Offiziere zusammen mit weiteren Angehörigen der polnischen Elite bei Katyn und an anderen Orten erschießen. Aus den Überlebenden wurde 1941 eine Exilarmee in der Sowjetunion aufgestellt, um den Kampf gegen die Deutschen aufzunehmen. 1942 wurde dieses
Kontingent über den Iran an die Briten überstellt. Diese Truppen bewährten sich bei den
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Peszke, Polands Military Aviation, S. 30. Mit dem Verhältnis von 1:1 korrespondieren auch die
Gesamtverlustzahlen von 303 deutschen zu 356 polnischen Flugzeugen (1:1,2). Auch wenn dieses Abschuss-Verlustverhältnis im Luftkampf ungünstiger gewesen sein sollte (etwa 1:2), würde
das die hier aufgestellte Behauptung nicht widerlegen.
Rüdiger Overmans, Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg, München 1999, S. 304.
Oft ist von geringeren Verlusten von etwa 10 000 Toten zu lesen, diese Zahlen beruhen auf Statistiken des Jahres 1939, die sich bei einer Nachuntersuchung 1944 als falsch herausstellten.
Overmans, Deutsche militärische Verluste, S. 255. Davon waren 4,8 Mio. Angehörige der Wehrmacht.
Jens Wehner, Militärische Verluste von 1914 und ihre Bedeutung, in: Matthias Rogg/Gorch Pieken/Gerhard Bauer (Hrsg.), 14 – Menschen – Krieg. Katalog zur Ausstellung zum Ersten Weltkrieg, Dresden 2014, S. 154 f.
Jens Wehner, Stalingrad, in: Matthias Rogg/Gorch Pieken/Jens Wehner (Hrsg.), Stalingrad,
Dresden 2012, S. 17 f.
Schumann/Hass, Deutschland im Zweiten Weltkrieg 1, S. 183.
Wojtek Matusiak/Robert Gretzyngier, IV. Polish Participation in the Battle of Britain, in: Zbigniew Wawer/Muzeum Wojska Polskiego (Hrsg.), The Battle of Britain, Warszawa 2015, S. 122–
159, hier S. 145.
der deutSChe ÜberFall auF polen auS militärhiStoriSCher perSpeKtive
Kämpfen im Mittelmeerraum und konnten besonders bei der Schlacht am Kloster von
Monte Cassino im Jahr 1944 in entscheidender Weise zum Erfolg beitragen.59 Später ließ
Stalin eine Armee aus kommunistisch eingestellten Polen aufstellen, die 1945 auf deutschem Gebiet kämpfte.
In der Wehrmacht hatte der Krieg von 1939 einige qualitative Konsequenzen, die oft
unterschätzt werden. In Polen lernte die Wehrmacht ihre Einsatzkonzepte zu verbessern, die später große Wirkung entfalten sollten. Besondere Wucht hatten die Panzerverbände gezeigt. Erwin Rommel, der spätere „Wüstenfuchs“, ließ sich unter diesem
Eindruck zur Panzerwaffe versetzen.60 Die Panzerdivision war im September 1939 eine
von zwei Panzerverbandstypen der Wehrmacht, von denen der zweite Verbandstyp die
Leichte Division war. Sie waren der Kavallerie nachempfunden und sollten aufgrund
leichter Ausrüstung schnell agieren. Die Panzerdivisionen waren dagegen schwerer
gerüstet und setzten auf das Gefecht der verbundenen Waffengattungen, indem sie Panzer, Infanterie, Artillerie und weitere Waffengattungen in sich vereinten. Besonders der
weit und schnell vorpreschende Panzervorstoß von General Heinz Guderian zeigte die
große operative Wirkung selbstständig eingesetzter Panzerdivisionen. Dagegen hatten
die Leichten Divisionen nicht überzeugt, weshalb sie 1939/40 in Panzerdivisionen umgewandelt wurden.61 Die Panzerdivisionen erhielten aufgrund der Erfahrungen in Polen
zudem mehr Infanterie, wodurch ihr Konzept vom Einsatz der verbundenen Waffen
noch gestärkt wurde.62 Die Panzerwaffe wurde für den nächsten Feldzug stärker konzentriert eingesetzt und strukturell aufgewertet.63 Für die 1940 erfolgende Eroberung Westeuropas setzte das deutsche Oberkommando auf eine starke Panzergruppierung unter
dem Oberbefehl von Ewald von Kleist mit einem Kern von fünf Panzerdivisionen. Im
Mai 1940 führte die Panzergruppe „Kleist“ den entscheidenden Vorstoß an den Ärmelkanal, mit dem die Wehrmacht Frankreich zu Fall brachte und Westeuropa eroberte.64
Eine ähnliche Aufwertung wie die Panzer erfuhren die Sturzkampfflieger. Nach der
Eroberung Polens wurde die Masse der Stukas im neuen VIII. Fliegerkorps, mit Wolfram von Richthofen an der Spitze, auch strukturell aufgewertet.65
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Zbigniew Wawer, Monte Cassino. Walki 2 Korpusu Polskiego, Warszawa 2009.
Wolf Heckmann, Rommels Krieg in Afrika. Wüstenfüchse gegen Wüstenratten, Bergisch Gladbach 1976, S. 43 f. Eigentlich war Rommel Infanterist, der nach einer hohen Auszeichnung
im Ersten Weltkrieg einen Bestseller über den Infanteriekampf verfasst hatte. Hitler ließ den
renommierten Offizier im Jahr 1938 das sogenannte Führerbegleitbataillon zu seinem Schutz
kommandieren. Beeindruckt von der Wirkung der Panzerverbände, verließ Rommel seine Waffengattung und erbat sich von Hitler das Kommando einer Panzerdivision.
Robert L. DiNardo, Germany’s Panzer Arm in WWII, Mechanicsburg 1997, S. 107 f.
Horst Riemann, Zur Geschichte der deutschen Panzergrenadiere, in: Wehrkunde VIII (1959) 12,
S. 647.
Frieser, Blitzkrieg-Legende, S. 22 f.
Pöhlmann, Der Panzer, S. 311 ff.
Horst Boog, Die deutsche Luftwaffenführung 1935–1945. Führungsprobleme, Spitzengliederung, Generalstabsausbildung, Stuttgart 1982, S. 190.
55
JenS Wehner
Der Sieg über Polen war jedoch kein „Blitzkrieg“, wie dies oft behauptet wurde. Viele
deutsche Generäle glaubten, dass die Konzepte des Krieges gegen Polen gegen einen stärkeren Gegner wie Frankreich aussichtslos sein würden.66 Als „Blitzkrieg“ im heutigen
Verständnis wird der Westfeldzug von 1940 bezeichnet, der von den deutschen Panzerverbänden in Kürze gewonnen wurde. Der erste, von deutscher Seite systematisch als
solcher geplante „Blitzkrieg“ war der Überfall auf die Sowjetunion im Jahr 1941, der
bekanntlich scheiterte.67
Literatur
Böhler, Jochen, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 550), Bonn 2006.
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Bd. 12), Schkeuditz 2010, S. 33–54.
66
67
56
Frieser, Blitzkrieg-Legende, S. 22 f.
Ebenda, S. 437 ff.
der deutSChe ÜberFall auF polen auS militärhiStoriSCher perSpeKtive
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57
JenS Wehner
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(14. 8. 1939–30. 6. 1940), hrsg. v. Hans-Adolf Jacobsen/Alfred Philippi, Stuttgart 1962.
58
Jochen Böhler
Die Wehrmacht und die Verbrechen an der
Zivilbevölkerung während des deutschen Überfalls
auf Polen 1939
1. Historiografie
Lange Zeit lag der deutsche Überfall auf Polen im September 1939 – noch während des
„Dritten Reiches“ als „Polenfeldzug“ oder „Feldzug der 18 Tage“ verharmlost – außerhalb des Fokus der Geschichtswissenschaft. Nur eine Handvoll deutscher militärhistorischer Studien, davon eine von einem ehemaligen Kriegsteilnehmer verfasst, widmet sich
dem Verlauf der Kämpfe.1 Auch in der deutschen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg
wird er noch heute von den Großereignissen der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden und dem Überfall auf die Sowjetunion ab 1941 überschattet. So scheint
es, als sei die Zeitspanne 1939 bis 1941 nur eine Vorlaufphase der Vernichtung, als habe
der Rassen- und Vernichtungskrieg erst 1941 begonnen. Doch diese Sichtweise unterschätzt die Bedeutung der ersten zwei Jahre von Krieg und Besatzung in Osteuropa.
Denn die Gewaltwelle, die sich ab Juni 1941 über die Westgebiete Sowjetrusslands ergoss
und die innerhalb zweier Jahre über zwei Millionen Menschen unter der Hoheit der
Wehrmacht das Leben kostete, kam nicht aus dem Nichts.2 Die Woge der Gewalt hatte
sich vielmehr, um bei dem Bild zu bleiben, in den zwei Jahren zuvor angestaut. Somit
war der Start des „Unternehmens Barbarossa“ 1941 nur ein Dammbruch, der den zuvor
im besetzten Polen etablierten Gewaltpraktiken ein neues großes Exerzierfeld eröffnete
und somit den Massenmord des „Dritten Reiches“ auf eine neue Stufe hob. Die Zeit bis
1
2
Horst Rohde, Der Verlauf des Polenfeldzugs vom 1. September bis 6. Oktober 1939, in: Klaus A.
Maier/Horst Rohde/Bernd Stegemann/Hans Umbreit (Hrsg.), Die Errichtung der Hegemonie
auf dem europäischen Kontinent, Stuttgart 1979, S. 111–135; Bertil Stjernfeld/Klaus-Richard
Böhme, Westerplatte 1939, Freiburg 1979; Rolf Elble, Die Schlacht an der Bzura im September
1939 aus deutscher und polnischer Sicht, Freiburg 1975; Herbert Schindler, Mosty und Dirschau 1939. Zwei Handstreiche der Wehrmacht vor Beginn des Polenfeldzuges, Freiburg 1971.
Zum Einsatz der Luftwaffe liegt keine deutsche Studie vor. Die polnische Historiografie umfasst
dagegen mittlerweile Tausende Monografien und Aufsätze v. a. zu den operationellen Aspekten des Krieges, bis 1998 siehe Andreas Lawaty/Wiesław Mincer (Hrsg.), Deutsch-polnische
Beziehungen in Geschichte und Gegenwart: Bibliographie, Bd. 1, Wiesbaden 2000, S. 750–785,
danach einschlägige Militärhistorische Zeitschriften wie „Bellona“ oder „Przegląd HistorycznoWojskowy“.
Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische
Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2009, S. 337.
59
JoChen böhler
zum Juni 1941 ist also nicht eine Fußnote, sondern eine entscheidende Phase sowohl der
Shoah als auch des Vernichtungskrieges im deutsch besetzten Osten.
Die polnische Geschichtsschreibung hat sich neben militärhistorischen Aspekten
von Beginn an mit den während des Krieges 1939 in Polen von Deutschen verübten
Verbrechen beschäftigt. Bereits ab 1944 erschienen Veröffentlichungen von Historikerinnen und Historikern, die oftmals zugleich für die polnische Hauptkommission
zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen oder das Jüdische Historische Institut in Warschau tätig waren.3 Die Verfasser hatten häufig den deutschen Überfall und
die Zeit der Besatzung selbst erlebt. Dennoch sind die Darstellungen, wenn auch in
anklagendem Duktus, bemüht, die Tatsachen zu recherchieren, und genügen vollauf
wissenschaftlichen Standards. Die Grundlage für die polnischen Studien zu Krieg und
Besatzung in Polen 1939 bis 1945 bildeten überwiegend Augenzeugenberichte, die polnische Staatsanwaltschaften und jüdische Verbände akribisch zu Tausenden gesammelt
hatten, ergänzt durch deutsche Aktenbestände, die beim Rückzug der Wehrmacht im
Lande verblieben waren.
2. Die Angriffsvorbereitungen
Versucht man zu verstehen, warum der kurze Krieg gegen Polen vom ersten Tag an die
Grenzen des Kriegsgebrauchs, wie sie in der Haager Landkriegsordnung 1907 verbindlich festgelegt worden waren, verließ, muss man bei der Vorgeschichte ansetzen. Die
deutsche Seite begann den Überfall ab dem Frühjahr 1939 vorzubereiten. Den militärischen Stellen oblag die operative Planung der Eroberung Polens, den polizeilichen die
Bekämpfung von politischen Gegnern in den eroberten Gebieten.
Die Zweiteilung in militärischen und polizeilichen Einsatz hat unmittelbar nach
1939 und auch noch lange nach 1945 dazu geführt, dass eine klare Trennlinie zwischen
dem Vorgehen der Wehrmachteinheiten und dem der SS- und Polizei-Einsatzgruppen
in Polen in der Zeit der Militärverwaltung (1. September bis 25. Oktober 1939) gezogen
wurde, die es in der Wirklichkeit gar nicht gegeben hatte. Die Einsatzgruppen waren
zwar nur zum Teil – etwa bei der Eroberung der westpolnischen Stadt Bydgoszcz (dt.
3
60
In den späten 1980er-Jahren veröffentlichte die Hauptkommission ein Themenheft ihrer Hauszeitschrift exklusiv zu Wehrmachtsverbrechen in Polen 1939, siehe Biuletyn Głównej Komisji
Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce XXXII (1987). Die Literatur bis 1998 zu deutschen
Verbrechen während des Krieges in Polen 1939 ist nahezu unüberschaubar. Bis 1998 siehe
ebenda, Bd. I, S. 757–950. Für die Zeit danach siehe das „Biuletyn IPN“ der Nachfolgeinstitution
der Hauptkommission, des Instituts für Nationales Gedenken, sowie das „Kwartalnik Historii
Żydów“ (vormals „Biuletyn Żydowskiego Instytut Historycznego“) des Jüdischen Historischen
Instituts in Warschau, mit Bibliografien der veröffentlichten Artikel in den Nummern 3/2001
(für die Jahre 1949–2000) und 3/2011 (für die Jahre 2001–2010). Zur Hauptkommission siehe
jetzt Łukasz Jasiński, Sprawiedliwość i polityka. Działalność Głównej Komisji Badania Zbrodni
Hitlerowskich w Polsce 1945–1989, Gdańsk 2018.
die WehrmaCht und die verbreChen an der zivilbevölKerung
Bromberg) – unmittelbar an den Kampfhandlungen beteiligt, aber die Wehrmacht
akzeptierte nicht nur im Vorfeld die Verwendung von Einsatzgruppen mit einem politischen Auftrag, der Massenmord miteinschloss, sie kooperierte mit ihnen im Felde und
leistete ihnen logistische Unterstützung – ganz wie knapp zwei Jahre später beim Angriff
auf die Sowjetunion.
Einen ersten Hinweis auf die enge Verknüpfung beider Sphären – der militärischen
und der polizeilich-politischen – findet sich in einer Ansprache des Generalstabschefs
des Heeres Franz Halder vor höheren Wehrmachtoffizieren aus dem April 1939. Die
Besetzung des Landes (gemeint ist das Hinterland, also das Gebiet hinter der kämpfenden Truppe), so Halder, werde „in weitem Maße von den paramilitärischen Formationen der Partei vorgenommen werden“.4 Am 22. August 1939 kündigte Hitler in seinem
Refugium auf dem Obersalzberg offenbar die Verwendung paramilitärischer Verbände
mit klarem Mordauftrag der höheren Generalität an. Jedenfalls war der Chef der militärischen Abwehr alarmiert und teilte Halder drei Tage später seine „Besorgnis wegen
[der] Rolle der Totenkopfverbände“ mit, eine Bezeichnung, die sich exakt in einer der
heimlichen Mitschriften der Ansprache wiederfindet.5 Auch der Oberst im Generalstab Eduard Wagner vermerkte in seinem Tagebuch am 29. August 1939: „Besprechung
bei Ministerialrat [Werner] Best (SD6), anschließend bei dem berüchtigten Chef des
SD – [Reinhard] Heydrich. Es handelt sich um den Einsatz der Gestapo-Gruppen im
Operationsgebiet. Wir kamen schnell überein. Beides etwas undurchdringliche Typen,
Heydrich besonders unsympathisch.“7
Die Verwendung der polizeilichen Einsatzgruppen war im Sommer 1939 vorbereitet
worden. Es wurden zunächst fünf solcher Einheiten aufgestellt und ihre Kommandeure
4
5
6
7
Christian Hartmann/Sergej Slutsch, Franz Halder und die Kriegsvorbereitungen im Frühjahr
1939. Eine Ansprache des Generalstabschefs des Heeres, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
(VfZ) 45 (1997) 3, S. 467–495, hier S. 493.
Franz Halder, Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939–1942, Bd. 1, hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen, Stuttgart 1964, S. 30 (29. 8. 1939). In
der Mitschrift, die der amerikanische Journalist Louis P. Lochner dem britischen Botschaftsrat übergab und das als Dokument L-003 vom Nürnberger Militärgerichtshof registriert, aber
nicht als Beweisstück verwendet wurde, findet sich die Passage „So habe ich, einstweilen nur im
Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur
so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen.“ (Hervorhebung des Verfassers). Obwohl
das Dokument offenbar nach der Niederschrift noch redaktionell überarbeitet wurde, stimmt es
inhaltlich weitgehend mit anderen Abschriften der Rede überein, siehe Winfried Baumgart, Zur
Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939. Eine quellenkritische
Untersuchung, in: VfZ 16 (1968) 3, S. 120–149.
Abkürzung für den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, dem die Organisation und die Verwendung der Einsatzgruppen oblag.
Elisabeth Wagner (Hrsg.), Der Generalquartiermeister. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen
des Generalquartiermeisters des Heeres, General der Artillerie Eduard Wagner, München/
Wien 1963, S. 103.
61
JoChen böhler
instruiert. Obwohl kein schriftlicher Tötungsbefehl erteilt wurde, erklärte Heydrich
ihnen mündlich, dass sie in erster Linie gegen die gebildeten Schichten in Polen vorzugehen hätten, da man aus deren Reihen am ehesten Widerstand erwarte. Neben Massenverhaftungen wurden dabei auch ausdrücklich Exekutionen als erlaubtes Mittel der
Bekämpfung von „Reichsfeinden“ benannt. Der Wehrmacht gegenüber hielt man diesen
Auftrag in den „Richtlinien für den auswärtigen Einsatz der Sicherheitspolizei und des
SD“ vom August 1939 zwar bewusst nebulös, aber dass die Wehrmachtführung mehr
wusste, belegen die Äußerungen von Halder, Canaris und Wagner.8
Im Gegensatz zu den Einsatzgruppen hatte die Wehrmacht vor dem Angriff keinen
Auftrag zur Tötung von Zivilistinnen und Zivilisten erhalten. Allerdings hatte Hitler
auf dem Obersalzberg von der Generalität gefordert, nicht nur – angesichts des Risikos der Eröffnung einer zweiten Front im Westen – mit größter Schnelligkeit, sondern
auch besonders rücksichtslos vorzugehen: „Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales
Vorgehen. 80 Mill.[ionen] Menschen müssen ihr Recht bekommen. Ihre Existenz muß
gesichert werden. Der Stärkere hat das Recht. Größte Härte.“9 Den Soldaten wurden
außerdem Weisungen verlesen, die vor der Hinterhältigkeit der slawischen und jüdischen Bevölkerung warnten. Von jeder Zivilperson, so erfuhren es Gefreite unmittelbar
vor ihrem ersten Kampfeinsatz, könne eine tödliche Gefahr ausgehen.
3. Die Übergriffe der Wehrmacht
Diese Warnungen beeinflussten massiv das Verhalten deutscher Soldaten in polnischen
Ortschaften, die auf ihrer Vormarschroute lagen. Wie in den überlieferten Kriegstagebüchern nachzulesen ist, glaubten sie, überall Partisanen – nach damaligem Sprachgebrauch „Freischärler“ – zu sichten. Obwohl natürlich für den gesamten Operationsraum
der Wehrmacht aus heutiger Sicht nicht ausgeschlossen werden kann, dass vereinzelt
Schüsse von Zivilpersonen auf Einheiten abgegeben wurden, handelte es sich um die
Fehlwahrnehmung einer organisierten Partisanenbewegung, in die die gesamte Zivilbevölkerung direkt oder indirekt eingebunden sei. Diese Vorstellung entbehrte jeder
Grundlage. Polnische Widerstandsgruppen formierten sich erst nach der Niederlage im
September 1939 aus versprengten Soldaten. Auf deutscher Seite lagen die Verluste im
Zuge nächtlicher Schießereien so niedrig, dass dies an sich schon die Theorie einer „levée
en masse“ ad absurdum führte, zumal zeitgleich ständig darüber berichtet wurde, wie
8
9
62
Klaus-Michael Mallmann/Jochen Böhler/Jürgen Matthäus, Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008, S. 15–19, 117–121.
Trial of the Major War Criminals before the International Military Tribunal: Nuremberg,
14 November 1945–1 October 1946, Bd. XXVI, Nürnberg 1947, S. 523, Document 1014-PS. Diese
Wiedergabe der Nachmittagsansprache auf dem Obersalzberg am 22. 8. 1939 ist nach Baumgart, Zur Ansprache Hitlers, Admiral Canaris selber zuzuordnen. Die Vormittagsansprache findet sich im selben Dokumentenband, S. 338–344, Document 798-PS.
die WehrmaCht und die verbreChen an der zivilbevölKerung
deutsche Soldaten sich gegenseitig unter Beschuss nahmen. In der Rückschau verfasste
Erfahrungsberichte der Wehrmacht sprechen von einer „Psychose“, die sich der Soldaten
„ermächtigt“ habe.10 Aus der Perspektive eines Wehrmachtsoldaten sah das am 5. September 1939 so aus:
„Der Kommandeur ging mit mir in den Ort. Alles rief uns an. Aufregung. Eine
Scheune ging in Flammen auf, rotgelbes Licht überm Ort. Mit aller Energie
musste der Major einen ängstlichen Haufen, der an der Friedhofsmauer kauerte,
hindern, auf uns zu schießen. In der Kirche seien die Freischärler, die geschossen
hätten. Wi. kriegt einen polnischen Bauern am Schlafittchen, und in der einen
Hand den Bauern, in der anderen die Pistole, durchstöbert er die Kirche. Ich gehe
mit entsicherter Pistole in der Hand hinter ihm her. Das Bäuerlein zittert und ruft
auf Polnisch: ‚Nicht schießen. Wer drin ist, soll rauskommen.‘ Niemand ist da.
Erleichtert gehen wir aus der Kirche, in deren dunklen Winkeln unsere Taschenlampen geisterten.“11
Die Wahnvorstellung einer gegen die Wehrmacht kämpfenden Bevölkerung hatte fatale
Folgen. Im gesamten Vormarschgebiet gingen Gehöfte und Häuser in Flammen auf,
wurden Zivilistinnen und Zivilisten erschossen, Handgranaten in Keller geworfen, in
die sich verschreckte Einwohner geflüchtet hatten. Der polnisch-jüdische Historiker
Szymon Datner wertete in den 1950er- und 1960er-Jahren Tausende Zeugenaussagen
aus und kam zu dem vorläufigen Ergebnis, dass in der Zeit, in der die Wehrmacht im
besetzten Polen das Sagen hatte – während der Militärverwaltung, die am 25. Oktober
durch eine Zivilverwaltung ersetzt wurde –, im Verlauf von 714 registrierten Übergriffen
16 336 Personen so ums Leben kamen. Bei dieser vorsichtigen Schätzung, in die viele
Berichte noch gar nicht eingearbeitet waren, gingen etwa 10 000 Opfer auf das Konto
deutscher Soldaten. Eine Überlebende schilderte die Ereignisse 1955 aus der Erinnerung
so:
„Etwa um die Mittagszeit des 2. September […] brach eine große Unruhe aus.
Die Deutschen begannen zu schießen und brannten nacheinander mehrere Höfe
nieder. Ich versteckte mich mit meiner Tante, meiner Schwägerin und meinen
Kindern im Keller des Hauses der Familie Szczyska […]. Im Keller befanden sich
insgesamt 21 Personen, acht Frauen und 13 Kinder. Die Kinder weinten ununterbrochen, was von außen mit Sicherheit zu hören war. Nach einiger Zeit fiel in
den Keller eine Handgranate, kurz darauf eine zweite und eine dritte. Ob weitere
Granaten geworfen wurden, weiß ich nicht, weil ich ohnmächtig wurde. Ich kam
10
11
Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M.
2006, S. 54–75.
Leutnant Hans W., Kriegstagebuch „Mit dem Infanterieregiment 102 im Polenfeldzug“,
4. 9. 1939, Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (BArch-MA), Msg1/1631.
63
JoChen böhler
erst abends […] wieder zu Bewusstsein. Am selben Abend brachte man mich, die
Kanicka und die Stępniakowa ins Krankenhaus nach Kempen. Im Keller starben – bis auf drei – alle darin befindlichen Personen.“12
Der Tod von Frauen und Kindern war dabei zumeist ein Kollateralschaden der mutwilligen Brandstiftungen. Die Erschießungen – die 80 Prozent der Opfer forderten – richteten
sich ausschließlich gegen Männer. Die Wehrmacht hielt sich nicht mit Ermittlungen auf:
Es gab kein funktionierendes Kriegsgerichtswesen, nachträgliche Untersuchungen wurden kaum eingeleitet. Wo dies geschah, wie im Falle der Geheimen Feldpolizei-Gruppen 520 und 540, konnten keine Zivilisten der Partisanentätigkeit überführt werden.13
Die geringen deutschen Verluste als Folge der wilden Schießereien in polnischen Dörfern und Städten standen nicht nur im eklatanten Widerspruch zu der Schimäre einer
organisierten polnischen Widerstandsbewegung, sie standen auch in keinem Verhältnis zu den zivilen Opfern der sofort eingeleiteten Vergeltungsaktionen. In Częstochowa
(dt. Tschenstochau) hatten deutsche Soldaten am 4. September 1939 wild um sich
geschossen. Partisanen wurden nicht festgenommen, aber über 200 Ortseinwohnerinnen und -einwohner, darunter eine große Zahl an Jüdinnen und Juden, erschossen. Eine
Augenzeugin schätzte die Zahl der verwundeten Zivilistinnen und Zivilisten auf 400.
Die deutsche Seite meldete acht Gefallene und 14 Verwundete.14 Neuere polnische Studien zum Vorgehen deutscher Gebirgseinheiten in Südpolen kommen ebenfalls zu dem
Ergebnis, dass zwischen dem tatsächlichen Verhalten der polnischen Zivilbevölkerung
und dem rücksichtslosen Vorgehen der deutschen Soldaten im September 1939 kein kausaler Zusammenhang bestand.15
Aber nicht nur polnische Zivilisten wurden pauschal zu Partisanen erklärt. Durch
den raschen Vormarsch der Wehrmacht gerieten in der ersten Septemberhälfte Zehntausende Soldaten des polnischen Heeres, deren Einheiten sich großenteils bereits aufgelöst hatten, hinter die deutsche Front. Sie wurden am 12. September 1939 durch die „Verordnung über Waffenbesitz“ des Oberkommandos des deutschen Heeres zu Partisanen
erklärt, eine Maßnahme, die Hitler persönlich beim Generalstab des Heeres angeregt
hatte.16 Es sind zahlreiche Fälle aus dem Krieg gegen Polen überliefert, in denen polni12
13
14
15
16
64
Zeugenaussage von Stanisława Woś, 14. 4. 1955, Archiv des Westinstituts Posen (Instytut
Zachodni), Dok. III-43.
Ermittlungsakten der Geheimen Feldpolizei-Gruppe (GFP) 540, BArch-MA, RH20-8/294
(Bde. 1 und 2), der GFP 520, BArch-MA, RH19-I/111, besonders Bl. 49–66, sowie BArch-MA,
RH19-I/112.
Böhler, Auftaktzum Vernichtungskrieg, S. 99–107.
Dawid Golik, Wrzesień 1939 w dolinie Dunajca. Bój graniczny walki nad górnym Dunajcem
między 1 a 6 września 1939 roku, Kraków 2018.
Verordnung über Waffenbesitz, 12. 9. 1939, abgedruckt in Verordnungsblatt für die besetzten
polnischen Gebiete Nr. 3, 13. 9. 1939, S. 8; Helmut Krausnick, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, 1938–1942, Stuttgart 1981, S. 49,
Anm. 104.
die WehrmaCht und die verbreChen an der zivilbevölKerung
sche Soldaten im Anschluss an ihre Gefangennahme direkt erschossen oder in Scheunen
verbrannt wurden. Weitere Opfer forderten übernervöse Wachmannschaften der provisorischen Kriegsgefangenenlager, die Massaker an polnischen Soldaten verübten. Mehr
als 3000 polnische Soldaten kamen im September 1939 abseits der Kampfhandlungen
ums Leben.17
Nicht nur das Vorgehen der deutschen Bodentruppen forderte hohe Opfer unter der
polnischen Zivilbevölkerung. Auch die deutsche Luftwaffe machte keinen Unterschied
zwischen Kombattanten und Zivilistinnen und Zivilisten. In Deutschland ist diese
Tatsache besonders am Fallbeispiel der damals nahe der Grenze gelegenen Kleinstadt
Wieluń kontrovers diskutiert worden, die bereits in den ersten Minuten des Krieges dem
Erdboden gleichgemacht wurde. Eine detaillierte Studie geht auf Basis deutscher und
polnischer Archivquellen davon aus, dass der Angriff nicht – wie oft behauptet – einer
polnischen Kavalleriebrigade außerhalb des Stadtgebietes gegolten habe, sondern dass
hier von Vorsatz auszugehen ist.18 Tatsächlich bedarf es gar nicht der Einzelfallprüfung,
denn die deutsche Luftwaffe bombardierte im September 1939 generell polnische Ortschaften unterschiedslos, also ganz unabhängig davon, ob sich in ihnen gegnerisches
Militär befand oder nicht. Das geht auch aus einer Notiz im Kriegstagebuch des Generalstabschefs Halder unmittelbar vor dem Angriff hervor: „Auf Warschau nicht Terrorangriff (nur militärischer).“19 Insgesamt wurden so im Verlauf des Polenkrieges über
150 polnische Städte und Ortschaften durch Luftangriffe zerstört und Zehntausende
Zivilistinnen und Zivilisten getötet. Deutsche Piloten machten sich außerdem nicht nur
in Einzelfällen einen Sport daraus, Flüchtlingskolonnen gezielt zu beschießen.20
Während die Wehrmacht im Operationsgebiet den Massenmord praktizierte, taten
Einsatzgruppen und Volksdeutscher Selbstschutz – eine aus Angehörigen der deutschen
Minderheit in Polen zusammengestellte Miliz – dies im Hinterland. Bis Jahresende ermordeten sie über 50 000 Personen, darunter schätzungsweise 7000 Jüdinnen und Juden.21
Während die Wehrmachtführung, unter deren Ägide das weitgehend geschah, gegen diese
(in der Tätersprache) „politische Flurbereinigung“ protestierte, relativiert sich das Bild,
wenn man die zeitgleich von der Wehrmacht selbst durchgeführten Massaker dagegenhält. Bereits Heydrich hatte 1940 rückblickend festgestellt: „Stellt man Übergriffe, Plünde17
18
19
20
21
Ein Überblick über die polnische Nachkriegshistoriografie zum Thema – eine deutsche existiert
nicht – findet sich in Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 241, Anm. 1105.
Hans-Erich Volkmann, Wolfram von Richthofen, die Zerstörung Wieluńs und das Kriegsvölkerrecht, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 70 (2011) 2, S. 287–328. Siehe dagegen Horst
Boog, Bombenkriegslegenden, in: Militärgeschichtliche Beiträge 9 (1995), S. 22–29, hier S. 24;
ders., Völkerrecht und Menschlichkeit im Luftkrieg, in: Hans Poeppel (Hrsg.), Die Soldaten der
Wehrmacht, München 1998, S. 256–323, hier S. 259 f.
Halder, Kriegstagebuch, Bd. 1, S. 46 (30. 8. 1939).
Szymon Datner, 55 dni wehrmachtu w Polsce. Zbrodnie dokonane na polskiej ludności cywilne
w okresie 1.1X–25.X.1939 r., Warszawa 1967, S. 92–102; Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten.
Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a. M. 2011, S. 84–85.
Mallmann/Böhler/Matthäus, Einsatzgruppen, S. 87–88.
65
JoChen böhler
rungsfälle, Ausschreitungen des Heeres und der SS und Polizei gegenüber, so kommt [sic]
hierbei SS und Polizei bestimmt nicht schlecht weg.“22 Deutsche Soldaten unterschieden
sich in ihrem Verhalten gegenüber Polen und Juden 1939 gar nicht wesentlich von Polizisten und SS-Männern. In den besetzten Ortschaften wurden Massenerschießungen durchgeführt, Jüdinnen und Juden wurden schikaniert und ermordet. Ungeachtet des Dissenses
auf der Führungsebene kooperierten Einsatzgruppen und Wehrmacht im Feld miteinander. Die Besatzungstruppen waren dankbar, Polizeieinheiten auch für militärische
Sicherungsoperationen einsetzen zu können. Tausende von Jüdinnen und Juden wurden
von Einsatzgruppen und Wehrmacht gemeinsam über die grüne Grenze in das sowjetisch besetzte Gebiet abgeschoben. Deutsche Soldaten beteiligten sich sogar an Massakern
der Einsatzgruppen. Am 18. September 1939 wurden in Przemyśl über 500 Jüdinnen und
Juden erschossen – ein Schlüsselereignis der Shoah, das bis heute nicht näher erforscht ist.
Bei der dort eingesetzten 14. Armee vermerkte man am selben Tag:
„Es mehren sich in den letzten Tagen die Meldungen über Disziplinlosigkeiten, Übergriffe und Willkürmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung […] willkürliche Erschießungen ohne vorheriges kriegsrechtliches bzw. standrechtliches
Urteil, Misshandlung Wehrloser, Vergewaltigungen und Notzuchtsverbrechen,
Niederbrennen von Synagogen.“
Einen Tag später wies der Armeeoberbefehlshaber nochmals in aller Schärfe darauf hin,
dass „Maßnahmen gegen die Juden […] unbedingt zu unterbleiben“ hätten. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Walther von Brauchitsch, erließ kurz darauf einen
Befehl („betr. Disziplin“), in dem er es für nötig hielt, darauf hinzuweisen, dass „die
Teilnahme von Heeresangehörigen an polizeilichen Exekutionen“ verboten sei.23
4. Fazit
In der westlichen Forschung war lange Zeit zu lesen, die Wehrmacht habe 1939 in Polen
noch auf Einhaltung des Kriegsrechts gepocht, sich nicht an Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung und Kriegsgefangene beteiligt und sich vielmehr tatkräftig bemüht, das
Morden der paramilitärischen Verbände von SS und Polizei zu unterbinden. Das Gegenteil ist der Fall: Die ersten Massenmorde des Zweiten Weltkrieges wurden von deutschen Soldaten bereits in seiner Anfangsphase begangen. Im September kooperierten
Einsatzgruppen und Wehrmacht im besetzten Polen, auch bei der Verfolgung und der
22
23
66
Helmut Krausnick, Hitler und die Morde in Polen. Ein Beitrag zum Konflikt zwischen Heer und
SS um die Verwaltung der besetzten Gebiete, in: VfZ 11 (1963) 2, S. 196–209, hier S. 207. Zu den
Protesten hochrangiger Wehrmachtoffiziere 1939/40 gegen das Vorgehen von SS und Polizei im
eroberten Gebiet siehe außerdem Böhler, Auftaktzum Vernichtungskrieg, S. 238–240.
Ebenda, S. 201–221; dort auch die hier angeführten Zitate mit Quellenbelegen.
die WehrmaCht und die verbreChen an der zivilbevölKerung
Ermordung von Zivilistinnen und Zivilisten. Erst mit Abklingen der Kampfhandlungen
endeten naturgemäß die Massaker der Wehrmacht, und zugleich wendete sich die Generalität gegen die nunmehr zunehmenden, politisch motivierten Morde von Einsatzgruppen und Selbstschutz.
Über das brutale Vorgehen der eigenen Truppe wurde dagegen stillschweigend hinweggegangen. Erfolgs- und Erwartungsdruck seitens der militärischen und politischen
Führung, gepaart mit Misstrauen und Vorurteilen gegenüber der Landesbevölkerung,
schufen in den deutschen Kommandozentralen und Fronteinheiten offenbar eine Atmosphäre, in der der Zweck die Mittel heiligte und in der Zehntausende von der Wehrmacht getötete Zivilistinnen und Zivilisten als von der Kriegsnotwendigkeit diktierter
Kollateralschaden angesehen wurden.
Literatur
Baumgart, Winfried, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am
22. August 1939. Eine quellenkritische Untersuchung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 16 (1968) 3, S. 120–149.
Böhler, Jochen, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006.
Boog, Horst, Bombenkriegslegenden, in: Militärgeschichtliche Beiträge 9 (1995), S. 22–29.
– Völkerrecht und Menschlichkeit im Luftkrieg, in: Hans Poeppel (Hrsg.), Die Soldaten der Wehrmacht, München 1998, S. 256–323.
Datner, Szymon, 55 dni wehrmachtu w Polsce. Zbrodnie dokonane na polskiej ludności
cywilne w okresie 1.1X–25.X.1939 r., Warszawa 1967.
Elble, Rolf, Die Schlacht an der Bzura im September 1939 aus deutscher und polnischer
Sicht, Freiburg 1975.
Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce (Hrsg.), Biuletyn Głównej
Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce XXXII (1987).
Golik, Dawid, Wrzesień 1939 w dolinie Dunajca: Bój graniczny walki nad górnym Dunajcem między 1 a 6 września 1939 roku, Kraków 2018.
Hartmann, Christian/Slutsch, Sergej, Franz Halder und die Kriegsvorbereitungen im
Frühjahr 1939. Eine Ansprache des Generalstabschefs des Heeres, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 45 (1997) 3, S. 467–495.
Jasiński, Łukasz, Sprawiedliwość i polityka. Działalność Głównej Komisji Badania
Zbrodni Hitlerowskich w Polsce 1945–1989, Gdańsk 2018.
Krausnick, Helmut, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der
Sicherheitspolizei und des SD, 1938–1942, Stuttgart 1981.
– Hitler und die Morde in Polen. Ein Beitrag zum Konflikt zwischen Heer und SS
um die Verwaltung der besetzten Gebiete, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
11 (1963) 2, S. 196–209.
67
JoChen böhler
Lawaty, Andreas/Mincer, Wiesław (Hrsg.), Deutsch-polnische Beziehungen in Geschichte
und Gegenwart: Bibliographie, Bd. 1, Wiesbaden 2000.
Mallmann, Klaus-Michael/Böhler, Jochen/Matthäus, Jürgen, Einsatzgruppen in Polen.
Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008.
Neitzel, Sönke/Welzer, Harald, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben,
Frankfurt a. M. 2011, S. 84–85.
Pohl, Dieter, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2009.
Rohde, Horst, Der Verlauf des Polenfeldzugs vom 1. September bis 6. Oktober 1939, in:
Klaus A. Maier/Horst Rohde/Bernd Stegemann/Hans Umbreit (Hrsg.), Die Errichtung der Hegemonie auf dem europäischen Kontinent (Das Deutsche Reich und der
Zweite Weltkrieg, Bd. 2), Stuttgart 1979, S. 111–135.
Schindler, Herbert, Mosty und Dirschau 1939. Zwei Handstreiche der Wehrmacht vor
Beginn des Polenfeldzuges, Freiburg 1971.
Stjernfeld, Bertil/Böhme, Klaus-Richard, Westerplatte 1939, Freiburg 1979.
Volkmann, Hans-Erich, Wolfram von Richthofen, die Zerstörung Wieluńs und das
Kriegsvölkerrecht, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 70 (2011) 2, S. 287–328.
Wagner, Elisabeth (Hrsg.), Der Generalquartiermeister. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des Generalquartiermeisters des Heeres, General der Artillerie Eduard Wagner, München/Wien 1963.
Quellen
Ermittlungsakten der Geheimen Feldpolizei-Gruppe (GFP) 540, Bundesarchiv-Militärarchiv (BArch-MA), RH20-8/294 (Bd. 1 und 2), der GFP 520, BArch-MA, RH19-I/111,
besonders Bl. 49–66, sowie BArch-MA, RH19-I/112.
Halder, Franz, Kriegstagebuch: Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes
des Heeres 1939–1942, Bd. 1, hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen, Stuttgart 1964, S. 30
(29. 8. 1939).
Leutnant Hans W., Kriegstagebuch „Mit dem Infanterieregiment 102 im Polenfeldzug“,
4. 9. 1939, BArch-MA, Msg1/1631.
Verordnung über Waffenbesitz, 12. 9. 1939, abgedruckt in Verordnungsblatt für die
besetzten polnischen Gebiete Nr. 3, 13. 9. 1939, S. 8.
Zeugenaussage von Stanisława Woś, 14. 4. 1955, Archiv des Westinstituts Posen (Instytut
Zachodni), Dok. III-43.
68
Petra Bopp
„Wir glauben an die Objektivität der Kamera.“
Private Fotografie der Wehrmachtsoldaten im Zweiten Weltkrieg
1. Der Überfall auf Polen im Foto
Im August 1939 fotografierte der 23-jährige Infanterist Friedrich Bilges beim Befestigungsbau an der deutsch-polnischen Grenze in Kuschten (poln. Kosieczyn) den Bunkerbau, die Drahthindernisse und die Sicht über die Grenze nach Polen. Mit diesem „Blick
vom Beobachtungssitz weit in polnisches Land“ verfolgte der Soldat schon einige Tage
vor der militärischen Invasion die visuelle Einübung des Angriffs mit optischen Instrumenten. Am linken Bildrand kann man ein Gesicht im Profil als schwarze Silhouette
erkennen, dazu eine Hand, die einen Feldstecher hält. Der Betrachter blickt – gelenkt
vom Fernglas und vom Bildausschnitt des Fotografierenden – auf eine weite Ebene mit
einer in die Bildtiefe führenden Spur eines Weges. So bemächtigten sich die Soldaten
zunächst mit optischen Instrumenten des Gebietes und vermaßen vom Hochsitz herab
die Ebenen, die sie kurz darauf mit der Truppe eroberten.
Der Meldereiter Hans-Georg Schulz markierte den Beginn des Zweiten Weltkriegs
in seinem Album mit einer selbstgestalteten Landkarte, auf der er den Frontverlauf des
„Feldzugs der 18 Tage“ seines Regiments (IR 8, 3. Inf. Div.) eintrug. Anschließend folgen
auf fünf Albumseiten seine visuellen Kriegserinnerungen aus Kulmsee (poln. Chełmża),
Płock, Bromberg (poln. Bydgoszcz) und Kutno, wo die Entscheidungsschlacht zwischen
der polnischen Armee und der Wehrmacht an der Bzura stattfand.
Abb. 1: „Blick vom Beobachtungssitz weit in polnisches Land“.
Aus dem Album von Friedrich Bilges
69
petra bopp
Abb. 2: Gezeichnete Landkarte Polen 1939.
Aus dem Album von Hans-Georg Schulz
Von den rund 180 000 polnischen Soldaten, die im Kessel an der Bzura in Gefangenschaft gerieten, zeugt ein Foto, das den scheinbar endlosen Zug als undifferenzierte
Masse vom sicheren eigenen Trupp aus zeigt. Die Aufnahme nahm Schulz im Tross reitend aus dem Sattel auf. Die Bildunterschrift ruft das Motto des Vormarschs auf – „nach
Osten!“ Die Dominanz über die besiegten polnischen Truppen zeigt sich in der dichotomischen Formulierung des „sie“ und „wir“ und entspricht auf der Bildebene dem Blick
von oben (reitend) auf die zu Fuß marschierenden Polen in der Gegenrichtung.
Die Nahaufnahme, die Schulz inmitten der Kameraden vor der schwarzen Rauchwand fotografierte, verweist auf die Tagesbefehle der Wehrmachtführung der Heeresgruppe Nord, zu der das IR 8 gehörte: „Wird hinter der Front aus einem Haus geschossen,
so wird das Haus niedergebrannt. […] wird aus einem Dorf hinter der Front geschossen
und ist das Haus, aus dem das Feuer kam, nicht festzustellen, so wird das ganze Dorf
niedergebrannt.“1 Am Ende der sechs Albumseiten mit 42 Fotos zur polnischen Invasion
montierte Schulz die Aufnahme eines zerstörten deutschen Flugzeugs, eines zerschos1
70
Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, Befehl an Armeen von 10. 9. 1939, zit. nach
Jochen Böhler, Die Wehrmacht in Polen 1939 und die Anfänge des Vernichtungskrieges, in:
Deutsches Historisches Institut Warschau (Hrsg.), „Größte Härte …“ Verbrechen der Wehrmacht in Polen. September/Oktober 1939, Ausstellungskatalog, Osnabrück 2005, S. 18.
„Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten
Abb. 3: „Sie marschieren nach Berlin, wir nach Osten!“
Aus dem Album von Hans-Georg Schulz
Abb. 4: „In einem brennenden Dorf“
Aus dem Album von Hans-Georg Schulz
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senen polnischen Dorfes und das Foto eines deutschen Soldatengrabes „Bei Kutno“. Im
Bildausschnitt überhöht der Amateurfotograf den Blick auf das aufgeschüttete Grab mit
Holzkreuz und Stahlhelm in extremer Untersicht und im Gegenlicht und bedient damit
das Stereotyp für die Darstellung des „Heldengrabs“ in vielen Kriegsalben. Tote Polen
hingegen finden sich lediglich als Leichen am Wegrand.
„14 000 Juden aus Pultusk“ schrieb der Soldat Hermann Jaspers auf den Rand seines
Fotos, das jüdische Zivilbevölkerung aus der Stadt Pułtusk zeigt. Unter der Bewachung
von deutscher Feldgendarmerie werden Männer, Frauen und Kinder mit ihrem Hab und
Gut über eine Brücke getrieben. Jaspers dokumentierte auf drei Albumseiten die Zerstörungen und Folgen der deutschen Invasion im Gebiet des nördlichen Masowien. Am
11. September 1939 erreichten die Truppen der Wehrmacht den Ort Kałuszyn, in dem die
gesamte jüdische Bevölkerung in einer Kirche gefangen gehalten und gefoltert wurde.
Fotos von Häuserruinen, von der abgeführten jüdischen und flüchtenden Zivilbevölkerung, Reste von Schornsteinen an den Dorfstraßen, Zerstörungen bei Różan und Trümmerstraßen in Warschau. Mit dem Führererlass vom 8. Oktober 1939 wurde das Territorium von Ostpreußen um ein Drittel vergrößert.2
Als „Zielpunkt reichsdeutscher Siedlungs- und Bevölkerungspolitik“ wurden Teile
der polnischen Bevölkerung und alle jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner ausgewiesen, um Deutsche aus Ostpreußen und anderen Orten des Reichsgebietes anzusiedeln. Die Fotos von Jaspers geben einzelne Situationen dieser Vertreibungs- und Vernichtungspolitik wieder.
2. Einübung des Fotografierens im Krieg
Die Bedingungen für die Fülle an privater Fotoproduktion zu Beginn des Zweiten Weltkrieges proklamierte Joseph Goebbels mit seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung
„Die Kamera“ im November 1933 in Berlin:
„Wir glauben an die Objektivität der Kamera und sind skeptisch gegen das, was
uns durch das Gehör oder durch Lettern vermittelt wird. […] Der Mensch unserer Tage […] will selber sehen, und er hat bei dem hohen Stand der Fotokunst
und illustrierten Presse auch ein Anrecht darauf. Er kann verlangen, dass man
ihm […] heutzutage schwarz auf weiß – das heißt im Foto – beweist, dass eine
neue Zeit heraufgestiegen ist […]. Hier wird unser modernes künstliches Auge,
2
72
Vgl. Ralf Meindl, Ostpreußens Gauleiter: Erich Koch – eine politische Biographie, Osnabrück
2007, S. 249–295: siehe dazu auch Christhardt Henschel, Das nördliche Masowien zwischen polnischer Staatlichkeit und deutscher Besatzungsherrschaft in der Mitte des 20. Jahrhunderts, in:
Deutsches Historisches Institut (DHI) Warschau, Forschungsprogramm „Gewalt und Fremdherrschaft im ‚Zeitalter der Extreme‘“, Teilprojekt 2, www.dhi.waw.pl/forschung/forschungs
programm/gewalt-und-fremdherrschaft.html [17. 5. 2019].
„Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten
Abb. 5: „Ein toter Pole“
Aus dem Album von Hans-Georg Schulz
Abb. 6: „14 000 Juden aus Pultusk“
Aus dem Album von Hermann Jaspers
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die Kamera, zum Schwurzeugen für die neue Zeit. Das Erlebnis des Einzelnen
ist zum Volkserlebnis geworden, und das nur durch die Kamera. […] So erfüllt
gerade das Foto in diesen Tagen eine hohe politische Mission, an der jeder Deutsche mitwirken sollte, der im Besitz einer Kamera ist. […] Das Lichtbild ist ein
sichtbarer Ausdruck für die Höhe unserer Kultur; den Wert der Lichtbildnerei
nicht nur für das Künstlerische leben, sondern vor allem auch für den praktischen Daseinskampf in vollem Umfang zu erkennen, und die Fotografie […] in
den Dienst der deutschen Sache zu stellen, ist Aufgabe dieser Ausstellung.“3
Mit diesen Ausführungen forderte Goebbels ein „Millionenheer von Amateurphotographen“4 zur nationalen Erziehung im Sinn der nationalsozialistischen Propaganda. Er
bemächtigte sich damit der vielfältigen Vereine und Verbände der Amateurfotografen
und Knipser, die seit den 1920er-Jahren in Deutschland bestanden und die private Fotografie nuancenreich weiterentwickelt hatten.
Im Herbst 1933 wurden sowohl die professionellen Bildjournalistinnen und -journalisten der Zensur des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda
unterstellt als auch die Amateurfotografenvereine im NSDAP Reichsverband Deutscher Amateurphotographen (RDA) zusammengefasst mit den zentralen Aufgaben:
„Alle Volksgenossen, die Fotoapparate besitzen, sind zu veranlassen, ihre Kamera in
den Dienst der Aufbauarbeit der Reichsregierung zu stellen. Einwandfreie Bilder […]
werden unentgeltlich eingesammelt und dem Ministerium zugeleitet, um sie propagandistisch zu verwerten. Den Volksgenossen ist klarzumachen, dass sie ihre Kamera nicht
nur zum Vergnügen besitzen.“5
Mit Familien-, Heimat- und Arbeitsfotos, gefördert durch Wettbewerbe und Kurse
der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ (KdF) sollten die Amateure und Knipser an
der „Aufbauarbeit der Reichsregierung“ mitarbeiten. „Fotokurse für jedermann“6 gaben
Anleitungen für die richtige Technik und Motivwahl mit dem Ziel, die Fotografie als
„Bildschrift des Volkes“7 zu etablieren. Ergebnisse dieser Instrumentalisierung zeigten
sich 1937 bei der zweiten großen Leistungsschau des NS in Berlin: „Gebt mir vier Jahre
Zeit“. Die „Armee der Amateurfotografen“8 präsentierte mit 800 Aufnahmen Motive aus
den Wettbewerben „Arbeitsdienstmänner bei Erdarbeiten, Manöver der Wehrmacht,
Das ganze Volk hinter dem Führer“. Mit den Erzeugnissen der deutschen Fotoindustrie
und den Aufnahmen der Berufs- und Amateurfotografen stand diese Bildpolitik auch
3
4
5
6
7
8
74
Joseph Goebbels, Eröffnungsrede, in: Druck und Reproduktion (1933) 1, S. 3–6.
Willy Frerk, Das Erlebnis des Einzelnen ist zu einem Volkserlebnis geworden und das durch die
Kamera!, in: Photofreund (1933), S. 417.
Aus der Chronik des Deutschen Verbandes für Fotografie (DVF), S. 23, https://www.dvf-westfa
len.de/dvf/Datenpool/dvf-chronik-1908-1998.pdf [22. 6. 2019].
Timm Starl, Knipser. Eine Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München 1995, S. 103.
Willy Stiewe, Foto und Volk, Halle 1933, S. 9.
Der Photo-Fachhändler 8 (1937), S. 288.
„Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten
im Mittelpunkt des deutschen Pavillons auf der Weltausstellung in Paris im gleichen
Jahr.9
Sogenannte Bildwarte sammelten Amateuraufnahmen der „Arbeitswelt, der Jugend
beim Sport, der Volksgemeinschaft bei Aufmärschen“10 für Archive, Ämter und Organisationen.11 Es wurden keine „schönen Fotos“ gesucht, sondern „Dokumente der Zeitgeschichte. Solche, die der Berufsmann nicht zeigt“.12 Nach dieser massiven Indienstnahme
der privaten Fotografie für die offizielle NS-Propaganda und der alle Bereiche vereinnahmenden Instrumentalisierung der Arbeitswelt und Freizeit durch den Staat konnten
die Publikationsorgane zwei Jahre später zu Kriegsbeginn 1939 an das nun entstandene
„Millionenheer der Amateurphotographen“ appellieren: „Für den Soldaten ist es unbedingte Pflicht, gerade jetzt die Kamera nicht ruhen zu lassen.“13
Die Einübung in das Fotografieren von Kameraden, Truppenverbänden, vom Kasernenleben und Exerzieren begann lange vor Kriegsbeginn mit den Alben der Hitlerjugend
(HJ) und des Reichsarbeitsdienstes (RAD). In diesen meist vor-normierten Alben überwiegt die Einbindung des Einzelnen in die Gruppe, eine Sichtweise, die sich zu Beginn
eines jeden Kriegsalbums mit der Vereidigung und den ersten Bildern in Uniform wiederholt. Im Jahr 1939 besaßen rund zehn Prozent der Bevölkerung einen Fotoapparat,
und so folgten viele Männer und Frauen bereitwillig dem Appell: „Die an der Front
möchten uns mehr Soldatenbilder zum Abdruck in der Fotografie senden als bisher […],
die in der Heimat möchten unseren fotointeressierten Soldaten persönliche Fotos, aber
auch Foto-Zeitschriften und Bücher senden.“14
Nach den positiven Erfahrungen der millionenfachen Amateur- und Knipserfotografie im Ersten Weltkrieg entwickelten Kodak, Agfa, Zeiss-Ikon und Voigtländer in
den 1920er-Jahren noch leichtere und einfacher zu bedienende Mittelformat- und Kleinbildsucherkameras, die die Soldaten im Zweiten Weltkrieg dann vor allem benutzten.
Als Einstiegsmodell – auch schon für Jugendliche – wurde häufig die Agfa-Box für 4,–
Reichsmark bevorzugt. Bis 1933 wurden von diesem Modell über eine Million Apparate
verkauft. Dazu ein Zitat von Willy Stiewe von 1933: „Erstens ist die Kamera so verbilligt, dass sie sich jeder Arbeiter der Stirn und der Faust leisten kann, und zweitens birgt
sie, wie wir gesehen haben, einen ideellen Wert. Ferner hat das volkstümlich gewordene Fotografieren eine ungewöhnlich stark ankurbelnde Wirkung auf die gesamte
9
10
11
12
13
14
Vgl. Herbert Starke, Fotografische Notizen von der Weltausstellung Paris 1937, in: Fotoblätter 14 (1937) 12, S. 370.
Wilhelm Schöppe, Das neue Deutschland, Sommer Wettbewerb des Foto-Betrachters, in: Der
Foto-Beobachter (1938) 5, S. 123.
Paul Grobleben, Heimatfotografie. Ein neues Jahr, neue Aufgaben, in: Photofreund (1934) 1,
S. 7–8.
Reichsbund Deutscher Amateurphotographen, Fotos, die gesucht werden, in: Der Foto-Beobachter (1937) 12, S. 320.
Herbert Starke, Und trotzdem: Amateurfotografie!, in: Photofreund (1939), S. 349.
O. V., Soldaten-Weihnacht 1940, in: Die Fotografie mit Spiegelreflex-Kameras (1940) 42.
75
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Fotoindustrie.“15 Anspruchsvollere Knipserinnen und Knipser bevorzugten die Agfa
Billy als einfache Kamera mit dem Format 6 x 9 und die Kodak Retina oder die ZeissIkon Contax, die wegen ihrer kompakten Größen, der qualitätvollen Objektive und des
niedrigen Preises sehr beliebt waren. Geübte Amateur- und Berufsfotografen benutzten
gerne Voigtländer-Kameras oder – wie die Propaganda-Kompanien – eine Leica.
Neben den jährlichen Ausstellungen sorgten vor allem die verbands- und firmeneigenen Fotozeitschriften für die Verbreitung der NS-Sprach- und Bildparolen. Agfa
gab die „Photoblätter“ heraus, in der die Firma Produktwerbung betrieb, aber auch Ratschläge für Amateure und Knipser publizierte. Häufig finden sich zu den Abbildungen
genaue Angaben zu Filmmaterial, Kameratyp, Blende und Belichtungszeit. Nach Kriegsbeginn behandelten Artikel und spezielle Beilagen die Belange der fotografierenden Soldaten.16 Mit Kriegsbeginn bewarb die Fotoindustrie ihre Produkte wie Kameras, Filme
und Fotopapier immer häufiger mit Fotos von Soldaten, und auch die „Photoblätter“
druckten Artikel zu fotografierenden Soldaten und zur Herstellung von Fotoalben im
Krieg.17
Bildbestellung
„Unsere Soldaten photographieren gern und viel“,18 sagte 1941 ein Fotolaborbesitzer zu
einer Kundin und sortierte Aufnahmen des Soldaten Georg zu einem „Musterbuch“
der Fronterlebnisse, das die die ganze Kompanie bestellen konnte. Motive des „Musterbuchs“ sind „zerstörte Dörfer, Gehöfte und Untermenschen in Polen“, in Frankreich
„Ruinen und Volkstypen“, die die Kamera von Georg einfing. So sorgte nicht nur die
publizistische Propaganda in den Tageszeitungen und Magazinen für die Verbreitung
der Feindbilder, auch die Fotohandlungen und die Fotoindustrie bewarben ihre Produkte in großem Umfang mit Motiven von fotografierenden Soldaten. Einige Soldaten
übernahmen die Bildbestellung und -verteilung für die Truppe. Sie notierten die Namen
der Besteller auf der Rückseite der Fotos oder in Bestellheften, schickten die Angaben
an das heimische Fotolabor, das die Fotos aus der Bestellaktion an die Front zurückschickte. Dort wurden die Fotos sortiert und verteilt.
15
16
17
18
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Stiewe, Foto und Volk.
Vgl. Wehrphotographische Mitteilungen für die Bildstellen und Labors der gesamten
Wehrmacht einschließlich der PK und der SS-Formationen, in: Photoblätter 18 (1941).
Heinz Tischer, 10 Minuten Flakfeuer; „Soldaten photographieren Soldaten“; Kriegsphotographie; B. Kretzschmar, Die Camera ging mit in den Krieg; Dr. Weizsäcker, Vom Amateur zum
Bildberichterstatter; alle Artikel in: Photoblätter 18 (1941).
Ebenda, S. 29.
„Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten
Abb. 7: Ein Soldat sortiert und beschriftet Fotos von Nachbestellungen.
Alben
Mit dem ersten Kriegsjahr gewann auch das Fotoalbum, das bereits auf eine lange Tradition zurückblickte, eine besondere Bedeutung. Zu den üblichen Familien- und Reisealben der 1920er-Jahre traten seit 1939 die vorgedruckten offiziellen Alben der Fotoindustrie mit den genormten Einbänden wie „Erinnerungen an meine Dienstzeit“, häufig mit
den Insignien Hakenkreuz, Eichenlaub und Adler.
Kriegsalben sind besondere Alben, die häufig eine von der Familiengeschichte hermetisch abgegrenzte Geschichte erzählen. Sie folgen einem inneren Aufbau, meist chronologisch, der die Kriegserlebnisse eines Menschen aus seiner ihm eigenen Wahrnehmung heraus erzählt. Einige wurden zeitnah im Fronturlaub angelegt, andere noch
während des Krieges nach einer Verwundung, wenn eine Rückkehr zur Front nicht
mehr möglich war. Viele Alben entstanden jedoch erst nach dem Krieg, häufig nach der
Kriegsgefangenschaft. Nicht alle Fotos sind in Alben geklebt, Schachteln, Kisten und
Pergamintüten dienen als Aufbewahrungsorte für Fotos, Negative, Dias und vereinzelt
finden sich auch Schmalfilme im Format Normal 8.19
In den Fotozeitschriften wurden Anleitungen zur Herstellung der Alben publiziert. Erläuterungen zu Fotokarton, Beschriftung, Format, Kleber und Fotoecken sollten die eigene Herstellung unterstützen. Das „Kriegstagebuch mit Photos, Kartenskizzen,
19
Vgl. Harriet Eder/Thomas Kufus, Mein Krieg, BRD 1989/90.
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Zeitungsausschnitten“20 stand – thematisch sortiert – neben Urlaubs- und Familienalben.
Das Album strukturiert und konstruiert die Erinnerung an den Krieg. Bei der Gestaltung der Seiten und bei der Auswahl der Fotos wurden die biografische Erzählung und
die subjektive Interpretation der Kriegsereignisse für Kameraden, Freunde und Familienangehörige schon mitgedacht. Ein entscheidendes Merkmal für das Narrativ der
Kriegsalben waren die Bildunterschriften und schriftlichen Anmerkungen zu den Fotografien. Hier zeigte sich am offensichtlichsten der Einfluss der Kriegspropaganda, wenn
zu Fotomotiven der Zivilistinnen, Zivilisten und Gefangenen in den besetzten Ländern
und an der Front die oft zynischen und abschätzigen Beschreibungen traten.
3. Polen 19. August bis 14. Oktober 1939
Ein anonymes Album des Überfalls auf Polen21 zeigt exemplarisch bereits zu Kriegsbeginn, wie genau die Hinweise für Kriegsalben befolgt und wie präzise Orts- und Zeitangaben bei der Montage von Bild und Schrift eingehalten wurden
Eingebunden in einen neutralen ockerfarbenen Umschlag umfasst das Album rund
25 Blätter aus dunklem Fotokarton mit 238 Fotografien. Der Soldat der AufklärungsAbteilung 7 der 7. Bayerischen Infanterie-Division berichtet zunächst von den Vorbereitungen der Invasion vom 19. bis 31. August 1939. Auf 15 Seiten demonstrieren rund
80 Fotos die Verlegung der Truppe nach Niederschlesien zu Übungen und weiter nach
Kreuzburg (poln. Kluczbork) und Schnorke (poln. Ciarka) für die Bereitstellung nahe
der Grenze. Fotos vom Soldatenalltag und von Kameradschaftsspielen im Gelände werden immer wieder annotiert mit „Wir hören Nachrichten“, „Wann geht es nach Polen?“
und „Letzte Vorbereitungen“. Mit der Überschrift „Einmarsch nach Polen“ beginnt die
Tag-für-Tag-Notierung des Überfalls: Am 1. September sind es Fotos von Straßen und
Brücken, Dörfern und Häusern, die den Einfall in polnisches Terrain visualisieren.
Am 3./4. September folgen den Aufnahmen der Schwadronen bei der Ortsdurchfahrt von Rawa erste Fotos von Zerstörungen und Toten: „Ruinen und Leichen“.
Dem Bildausschnitt und den oft unscharfen Bildern nach zu urteilen wurden viele
Aufnahmen vom Motorrad aus gemacht. Begegnungen mit der Dorfbevölkerung
endeten oft mit dem Raub von Tieren von den Bauernhöfen nach der später üblichen
Praxis des „Lebens aus dem Lande“: 6. September „Sie machen Fleisch“, „Da fliegen
die Federn“.
Am 10. September zeigt ein Foto den „Gefechtsstand der Schwadron“ bereits vor
Warschau mit „Sendemast“ und „Beobachter“.
Brennende Ortschaften wie Janów verweisen auf harte Kämpfe, die jedoch für die
Aufklärungs-Abteilung mit dem „Marsch in die Ruhestellung“ beendet waren. Vom
20
21
78
Hans Leonhardt, Das Photoalbum im Kriege, in: Photoblätter 20 (1943), S. 6.
Album anonym, Polen, 19. August bis 14. Oktober 1939, Münchner Stadtmuseum, Sammlung
Fotografie, Inv.Nr. 2009/253-1.
„Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten
Abb. 8: Titelseite des Albums.
Abb. 9: „Einmarsch nach Polen 1. Sept. 39“
Abb. 10: „In Rawa“
79
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Abb. 11: „In Janow“
80
„Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten
Abb. 12: „Juden und Ghetto in Opoczno“
81
petra bopp
24. September bis 10. Oktober befindet sich die Truppe in einer polnischen Fabrik in
Opoczno. Neben Ausbesserungen und militärischen Übungen fotografierte der Soldat
auch das jüdische Stadtviertel und seine Bewohnerinnen und Bewohner und bezeichnete es im Album bereits als „Ghetto“, obwohl es als solches unter der NS-Besatzung
erst im November/Dezember 1940 zwangseingerichtet wurde. Dabei bleibt er in Distanz
zu der jüdischen Bevölkerung, vermeidet Nahaufnahmen und betont in der Bildunterschrift die kulturelle Differenz: „Im Okt. noch Barfuss“.
Auf den letzten fünf Seiten des Albums erinnern sieben Fotos von Gräbern auf einem
„Heldenfriedhof“ an die deutschen Gefallenen, bevor fünf weitere Fotos den siegreichen
Einzug der Truppe unter General Eugen Ritter von Schobert in München dokumentieren.
Diese visuelle Agenda mit über 200 Fotos eines Soldaten der 3. Schwadron der
Aufklärungs-Abteilung 7 über den Zeitraum von fast zwei Monaten enthält exemplarisch schon alle Themen und Motive von privaten Alben aus dem Zweiten Weltkrieg:
Soldatenalltag im Feld, „Leben aus dem Lande“, Raub, Brand, Zerstörung, Vernichtung,
Gefangene, Verachtung gegenüber der Zivilbevölkerung, Tod. Die Montage der Fotos ist
symmetrisch gestaltet, die Beschriftung läuft gleichförmig durch. Das Album wurde mit
Sicherheit kurz nach der Invasion im Bewusstsein des siegreichen Kampfes als repräsentatives Bildwerk angelegt. Dies unterscheidet es allerdings von den Alben der künftigen
Kriegsjahre, die häufig den verlustreichen Verlauf und die oft traumatischen Ereignisse
auch in der Anlage des Albums und seinen Bildunterschriften widerspiegeln.
4. Die Bedeutung der Kriegsalben heute
Die Vielschichtigkeit der privaten Fotografie im Hinblick auf fotografische Intention,
Motive und Bedeutung unterscheidet sich von den Einzelmotiven professioneller Fotografen der Propaganda-Kompanien, die ideologisch eindeutige Aufträge zu erfüllen hatten. Mit der Aufforderung von Goebbels an die Soldaten zu Beginn des Krieges versuchte
die NS-Propaganda die private Fotografie der Knipser und Amateure weitgehend zu
kontrollieren, indem sie sie mit Kompaniealben, Bilderlisten und Ausstellungen in die
öffentliche Verbreitung miteinbezog. Aber im Lauf des Krieges verselbstständigte sich
die Sicht auf das Geschehen an der Front, auf Tod und Vernichtung. Auch explizite Fotoverbote von Exekutionen22 konnten die Soldaten nicht am Fotografieren dieser Motive
hindern. So entstanden individuell konstruierte Erinnerungsräume einer ganzen Generation, die für heutige Betrachterinnen und Betrachter den Blick frei geben auf die subjektive Sicht des Krieges. Sie zeigen, wie der Krieg gesehen wurde, nicht, wie er war.
Nach dem Krieg verschwanden die Fotokonvolute vielfach in den Schränken, die
Texte zu den Bildern, häufig vom NS-Vokabular geprägt, sollten und wollten nicht mehr
22
82
Vgl. Verordnungsblatt der Waffen-SS vom 15. Juni 1941, in: Peter Jahn/Ulrike Schmiegelt
(Hrsg.), Foto-Feldpost. Geknipste Kriegserlebnisse 1939–1945, Berlin 2000, S. 75.
„Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten
gelesen werden. Die Bilder jedoch lassen sich in ihrer Lesart nicht so eindeutig festlegen.
Sie zeugen von einem Blick, der das Geschehen nur durch den Sucher der Kamera wahrnimmt. Dies bedeutet zum einen eine massive Distanzierung, die die anderen Sinne wie
Geruch und Gehör zum Teil neutralisiert und zu einer versachlichten Wahrnehmung
des Gesehenen führt. Der dazwischen geschaltete technische Apparat führt zum „kalten Auge“,23 zur „Abtrennung des Sehvorgangs als eines rein optischen Vorgangs von
der übrigen Sinneswahrnehmung und vom Gefühlsleben“ und „befähigt zu jener ‚Härte
gegen sich selbst‘, die das höchste Tugend- und Erziehungsideal aller Militärs war“.24
Fotografieren bedeutet jedoch auch ein intensiviertes Sehen, das die Schaulust antreibt
und zum Instrument der Luststeigerung, zum „heißen Auge“ werden kann. Die Wahrnehmung im Moment des Blickes durch den Sucher entfernt die Fotografin oder den
Fotografen von der Person vor der Kamera, „[…] der andere, selbst wenn er kein Feind
ist, gilt uns nur als jemand, den man sehen kann, nicht als jemand, der (wie wir) selbst
sieht.“25
In unserer Zeit, in der kriegerische Auseinandersetzungen immer häufiger mit privaten Digitalkameras und Mobiltelefonen aufgenommen und oftmals auch an die Presse
weitergeleitet oder ins Internet gestellt werden, bekommen die privaten Blicke und die
Montage der Abzüge in den Alben auch vergangener Kriege, besonders die der beiden
Weltkriege, eine neue Bedeutung. Anders als die Autoren der Alben interessieren uns
heute nicht nur die ikonischen und indexikalischen Ebenen der Fotos für die individuelle Erinnerung, sondern vielmehr die Symbolik und die den Bildern eingeschriebenen
kulturellen Codes.26 Diese Sichtweisen unterliegen verschiedenen kulturellen und nationalen Realitätskonstruktionen, tradierten und immer wieder korrigierten, neu formulierten Darstellungsschemata, sowie den spezifischen Visualisierungsmöglichkeiten der
Medien selbst.27 Sie bilden das Reservoir für Fragen, die für weitere produktive Auseinandersetzungen genutzt werden können. „Sobald wir anfangen, von Dingen auch nur
zu sprechen, deren Erfahrungsort im Privaten und Intimen liegt, stellen wir sie heraus
in einen Bereich, in dem sie eine Wirklichkeit erhalten, die sie ungeachtet der Intensität,
mit der sie uns betroffen haben mögen, vorher nie erreicht haben.“28
23
24
25
26
27
28
Vgl. Gert Mattenklott, Kalte Augen, in: ders., Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Bd. II, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 47 ff., zit. nach Dieter Reifarth/Viktoria
Schmidt-Linsenhoff, Die Kamera der Henker. Fotografische Selbstzeugnisse des Naziterrors in
Osteuropa, in: Fotogeschichte 3 (1983) 7, S. 57–71.
Ebenda, S. 57–71.
Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, München 2003, S. 86.
Vgl. Patricia Holland, „Sweet it is to scan …“ Personal photographs and popular photography,
in: Liz Wells (Hrsg.), Photography. A critical introduction, London 1997, S. 107.
Vgl. Manuel Köppen, Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg 2005, S. 1.
Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 2001, S. 63.
83
petra bopp
Literatur
Arendt, Hannah, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 2001.
Henschel, Christhardt, Das nördliche Masowien zwischen polnischer Staatlichkeit und
deutscher Besatzungsherrschaft in der Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Deutsches
Historisches Institut (DHI) Warschau, Forschungsprogramm „Gewalt und Fremdherrschaft im ‚Zeitalter der Extreme‘“, Teilprojekt 2, www.dhi.waw.pl/forschung/for
schungsprogramm/gewalt-und-fremdherrschaft.html [17. 5. 2019].
Holland, Patricia, „Sweet it is to scan …“. Personal photographs and popular photography, in: Liz Wells (Hrsg.), Photography. A critical introduction, London 1997,
S. 107–150.
Köppen, Manuel, Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg 2005.
Mattenklott, Gert, Kalte Augen, in: ders., Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Bd. II, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 47 ff., zit. nach Dieter Reifarth/
Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Die Kamera der Henker. Fotografische Selbstzeugnisse des Naziterrors in Osteuropa, in: Fotogeschichte 3 (1983) 7, S. 57–71.
Meindl, Ralf, Ostpreußens Gauleiter: Erich Koch – eine politische Biographie, Osnabrück 2007.
Sontag, Susan, Das Leiden anderer betrachten, München 2003.
Starl, Timm, Knipser. Eine Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und
Österreich von 1880 bis 1980, München 1995.
Quellen
Anonym, Fotoalbum, Polen, 19. August bis 14. Oktober 1939, Münchner Stadtmuseum,
Sammlung Fotografie, Inv.Nr. 2009/253-1.
Der Photo-Fachhändler 8 (1937), S. 288.
Frerk, Willy, Das Erlebnis des Einzelnen ist zu einem Volkserlebnis geworden und das
durch die Kamera!, in: Photofreund (1933), S. 417.
Goebbels, Joseph, Eröffnungsrede, in: Druck und Reproduktion (1933) 1, S. 3–6.
Grobleben, Paul, Heimatfotografie. Ein neues Jahr, neue Aufgaben, in: Photofreund
(1934) 1, S. 7–8.
Kretzschmar, B., Die Camera ging mit in den Krieg, in: Photoblätter 18 (1941).
Kriegsphotographie; in: Photoblätter 18 (1941).
Leonhardt, Hans, Das Photoalbum im Kriege, in: Photoblätter 20 (1943), S. 6.
Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, Befehl an Armeen von 10. 9. 1939, zit. nach
Jochen Böhler, Die Wehrmacht in Polen 1939 und die Anfänge des Vernichtungskrieges, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hrsg.), „Größte Härte …“.
Verbrechen der Wehrmacht in Polen. September/Oktober 1939, Ausstellungskatalog,
Osnabrück 2005, S. 18.
84
„Wir glauben an die obJeKtivität der Kamera.“ private FotograFie der WehrmaChtSoldaten
Photoblätter 18 (1941), S. 29.
Reichsbund Deutscher Amateurfotografen, Fotos, die gesucht werden, in: Der FotoBeobachter (1937) 12, S. 320.
Schöppe, Wilhelm, Das neue Deutschland, Sommer Wettbewerb des Foto-Betrachters,
in: Der Foto-Beobachter (1938) 5, S. 123.
Soldaten photographieren Soldaten, in: Photoblätter 18 (1941).
Soldaten-Weihnacht 1940, in: Die Fotografie mit Spiegelreflex-Kameras (1940) 42.
Starke, Herbert, Fotografische Notizen von der Weltausstellung Paris 1937, in: Fotoblätter 14 (1937) 12, S. 370.
– Und trotzdem: Amateurphotographie!, in: Photofreund 1939, S. 349.
Stiewe, Willy, Foto und Volk, Halle 1933.
Tischer, Heinz, 10 Minuten Flakfeuer, in: Photoblätter 18 (1941).
Verordnungsblatt der Waffen-SS vom 15. Juni 1941, in: Peter Jahn/Ulrike Schmiegelt
(Hrsg.), Foto-Feldpost. Geknipste Kriegserlebnisse 1939–1945, Berlin 2000, S. 75.
Wehrphotographische Mitteilungen für die Bildstellen und Labors der gesamten Wehrmacht einschließlich der PK und der SS-Formationen, in: Photoblätter 18 (1941).
Weizsäcker, Dr., Vom Amateur zum Bildberichterstatter, in: Photoblätter 18 (1941).
Online
Deutscher Verband für Fotografie (DVF), Chronik des Deutschen Verbandes für Fotografie,
https://www.dvf-westfalen.de/dvf/Datenpool/dvf-chronik-1908-1998.pdf [22. 6. 2019].
Film
Harriet Eder/Thomas Kufus, Mein Krieg, BRD 1989/90.
85
Paweł Machcewicz
Kriegserinnerung und -wahrnehmung in Polen
Der Zweite Weltkrieg bleibt im polnischen kollektiven Gedächtnis eine Schlüsselerfahrung, die in der Belletristik, im Film, in der Massenkultur und selbstverständlich im
Schulunterricht sowie bei staatlichen Feierlichkeiten stark präsent ist. Obwohl inzwischen mehr als siebzig Jahre seit dem Kriegsende vergangen sind und der Anteil derer,
die diese Zeit selbst erlebt haben, in der heutigen Bevölkerung relativ gering ist, weckt
der Krieg in der polnischen Gesellschaft weiterhin lebhafte Emotionen und führt zu
politischen Auseinandersetzungen über die Frage, wie er interpretiert und dargestellt
werden soll. Ein Beispiel dafür ist der Konflikt um die Eröffnung des Museums des Zweiten Weltkrieges in Danzig im Jahr 2017, der sich in den vergangenen Jahren als die wichtigste und mit besonderer Vehemenz geführte öffentliche Geschichtskontroverse erwies.
Es soll hier versucht werden, in tiefere Schichten der polnischen Kriegserinnerung
und -wahrnehmung vorzudringen, die sich nicht allein auf politische Auseinandersetzungen zurückführen lassen. Diese haben im Übrigen weit mehr gemeinsam mit der sich
schnell verändernden Gegenwart und den politischen Intentionen als mit der wirklichen
Erfahrung der Jahre 1939–1945 und der Art, wie sie von der Erlebnisgeneration erinnert
oder von jüngeren Generationen wahrgenommen wird. Letztere bilden sich ihre Vorstellung vom Krieg sowohl aus dem Familiengedächtnis (dem „kommunikativen Gedächtnis“, wie es Jan Assmann bezeichnet)1 als auch aus dem kulturellen Gedächtnis, das sich
aus der Sozialisation in einer Gesellschaft ergibt, die bestimmte Muster und Rituale des
Gedenkens an gemeinschaftliche historische Erfahrungen pflegt.
Meinungsumfragen, die im Jahr 2009 im Auftrag des Museums des Zweiten Weltkrieges in Danzig von dem renommierten Warschauer Institut Pentor durchgeführt
wurden, eröffnen die Chance, eine authentische gesellschaftliche Erinnerung an den
Zweiten Weltkrieg zu rekonstruieren. Die Ergebnisse wurden von führenden polnischen
Soziologinnen und Soziologen ausgewertet, die schon zuvor zahlreiche Analysen des
polnischen historischen Gedächtnisses, nicht nur zum Bereich des Zweiten Weltkriegs,
publiziert hatten.
Die Erhebungen von 2009 waren nach dem Fall des kommunistischen Systems
1989 der erste komplexe Versuch, die Kriegserinnerung in Polen zu diagnostizieren.
Zur Zeit der Volksrepublik waren soziologische Untersuchungen wegen der politischen
Beschränkungen und der Zensur nur von begrenztem Wert. Das offizielle Gedächtnis
hatte selektiven Charakter, denn alles, was mit der Aggression, Okkupation und Repression vonseiten der Sowjetunion zu tun hatte, stand außerhalb der Betrachtung, wie beispielsweise das für die polnische Erinnerung so bedeutende Verbrechen von Katyń und
1
Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis: Zehn Studien, München 2000.
87
paWeł maChCeWiCz
der Verlust eines beträchtlichen Teils des polnischen Staatsgebietes zugunsten der Sowjetunion. Aber auch die soziologischen Forschungen nach 1989 im demokratischen und
unabhängigen Polen bezogen sich nur auf Teilbereiche der Kriegserfahrung. Sie konzentrierten sich, meist im Zusammenhang mit bestimmten Jahrestagen, auf ausgewählte
Ereignisse und Probleme. Nach 2009 wurden keine fortlaufenden, ähnlich komplexen
und systematischen Erhebungen zur Kriegserinnerung mehr durchgeführt. Daher sind
die hier skizzierten Ergebnisse die aktuellsten. Sie bilden im Grunde den einzigen ganzheitlichen Versuch, ein Bild von der Wahrnehmung des Krieges in der modernen polnischen Gesellschaft zu zeichnen.
Die Erhebungen basieren auf einer repräsentativen Stichprobe von 1200 erwachsenen Polinnen und Polen, die nach Alter, Bildungsniveau und Wohnort ausgewählt wurden. Die quantitativen Erhebungen wurden durch qualitative Daten ergänzt, die sich auf
vertiefende Gespräche in zwölf fokussierten Diskussionsgruppen stützten. Diese wurden in verschiedenen Regionen Polens geführt, die die unterschiedlichen Erfahrungen
der Jahre 1939–1945 repräsentieren. Sie umfassten demnach die 1939 an das Deutsche
Reich angegliederten Landesteile – Westpreußen (heute: Pomorze Gdańskie), Großpolen und Ostoberschlesien –, das Gebiet des von den Deutschen im Oktober 1939 geschaffenen sogenannten Generalgouvernements (Zentralpolen mit Warschau und Krakau)
sowie jene Teile des heutigen Ostpolen, die in den Jahren 1939–1941 sowjetisch besetzt
gewesen waren (u. a. das Gebiet um Przemyśl und Białystok).2
1. Kriegserfahrungen
Aus den quantitativen Daten geht hervor, dass sich die meisten Kriegserinnerungen auf
den Alltag und die Erlebnisse der Zivilbevölkerung beziehen. Über diese existenzielle
Dimension des Krieges (im Gegensatz zur „heroischen“) sprechen Frauen öfter als Männer, was sich aus ihrer traditionellen Lebenswirklichkeit ergibt (Sorge um die Kinder
und den Erhalt der Familie); dies entspricht auch Erhebungen aus anderen Ländern. In
den in polnischen Familien geführten Gesprächen über den Krieg wurde am häufigsten
das Thema Lebensbedingungen berührt (18,8 %), gefolgt vom Schicksal der Angehörigen, den persönlichen Überlebenserinnerungen (12,4 %) sowie der Zwangsarbeit für die
Deutschen (11,2 %). Die übrigen Themen, die jeweils von mehr als 5 Prozent der Befragten
angegeben wurden, lauteten: Konzentrationslager, Vernichtungslager (7,7 %), Zwangsaussiedlungen, Vertreibung vom Wohnort (7,6 %), Erfahrung von Hunger, Armut und
Mangel, schwere Zeiten (6,8 %), sowjetische Okkupation, Repressionen der Sowjetunion, Deportationen ins Innere der Sowjetunion (6,4 %), Untergrundorganisationen,
2
88
Siehe die tiefergehende Forschungsanalyse in dem Buch von Piotr T. Kwiatkowski/Lech M. Nijakowski/Barbara Szacka/Andrzej Szpociński, Między codziennością a wielką historią. Druga
wojna światowa w pamięci zbiorowej społeczeństwa polskiego, Einleitung: Paweł Machcewicz,
Historischer Kommentar: Marcin Kula, Danzig/Warschau 2010.
KriegSerinnerung und -Wahrnehmung in polen
Partisanen und Konspiration (6,0 %), Flucht, Sich-Verstecken, Vermeiden von Gefahren,
Verbergen von Besitz (5,9 %), Deutsche, Einmarsch der deutschen Wehrmacht, deutsche
Soldaten (5,9 %).
Betrachtet man nur die Gruppe der Befragten mit persönlichen Kriegserinnerungen
(d. h. der nicht nach 1936 Geborenen), kommt das Bild dem oben genannten, das sich auf
die gesamte Stichprobe bezieht, sehr nahe. Personen, die selbst Krieg und Okkupation
(die deutsche und/oder sowjetische Besatzung) erlebt hatten, benannten Erinnerungen
in der folgenden Reihenfolge: Erfahrung von Armut, Hunger und Not (9,3 %), Bombardierung, Luftangriffe (8,8 %), Zwangsaussiedlung, Vertreibung von Grund und Boden
(8,2 %), Flucht, Sich-Verstecken, Vermeiden von Gefahren (7,7 %), Verbergen von Besitz,
Einmarsch der Roten Armee 1944/1945 (7,1 %), Exekutionen, Völkermord (6,0 %) sowie
Zwangsarbeit für die Deutschen (5,5 %).
Auffällig an dieser Kriegserinnerung ist vor allem ihr „ziviler“ Charakter: Nicht
Erfahrungen von Menschen in Uniform oder von Teilnehmerinnen und Teilnehmern
der Widerstandsbewegung im Untergrund dominieren, sondern von einfachen Leuten,
die Armut, Angst und Unterdrückung durch die Besatzer erlebt hatten. Allerdings –
hierauf hat Barbara Szacka hingewiesen – spielen Verbindungen zum Widerstand auch
keine nebensächliche Rolle: Ein sehr großer Teil der Befragten gibt an, Familienangehörige gehabt zu haben, die am bewaffneten Kampf teilgenommen hatten. 39,2 % nannten
Angehörige, die während des Krieges in militärischen Einheiten gedient hatten, 28,2 %
hatten Familienmitglieder, die zu konspirativen Organisationen gehört und an verschiedenen Formen des Widerstandes teilgenommen hatten. Trotz allem wird der Krieg in
polnischen Familien überwiegend durch das Prisma der alltäglichen und allgemein
traumatischen Erfahrungen von Zivilistinnen und Zivilisten erinnert.
Dieses Bild des Krieges wurde auch durch die Gespräche in den fokussierten Diskussionsgruppen bestätigt. Selten werden darin Erfahrungen des bewaffneten Kampfes
erwähnt, dagegen beträchtlich häufiger Alltagserlebnisse von Familienmitgliedern.
„Dies verweist auf die Unterschiede zwischen dem öffentlichen Narrativ vom Krieg als
historische Erfahrung und privaten Narrativen vom Krieg als persönliche Erfahrung“,
kommentierte die Warschauer Soziologin.3
Dieser Unterschied zwischen der offiziellen Kriegserinnerung, die sich auf die heroische Dimension und den bewaffneten Kampf konzentriert, und einer Alltagserinnerung, die hauptsächlich „zivile“ Erfahrungen umfasst, ist einer der interessantesten und
wichtigsten Befunde der Meinungsforschung des Jahres 2009, die das Danziger Museum
des Zweiten Weltkriegs in Auftrag gegeben hatte. Die Ergebnisse waren mit ausschlaggebend für die Entscheidung, in der Dauerausstellung, die damals vorbereitet wurde,
vor allem die Erfahrungen der Zivilbevölkerung einzubeziehen, natürlich unter Berücksichtigung aller Aspekte des bewaffneten Kampfes, an dem Polen teilgenommen hatten. Dieser Fokus auf die Erfahrungen der Zivilistinnen und Zivilisten geriet dann in
3
Barbara Szacka, II wojna światowa w pamięci rodzinnej, in: Kwiatkowski/Nijakowski/Szacka/
Szpociński, Między codziennością a wielką historią, S. 122.
89
paWeł maChCeWiCz
den Mittelpunkt der Kritik am Museum des Zweiten Weltkriegs. Die Vorwürfe kamen
vonseiten der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) und ihrer Regierung, die seit dem
Frühjahr 2015 im Amt ist, sowie den mit ihr verbundenen Publizistinnen und Historikern. Einer der Kritiker, der im Auftrag des Ministers für Kultur und Nationales Erbe
die Ausstellung beurteilte, beanstandete, es handle sich hier vor allem um ein „Museum
des Leidens der Zivilbevölkerung“.4 Er ging aber ebenso wenig wie andere mit der PiS
verbundene Kritiker des Museums darauf ein, dass die Mehrheit der Polinnen und
Polen, wie dies die Untersuchung des Jahres 2009 deutlich gemacht hatte, den Zweiten
Weltkrieg auf genau diese Weise betrachtet.
2. Die gesamtpolnische Erinnerung und unterschiedliche
regionale Erfahrungen
Die Meinungsforschung zeigte auch eine andere wichtige Besonderheit der polnischen
Kriegserinnerung und -wahrnehmung, die in keinem der früheren soziologischen Diagnoseversuche so deutlich erfasst worden war. Als wesentliches Charakteristikum stellten
sich die regionalen Unterschiede heraus, die vom jeweiligen Kriegsschicksal der Teile
Polens abhingen, in denen die Befragten in den Jahren 1939–1945 gelebt hatten, bzw. ihre
Nachkommen, die die Erinnerungen ihrer Eltern und Großeltern kannten, lebten. Sie
sprachen beispielsweise über Erfahrungen der sowjetischen Okkupation in den Jahren
1939–1941, vor allem über den Terror und die Deportationen ins Innere der Sowjetunion.
Bei soziologischen Erhebungen in der Zeit der Volksrepublik war die Veröffentlichung
solcher Erfahrungen noch ein Tabu. Jetzt berichteten vor allem jene Befragten darüber,
die mit den östlichen Gebieten des heutigen Polen familiär verbunden waren (vor allem
mit der Umgebung von Przemyśl im Südosten und von Białystok im Nordosten) oder
mit noch weiter östlich gelegenen Landstrichen, die Polen nach dem Zweiten Weltkrieg
an die Sowjetunion verloren hatte. Im letzteren Fall waren sie selbst oder ihre Vorfahren
in den Jahren während des Krieges oder kurz danach auf das heutige polnische Staatsgebiet in den Staatsgrenzen von 1945 gezogen. In den Aussagen der Befragten wurde auch
eine andere, in der kommunistischen Zeit ebenfalls verschwiegene Erfahrung angesprochen, nämlich der Terror der ukrainischen Nationalisten, der sich in den Jahren
1943–1944 gegen die polnische Bevölkerung in Wolhynien und in Ostgalizien (an die
Sowjetunion bzw. die heutige Ukraine verlorene Gebiete) gerichtet hatte. Damals wurden etwa 100 000 polnische Zivilistinnen und Zivilisten getötet, und ein noch größerer
Teil der Polinnen und Polen musste nach Westen flüchten.
Das waren aber nicht die einzigen regionalen Unterschiede in der Kriegserinnerung,
die im Laufe der Erhebungen ans Tageslicht kamen. Sehr deutlich angesprochen wurden
4
90
Zu den Auseinandersetzungen über das Museum des Zweiten Weltkriegs und zur Kritik an seinem „zivilen“ Charakter siehe u. a. Paweł Machcewicz, Der umkämpfte Krieg. Das Museum des
Zweiten Weltkriegs in Danzig. Entstehung und Streit,Wiesbaden 2018.
KriegSerinnerung und -Wahrnehmung in polen
die besonderen Erfahrungen jener Polinnen und Polen, die in den 1939 an das Deutsche
Reich angegliederten Gebieten gelebt hatten. Dort hatten die Deutschen die Verfolgung
der Polinnen und Polen sowie die Germanisierung (u. a. Schließung aller polnischen
Institutionen, Verbot, in öffentlichen Gebäuden die polnische Sprache zu benutzen)
noch brutaler und konsequenter durchgeführt als in den Gebieten Zentralpolens, die
dem Generalgouvernement zugeschlagen wurden.
In den Aussagen der Befragten aus jenen Gebieten dominiert die Erinnerung
an den von den Deutschen verübten Terror, und einen wesentlichen Raum nimmt
die Erinnerung an die Deportationen ein, bei denen in den Jahren 1939–1940 einige
hunderttausend Polinnen und Polen aus ihren Häusern vertrieben, ihres Eigentums
beraubt und in das Generalgouvernement „umgesiedelt“ wurden. Ein wichtiger Teil
der Erinnerung, besonders in Pommern und Schlesien, bezieht sich auch auf die
erzwungene Aufnahme in die Deutsche Volksliste. Diese Germanisierungserfahrung
betraf fast drei Millionen Menschen. Hinzu kam der Dienst in der Wehrmacht, den
einige hunderttausend Männer ableisten mussten.5 Letztere konnten vorher, im Jahr
1939, Soldaten der polnischen Armee gewesen sein und später noch den polnischen
Streitkräften im Westen angehört haben, in die sie an der Westfront massenhaft aus
der Wehrmacht desertiert sind. Dies zeigt die gesamte Komplexität der polnischen
Schicksale, die in den Erhebungen gut erfasst werden konnten. Menschen, die aus den
ans Deutsche Reich angegliederten Gebieten stammen, erinnern sich auch seltener an
antideutschen Widerstand und Konspiration, was ganz natürlich ist, da die Auflehnung gegen die Besatzer in diesen Regionen bedeutend schwächer ausgeprägt war als
im Generalgouvernement, wo das Übergewicht der polnischen Bevölkerung die Basis
für die Untergrundarbeit darstellte.
Bezeichnend ist, dass die offizielle Kriegserinnerung in Polen die Erfahrungen der an
das Deutsche Reich angegliederten Gebiete in nur geringem Maße berücksichtigt. Belletristik, Filme, Schulbücher und auch das offizielle staatliche Gedenken in der Volksrepublik hatten sich auf die kommunistische Widerstandsbewegung und den Kampf an
der Seite der Sowjetunion konzentriert. Nach 1989 wurden dann vor allem der Polnische
Untergrundstaat, die Heimatarmee (Armia Krajowa, AK) und der Warschauer Aufstand 1944 thematisiert, die aber nur ein Teil der Polinnen und Polen erlebt hatte, der
zahlenmäßig nicht einmal der größte war. Diese Themen korrespondierten mit der Erinnerung derer, die auf dem Gebiet des Generalgouvernements gelebt hatten, vor allem in
Warschau. Diese Stadt war trotz des deutschen Terrors während der gesamten Kriegszeit
im besetzten Polen die geistige und politische Hauptstadt und Hauptsitz der Intelligenz
geblieben, der Gruppe mit der stärksten Vorbildfunktion. Die problematische Erfahrung mit der Volksliste und dem Zwangsdienst in der Wehrmacht wurde nur verschämt
behandelt, da sie nicht zum heroischen Bild des Widerstandes passte; im Grunde wurde
sie sowohl in der kommunistischen Zeit als auch im freien Polen nach 1989 offiziell verschwiegen.
5
Zu diesem Thema siehe Ryszard Kaczmarek, Polacy w Wehrmachcie, Kraków 2010.
91
paWeł maChCeWiCz
Das in den Erhebungen rekonstruierte Familiengedächtnis des Krieges erwies sich
als komplex und vielstimmig und in hohem Maße abhängig von der Region, aus der die
Befragten oder ihre Vorfahren stammten. Dies war ein empirischer Befund ohne ideologische oder politische Konnotationen. Trotzdem wurde er in Polen Gegenstand einer
Kontroverse. Die Kommentatoren der politischen Rechten brachten die Befürchtung
zum Ausdruck, die breit gefächerte Kriegserinnerung könnte die nationale Identität der
Polinnen und Polen schwächen, indem sie die Verschiedenartigkeit der Erfahrungen der
Jahre 1939–1945 unterstreiche anstelle ihres einheitlichen und eindeutigen Bildes, das als
Grundlage ihres Patriotismus dient.6
3. Polen und andere Nationen
Auf die Frage, welche Bevölkerungsgruppen während des Krieges besonders gelitten
hatten, nannten die Befragten am häufigsten zwei: Polinnen und Polen (93,4 %) sowie
Jüdinnen und Juden (92,2 %), alle anderen Bevölkerungsgruppen wurden in der Hierarchie im Hinblick auf das erlittene Leid beträchtlich niedriger angesiedelt. Als Nächste
in der Reihe wurden die Russinnen und Russen genannt (69,0 %). Einerseits kann man
diese Aussagen als Zeichen des Bewusstseins vom tragischen Schicksal der Jüdinnen
und Juden während des Krieges betrachten, andererseits auch als Unverständnis, dass
die jüdische Bevölkerung von den Nazis zur völligen Vernichtung verurteilt wurde, was
ihr Schicksal von dem der Polinnen und Polen unterschied, unabhängig vom massenhaften Terror und der breiten Skala des Völkermords, deren Opfer auch Letztere waren.
Generell ergaben die Erhebungen ein Bild der Polinnen und Polen als einer Nation,
die sich sowohl des eigenen Martyriums als auch ihres Heldentums bewusst ist. Fast
90 Prozent der Befragten waren der Auffassung, dass sich die Polinnen und Polen „oft“
oder „sehr oft“ im Kampf gegen die Besatzer engagiert hatten, und eine ähnlich hohe
Zahl behauptete, dass die Polinnen und Polen „oft“ oder „sehr oft“ Jüdinnen und Juden
geholfen hätten. Negative Aspekte der nationalen Geschichte werden wesentlich seltener erinnert. Immerhin haben aber über 70 Prozent der Befragten von dem Verbrechen
in Jedwabne gehört, wo im Juli 1941 polnische Einwohner dieser Ortschaft, angestiftet
von Deutschen, einige hundert jüdische Nachbarn ermordet hatten.7 Die größte Gruppe
der Befragten (37 %) wies indes auf die Verantwortlichkeit der Deutschen hin, und ein
beträchtlich geringerer Prozentsatz auf die der Polen. Die zweite Gruppe war durch
6
7
92
Dazu die Stimmen der rechten Kritiker: Andrzej Nowak, Co naprawdę przechowuje polska
pamięć, in: Rzeczpospolita, 19. August 2009; Paweł Lisicki, Przeklęta polska pamięć, in: Rzeczpospolita, 22./23. August 2009; die Erwiderung von Paweł Machcewicz, W okopach pamięci, in:
Gazeta Wyborcza, 28. August 2009.
Siehe Dazu Edmund Dmitrów/Paweł Machcewicz/Tomasz Szarota, Der Beginn der Vernichtung. Zum Mord an den Juden in Jedwabne und Umgebung in Sommer 1941. Neue Forschungsergebnisse polnischer Historiker, Osnabrück 2004.
KriegSerinnerung und -Wahrnehmung in polen
Historiker darüber informiert gewesen, was in den Jahren 2000–2001 in den Massenmedien breit besprochen worden war. Dies zeigt, wie heftig die Abwehr war, die Fakten über
schreckliche, bisher unbekannte Verbrechen unter Beteiligung der polnischen Bevölkerung oder polnischer Hilfskräfte wie die „blaue Polizei“ zur Kenntnis zu nehmen.
Interessant ist auch die Wahrnehmung anderer Nationen, besonders jener, die als
Verursacher der von den Polen erfahrenen Leiden betrachtet werden. Die Befragten verwiesen auf drei Feinde während des Krieges: die Deutschen, die Russen und die Ukrainer. An erster Stelle standen, wenn es um schlimme Erinnerungen im Familiengedächtnis ging, paradoxerweise die Ukrainerinnen und Ukrainer (63,8 %), erst nach ihnen
rangierten (wenn auch mit geringem prozentualen Unterschied) die Deutschen (62,6 %).
Dies ist angesichts der riesigen Disproportion in Bezug auf die von beiden Nationen
den Polinnen und Polen während des Krieges zugefügten Verbrechen verblüffend. Von
den Befragten sprachen auch mehr über „gute“ Kontakte zu Deutschen, die sich im Familiengedächtnis erhalten hatten, als zu Russen oder Ukrainern. Ähnlich tauchten auch in
den fokussierten Diskussionen Geschichten vom „guten“ Deutschen auf, der geholfen oder
sich wenigstens nicht so brutal verhalten habe, wie er das unter den Bedingungen von
Krieg und Besatzung hätte tun können. Dies kann ein Ergebnis der nun schon Jahrzehnte
währenden polnisch-deutschen Aussöhnung sein (in den polnisch-russischen oder polnisch-ukrainischen Beziehungen ist dieser Prozess von kürzerer Dauer und anscheinend
oberflächlicher) sowie des Abbaus von Barrieren und des gegenseitigen Kennenlernens in
größerem Ausmaß. Wie Barbara Szacka anmerkt, wurde „nach der Systemtransformation,
nach Polens Beitritt zur Europäischen Union, der Öffnung der Grenzen sowie dem damit
verbundenen freien Grenzverkehr und nachdem persönliche Kontakte geknüpft worden
waren, das Bild des Deutschen umgeformt. Die Gegenwart überwog die Vergangenheit.
Das Bild des Deutschen als ständig bedrohlicher Erbfeind, wie es während der gesamten
Zeit der Polnischen Volksrepublik propagiert worden war, ist durch die Realität unhaltbar
geworden, und damit wurden die mit ihm verbundenen Emotionen abgeschwächt.“8
Auch in diesem Fall spielten die regionale Differenzierung und das jeweils anders
gelagerte Schicksal im Krieg eine Rolle. „Wie die Erhebungen zeigen, ist sich die polnische Gesellschaft in ihrem negativen Bezug auf dieselben Kategorien von Feinden (Russen, Deutsche und Ukrainer) einig, aber in welcher Rangfolge sie erscheinen, ist von den
Kriegserfahrungen der Vorfahren und dem Familiengedächtnis abhängig. Allgemein
haben Personen, die vor dem 22. Juni 1941 unter der deutschen Besatzung gelebt hatten, ein stärker entwickeltes negatives Bild des Deutschen, während diejenigen, die sich
unter sowjetischer Besatzung befunden hatten, sich negativer über Russen und Ukrainer äußerten. Diese zweite Gruppe ist nach den Umsiedlungen und Migrationen der
Nachkriegszeit meist in den ‚wiedergewonnenen Gebieten‘ [die bis 1939 zu Deutschland
gehört hatten und 1945 von Polen übernommen wurden] ansässig.“9
8
9
Szacka, II wojna światowa, S. 123 f.
Lech Nijakowski, Regionalne zróżnicowanie pamięci o II wojnie światowej, in: Kwiatkowski/
Nijakowski/Szacka/Szpociński, Między codziennością a wielką historią, S. 221.
93
paWeł maChCeWiCz
Es wäre höchst interessant, solche Fragen zu den einzelnen Nationen nach nunmehr weiteren zehn Jahren, in einer anderen politischen und gesellschaftlichen Situation, erneut zu stellen. Wir würden dann erfahren, ob die antideutsche Propaganda der
regierungstreuen Medien in den letzten Jahren, in der Amtszeit der PiS-Regierung, das
Bild der Deutschen während des Krieges beeinflussen konnte. Ebenso interessant wäre es
andererseits zu beobachten, ob sich das Bild von den Ukrainern im Krieg angesichts der
Situation, dass zahlreiche Ukrainerinnen und Ukrainer im Laufe des letzten Jahrzehnts
in Polen erwerbstätig und für die polnische Ökonomie und einen größeren Teil der polnischen Gesellschaft unentbehrlich geworden sind, verbessern würde, wenn es im alltäglichen Zusammenleben der beiden Nationen nicht zu spürbaren Spannungen kommt.
Ebenfalls bemerkenswert sind die Antworten auf die Frage, wer für den Ausbruch
des Krieges verantwortlich sei. Die Mehrheit der Befragten gab sowohl Deutschland
als auch die Sowjetunion an. Wenn wir die Aussagen „in entscheidendem Maße“ und
„in bedeutendem Maße“ zusammenfassen, entfallen auf Deutschland 96,6 Prozent der
Stimmen und auf die Sowjetunion 79,8 Prozent. Der Unterschied ist in diesem Fall also
ziemlich beträchtlich, weist aber auch darauf hin, dass die Mehrheit der Befragten der
Sowjetunion eine Mitverantwortung zuschreibt, was die polnische Kriegserinnerung
deutlich unterscheidet von der, die zurzeit in Westeuropa oder in Deutschland selbst
vorherrscht.
4. Die Erinnerung nach dem Kommunismus
Ein wichtiger Befund der Erhebungen des Jahres 2009, 20 Jahre nach dem Ende der
Volksrepublik Polen, besteht auch darin, dass die Manipulationen des historischen
Gedächtnisses, die von den regierenden Kommunisten mit großem Aufwand an Kräften
und Mitteln über vier Jahrzehnte betrieben wurden, gegenwärtig kaum mehr sichtbar
sind. Die Erinnerung an den Krieg und seine Wahrnehmung trägt keine deutlichen politischen und propagandistischen Spuren der Verzerrungen aus dieser Zeit. Im Pantheon
der Kriegshelden gibt es auf den vorderen Plätzen keine einzige Person mehr, die mit
der kommunistischen Bewegung verbunden ist. Der Kult um sie war vor 1989 durch den
gesamten Staatsapparat, die offizielle Propaganda und die Schulen aufgebaut worden.
An erster Stelle unter denen, an die mit Anerkennung erinnert werden sollte, nennen
die Befragten General Władysław Sikorski, den Premier der Exilregierung in London
und Oberbefehlshaber der Jahre 1939–1943, sowie Władysław Anders, den Befehlshaber
des II. Corps, das an der italienischen Front gekämpft und Monte Cassino erobert hatte.
Beide wurden in kommunistischer Zeit verschwiegen oder geschmäht, Anders wegen
seiner antikommunistischen Haltung. Als Helden nannten die Befragten am häufigsten
auch Irena Sendler, die im Warschauer Ghetto jüdische Kinder gerettet hatte, worüber
man erst in jüngster Zeit allgemein zu sprechen begann, sowie die Befehlshaber und
Offiziere der Heimatarmee (Armia Krajowa, AK), General Emil Fieldorf und Rittmeister
Witold Pilecki. Beide Männer wurden nach 1945 in von den Kommunisten fingierten
94
KriegSerinnerung und -Wahrnehmung in polen
Gerichtsverfahren verurteilt und hingerichtet. Sie wurden in der Zeit bis 1989 konsequent totgeschwiegen.
Die Mehrheit der Polinnen und Polen kennt auch die grundlegenden Fakten über
die sowjetische Aggression gegen Polen 1939 und über die Verbrechen von Katyń, was
vielleicht nicht so überraschend ist, da dies trotz des Verschweigens und aller Lügen der
kommunistischen Zeit stets ein wichtiger Teil des nichtoffiziellen Familiengedächtnisses
war. Diese Themen wurden seit den 1970er-Jahren unter Umgehung der Zensur auch in
illegalen Publikationen oppositioneller Kreise konsequent aufgegriffen. Überraschender
ist wohl der Befund, dass bis zu 57 Prozent der Befragten angaben, von den während des
Krieges von Ukrainern begangenen Verbrechen an Polinnen und Polen gehört zu haben.
In kommunistischer Zeit wurde über dieses Thema überhaupt nicht gesprochen, und
auch im ersten Jahrzehnt nach 1989 wurde es selten öffentlich erwähnt.
Das historische Gedächtnis des Krieges erweist sich also langfristig als resistent
gegen politische Verzerrungen und als offen für Themen, die aus verschiedenen Gründen jahrzehntelang verschwiegen oder marginalisiert wurden. Daraus kann man optimistische, auch für die Gegenwart wichtige Folgerungen ziehen. Manipulationen von
Politikerinnen und Politikern, die Geschichte und Erinnerung als Propagandawerkzeug
und Soziotechnik benutzen, erleiden auf lange Sicht bezüglich der authentischen Schichten der Erinnerung eine Niederlage.
Literatur
Assmann, Jan, Religion und kulturelles Gedächtnis: Zehn Studien, München 2000.
Dmitrów, Edmund/Machcewicz, Paweł/Szarota, Tomasz, Der Beginn der Vernichtung.
Zum Mord an den Juden in Jedwabne und Umgebung in Sommer 1941. Neue Forschungsergebnisse polnischer Historiker, Osnabrück 2004.
Kaczmarek, Ryszard, Polacy w Wehrmachcie, Kraków 2010.
Kwiatkowski, Piotr T./Nijakowski, Lech M./Szacka, Barbara/Szpociński, Andrzej,
Między codziennością a wielką historią. Druga wojna światowa w pamięci zbiorowej
społeczeństwa polskiego, Danzig/Warschau 2010.
Lisicki, Paweł, Przeklęta polska pamięć, in: Rzeczpospolita, 22./23. August 2009.
Machcewicz, Paweł, Der umkämpfte Krieg. Das Museum des Zweiten Weltkriegs in
Danzig. Entstehung und Streit, Wiesbaden 2018.
– W okopach pamięci, in: Gazeta Wyborcza, 28. August 2009.
Nijakowski, Lech, Regionalne zróżnicowanie pamięci o II wojnie światowej, in: Piotr T.
Kwiatkowski/Lech M. Nijakowski/Barbara Szacka/Andrzej Szpociński, Między
codziennością a wielką historią. Druga wojna światowa w pamięci zbiorowej
społeczeństwa polskiego, Danzig/Warschau 2010, S. 239–286.
Nowak, Andrzej, Co naprawdę przechowuje polska pamięć, in: Rzeczpospolita,
19. August 2009.
95
paWeł maChCeWiCz
Szacka, Barbara, II wojna światowa w pamięci rodzinnej, in: Piotr T. Kwiatkowski/
Lech M. Nijakowski/Barbara Szacka/Andrzej Szpociński, Między codziennością
a wielką historią. Druga wojna światowa w pamięci zbiorowej społeczeństwa polskiego, Danzig/Warschau 2010, S. 81–132.
96
Irmgard Zündorf
„Stumme Zeugnisse 1939“
Ein studentisches Projekt zur Erinnerung
an den deutschen Überfall auf Polen
Studierende werden zunehmend dazu angehalten, sich im Studium nicht nur theoretisch mit ihren jeweiligen Themenschwerpunkten auseinanderzusetzen, sondern auch
praktische Erfahrungen in der Konzeption und Entwicklung eigener Projekte zu sammeln. Im Studiengang Public History an der Freien Universität Berlin1 ist das Ziel sogenannter Praxisprojekte, dass die Studierenden sich sowohl mit der allgemeinen Projektplanung befassen als auch Antworten auf die Frage finden, wie Geschichte einer
interessierten, aber nicht fachhistorisch vorgebildeten Öffentlichkeit präsentiert werden
kann. Als Orientierungspunkte gelten dabei sowohl geschichtswissenschaftliche als
auch geschichtsdidaktische Standards.
Die Projekte sollten stets auf dem neuesten Stand der Forschung sein, die benutzte
Literatur wie auch die Quellen nachvollziehbar ausgewiesen und die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter namentlich benannt werden. Das Projekt selbst sollte multiperspektivisch und kontrovers angelegt sein, Kontexte erläutern, Narrative vermitteln, Imaginationen ermöglichen und Emotionen ansprechen, ohne zu überwältigen. Wünschenswert
wäre zudem, dass die Projekte im Sinne der Inklusion für eine möglichst breite Öffentlichkeit konzipiert werden und wenn möglich sogar partizipativ als handlungs- und produktionsorientiertes Lernen mit dieser erarbeitet werden.2 Nicht alle genannten Aspekte
können in vollem Umfang in jedem Projekt umgesetzt werden. Die Studierenden sollten sich jedoch bei der Arbeit ihrer Verantwortung sowohl gegenüber der Gesellschaft,
der sie ihr Projekt vorstellen, als auch gegenüber den historischen Personen, deren
Geschichte sie darstellen, bewusst sein.3
Im Folgenden wird das Vorgehen im Praxisprojekt „Stumme Zeugnisse 1939. Der
deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten“ von der Klärung der Rahmenbedingungen über die Ausarbeitung der Projektidee bis hin zur Umsetzung erläutert
1
2
3
Nähere Informationen zum Studiengang finden sich auf der Website: https://www.geschkult.fuberlin.de/e/phm [8. 5. 2019].
Martin Lücke/Irmgard Zündorf, Einführung in die Public History, Göttingen 2018, S. 166.
Christoph Kühberger/Clemens Sedmak, Die Verantwortung der Historikerinnen und Historiker – Systematische Reflexionen zu einem Teilbereich einer Ethik der Geschichtswissenschaft,
in: Christoph Kühberger/Christian Lübke/Thomas Terberger (Hrsg.), Wahre Geschichte –
Geschichte als Ware. Die Verantwortung der historischen Forschung für Wissenschaft und
Gesellschaft, Rahden 2007, S. 1–26.
97
irmgard zÜndorF
und die Frage diskutiert, wie ein Studierendenprojekt nicht nur für die Öffentlichkeit,
sondern partizipativ mit dieser entwickelt werden kann und inwieweit dabei geschichtswissenschaftliche und didaktische Grundlagen berücksichtigt werden können.
1. Rahmenbedingungen
Dem Projekt stand ein Zeitraum von fast einem Jahr zur Verfügung, um die finanziellen und organisatorischen Bedingungen zu klären, eine Idee für die Ausgestaltung
zu entwickeln, die Konzeption auszuarbeiten und schließlich die Präsentation vorzubereiten. Neben dem zeitlichen Rahmen bestanden die weiteren Vorgaben darin,
dass, erstens, das Projekt organisatorisch an die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der
Wannsee-Konferenz (GHWK) angebunden wurde. Inhaltlich sollten, zweitens, private
Fotografien und Dokumente über den Krieg in Polen 1939 behandelt werden. Als Präsentationsformat war, drittens, eine Online-Ausstellung in deutscher, polnischer und
englischer Sprache angedacht, um ein möglichst internationales Publikum zu erreichen.
Vorbild war die bereits an der GHWK entwickelte Website über den Überfall auf Polen
mit Fotografien des Soldaten Kurt Seeliger.4 Das Team bestand aus Studierenden des
Masterstudiengangs Public History der Freien Universität Berlin,5 einer Projektleiterin6
aus der GHWK und einer Projektberaterin7 vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische
Forschung Potsdam (ZZF), das auch als Kooperationspartner fungierte. Darüber hinaus standen für die Vertiefung spezieller Fragen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus
der GHWK und dem ZZF sowie des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in
Dresden (MHM), das als weiterer Kooperationspartner gewonnen werden konnte, zur
Verfügung. Partnerin der Präsentationsveranstaltung im September 2019 war zudem
die Polnische Akademie der Wissenschaften. Außerdem wurde im Verlauf des Projekts
ein Finanzierungsantrag bei der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
(EVZ) gestellt und bewilligt. Damit standen Mittel für die Beauftragung einer professionellen Webagentur,8 für die Übersetzung der Texte ins Polnische und ins Englische,
für ein Lektorat und schließlich auch für die Organisation der Eröffnungsveranstaltung
zur Verfügung.
4
5
6
7
8
98
Siehe: Digitale Foto-Ausstellung zum deutschen Überfall auf Polen 1939. Aus dem Bestand Kurt
Seeligers, https://onlinesammlungen.ghwk.de/seeliger/ [8. 5. 2019] sowie den Beitrag von Svea
Hammerle in diesem Band.
Johanna Blender, Sara Elkmann, Marcel Haug, Anna Linnéa Herrmann, Michaela Hofmann,
Dario Treiber.
Svea Hammerle.
Irmgard Zündorf.
Es wurde die Agentur Culture to go beauftragt, die bereits eine Online-Ausstellung für die GHWK
umgesetzt hat.
„Stumme zeugniSSe 1939“
2. Forschungsstand
Im Sinne der oben genannten geschichtswissenschaftlichen Leitlinien musste zunächst
eine grundlegende Literaturrecherche erfolgen. Aus der Fülle der Forschungen zum
Thema hat sich die Gruppe neben verschiedenen älteren Aufsätzen9 vor allem mit
Jochen Böhlers Buch über den Überfall der Wehrmacht auf Polen auseinandergesetzt,
um den Verlauf der Kampfhandlungen und die Motivationen der deutschen Soldaten
nachvollziehen zu können.10 Böhlers grundlegende These lautet, dass bereits mit den
Kriegshandlungen im September 1939 der nationalsozialistische Vernichtungskrieg
begann. Das brutale Verhalten der Wehrmachtsoldaten spiegele sowohl die Wirkung der
NS-Propaganda wider, die vor polnischen „Freischärlern“ warnte, als auch den Einfluss
der NS-Rassenideologie, die im Bewusstsein der Soldaten bereits tief verankert gewesen
sei. Im Projekt sollte der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich diese Dispositionen auch in den privaten Fotografien und schriftlichen Aufzeichnungen der Soldaten
wiederfinden.
Neben der thematischen Literatur zum Zweiten Weltkrieg war es wichtig, Texte
zum Umgang mit Bildern und speziell zu Fotografien zu rezipieren. Allen voran sei hier
Susan Sontags Buch über Gewaltbilder genannt,11 das eine Grundlage für die Diskussion
um die Frage der Darstellbarkeit des Leidens bietet. Die Annäherung an Fotos als Quelle
der Geschichtswissenschaft erfolgte darüber hinaus mittels der Texte von Gerhard Paul
zur Visual History 12 und von Jens Jäger zur Bildforschung.13
3. Social-Media-Strategie
Das Projekt sollte gemäß den oben genannten didaktischen Leitlinien möglichst multiperspektivisch angelegt sein. Dementsprechend galt es, unterschiedliche Quellenbestände, in diesem Fall private Fotoalben und Dokumente, zu sammeln und dabei im
Sinne der Partizipation die Öffentlichkeit in das Projekt einzubinden. Da kaum noch
ehemalige Wehrmachtsoldaten leben, wurde schnell deutlich, dass nicht die Produzenten
9
10
11
12
13
Wolfgang Jacobsmeyer, Der Überfall auf Polen und der neue Charakter des Krieges, in: Christoph Kleßmann (Hrsg.), September 1939: Krieg, Besatzung, Widerstand in Polen, Göttingen
1989, S. 16–37; Horst Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg“ und seine Auswirkungen auf Nordosteuropa, in: Klaus A. Maier/Horst Rohde/Bernd Stegemann/Hans Umbreit (Hrsg.), Die Errichtung
der Hegemonie auf dem Europäischen Kontinent, Stuttgart 1979, S. 79–158.
Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M.
2006.
Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, München 2003.
Gerhard Paul, Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006; ders., Bilder des Krieges. Krieg
der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004.
Vgl. Jens Jäger, Photographie. Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung,
Tübingen 2000; ders., Fotografie und Geschichte, Frankfurt a. M. 2009.
99
irmgard zÜndorF
der Quellen die Ansprechpartner für die Sammlung waren, sondern deren Kinder und
Enkelkinder. Um diese als potenzielle Besitzerinnen und Besitzer von Fotoalben wie auch
als mögliche Interessentinnen und Interessenten des Projekts zu erreichen, entwickelten
die Studierenden eine Social-Media-Strategie. Dafür wurden zunächst die Kanäle ausgewählt, die den Studierenden als besonders sinnvoll für die öffentliche Kommunikation
erschienen. In unserem Fall waren dies Twitter, Instagram und Facebook: Twitter, um
regelmäßig kurze Nachrichten über den Projektverlauf zu publizieren; Instagram, um
dem Medium Fotografie zu entsprechen und schon einmal Einblicke in die ersten Funde
zu präsentieren; und schließlich Facebook, um eine, wenn auch aus Sicht der Studierenden bereits veraltete, Plattform für die Präsentation zu nutzen, die vielleicht noch von
einer etwas älteren Generation stärker frequentiert wird.
Den Start stellte ein Sammelaufruf dar, in dem nach einer kurzen Beschreibung
des Themas das Anliegen sowie der Zweck des Projekts erläutert wurden. Dabei sollte
deutlich werden, wer die Akteurinnen und Akteure des Projekts waren, worin das Ziel
bestand und was den potenziellen Leihgeberinnen und Leihgebern für ihre Beteiligung
geboten wurde, nämlich die historische Kontextualisierung der privaten Dokumente,
die Kinder und Enkelkinder vielleicht schon gar nicht mehr einordnen können. Die Partizipation der Öffentlichkeit sollte somit über die Abgabe von Fotos und Dokumenten
erfolgen sowie über die Weitergabe der von ihnen noch erinnerten Informationen über
die Materialien und deren Produzenten. Sehr schnell wurde jedoch deutlich, dass bei
den aktuellen Besitzerinnen und Besitzern der Materialien nur relativ wenige weiterführende Informationen vorhanden waren.
Die Social-Media-Strategie hatte über die Verbreitung des Sammelaufrufs hinaus das
Ziel, das Projekt schon vor der Veröffentlichung bekannt zu machen und es auch darüber hinaus zu begleiten. Daher haben die Studierenden regelmäßig ihre Arbeit kommentiert, aber auch auf andere ähnliche Projekte verwiesen. Um die Reichweite des Aufrufs
noch zu erhöhen, wurde zudem eine Medienkooperation mit ZEIT ONLINE und ZEIT
Geschichte eingegangen, die sowohl online als auch im gedruckten Heft „Hitlers Krieg.
1939 – Europas Weg in den Abgrund“ auf das Projekt hinwiesen.14 In der Rückschau
zeigt sich, dass bei Facebook relativ schnell ein dreistelliger „Freundeskreis“ erreicht
werden konnte und sich bei Twitter interessante Diskussionen anbahnten, die Reichweite von Instagram jedoch eher begrenzt blieb. Die meisten konkreten Angebote ergaben sich jedoch aufgrund des Aufrufs bei ZEIT ONLINE. Das bereits etablierte Medium
verfügt über eine große Leserschaft, die die User-Zahl der neu angelegten Social-MediaAccounts weit übertraf. Zugleich profitierten diese von den Verweisen auf die ZEIT und
konnten ihren eigenen Anhängerkreis erweitern.
14
100
Vgl. Hans-Christian Jasch/Svea Hammerle/Ann-Kristin Tlusty, Überfall auf Polen. Schreiben Sie
Geschichte mit, 30. 1. 2019, in: ZEIT ONLINE, https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2019-01/
ueberfall-polen-nazis-zweiter-weltkrieg-fotografien-aufruf#comments [14. 5. 2019]; Fotos gesucht,
in: ZEIT Geschichte, Epochen. Menschen. Ideen (2019) 2, S. 111.
„Stumme zeugniSSe 1939“
4. Sammlungsergebnisse
Die eingegangenen Fotoalben, Einzelbilder, Tagebücher, Briefe und sonstigen Textquellen wie Postkarten oder auch ein Fluglogbuch wurden zunächst in der Gruppe gesichtet,
bevor gemeinsam darüber beraten wurde, welche Dokumente aufgenommen und welche abgelehnt werden sollten. Entscheidendes Kriterium war der persönliche Bezug der
Schenkerin oder des Schenkers zu den Objekten. Fotos oder Alben, die von professionellen Sammlerinnen und Sammlern angeboten wurden, blieben daher unberücksichtigt.
Schließlich wurden fünf Fotoalben, vier Tagebücher, drei Briefbestände, ein Bestand an
Farbdias und ein Fluglogbuch aus dem angebotenen Material ausgewählt. Zusätzlich
konnten Kooperationspartner gewonnen werden, die weitere Quellen beisteuerten: zwei
Fotoalben und ein Konvolut aus dem Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in
Dresden sowie ein Fotoalbum aus dem Münchner Stadtmuseum.
Um neben den Fotografien von Wehrmachtsoldaten auch polnisches Material zu
bekommen, wurde der Aufruf zudem über deutsch-polnische Institutionen verbreitet.
Leider schlug diese Initiative fehl, sodass kaum private polnische Dokumente oder Fotografien in das Projekt einbezogen werden konnten. Allein sechs Fotos, die in einem Fotoalbum eines deutschen Soldaten als „erbeuteter polnischer Film“ gekennzeichnet sind,
konnten gesichtet werden. Sie zeigen sowohl Soldaten, die offensichtlich für die Kamera
mit der Waffe posieren, als auch Soldaten, die mit weiblichen Zivilisten am Tisch sitzen.
Die Gruppe entschied sich, diese Fotos mit Erläuterung ihrer Herkunft zu präsentieren,
um wenigstens einen kleinen Einblick in den polnischen Soldatenalltag bzw. in dessen
fotografische Repräsentation zu geben. Darüber hinaus sollte im Sinne der Transparenz
auf der Projektwebsite über den gescheiterten Versuch der Sammlung polnischer Fotoalben berichtet sowie im Sinne der Multiperspektivität auf passende polnische Dokumentenpräsentationen im Netz verwiesen werden.15
5. Fotos und Fotoalben als Quelle
Die Gruppe wählte den Projekttitel „Stumme Zeugnisse 1939. Der deutsche Überfall auf
Polen in Bildern und Dokumenten“, um das Thema, aber zugleich auch die Problematik
der Fotografien als Quellen zu verdeutlichen. Denn für sich genommen sind die Bilder
zunächst einmal „stumm“, erst im historischen Kontext, durch Ergänzung mit weiteren
Quellen wie Bildunterschriften oder mündlichen Aussagen der Bildproduzenten und
durch zusätzliche Erläuterungen können sie verständlich werden. Die Erläuterungen
15
So zum Beispiel die Website des KARTA Center Foundation Photographic Archive: http://www.
foto.karta.org.pl/, das Delet Portal mit Bildern der Association of the Jewish Historical Insti
tute (AJHI) und des Jewish Historical Institute (JHI): https://delet.jhi.pl/; die Website der Cen
tral Jewish Library https://cbj.jhi.pl/ und die Präsentation der National Digital Archives: https://
www.nac.gov.pl/ [14. 5. 2019].
101
irmgard zÜndorF
sollten sich auf die Ästhetik der Bilder und die ihnen „eigenen Realitäten“ beziehen,16
sind sie doch nur über die ihnen eingeschriebenen kulturellen und zeitgenössischen
Codes überhaupt zu verstehen, die wiederum erst einmal herausgearbeitet werden mussten. So wurde bei der Sichtung der ersten Fotobestände zum Beispiel schnell deutlich,
dass die Soldaten mit ihren privaten Fotos vielfach die bekannten NS-Propagandabilder
reproduzierten.17 Die Bilder zeigen, „wie der Krieg gesehen wurde – nicht, wie er war“.18
Diese Sichtweise herauszuarbeiten war eine der Hauptaufgaben des Projekts. Dabei galt
es, nicht in die Falle der eigenen Erwartung zu geraten, also zu suchen, was man finden
wollte, sondern in der Bildbetrachtung ergebnisoffen zu bleiben.
Die Studierenden gingen in der Bildanalyse in drei Schritten vor: Sie beschrieben das
auf dem Bild zu Sehende und ordneten es der entsprechenden Bildbeschriftung, sofern
vorhanden, zu. Im nächsten Schritt wurden die typischen, aber auch die besonderen
Eigenschaften des Bildes sondiert und auf dieser Basis Kategorien gebildet. Im dritten
Schritt konnten anhand der Gruppierungen schließlich Interpretationen des Dargestellten vorgenommen werden, die wiederum mit der Forschungsliteratur abgeglichen wurden.
Neben der Analyse einzelner Fotografien wurde bei der Sichtung der Alben deutlich,
dass diese eine eigene, zusätzliche Quellengattung darstellen, insofern sie eine Komposition der Fotos vornehmen. Dabei müssen nicht alle Fotos vom selben Fotografen stammen; die unterschiedlichen Bildformate lassen vielmehr darauf schließen, dass es sich
um verschiedene Urheber handelte. Dies scheint typisch für Wehrmachtsalben zu sein,
weil Fotos untereinander getauscht oder verkauft wurden. Zudem wurden Fotos der
Propagandakompanie (PK) der Wehrmacht für die privaten Alben genutzt. Mithilfe der
Quelle Fotoalbum lässt sich somit bisweilen weniger über die verschiedenen Fotografen
aussagen als über den Besitzer des Albums, der bestimmte Fotos und deren Motive ausgewählt und in einer ganz bestimmten Weise zusammengestellt und kommentiert hat.
Häufig beginnen die Alben mit dem Porträt des Albumbesitzers, gefolgt von Aufnahmen aus der Vorkriegszeit, von Übungen in der Kaserne. Erst danach wird die Zeit ab
September 1939 thematisiert. Die Alben haben somit eine Art Prolog und einen Hauptteil. Für das Projekt wurde der Frage nachgegangen, welche Bilder aus den Alben zusammen auf einer Seite präsentiert, welche Gemeinsamkeiten und Themenschwerpunkte,
aber auch Gegensätze damit betont werden sollten.
16
17
18
102
Gerhard Paul, Visual History, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29. 10. 2012, http://
docupedia.de/zg/paul_visual_history_v2_de_2012 [10. 6. 2019].
Dies entspricht einer Erkenntnis ähnlicher Projekte, siehe Petra Bopp, Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009, S. 47.
Ebenda, S. 10.
„Stumme zeugniSSe 1939“
6. Bildethik
Das Projekt legte den Fokus auf die Darstellung der abgelichteten Menschen in den
Alben. Hier galt es herauszuarbeiten, ob und wie sich die These Böhlers, dass beim
Überfall auf Polen rassistische Vorurteile der deutschen Wehrmachtsoldaten gegenüber
der polnischen und der jüdischen Bevölkerung sichtbar wurden, mithilfe der privaten
Fotografien und Dokumente belegen lässt. Mit dem Blick auf die Personen rückten Fragen der Bildethik in den Fokus. Auf einem Workshop in der GHWK wurde gemeinsam
mit Mitarbeitern aus dem Bereich der Gedenkstättenpädagogik am Beispiel der dortigen Dauerausstellung die Frage nach der ethischen Verantwortung im Umgang mit
Fotografien diskutiert, die Gewalt oder NS-Propaganda zeigen. Zur Vertiefung nahmen
einzelne Studierende auch an dem Workshop „Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im
Internet“19 am ZZF teil.
In beiden Veranstaltungen wurde deutlich, dass die ethischen Fragen im Umgang
mit Fotografien weder in Gedenkstätten noch in Online-Projekten einheitlich beantwortet, sondern jeweils von Fall zu Fall entschieden werden. Grundsätzlich einigte sich
die Gruppe darauf, keine Bilder mit diskriminierenden Inhalten zu verwenden, wenn
die Diskriminierung nicht explizit Thema der Präsentation sein sollte und als solche
in einem begleiteten schriftlichen Beitrag erläutert würde. Bilder von Leichen, nackten
oder gedemütigten Menschen sollten auf keinen Fall zu rein illustrativen Zwecken verwendet werden. Als Richtlinie für die Veröffentlichung der einzelnen Bilder galt es für
die Gruppe, jeweils die Intention der Fotografierenden und die Rolle der Fotografierten
unter der Fragestellung zu diskutieren, ob die Abgebildeten der Darstellung zugestimmt
hätten. Daher erlegte sich die Gruppe in erster Linie ein Kontextualisierungsgebot auf
und kein allgemeines Veröffentlichungsverbot. Allein Bilder von Leichen, deren Gesichter zu erkennen sind, sollten nur in einer verwischten Version gezeigt werden. Dies entspricht einer Art ungeschriebenem Gesetz, das sich von jeher in der Kriegsfotografie
finden lässt.20 Die Gruppe stellte damit die Würde der Toten über das Bestreben, den
Krieg in seiner gesamten Dimension darzustellen. Allerdings sollte die Bandbreite der
von Soldaten fotografierten Motive weiterhin deutlich werden, wozu eben auch die Leichenbilder zählen. Deshalb wurden diese Bilder nicht einfach aus dem Bestand genommen, sondern in der Präsentation belassen, jedoch ohne dass die Toten zu erkennen
waren. Nur die Bilderläuterung sollte das Bildmotiv benennen. Die Gruppe entschied
sich damit, die Bilder – immerhin also ihre historischen Quellen – in Teilen zu verändern, dies jedoch für die Betrachterinnen und Betrachter deutlich herauszustellen.
19
20
Zum Inhalt des Workshops siehe die Ankündigung „Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im
Internet“ am ZZF, https://zzf-potsdam.de/de/veranstaltungen/bildethik-umgang-bildern-iminternet [8. 5. 2019].
Sontag, Das Leiden anderer betrachten, S. 83.
103
irmgard zÜndorF
7. Konzeption der Website
Das Projekt „Stumme Zeugnisse“ konnte auf Erfahrungen ähnlicher Präsentationen
aufbauen.21 Neben dem eingangs erwähnten Projekt zum Fotobestand von Kurt Seeliger regte vor allem die Ausstellung „Fremde im Visier – Fotoalben aus dem Zweiten
Weltkrieg“22dazu an, eigene Ideen zu entwickeln. Sandra Starke, eine der beiden Kuratorinnen der Ausstellung, konnte für ein Gespräch gewonnen werden, in dem sie ihre Herangehensweise bei der Sammlung von privaten Fotoalben sowie bei der Auswahl einzelner Bilder und ihrer Präsentation darlegte. Diese Ausstellung, die, ähnlich wie das hier
skizzierte Projekt, vor allem private Fotoalben von Wehrmachtsoldaten zeigte, nahm in
vielerlei Hinsicht eine Vorbildfunktion ein. Allerdings war sie von Anfang an als analoge Ausstellung in einem Museum geplant, umfasste den gesamten Zweiten Weltkrieg
und baute auf einem Forschungsprojekt zu privaten Kriegsfotografien von Wehrmachtsoldaten auf.23 Das hier beschriebene Projekt hingegen nutzte allein die Forschungsergebnisse Dritter, konzentrierte sich auf den ersten Monat des Zweiten Weltkrieges und
war für eine Online-Darstellung konzipiert.
Die grundlegende Entscheidung für den Aufbau der Präsentation betraf die Sortierung der Bilder und Dokumente. Einerseits war bei der Sichtung der Alben deutlich
geworden, dass es einzelne Themen gab, die in allen Alben immer wieder auftauchen und
daher auch gemeinsam präsentiert werden sollten. Andererseits bestand Konsens unter
den Studierenden, dass nicht nur einzelne Fotos gezeigt werden sollten, sondern auch
komplette Alben. Daher entschied sich die Gruppe für eine Website mit zwei Zugängen
zu den Quellen: einerseits über die Rubrik „Themen“ und andererseits über das „Archiv“.
Unter „Themen“ sollten einzelne Fotos und Dokumente unter einem Oberbegriff zusammen präsentiert und erläutert werden,das „Archiv“ hingegen die zusammenhängenden
Bestände zeigen. Texte sollten in beide Kategorien einführen. Darüber hinaus war vorgesehen, ausgewählte Fotos im Bereich „Themen“ zusätzlich vertiefend zu beschreiben,
um auf die besonderen oder typischen Elemente hinzuweisen.
Für die Themenauswahl konnten die Fotos zunächst danach sortiert werden, ob
sie Menschen oder vor allem Landschaften, Gebäude und Gerätschaften zeigten. Wie
angedeutet, lag der Fokus der weiteren Betrachtung auf Menschen. Bei ihnen konnte
grob zwischen Fotos unterschieden werden, die Wehrmachtsoldaten oder die polnische
Bevölkerung zeigen. Nur auf wenigen Bildern sind beide Gruppen gemeinsam abgelichtet. Auf diesen sind entweder sogenannte Volksdeutsche zu sehen, die freudig die Wehr-
21
22
23
104
Dazu zählten allgemeine Portale zur Deutschen Geschichte mit Themenschwerpunkten zum
Zweiten Weltkrieg wie die Website: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/
kriegsverlauf/ueberfall-auf-polen-1939.html oderauch die sehr spezielle polnische militärhistorische Webseite: http://www.1939.pl/galerie/prywatne/index.html [14. 5. 2019].
Vgl. die Webseite zur Ausstellung „Fremde im Visier – Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg“:
http://www.fremde-im-visier.de/ [8. 5. 2019].
Das Forschungsprojekt: http://www.fremde-im-visier.de/forschungsprojekt.html [10. 6. 2019].
„Stumme zeugniSSe 1939“
machtsoldaten begrüßen, oder polnische Gefangene, die im Kreis ihrer deutschen Bewacher als eine Art Kriegstrophäe präsentiert werden.
Der Großteil der Bilder trennt jedoch klar zwischen den deutschen Soldaten, dem
„wir“, und der polnischen Bevölkerung, den „anderen“. Die Selbstdarstellung der Deutschen findet sich zunächst häufig in gestellten Gruppenfotos. Daneben existieren vor
allem Bilder des sogenannten Soldatenalltags, die wie Schnappschüsse erscheinen. Sie
lassen sich wiederum in die Schwerpunkte Essen/Verpflegung, Körperpflege und Spiele
untergliedern. Der eigentliche Krieg findet sich schon deshalb kaum in den Fotos, weil
die Soldaten während der Kampfhandlungen in der Regel nicht fotografieren konnten.
Nur wenige Bilder behandeln aber auch Krankheit und Verletzungen bzw. das Lazarett.
In fast allen Alben wird jedoch das Thema „Tod“ in der Darstellung deutscher Kriegsgräber aufgegriffen.
Die polnische Bevölkerung wird in den Bildunterschriften unterschieden in „Soldaten“ bzw. „Kriegsgefangene“, „Zivilisten“, „Juden“, „Zigeuner“ oder allgemein „Flüchtlinge“. Thematisch zeigen die meisten Fotos Menschen auf der Flucht bzw. auf Wagen
oder zu Fuß unterwegs. Sie blicken überwiegend starr oder ängstlich in die Kamera. Es
wurden aber auch Leichen fotografiert. Eine besondere Gruppe stellen zudem die bereits
erwähnten „Volksdeutschen“ dar, die immer mit freudigem oder freundlichem Gesichtsausdruck abgelichtet sind. Neben der Darstellung der Menschen finden sich Fotos von
Militärfahrzeugen und Kriegsgerät, von Landschaften, unversehrten oder auch zerstörten Städten und Gebäuden.
8. Fazit
Mithilfe privater Fotografien, von Briefen und Tagebucheinträgen sollte die OnlineAusstellung „Stumme Zeugnisse“den privaten Soldatenblick abbilden – bzw. den
Blick, den die Soldaten für ihre Angehörigen und die Nachwelt festgehalten und
zusammengestellt hatten. Gemäß den eingangs genannten Leitlinien war die Präsentation multiperspektivisch und kontrovers angelegt, sie sollte Kontexte erläutern, Narrative vermitteln, Imaginationen ermöglichen und Emotionen ansprechen, ohne zu
überwältigen. Vor allem die Multiperspektivität konnte aus den relativ homogenen
Quellen jedoch nicht immer gewährleistet werden. Vielmehr wurde deutlich, dass die
deutschen Soldaten Bilder der NS-Propaganda reproduzierten. Die Selbstdarstellungen zeigen gesunde, kräftige, überwiegend freundlich blickende Wehrmachtsoldaten,
die sich vor allem mit Essen, der eigenen Hygiene oder Spielen beschäftigen. Nicht
thematisiert aber wurden die Schrecken des Krieges. Die Fotos, die die Soldaten von
Polinnen und Polen gemacht hatten, zeigen hingegen verängstigte, armselig wirkende
und schlecht gekleidete Menschen. Der Blick auf sie ist eindeutig abwertend, wie nicht
nur die Fotos, sondern auch die Bildunterschriften sowie Tagebucheinträge und Briefe
belegen. Die starke Ähnlichkeit der verschiedenen Alben und Dokumente ließ sich nur
durch transparente Erläuterungen verständlich machen. Im Ergebnis wurde deutlich,
105
irmgard zÜndorF
dass der Blick der Soldaten eben gerade nicht multiperspektiv war, sondern ganz im
Gegenteil fast einheitlich die überhöhte Perspektive des Siegers auf den vermeintlich
unterprivilegierten Besiegten widerspiegelt.
Literatur
Böhler, Jochen, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006.
Bopp, Petra, Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009.
Jacobsmeyer, Wolfgang, Der Überfall auf Polen und der neue Charakter des Krieges,
in: Christoph Kleßmann (Hrsg.), September 1939: Krieg, Besatzung, Widerstand in
Polen, Göttingen 1989, S. 16–37.
Jäger, Jens, Fotografie und Geschichte, Frankfurt a. M. 2009.
– Photographie. Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung,
Tübingen 2000.
Kühberger, Christoph/Sedmak, Clemens, Die Verantwortung der Historikerinnen
und Historiker – Systematische Reflexionen zu einem Teilbereich einer Ethik der
Geschichtswissenschaft, in: Christoph Kühberger/Christian Lübke/Thomas Terberger (Hrsg.), Wahre Geschichte – Geschichte als Ware. Die Verantwortung der historischen Forschung für Wissenschaft und Gesellschaft, Rahden 2007, S. 1–26.
Lücke, Martin/Zündorf, Irmgard, Einführung in die Public History, Göttingen 2018.
O. V., Fotos gesucht, in: ZEIT Geschichte, Epochen. Menschen. Ideen (2019) 2, S. 111.
Paul, Gerhard, Bilder des Krieges. Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen
Krieges, Paderborn 2004.
– Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006.
Rohde, Horst, Hitlers erster „Blitzkrieg“ und seine Auswirkungen auf Nordosteuropa,
in: Klaus A. Maier/Horst Rohde/Bernd Stegemann/Hans Umbreit (Hrsg.), Die
Errichtung der Hegemonie auf dem Europäischen Kontinent (Das Deutsche Reich
und der Zweite Weltkrieg, Bd. 2), Stuttgart 1979, S. 79–158.
Sontag, Susan, Das Leiden anderer betrachten, München 2003.
Online
Association of the Jewish Historical Institute in Poland, https://delet.jhi.pl/ [14. 5. 2019].
Bopp, Petra, Fremde im Visier – Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, http://www.
fremde-im-visier.de/ [8. 5. 2019].
Central Jewish Library, https://cbj.jhi.pl/ [14. 5. 2019].
Deutsches Historisches Museum, Der Überfall auf Polen 1939, https://www.dhm.de/
lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/ueberfall-auf-polen-1939.html
[14. 5. 2019].
106
„Stumme zeugniSSe 1939“
Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Digitale Foto-Ausstellung
zum deutschen Überfall auf Polen 1939. Aus dem Bestand Kurt Seeligers, https://
onlinesammlungen.ghwk.de/seeliger/ [8. 5. 2019].
Jasch, Hans-Christian/Hammerle, Svea/Tlusty, Ann-Kristin, Überfall auf Polen.
Schreiben Sie Geschichte mit, 30. 1. 2019, in: ZEIT ONLINE, https://www.zeit.de/
wissen/geschichte/2019-01/ueberfall-polen-nazis-zweiter-weltkrieg-fotografienaufruf#comments [14. 5. 2019].
Kampania Wrześniowa 1939, http://www.1939.pl/galerie/prywatne/index.html
[14. 5. 2019].
KARTA Center Foundation Photographic Archive, http://www.foto.karta.org.pl/
[14. 5. 2019].
National Digital Archives, https://www.nac.gov.pl/ [14. 5. 2019].
Paul, Gerhard, Visual History, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29. 10. 2012,
http://docupedia.de/zg/paul_visual_history_v2_de_2012 [10. 6. 2019].
Public History Master an der Freien Universität Berlin, https://www.geschkult.fu-berlin.
de/e/phm [8. 5. 2019].
Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), Ankündigung zum Workshop
„Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet“, https://zzf-potsdam.de/de/veran
staltungen/bildethik-umgang-bildern-im-internet [8. 5. 2019].
107
Abb. 1: Das Fotokonvolut
108
Svea Hammerle
Ein Fotokonvolut zum Überfall auf Polen
Die Aufnahmen des Batterieführers Kurt Seeliger
Im Jahr 2015 übergab M. Seeliger der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der WannseeKonferenz eine Kiste mit der Bitte, deren Inhalt der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
In der Kiste befanden sich 97 Fotografien, die vor, während und nach dem Überfall auf
Polen zwischen August und Oktober 1939 von seinem Großvater Kurt Seeliger zusammengestellt und auf Pappbögen aufgeklebt wurden. Auf der Rückseite hatte dieser jede
Fotografie mit Kommentaren, die Mehrzahl auch mit Datums- und Ortsangaben, in
Sütterlinschrift versehen. Drei Jahre später konnte die Gedenk- und Bildungsstätte dank
einer Förderung des Forschungs- und Kompetenzzentrums Digitalisierung Berlin (digiS)
dieses Fotokonvolut digitalisieren. Zusätzlich wurden die Meta- und Geodaten erfasst
und der historische Hintergrund – mit der Hilfe von Experten und Expertinnen aus den
Bereichen der Militär- und Geschichtswissenschaft – recherchiert. Die Ergebnisse wurden im November 2018 in einer Online-Ausstellung1 der Öffentlichkeit präsentiert.
Der Wert dieser Quelle liegt nicht nur in der Darstellung des Krieges, den der
geschickte Fotograf Kurt Seeliger in teils aufwendigen Inszenierungen eindrücklich
visualisierte. Darüber hinaus können das Arrangement und die Kommentierung der
Fotografien einen Einblick in seine – offenbar durch die nationalsozialistische Propaganda geprägte – Interpretation des Krieges und seinen Blick auf das eroberte Polen
geben. Welche Motive wählte der Fotograf? Wie wurden Sieger und Besiegte, Täter und
Opfer des Krieges präsentiert? Welche zusätzlichen Informationen gab Seeliger in den
Kommentaren und welche verschwieg er?
1. Zur Person des Fotografen
Kurt Bruno Seeliger wurde am 26. Januar 1895 in Harwood, Australien geboren. Sein
Vater Paul Seeliger war 1885 von Braunschweig nach Australien ausgewandert, um an der
Ostküste eine Zuckerfabrik für die Colonial Sugar Company zu leiten. Als Kurt Seeliger
zehn Jahre alt war, kehrte die Familie nach Braunschweig zurück. Dort machte er 1914
das Abitur. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Frontsoldat „hauptsächlich im Osten“2 teil
1
2
Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Digitale Foto-Ausstellung zum
deutschen Überfall auf Polen 1939. Aus dem Bestand Kurt Seeligers, https://onlinesammlungen.
ghwk.de/seeliger [28. 5. 2019].
Familiengeschichtliche Aufzeichnungen der Familie Seeliger, unveröffentlicht, S. 15.
109
Svea hammerle
Abb. 2: Porträt Kurt Seeligers um 1950
und studierte anschließend Architektur an der Technischen Hochschule Braunschweig.
1922 heiratete er. Mit seiner Frau Edith, hatte er vier Kinder. Seeliger wurde Regierungsbaurat für das Land Braunschweig und leitete in den späten 1920er- und 1930er-Jahren
die Hochbauämter in Wolfenbüttel und Blankenburg.3
Bereits am 1. Mai 1933 trat Seeliger in die NSDAP und SA-Reserve ein und wurde bis
1936 Mitglied mehrerer nationalsozialistischer Organisationen, darunter des NS-Beamtenbundes, des Nationalsozialistischen Bundes Deutscher Technik, des Reichskolonialbundes und des Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen.4 Am deutschen Überfall auf Polen nahm Kurt Seeliger als Hauptmann der Reserve der 1. Batterie
der motorisierten Beobachtungs-Abteilung 13, einer Gliederung der 13. Infanterie-Division, teil. Diese gehörte wiederum zur 10. Armee der Heeresgruppe Süd und stieß von
Schlesien aus über Wieluń und Radom bis nach Puławy an der Weichsel vor. Schließlich
war seine Einheit an der Schlacht bei Kock, der letzten dieses Feldzugs, beteiligt.5
3
4
5
110
Ebenda, S. 14–17.
Niedersächsisches Landesarchiv (NdsLA), 3 Nds 92/1 Nr. 12814, Entnazifizierungsakte Seeliger,
o. P.
Veit Scherzer, Deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg, Bd. 4: Die Divisionen. Divisionen und
Brigaden mit den Nummern 9 bis 14. Gliederung, Kommandeure, Einsatz, Inhaber höchster
Auszeichnungen, Bayreuth 2008, S. 328 f.
ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen
Während die Tätigkeit der Infanterie-Division in Grundzügen bekannt ist, gibt es
nur wenig Sekundärliteratur zur Geschichte und Funktion der Beobachtungs-Abteilungen. Bei den publizierten Titeln handelt es sich überwiegend um unkritische MilitariaDarstellungen oder Erinnerungsberichte der ehemaligen Mitglieder der Einheiten, wie
zum Beispiel Hermann Kochs Buch „1937 bis 1945. Die Geschichte der Beobachtungsabteilung 13“, dessen Ziel es ist, „die Einsätze und Erlebnisse unserer stolzen Bb [Beobachtungs-Abteilung] 13 in chronologischer Reihenfolge aufzuzeichnen“.6 Eine wissenschaftliche Untersuchung zur Rolle und Funktion dieser Einheiten steht hingegen noch aus.
Beobachtungs-Abteilungen bestanden aus Vermessungs-, Schall-, Licht-, Ballon-, und
Wetterdiensten, die sich bei der Bestimmung der Position der gegnerischen Geschütze
und Stellungen gegenseitig ergänzten.7 Zu ihren Aufgaben gehörte es, „aus verdeckter
Stellung feuernde feindliche Artillerie aufzuklären und die eigene schwere Artillerie
darauf einzuschießen“.8 Darüber hinaus waren sie an der schnellen Nachrichtenverbreitung an der Front beteiligt. Seeliger führte eine Batterie der Beobachtungsabteilung.
Es liegt nahe, dass er sich bei diesem Einsatz auch auf seine mathematisch-technischen
Fähigkeiten stützen konnte, die er in seinem Studium und seiner beruflichen Tätigkeit
erworben hatte.
Die Beobachtungs-Abteilung 13 war seit 1938 in Calbe an der Saale stationiert. Im
Mai 1938 nahm Seeliger auf dem Truppenübungsplatz Groß Born (heute: Borne Sulinowo) an Sonderkursen für Reservisten, Reserveoffiziersanwärter und Unterführer teil.
Offiziell wurde er ab 1. August 1939 als Reserveoffizier der 1. Batterie der BeobachtungsAbteilung 13 zugeordnet.9 Von ihrem Bereitstellungsort Scheidelwitz (heute: Szydłowice)
aus überquerte die motorisierte Abteilung in der Nacht vom 2. auf den 3. September die
deutsch-polnische Grenze und rückte in den folgenden Wochen in nordöstlicher Richtung über Wieluń, Radom, Końskie und Zwoleń bis an die Weichsel vor. Ende September
bis Anfang Oktober lag die Einheit westlich der Weichsel in Antoniówka, bevor sie bei
der Schlacht bei Kock eingesetzt wurde.
Mit dieser Schlacht endeten am 6. Oktober 1939 – nach der Kapitulation des polnischen Generals Franciszek Kleeberg– die Kampfhandlungen. Nach Ihrem Einsatz
kehrte die Beobachtungs-Abteilung 13 nach Calbe an der Saale zurück. In seinem Erinnerungsbuch schildert Hermann Koch die Heimkehr der Abteilung: „Über Oels, Breslau
und Magdeburg verlegten die Batterien ihren Standort [nach] Calbe/Saale. Unter dem
Jubel der Bevölkerung zogen die Einheiten am 14. Oktober 1939 wieder in das Kasernengebäude ein.“10
6
7
8
9
10
Hermann Koch, 1937 bis 1945. Die Geschichte der Beobachtungsabteilung 13, o. O. 1970, Dankeswort nicht paginiert.
H. J. Froben, Aufklärende Artillerie. Geschichte der Beobachtungsabteilungen und selbständigen Beobachtungsbatterien bis 1945, München 1972, S. 45.
Koch, Beobachtungsabteilung 13, S. 13.
Ebenda, S. 25–31.
Ebenda, S. 37.
111
Svea hammerle
Vom 22. April bis zum 22. Juni 1940 gehörte Kurt Seeliger der in Braunschweig stationierten Beobachtungsersatzabteilung 31 an.11 Da er als gebürtiger Australier vormals die
britische Staatsangehörigkeit besessen hatte, wurde er bis Juni 1941 vom Militärdienst
zurückgestellt und nahm nicht am Krieg gegen Frankreich teil.12 1942 wurde Seeliger
zum Major der Reserve befördert und war zunächst als Regimentsführer, ab 1943 als
Bataillonsführer, Teil einer Kraftfahrparktruppe in Russland und Italien.13
Gegen Ende des Krieges geriet er in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung
traf er seine Familie in Bad Harzburg, dem Heimatort der Schwiegereltern, wieder. Seeliger wurde im Rahmen seines Entnazifizierungsverfahrens aus dem Staatsdienst entlassen und schlug sich die nächsten Jahre als Drechsler, Büromaschinenvertreter und
mit kleinen Bauaufträgen durch.14 Gegen die Entnazifizierungsentscheidung und die
ursprüngliche Einstufung in Kategorie III („Mitläufer“) legte er erfolgreich Berufung
ein und wurde am 14. Dezember 1948 in Kategorie IV heruntergestuft, da „kein Grund
zur Annahme [bestünde], dass er den Nationalsozialismus wesentlich gefördert [habe]
oder Nutznießer desselben gewesen [sei]“.15 Im August 1949 konnte er seine Stelle als
Regierungsbaurat und Leiter des Hochbauamtes Wolfenbüttel wieder erlangen. Kurt
Seeliger starb am 18. Juli 1968 in Bad Harzburg.
2. Die Quelle
Bei dem Fotokonvolut von Kurt Seeliger handelt es sich nicht um ein „Wehrmachtsalbum“, sondern um eine Fotosammlung. Die Negativabzüge auf Sibergelatinepapier
sind auf graue Pappbögen in den Maßen 33 x 24 cm aufgeklebt. Seeliger versah jede Fotografie mit einem sorgfältig von Hand gezogenen Rahmen.
Die Fotografien selbst haben variable Maße, meist um die 12 x 17 cm. Der letzte
Bogen des Bestands zeigt exemplarisch die Originalgröße der ursprünglichen Abzüge
mit dem üblichen Maßen 6,5 x 6,5 cm. Die meisten Abzüge sind matt, einige wenige
glänzend, und auch die weißen Bildränder sind nicht einheitlich in ihrer Breite. Diese
Unterschiede weisen darauf hin, dass das Konvolut nicht in toto in einem Fotolabor entwickelt wurde, sondern dass dies möglicherweise an unterschiedlichen Orten und in
verschiedenen Arbeitsschritten geschehen ist. Hierfür sprechen auch die Hinweise auf
verschiedene Fotografen: Die Mehrheit der Fotografien stammt wohl von Seeliger selbst:
74 der 97 Bilder signierte er mit seinem Namen. Drei Abzüge stammen laut Signatur von
einer Person namens Reinhardt und 20 sind unsigniert.
11
12
13
14
15
112
Auskunft der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von
Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt) vom 15. 8. 2018.
NdsLA, 3 Nds 92/1 Nr. 12814, Entnazifizierungsakte Seeliger, o. P.
Ebenda.
Familiengeschichtliche Aufzeichnungen der Familie Seeliger, S. 17.
NdsLA, 3 Nds 92/1 Nr. 12814, Entnazifizierungsakte Seeliger, o. P.
ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen
Abb. 3: Rückseite des ersten Bogens mit
„Laufende Nummer“ und „Bestellnummer“
Die Pappbögen sind rückseitig mit zwei Nummerierungen versehen. In arabischen
Zahlen sind alle Bögen durchlaufend von 1 bis 97 nummeriert und in chronologischer
Reihenfolge – entsprechend den angegebenen Daten – geordnet. 76 Bögen haben zusätzliche römische Ziffern, die auf dem ersten Bogen als Bestellnummern ausgewiesen werden.
Da es sich bei diesen Fotografien immer um von Seeliger signierte handelt, liegt die
Vermutung nahe, dass er diese Bilder seinen Kammeraden für Abzüge angeboten hat.16
Nur Bild 34 ist unsigniert und trotzdem mit einer Bestellnummer versehen. Da der rückseitige Kommentar (Abb. 4) Seeliger eindeutig als Fotografen des Bildes ausweist, ist zu
vermuten, dass er schlicht vergessen haben könnte, das Bild zu signieren.
Sechs der unsignierten Bilder unterscheiden sich erheblich vom übrigen Bestand.
Sie sind auf glänzendem Sibergelatinepapier abgezogen, haben einen breiteren Rand
und auch die Farbtiefe erscheint qualitativ besser. Diese Bilder zeigen Generalleutnant
Paul Otto, Kommandeur der 13. Infanterie-Division, und den General der Panzertruppen Traugott Herr während der Kapitulation des polnischen Generals Franciszek Kleeberg nach der Schlacht von Kock. Die Qualität der Fotografien und die Motivauswahl
legen nahe, dass sie von einer Propagandakompanie der Wehrmacht stammen.17 Seeliger
16
17
Vgl. hierzu den Beitrag von Petra Bopp in diesem Band.
Vgl. ebenda.
113
Svea hammerle
Abb. 4: Bild 34
*
114
Abb. 5: Bild 34.
„8. 9. 1939. Poln.[ische] Bauernfamilie beim
Mittagbrot – gekochte Kartoffeln mit Milch –
in einem Dorf vor Govarczov*. Die Armut der
Bauern ist unbeschreiblich. An Möbelstücken
standen auf dem Lehmfußboden der Küche
nur zwei Bettstellen mit Stroh, eine Bank und
zwei Stühle. Die Leute hatten ihr Sonntagszeug an, um es leichter retten zu können. Die
Aufnahme ist nicht gestellt. Ich wollte mich
bei einer kurzen Rast am Brunnen waschen,
als ich durch das Fenster das hübsche Bild sah
und dann von der Tür aus schnell die Aufnahme machen konnte.“
Die fehlerhafte Schreibweise der polnischen Ortsnamen wird mit Rücksicht auf den Lesefluss in
den Zitaten wie im Original belassen und nicht mit [sic] ausgezeichnet. Die korrekte Schreibweise findet sich in der Online-Ausstellung.
ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen
war zwar zum gleichen Zeitpunkt bei Kock, da ein Teil der 13. Infanterie-Division „zum
Abtransport der Gefangenen und vor allen Dingen der Beute zur Verfügung [stand]“.18
Seine eigenen Bilder haben als Motiv jedoch die polnischen Kriegsgefangenen und nicht
die hochrangigen Generäle.
Alle Pappbögen sind rückseitig von Seeliger in Sütterlinschrift kommentiert. Bei
einigen dieser Kommentare handelt es sich um kurze Bildunterschriften, bei anderen
um ausführliche Schilderungen des Gezeigten, des militärischen Geschehens oder um
anekdotische Erzählungen. Über seine Tätigkeit für die Beobachtungs-Abteilung 13 finden sich hingegen keine Angaben. Auch seine Einstellung zum Krieg reflektiert Seeliger
nicht ausdrücklich. Hinweise auf seine Haltung lassen sich jedoch „zwischen den Zeilen“ seiner Kommentare und in der Motivauswahl seiner Fotografien finden.
Einige Kommentare erscheinen in dieser Hinsicht wie ein Kriegstagebuch. Ob Seeliger ein solches geführt hat oder die Kommentare nachträglich aus der Erinnerung
schrieb, ist nicht bekannt. Ungeachtet dessen müssen sie als historische Quelle kritisch
geprüft werden. Hierzu wurden die in ihnen erwähnten Orte, Daten und militärischen
Ereignisse mit dem Kriegstagebuch der 13. Infanterie-Division abgeglichen.
So zeigt zum Beispiel Bogen 42 ein Bild eines deutschen Panzers im Wald. Der rückseitige Kommentar schildert ausführlich die Bewegungen von Seeligers Einheit:
„9.–10. 9. 1939. Der Marsch auf Warschau ist für Teile der Division abgeblasen.
Unser I.R. [Infanterie-Regiment] 33 und 66 sind gestern vor Warschau eingetroffen. Wir werden mit dem Rest der der [sic] Division bei Radom eingesetzt. Die
Sonne brennt unbarmherzig und der Staub setzt sich wie eine Kruste auf alles.
Es geht nur sehr langsam vorwärts über Odrzyvol, Klwov, Przytyk, Jedlin. Gegen
Morgen fuhren wir durch das geräumte Radom in Richtung Kozienice. Da aus
allen Richtungen geschossen wurde, wußte keiner, was vorn und hinten war.
Die Nacht wurde wieder durchgefahren, ohne Licht im dichten Staub. Die Wege
waren grundlos, nichts war zu sehen, jeder fuhr blindlings in der Richtung des
vor ihm brummenden Motors seines Vordermannes. Wehe dem Fahrzeug das
liegen blieb. Die Augen brannten vor Staub und Überanstrengung. Als die Sonne
aufging überholten uns Panzerabteilungen im Walde vor Slezki.“
Das Kriegstagebuch der 13. Infanterie-Division berichtet für den 9. September von
„unbeschreiblich schlechten Wegen“ und dass „im Walde nördl. Jedlinsk [sic]starker
Feind gemeldet“ werde. Der Großteil der Division sei „von Jedlinsk [sic] über Radom in
das Waldgelände halbwegs Radom, Kozeniece [sic] beiderseits der Straße Radom, Kozeniece [sic] in Marsch zu setzen“.19 Für den 10. September findet sich der Vermerk für
18
19
Bundesarchiv (BArch), RH 26-13/1, Kriegstagebuch der 13. Division (mot), Eintrag vom
6. 10. 1939, S. 49.
BArch, RH 26-13/1, Kriegstagebuch der 13. Division (mot), Eintrag vom 9. 9. 1939, S. 15 f.
115
Svea hammerle
Abb. 6: Itinerar der Beobachtungs-Abteilung 13 am 9. und 10. September 1939
die Beobachtungs-Abteilung 13: „In Stellung westl. Sieciechow [sic]“.20 Somit konnte ihr
Marschweg rekonstruiert und ihr Aufenthaltsort am 10. September als das Waldgebiet
zwischen Kozienice und Sieciechów bestimmt werden.
Insgesamt zeigte sich, dass sich Seeligers Einheit tatsächlich an den genannten Daten
in den angegebenen Orten befand. Damit bestätigt das Kriegstagebuch die Chronologie
der Fotografien und das dort widergespiegelte Itinerar.21
Nicht überprüfen ließen sich hingegen die anekdotischen Erzählungen Seeligers,
so zum Beispiel die Schilderung der Ereignisse in Drzewica, die später ausführlicher
behandelt werden. Hierfür wäre eine intensive Recherche nach überlieferten Augenzeugenberichten in polnischen Archiven nötig, die im Rahmen dieses Projekts nicht
geleistet werden konnte. Das Kriegstagebuch der 13. Infanterie-Division beinhaltet keine
Belege für diese Erzählungen, da es sich bei ihnen häufig um Berichte über Gewalthandlungen handelt, die von Wehrmachtsoldaten an der polnischen oder polnisch-jüdischen
Bevölkerung verübt wurden.
20
21
116
BArch, RH 26-13/1, Kriegstagebuch der 13. Division (mot), Eintrag vom 10. 9. 1939, S. 17.
Für die digitale Präsentation dieses Forschungsergebnisses wurden die Fotografien geodatenreferenziert. Hierfür wurden die Fotomotive, insbesondere markante Gebäude, Kirchtürme und
Brücken, mit Google Maps-Bildern abgeglichen. Zum Teil gelang die zentimetergenaue Rekonstruktion des Aufnahmeortes, häufig aber nur die Ermittlung der Ortschaften oder Wegabschnitte. Alle Aufnahmeorte, und somit das Itinerar der Beobachtungs-Abteilung 13, können
auf der interaktiven Karte der Online-Ausstellung nachvollzogen werden. Siehe: https://online
sammlungen.ghwk.de/seeliger/map[28. 5. 2019].
ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen
3. Nationalsozialistische Ideologie im Fotokonvolut
Auch über Seeligers persönliche Beteiligung an (Kriegs-)Verbrechen lassen sich keine
fundierten Aussagen machen. Zwar scheint er Gewalthandlungen, die von Wehrmachtangehörigen an polnischen Zivilisten und Soldaten verübt wurden, beobachtet und
fotografiert zu haben,22seine eigene aktive Mitwirkung kann daraus jedoch nicht belegt
werden. Rückschlüsse auf seine politische und weltanschauliche Einstellung lassen sich
hingegen sowohl aus seinen Kommentaren, der Juxtaposition der Fotografien und aus
der Motivauswahl ziehen.
Im Rahmen seines Entnazifizierungsverfahrens betonte Seeliger erwartungsgemäß,
dass er keine nationalsozialistische Einstellung gehabt habe. Er habe sich „lediglich aus
völlig uneigennützigen Motiven heraus dem Vaterlande in zwei Weltkriegen fast 11 Jahre
lang als Feldsoldat zur Verfügung“ gestellt, „habe [sich] niemals parteipolitisch aktiv
betätigt“ und fühle sich „frei von jeder Schuld“.23
Ein Oberstudiendirektor namens Weller stellte ihm ein positives politisches Leumundszeugnis aus, in dem es heißt: „Herrn S’s Naturell ist das ganze Gegenteil eines
Fanatikers. Sein gesunder Humor, ein Hang zur Satire und harmlosem Sarkasmus, eine
leicht ironische Betrachtung der Welt aber auch seiner selbst zeichnen ihn als Menschen
aus, und Leute solchen Temperaments können gar keine Extremisten sein.“24
Diese exkulpierenden Aussagen im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens kontrastieren aber mit seinem relativ frühen Eintritt in die NSDAP und seiner Mitgliedschaft in diversen nationalsozialistischen Organisationen. Die Mitgliedschaften lassen,
auch angesichts seiner Position als leitender Beamter auf kommunaler Ebene, die in den
1930er-Jahren zumindest den Beitritt in in eine der NS-Organisationen nahezu unumgänglich machte, noch kein definitives Urteil über Seeligers tatsächliche politische und
ideologische Einstellungen zu. In seinen Kommentaren finden sich jedoch zeittypische
rassistische, antisemitische und antipolnische Äußerungen, die zumindest auf eine
Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie hinweisen.
Polnische Jüdinnen und Juden sind ein wiederkehrendes Motiv auch im Konvolut
Kurt Seeligers.25 Obwohl seine Kommentare im Vergleich zu anderen Zeitzeugnissen
deutscher Soldaten nicht als exzessiv antisemitisch bezeichnet werden können, reproduziert er die damals gängigen antisemitischen Stereotype. So vermerkt er auf der Rückseite einer Fotografie vom 11. Oktober, die Personen auf dem zerstörten Marktplatz von
Szczerców zeigt: „Die Bevölkerung hatte sich wieder eingefunden und die Juden handelten und feilschten.“
22
23
24
25
Fotokonvolut Seeliger, Bogen 35, 36, 37, 40.
NdsLA, 3 Nds 92/1 Nr. 12814, Entnazifizierungsakte Seeliger, fol. 1 (Die Akte ist nicht durchgängig paginiert).
NdsLA, 3 Nds 92/1 Nr. 12814, Entnazifizierungsakte Seeliger, fol. 5 (Die Akte ist nicht durchgängig paginiert].
Fotokonvolut Seeliger, Bogen 22, 23, 24, 52, 53, 54, 92, 93.
117
Svea hammerle
Abb. 7: Bild 92
Noch deutlicher erscheint diese Haltung in Bild 54, auf dem ein lächelnder Wehrmachtsoldat im weißen Drillich und mit umgehängtem Gewehr eine Gruppe jüdischer
Männer in Zwoleń zur Zwangsarbeit führt. Seeliger kommentierte dieses Bild jüdischer
Zwangsarbeit höhnisch „Sie werden freundlich zur Arbeit aufgefordert.“26
Der Ende des 19. Jahrhunderts propagierte rassistische Antisemitismus, der auf dem
jahrhundertealten europäischen Antijudaismus beruhte und der im 20. Jahrhundert
vom NS-Regime zur Vorbereitung und Durchführung des Genozids an den Jüdinnen
und Juden instrumentalisiert wurde, war auch unter Wehrmachtsoldaten weitverbreitet.27 Die häufig orthodoxen und überwiegend sehr armen Jüdinnen und Juden der polnischen Schtetl stellten aufgrund ihres identifizierbaren Erscheinungsbildes eine geeignete Projektionsfläche für derartige Vorurteile dar.28 Dies äußerte sich in gewalttätigen
26
27
28
118
Fotokonvolut Seeliger, Bogen 54.
Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M.
2006, S. 45.
Jochen Böhler, Die Judenverfolgung im deutsch besetzten Polen zur Zeit der Militärverwaltung
ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen
Abb. 8: Bild 54
Ausschreitungen, „Blitzpogromen“ und öffentlichen Demütigungen. Zudem wurde die
jüdische Bevölkerung vielerorts für körperlich schwere Arbeiten wie die Beseitigung der
Kriegstrümmer oder die Bestattung gefallener Soldaten zwangsrekrutiert oder musste
zum Teil unsinnige, aber harte körperliche Arbeit leisten. Diese Schikanen waren von
dem verbreiteten antisemitischen Vorurteil, wonach Jüdinnen und Juden „arbeitsscheuen Parasiten“ seien, beeinflusst. Gewalthandlungen und Demütigungen waren die
Folge und endeten für die jüdischen Betroffenen nicht selten tödlich.29 Auch wenn nicht
geklärt werden kann, unter welchen Bedingungen die Juden auf Seeligers Fotografie zu
arbeiten hatten, ist nicht von einer tatsächlich nur „freundlichen Aufforderung“ auszugehen.
Die Darstellung der polnischen Bevölkerung in Seeligers Konvolut reproduziert
ebenfalls Stereotype und Feindbilder der nationalsozialistischen Propaganda. So zeigen
29
(1. September bis 25. Oktober 1939), in: Jacek Andrzej Młynarczyk/Jochen Böhler (Hrsg.), Der
Judenmord in den eingegliederten polnischen Gebieten 1939–1945, S. 79–98, hier: S. 84.
Böhler, Vernichtungskrieg, S. 191 f.
119
Svea hammerle
Abb. 9: Bild 57. Ende September u.[nd] Anfang
Oktober lag die Batterie in dem Dorfe Antoniowka (nördl.[ich] Zwolen). Erst lagen wir in
den Scheunen, als es aber kälter wurde, zogen
wir zu den Panjes in die Häuser. Ich wohnte
u.[nd] schlief mit 5 meiner Leute u.[nd] der
Hälfte der auf dem Bilde zu sehenden Panjefamilie in dem Zimmer mit dem Giebelfenster.
Bis auf ein paar Wanzen und Flöhe sind wir
ungezieferfrei geblieben.
Abb. 10: Bild 64. „Die ‚Hupfdohle‘ hütete die
Gänse und die Kühe, wurde aber von der Panjefamilie nur im Kartoffelkeller geduldet. Sie war
lahm, hatte die Krätze und saß voller Läuse.“
120
ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen
fast alle Fotografien die polnische Landbevölkerung in ärmlichen Verhältnissen, auf der
Flucht vor den deutschen Truppen oder vor zerstörten Gebäuden.30 Hier spiegelt sich
das von den Nazis behauptete west-östliche Kulturgefälle wider, das die Bewohnerinnen
und Bewohner des ländlichen Polen als vermeintlich kulturell und zivilisatorisch rückständig ansah.31
Ende September bis Anfang Oktober 1939 war die Beobachtungs-Abteilung 13 in dem
kleinen Dorf Antoniówka westlich der Weichsel stationiert. Die Soldaten wurden in den
Wohnhäusern der einheimischen Bevölkerung einquartiert. Im rückseitigen Kommentar von Bild 57, das eine polnische Familie vor ihrem Haus zeigt, wird das Motiv des
angeblichen Kulturgefälles klar ersichtlich. Seeliger nennt die Personen „Panjes“, ein
deutscher Spottbegriff für die polnische Landbevölkerung, der vom polnischen Wort
„Pan“ („Herr“) abgeleitet, hier aber herablassend gemeint ist. Seeliger scheint in seinem Kommentar überrascht, dass sich seine antipolnischen Vorurteile in diesem Fall
jedoch nicht bestätigten: „Bis auf ein paar Wanzen und Flöhe sind wir ungezieferfrei
geblieben.“32 Die Magd der Familie entsprach jedoch wieder seinem vorgefertigten Bild,
denn „sie war lahm, hatte die Krätze und saß voller Läuse“.33
Das behauptete Kulturgefälle stärkte bei vielen deutschen Soldaten das Selbstbewusstsein einer zivilisatorischen Überlegenheit und beförderte Gefühle des Abscheus.
Es wurde jedoch auch zum Anlass genommen, Rückschlüsse auf den angeblich „hinterhältigen slawischen Charakter“ zu ziehen, ein Feindbild, auf das die Wehrmachtführung
ihre Soldaten vor Beginn des Krieges regelrecht eingeschworen hatte. Die Vorurteile förderten die Gewaltbereitschaft der Soldaten auch gegenüber der zivilen Bevölkerung und
machten sie unempfänglicher für deren Leid.34 Die antipolnischen Einstellungen kulminierten schließlich in dem von Jochen Böhler beschriebenen „Freischärlerwahn“.35
„Freischärler“, „Franktireure“, „Fenster-“, „Baum-“, oder „Heckenschützen“ sind eines
der am häufigsten wiederkehrenden Themen in den Selbstzeugnissen der Soldaten im
Krieg gegen Polen und in der nationalsozialistischen Propaganda. Tatsächlich handelte
es sich bei den angeblichen „Heckenschützen“ selten um Zivilisten, sondern um Einheiten der polnischen Armee, die aufgrund des schnellen deutschen Vormarsches hinter
die Frontlinien geraten waren und dort weiterkämpften. Die Wehrmachtsoldaten nahmen sie jedoch „als unsichtbaren Feind [wahr], der nach ihrem Empfinden feige und
heimtückisch aus dem Verborgenen kämpfte“ und somit das Vorurteil des „hinterhältigen Slawen“ bestätigte.36 Auch stellten die deutschen Soldaten die polnische Zivilbevölkerung unter Kollektivverdacht, sich an den bewaffneten Kämpfen zu beteiligen. Dies
30
31
32
33
34
35
36
Fotokonvolut Seeliger, Bogen 13, 14, 15, 33, 34, 57, 63, 64, 92, 93, 95.
Böhler, Vernichtungskrieg, S. 42.
Fotokonvolut Seeliger, Bogen 57.
Fotokonvolut Seeliger, Bogen 64.
Böhler, Vernichtungskrieg, S. 43.
Ebenda, S. 54–60.
Ebenda, S. 62.
121
Svea hammerle
Abb. 11: Bild 35. „8. 9. 1939. Auf dem Marktplatz in
Drevica wurden zwei polnische Baumschützen vorgeführt. Kurz darauf wurde ein Unteroffizier hinter
der Kirche ins Knie geschoßen. Da der Schuß aus dem
Pfarrhause abgegeben worden war, wurde der Pfarrer
verhaftet und, als er mit uns Pfarrei und Kirche
durchsuchen mußte, und im Turm einen Soldaten von
der Leiter stoßen wollte, erschossen.“
Abb. 12: Bild 36. „8. 9. 1939. Auf dem Marktplatz in
Drevica wurde inzwischen die Bevölkerung zusammengetrieben, da wieder auf deutsche Soldaten geschossen wurde. Die Frauen schrien, jammerten und
beteten, aber keiner wußte angeblich, wer geschossen
hatte.“
122
ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen
Abb. 13: Bild 37. „8. 9. 1939. Drevica. Erst nachdem damit gedroht wurde, daß alle erschossen
würden, wurden einige Leute seitens der Bevölkerung als Freischärler angezeigt.“
führte zu Gewalthandlungen, Brandstiftungen und (Massen-)Erschießungen von Zivilistinnen und Zivilisten sowie Soldaten.37 Der „Freischärlerwahn“ wurde sowohl von
der Wehrmacht befördert als auch im Nachhinein zur Rechtfertigung der gewalttätigen
Übergriffe auf Kriegsgefangene und die Zivilbevölkerung genutzt.38
Dieses Thema lässt sich auch in Seeligers Konvolut wiederfinden.39 Besonders
anschaulich wird es an einer Bildstrecke von drei Fotografien aus dem Dorf Drzewica
vom 8. September 1939. Die erste Fotografie zeigt die Festnahme angeblicher „Baumschützen“ vor einem Kirchturm, das zweite die als Geiseln genommene Bevölkerung auf
dem Marktplatz und das dritte eine Gruppe von Männern, die von den Geiseln als weitere „Baumschützen“ denunziert und von Wehrmachtsoldaten bewacht wurden.
Die Kleidung der drei auf dem Marktplatz festgenommenen Männer verweist darauf,
dass es sich bei ihnen vermutlich um polnische Soldaten und nicht um zivile „Baumschüt37
38
39
Ebenda, S. 75.
Vgl. Die Wehrmacht, Der Freiheitskampf des großdeutschen Volkes. Das Buch des Krieges
1939/40, Berlin 1940, S. 38–40.
Fotokonvolut Seeliger, Bogen 35, 36, 37, 38.
123
Svea hammerle
zen“ handelt. Seeligers Kommentar lässt darauf schließen, dass er die Ermordung des Pfarrers von Drzewicafür wesentlich brisanter hält als die Verhaftung der „Baumschützen“.
Verwunderlich ist daher, dass er die Erschießung beziehungsweise die Leiche nicht fotografierte. Es lässt sich nur spekulieren: Vielleicht wollte er eine Verletzung des Kriegsrechts
nicht abbilden – obschon er keine Bedenken gehabt zu haben scheint, darüber zu schreiben –, oder er hatte keine Gelegenheit, das Geschehen in der Kirche zu fotografieren. Möglicherweise hatte er auch Hemmungen, einen toten Geistlichen aufzunehmen.
Der Bevölkerung Drzewicas, die gefangen genommen und mit dem Tod bedroht
wurde, scheint Seeliger kein Mitgefühl entgegenzubringen. Er versucht eher, die Szene
möglichst anschaulich zu beschreiben. Unter den Männern, die schließlich als weitere „Baumschützen“ denunziert worden waren, ist einer minderjährig, die Mehrheit
im mittleren oder Greisenalter. Bei einem der älteren Männer scheint es sich um einen
Juden zu handeln. Am rechten Bildrand ist ein Wehrmachtsoldat zu sehen, der seine
Hände wie zum christlichen Gebet faltet. Er scheint diese Geste den Gefangenen vorzumachen, einige von ihnen sind im Begriff, die Geste zu imitieren.
Seeliger äußert sich nicht zum weiteren Schicksal der gefangenen Männer. Die im
Bild sichtbaren und auf die Gefangenen gerichteten halbautomatischen Waffen ebenso
wie die gängige Praxis, als „Freischärler“ Verdächtigte zu exekutieren, legen aber die
Vermutung nahe, dass sie erschossen wurden. Offen bleibt, warum Seeliger das Ende
dieser Episode nicht in seinen Kommentaren erwähnte. Hielt er es für selbstverständlich
oder unterzog er sich einer Selbstzensur? Da diese Fotografie nicht von ihm signiert ist,
war er möglicherweise bei der Festnahme der Männer selbst nicht anwesend und konnte
auch nicht wissen, was mit den Personen danach geschah.
Das Preisgeben einiger und Verschweigen anderer Informationen sowie die Diskrepanz zwischen dem auf den Fotografien Gezeigten und in den Kommentaren Thematisierten werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Es wird jedoch ersichtlich, dass Seeliger die Anordnung der Fotografien innerhalb seines Konvoluts wichtig war. Über die
reine Chronologie hinaus kann er hier, kontextualisiert durch die rückseitigen Kommentare, ganze Ereignisketten präsentieren und miteinander in Bezug setzen. Dadurch wird,
wenn auch nicht explizit angesprochen, Seeligers Einstellung zum Geschehen erkennbar.
Dies lässt sich anschaulich an der Juxtaposition zweier Fotografien vom 9. September aus Zakościele nachvollziehen. Das erste Bild (Abb. 14.) zeigt ein kleines polnisches
Mädchen in lokaler Tracht. Ohne den rückseitigen Kommentar erscheint diese Szene
zunächst beschaulich. Seeliger gibt jedoch folgenden Kontext:
„9. 9. 1939 Kind aus Zakosciole. Die Batterie lag in der Nacht am Dorfrand und
wurde zweimal durch wüstes Geschieße alarmiert, daß aus dem nahen Waldrande herübertönte. Die Posten wollten poln.[ische] Kavallerie gesehen haben.
Die Nacht verlief aber wieder ohne Zwischenfälle. Am nächsten Morgen lag das
Dorf so friedlich da, daß ich das Mädchen im Sonntagsstaat aufnehmen konnte.
Erst wollte es weinen, aber mit etwas Schokolade wurde die Stimmung heiter. Im
Graben lag ein toter Pole, vor der Scheune noch einer.“
124
ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen
Abb. 14: Bild 39.
Abb. 15: Bild 40
125
Svea hammerle
Hier zeigt sich nicht nur der Gegensatz zwischen dem „wüsten Geschieße“ der Nacht
und der idyllischen Dorfszene am Morgen. Auch der Kontrast zwischen dem Mädchen und
den beiden Toten wird durch den sprachlichen Aufbau des Kommentars, der die Leichen
nicht in einen inhaltlichen Bezug zum Motiv des Bildes setzt, zusätzlich betont. Zudem
scheint Seeliger diese Situation – ein Kind mit Schokolade zu locken, damit es neben Toten
posiert – nicht problematisch zu finden. Ganz im Gegenteil, er verstärkt die Diskrepanz
noch zusätzlich durch die Auswahl des nächsten Bildes (Abb. 15 auf der vorigen Seite),
auf dem ist ein toter Mann zu sehen ist. Ob es sich hierbei um den zuvor erwähnten toten
Polen im Graben handelt, ist jedoch zweifelhaft, da Seeliger das Bild nicht signiert und
vermutlich einem seiner Kameraden abgekauft hat. Seeliger belegt durch die Juxtaposition
die im ersten Kommentar geschilderte Szene visuell, jedoch eventuell mit dem Bild einer
anderen Leiche.
Der Kommentar zu diesem Bild lautet „Toter Pole in Zakosciola“ und vermittelt
den Eindruck, es würde sich bei dem toten Mann um einen Zivilisten handeln. Bei
genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass die Hände des Mannes gefesselt zu sein
scheinen und seine Kleidung vermutlich die eines polnischen Soldaten ist, wobei ihm
bezeichnenderweise die Fußbekleidung weggenommen wurde. Sowohl das Hemd als
auch die Hose lassen auf eine polnische Militäruniform schließen. Die Längsfalten am
Hosenbein deuten darauf hin, dass der Mann Wickelgamaschen getragen hatte.40 Da
der gefesselte und halb entkleidete Mann vermutlich nicht während der Kampfhandlungen erschossen wurde, kann auch hier angenommen werden, dass es sich um einen
als „Freischärler“ deklarierten und nach der Gefangennahme ermordeten polnischen
Soldaten handelt.
Dass Seeliger ihn nicht als solchen bezeichnet, sondern das Bild primär als Hilfsmittel für das Narrativ seiner Sammlung einsetzt, ist jedoch verwunderlich. Eventuell
wollte er die kriegsrechtswidrige Handlung verschleiern. Die Fotografie sticht jedoch als
einzige Abbildung eines toten Menschen aus dem restlichen Konvolut hervor. Auf den
anderen 96 Bildern sind keine Leichen zu sehen, und gefallene deutsche Soldaten werden
nur durch Fotografien ihrer Grabkreuze visualisiert.
Die bisher dargestellten Motive stehen in starkem Kontrast zu den anderen Themen
des Konvoluts. Aufnahmen, die den Alltag der Soldaten, das deutsche Kriegsgerät, die
„Volksdeutschen“ und selbst die polnischen Kriegsgefangenen zeigen, sind anders arrangiert und vermitteln somit eine differierende Einstellung Seeligers zu den Bildinhalten.
Besonders deutlich wird dieser bildliche Gegensatz, wenn die Darstellungsweise der
polnischen beziehungsweise polnisch-jüdischen Bevölkerung mit der von Deutschen
beziehungsweise „Volksdeutschen“ verglichen wird. Wie bereits erläutert, betonen Seeligers Fotografien das angenommene „Kulturgefälle“, die Armut der polnischen Bäuerinnen und Bauern und ihre vermeintlich unhygienischen Lebensumstände. Das einzige
Bild, das „Volksdeutsche“ porträtiert, zeigt diese hingegen auffallend anders. Die eher
40
126
Ich bin Herrn Łukasz Suska für seine Beratung bezüglich polnischer Uniformen zu Dank verpflichtet.
ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen
Abb. 16: Bild 47. „Ruhetag im deutschen Dorf Leokadiow.“
Abb. 17: Bild 68. „Morgens wuschen wir uns
auf dem Hof.“
Abb. 18: Bild 69. „– auch als es nachher kälter
wurde.“
127
Svea hammerle
Abb. 19: Bild 8. „Die Siegerehrung wird von der Ehrenjungfrau Mroß vorgenommen.“
bürgerliche Kleidung der jüngeren Frau, die hochhackigen Schuhe, die eleganten Stühle
und das Spinnrad auf dem unbefestigten und eher dreckigen Boden wirken gestellt
und unpassend. Obwohl die Personen ebenfalls im dörflichen Umfeld gezeigt werden,
scheint die Bildkomposition eine kultiviertere Lebensweise dieser Bevölkerungsgruppe
illustrieren zu wollen.
Das Motiv des geordneten Lebens findet sich auch in der Darstellung der deutschen
Soldaten wieder. Hier sind die Körperpflege und das Waschen der Kleidung ein wiederkehrendes Thema.41 Seeliger betont sowohl in den Fotografien als auch in den Kommentaren, dass die Soldaten trotz widriger Umstände großen Wert auf ihre Reinlichkeit legten.
Andere Bilder, die den Alltag der Soldaten zeigen, visualisieren vor allem das kameradschaftliche Zusammensein, den hohen Stellenwert von Essen und jungenhafte Spielereien.42 Offenbar will der Fotograf damit andeuten, dass es deutschen Soldaten leichtfiel,
den Krieg als bloßes Abenteuer oder als Entdeckungsreise wahrzunehmen. Dies belegen
auch die idyllischen Aufnahmen der polnischen Landschaftsszenen.
41
42
128
Fotokonvolut Seeliger, Bogen 26, 49, 60, 68, 69.
Fotokonvolut Seeliger, Bogen 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 17, 51, 60, 61, 62, 70.
ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen
Unter den Aufnahmen des Soldatenalltags sticht Bild 8 hervor, da es einen Soldaten,
ausgestattet mit behelfsmäßigem Büstenhalter und Blumenkranz, zeigt, der als Ehrenjungfrau bezeichnet wird. Auf das Thema Cross-Dressing in der Wehrmacht hat der
Künstler Martin Dammann aufmerksam gemacht. Das zunächst befremdlich erscheinende Motiv von Soldaten, die sich als Frauen verkleiden, kommt überraschend häufig vor. Dammann gibt an, dass „sich in zwanzig bis dreißig Alben normalerweise ein
oder zwei Fotografien“ dieser Art finden lassen.43 Er definiert vier Grundsituationen, in
denen Wehrmachtsoldaten in Frauenkleidung fotografiert wurden: Erstens in „Ulk- und
Klamaukszenen“ junger Rekruten vor ihren Fronteinsätzen, zweitens bei einstudierten
Aufführungen, die vor Publikum und meist in den rückwärtigen Heeresgebieten stattfanden, drittens an der Front, wo sich die Soldaten an den Kleidern der einheimischen
Bevölkerung bedienten und durch das Verkleiden in die Rolle der „abwesenden Partnerinnen“ schlüpften, viertens bei aufwendig inszenierten Aufführungen in den Kriegsgefangenenlagern der Alliierten.44 Die Fotografie Seeligers ist am ehesten der ersten Kategorie zuzuordnen.
Der Krieg als solcher wird in Seeligers Konvolut nur selten sichtbar. Aktive Kampfhandlungen fotografierte er nicht. Die militärischen Auseinandersetzungen werden
hauptsächlich durch Fotografien von zerstörten polnischen Ortschaften und von Kriegsgerät dokumentiert. Hierbei fällt auf, dass deutsche Panzer und Fahrzeuge meist voll
funktionstüchtig abgebildet werden (ein einziges Bild zeigt einen zerstörten deutschen
Panzerspähwagen45), während das polnische Kriegsgerät bevorzugt beschädigt fotografiert wurde. Auch bei der Darstellung polnischer Soldaten in Seeligers Fotosammlung
lässt sich das gängige Propagandabild der polnischen Armee als nicht ebenbürtiger Gegner aus den Kommentaren herauslesen.
Tatsächlich war die polnische Armee der Wehrmacht technisch unterlegen, da sie in
den 1930er-Jahren nicht im gleichen Maße motorisiert und mechanisiert worden war.
Die polnische Panzerwaffe war der deutschen weder quantitativ noch qualitativ gewachsen. Darüber hinaus scheint das ikonografische Bild „Pferd versus Panzer“ (siehe Abb.
20 und 21 auf der folgenden Seite), das als Legende sowohl in die deutsche als auch in die
polnische Propaganda einfloss, sich auch auf Seeligers Motivwahl ausgewirkt zu haben.46
Insgesamt zwölf Mal bildete er die polnische Kavallerie, zum Teil idyllisch inszeniert, ab.
Zwar war sie in unwegsamem Gelände den deutschen Militärfahrzeugen zum Teil überlegen, letztendlich konnte sie sich aber nicht gegen die technisch und zahlenmäßig überlegene Wehrmacht behaupten.47
43
44
45
46
47
Martin Dammann, Soldier Studies. Cross-Dressing in der Wehrmacht, Berlin 2018, S. 2.
Ebenda, S. 4 f.
Fotokonvolut Seeliger, Bogen 44.
Vgl. hierzu den Beitrag von Jens Wehner in diesem Band.
Markus Pöhlmann, Der Panzer und die Mechanisierung des Kriegs. Eine deutsche Geschichte
1890 bis 1945, Paderborn 2016, S. 508–511.
129
Svea hammerle
Abb. 20: Bild 91. „Der von unseren
Fliegern in den ersten SeptemberTagen zerstörte Flugplatz bei Deblin.“
Abb. 21: Bild 78. „Der Marsch in die Gefangenschaft. Der Einfluß der Kav.[vallerie] Führer
im polnischen Heer war groß, sie bekämpften die Motorisierung unter Hinweis, daß in
einem so waldreichen Lande nur der Kavallerist erfolgreich sich betätigen könne. Vorschläge, doch wenigstens an militärisch wichtigen Objekten, wie Straßenkreuzungen, Eisenbahnknotenpunkten, Brücken etc. starke Flak aufzustellen, wurden abgeschlagen. Obwohl den
höchsten polnischen Kommandostellen die im deutschen Heere besonders im letzten Jahre
stark forcierte Motorisierung bekannt war, bezweifelte man polnischerseits die taktisch
wirkungsvollste Anwendung der Flieger und Panzerwagen.“
130
ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen
Abb. 22: Bild 85. „Diese Brüder scheinen nicht
sehr geknickt zu sein.“
Abb. 23: Bild 88. „An der Tränke.“
Polnische Soldaten sind, wenn als solche identifiziert, nur als Kriegsgefangene abgebildet. Besonders die rund 17 000 nach der Schlacht bei Kock Gefangengenommenen
wurden von Seeliger mehrfach fotografiert. Auffällig bei dieser Bildstrecke ist die augenscheinlich fröhliche Stimmung der polnischen Kriegsgefangenen.
Auch Seeligers Blick fürs Idyllische zeigt sich hier erneut.
Offenbar herrschte nach der letzten militärischen Auseinandersetzung auf beiden
Seiten Erleichterung. Seeliger hatte Zeit, malerische Motive zu fotografieren, und die
polnischen Soldaten scheinen sich eher gelassen in die Kriegsgefangenschaft zu begeben.
Doch die Momentaufnahmen sollten nicht als repräsentativ bewertet werden, da zahlreiche polnische Kriegsgefangene im September 1939 entweder direkt nach der Gefangennahme oder in den Gefangenenlagern von Wehrmachtsoldaten erschossen wurden.48
4. Fazit
Die in vielen Wehrmachtsalben wiederkehrenden Motive machen deutlich, welche Themenkomplexe den Sammelnden oder Fotografierenden wichtig erschienen. Die Auswahl lässt Rückschlüsse auf den Erfahrungsraum der Soldaten zu. Hierin zeigt sich auch
die Wirkung der nationalsozialistischen Propaganda, die Aufnahme und Wiedergabe
von Freund-Feind-Narrativen und die Einstellung zum Krieg.
48
Böhler, Vernichtungskrieg, S. 171–173.
131
Svea hammerle
Die Analyse der Fotosammlung Kurt Seeligers vermittelt weitere Einblicke. Die rückseitigen Kommentare geben den temporalen und geografischen Kontext sowie anekdotische Erzählungen der Ereignisgeschichte. Obwohl Seeliger kaum explizit Position zu
den Aufnahmen bezieht, kann seine ideologische Einstellung und seine Bewertung des
deutschen Überfalls auf Polen aus dem Zusammenspiel von Motivauswahl, Kommentaren und Juxtaposition der Fotografien rekonstruiert werden.
Er bedient sich rassistischer, antipolnischer und antisemitischer Stereotype und
kontrastiert sie mit einem positiven Bild der deutschen Soldaten und „Volksdeutschen“.
(Kriegs-)Verbrechen und Gewalthandlungen bildet er ab, ohne sie als solche zu bezeichnen oder zu reflektieren. Mitgefühl für die zivilen Opfer des Krieges lässt sich aus seiner Fotosammlung nicht erkennen, im Gegenteil, er betont deren Leid sogar in seinen
Kommentaren oder durch die Aneinanderreihung kontrastreicher Bilder. Der Krieg
wird bei ihm zu einem Abenteuer verklärt, das im Spannungsfeld von kameradschaftlichen Albereien, zerstörten Ortschaften, Flüchtlingsströmen und idyllischen Landschaften stattfindet.
Wie bei textuellen Quellen des Zweiten Weltkrieges muss auch bei der Analyse von
Fotosammlungen und Wehrmachtsalben „zwischen den Zeilen“ gelesen werden. Die
Frage, warum einige Bilder gezeigt werden und andere nicht, muss geprüft und nach
den Standards der historischen und der fotohistorischen Forschung beantwortet werden. Erst dann können visuelle Quellen weiterführende Antworten auf größere Fragestellungen geben. Aufgrund der Qualität der Fotografien, der sorgfältigen Zusammenstellung und der akribischen Kommentierung ist die Sammlung Kurt Seeligers hierfür
eine sehr ergiebige Grundlage.
Literatur
Böhler, Jochen, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006.
– Die Judenverfolgung im deutsch besetzten Polen zur Zeit der Militärverwaltung
(1. September bis 25. Oktober 1939), in: Jacek Andrzej Młynarczyk/Jochen Böhler
(Hrsg.), Der Judenmord in den eingegliederten polnischen Gebieten 1939–1945 (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, Bd. 21), S. 79–98.
Dammann, Martin, Soldier Studies. Cross-Dressing in der Wehrmacht, Berlin 2018.
Froben, H. J., Aufklärende Artillerie. Geschichte der Beobachtungsabteilungen und
selbständigen Beobachtungsbatterien bis 1945, München 1972.
Koch, Hermann, 1937 bis 1945. Die Geschichte der Beobachtungsabteilung 13, o. O. 1970.
Pöhlmann, Markus, Der Panzer und die Mechanisierung des Kriegs. Eine deutsche
Geschichte 1890 bis 1945, Paderborn 2016.
Scherzer, Veit, Deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg, Bd. 4. Die Divisionen. Divisionen und Brigaden mit den Nummern 9 bis 14. Gliederung, Kommandeure, Einsatz,
Inhaber höchster Auszeichnungen, Bayreuth 2008.
132
ein FotoKonvolut zum ÜberFall auF polen
Quellen
Auskunft der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt) vom 15. 8. 2018.
Bundesarchiv (BArch), RH 26-13/1, Kriegstagebuch der 13. Division (mot).
Die Wehrmacht, Der Freiheitskampf des großdeutschen Volkes. Das Buch des Krieges
1939/40, Berlin 1940.
Familiengeschichtliche Aufzeichnungen der Familie Seeliger, unveröffentlicht.
Fotokonvolut Seeliger.
Niedersächsisches Landesarchiv (NdsLA), 3 Nds 92/1 Nr. 12814, Entnazifizierungsakte
Seeliger, o. P.
Online
Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Digitale Foto-Ausstellung
zum deutschen Überfall auf Polen 1939. Aus dem Bestand Kurt Seeligers, https://
onlinesammlungen.ghwk.de/seeliger [28. 5. 2019].
133
Kurt Lehnstaedt · Stephan Lehnstaedt
Der Angriff der „Schleswig-Holstein“
auf die Westerplatte
Aus dem Logbuch des Seekadetten Hans Buch1
Deutschland begann den Zweiten Weltkrieg am 1. September 1939 um 4:47 Uhr mit
dem Beschuss der polnischen Festung Westerplatte durch das Schulschiff „SchleswigHolstein“ der Kriegsmarine unter ihrem Kapitän Gustav Kleikamp. Obwohl inzwischen
weitgehend davon ausgegangen wird, dass in Wieluń ein Bombenangriff der Luftwaffe
bereits um 4:40 Uhr begann,2 dominiert in der Erinnerung dennoch das Geschehen
in Danzig und besonders auf der Westerplatte. In Polen sind die dort im September
1939 stationierten Soldaten längst in den Kanon der nationalen Helden eingegangen. Ihr
Abwehrkampf war Anlass für ein Museum und mehrere Denkmale, und keine größere
Stadt Polens kommt heute ohne eine Straße aus, die den Verteidigern der Westerplatte
gewidmet ist.3
Die Westerplatte trennt als eine vorgelagerte Landzunge den Hafen Danzigs von der
Ostsee. Sie war von der nach dem Ersten Weltkrieg wiedergegründeten Republik Polen
als Munitionshafen und -depot ausgebaut worden. Dies geschah vor allem deshalb, weil
Deutschland seinem Nachbarn keinen Zugang zu den Anlagen im unter Völkerbundmandat stehenden Danzig gewähren wollte. Und während zugleich im Westen der historischen Hansemetropole mit dem polnischen Gdynia ein Dorf zur Stadt umgewandelt
wurde, das die Bedürfnisse nach einem modernen Militärhafen erfüllte, war das Bauprojekt auf der Westerplatte vor allem symbolischer Natur: Das Gelände war schlicht
nicht groß genug, um umfangreichere logistische Bedürfnisse zu erfüllen.
Anders als gedacht, erwiesen sich die Befestigungsanlagen aber als ein ernsthaftes
Hindernis, das die deutschen Aggressoren nicht wie erwartet in wenigen Stunden überwinden konnten. Deren Aufklärung war völlig unzureichend, sie hatten kein Wissen
über die Unterstände und Bunkeranlagen, außerdem war ihnen entgangen, dass die
Polen unmittelbar vor Kriegsausbruch die auf der Westerplatte arbeitenden Zivilisten
1
2
3
Die Autoren danken Thomas Buch sowie Klara und Peter Werner für die Überlassung des „Logbuchs“ von Hans Buch sowie für die Hilfe bei der elektronischen Erfassung und Transkription.
Wertvolle Hinweise und Hilfe erhielten wir von Dr. Peter Lieb und Fregattenkapitän Dr. Christian Jentzsch, beide Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr
in Potsdam.
Vgl. etwa Joachim Trenkner, Wieluń, czwarta czterdzieści. 60 lat temu wybuchła II wojna
światowa, in: Tygodnik Powszechny (1999) 36, S. 1–7. Eine ausführliche Dokumentation bei
Tadeusz Olejnik, Wieluń. Polska Guernica, Wieluń 2009.
Krzysztof Zajączkowski, Westerplatte jako miejsce pamie̜ci. 1945–1989, Warszawa 2015.
135
Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
durch Soldaten ersetzt und so die Verteidigungsstärke erhöht hatten. Deshalb stürmten am 1. September nach nur sieben Minuten Beschuss durch die „Schleswig-Holstein“
150 Marinesoldaten, die das Schiff abgesetzt hatte, von der Landseite gegen die Polen,
während drei weitere Züge von See aus angriffen.
Allerdings war der Beschuss weitgehend wirkungslos gewesen, weil Bäume und Hügel
direkte Wirkungstreffer an den Befestigungen verhinderten. Im dichten Maschinengewehrhagel brach der deutsche Vorstoß schnell zusammen, und die Angreifer mussten
sich unter schweren Verlusten zurückziehen. Eine zweite Beschießung setzte ein, diesmal auch von Land durch Einheiten der Danziger Landwehr. Nach beinahe einer Stunde
griff die Marineinfanterie wieder an – und wurde erneut zurückgeschlagen; unter den
Toten war auch der Kommandeur Oberleutnant Wilhelm Henningsen.
Am 2. September richtete die „Schleswig-Holstein“ ihre Artillerie nur gegen polnische Befestigungen in Gdynia, denn trotz Hitlers Befehl, die Westerplatte noch am selben Tag einzunehmen, musste ein erneuter Angriff vertagt werden. Allerdings bombardierte die Luftwaffe am Abend mit zwei Stuka-Divisionen die Festung. Am nächsten Tag
gab das deutsche Schulschiff erneut keinen Schuss auf die Westerplatte ab, denn Kleikamp war inzwischen sehr pessimistisch, was die Wirksamkeit eines Beschusses betraf –
die polnischen Unterstände und Bunker waren für seine Geschütze kaum erreichbar.
Der 4. September brachte die nächste deutsche Artillerieattacke, diesmal von der
Seeseite durch den Zerstörer T-196 und das Minensuchboot „Von der Groeben“, während die „Schleswig-Holstein“ erneut in Richtung Gdynia feuerte. Abermals wagten es
die Deutschen nicht, ihre Soldaten vorzuschicken. Daran änderte sich auch am 5. September nichts, an dem der mit Verstärkung eingetroffene Oberstleutnant Carl Henke
die Lage sondierte und Feldhaubitzen sowie einmal mehr die „Schleswig-Holstein“ auf
die Westerplatte schießen ließ. Der darauffolgende Tag sah vereinzelte weitere Vorstöße,
die gewisse Geländegewinne brachten, aber keinen entscheidenden Sieg – auch weil es
nicht gelang, den Wald auf der Westerplatte abzubrennen, der ein freies Schussfeld für
die Schiffsgeschütze verhinderte.
Am 7. September hatten die Angreifer beinahe 600 Mann zusammengezogen, die
nach einer Kanonade durch die „Schleswig-Holstein“ ab 4:26 Uhr vorrückten. Die von
jeglichem Nachschub abgeschnittenen Verteidiger, die ihre vielen Verwundeten kaum
versorgen konnten, hatten dieser erneuten Attacke nicht mehr viel entgegenzusetzen.
Gegen 9:45 Uhr hissten sie die weiße Fahne und kapitulierten.4 Die fünf polnischen
Offiziere und 206 Unteroffiziere und Mannschaften unter Major Henryk Sucharski hatten ihren ursprünglichen Befehl, der einen hinhaltenden Widerstand für mindestens
zwölf Stunden vorsah, weit übererfüllt. Die Verluste betrugen 50 Mann auf deutscher
Seite sowie 15 Mann bei den Polen, dazu kamen zahlreiche Verletzte.5
4
5
136
Vgl. die Darstellungen bei Piotr Derdej, Westerplatte, Oksywie, Hel 1939, Warszawa 2009,
S. 72–107; Jarosław Tuliszka, Westerplatte 1926–1939, Toruń 2011, S. 155–230; Bertil Stjernfelt/
Klaus-Richard Böhme, Westerplatte 1939, Freiburg 1979, S. 78–122.
Tuliszka, Westerplatte 1926–1939, S. 245–254.
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
Der Kampf um die Westerplatte war dennoch weit mehr als nur das erste Gefecht des
Zweiten Weltkriegs. Die „Schleswig-Holstein“ war explizit mit dem Auftrag eines Angriffs
auf die Westerplatte nach Danzig geschickt worden. Selbstverständlich war in Berlin klar,
dass ein Krieg gegen Polen nicht dadurch entschieden würde. Aber so wie Polen diese Festung vorwiegend aus symbolischen Gründen gebaut hatte, sollte sie nun aus symbolischen
Gründen möglichst publikumswirksam vor den Augen der Danziger Bevölkerung erobert
werden. Darüber hinaus wollte die Marine in einer Art Leistungsschau demonstrieren,
welchen Beitrag sie zum Erfolg der Wehrmacht – den niemand ernsthaft bezweifelte – zu
leisten in der Lage war. Doch das Gefecht entwickelte sich ganz anders und konnte, trotz
des letztlichen Erfolgs, kaum als glorreicher Sieg zelebriert werden.
Das militärische Geschehen ist aus polnischer Perspektive umfassend dokumentiert,6
wohingegen die deutschsprachige Forschung den „Polenfeldzug“ allgemein7 und die
Belagerung der Westerplatte im Speziellen seit vielen Jahren weitestgehend ignoriert.
So liegt das Kriegstagebuch der „Schleswig-Holstein“ zwar in verschiedenen polnischen
Editionen vor, aber nicht auf Deutsch.8 Auch über die Wahrnehmungen der zahlreichen
deutschen Soldaten auf der „Schleswig-Holstein“ ist kaum etwas bekannt, lediglich ein
Logbuch des Musikmeisters Willi Aurich – Dirigent des Schiffsorchesters und Sanitätsoffizier – ist bislang ediert worden, ebenfalls in einem polnischen Verlag.9
Diese Lücke ist angesichts der prominenten Stellung der Westerplatte in der deutschen Propaganda umso bemerkenswerter. Der polnische Militärstützpunkt stand wie
kein anderer Ort für die vorgeblich widerrechtliche Aneignung gewissermaßen ureigenster deutscher Erde durch Polen. Als eine Art Stachel im Fleische war seine Eroberung eine Frage der Ehre, an der sich alle Waffengattungen beteiligten. Bereits wenige
Monate später schilderten verschiedene offizielle Publikationen das Überwinden der
polnischen Verteidigung,10 die – entgegen jeglicher Tatsachen – meist als hinterhältig
6
7
8
9
10
Vgl. etwa die Materialsammlung bei Zbigniew Flisowski (Hrsg.), Westerplatte, Warszawa 1959.
Eine Ausnahme stellen die Forschungen von Jochen Böhler dar, die sich vor allem den deutschen Kriegsverbrechen widmen: Jochen Böhler (Hrsg.), „Größte Härte …“. Verbrechen der
Wehrmacht in Polen September/Oktober 1939, Osnabrück 2005; ders., Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt 2006; ders./Klaus-Michael Mallmann/
Jürgen Matthäus, Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008.
Vgl. auch die Dokumentationen von Stephan Lehnstaedt/Jochen Böhler (Hrsg.), Die Berichte
der Einsatzgruppen aus Polen 1939. Vollständige Edition, Berlin 2013; Jacek Zygmunt Sawicki/
Jochen Böhler (Hrsg.), Kariera SS-Oberscharführera Hermanna Baltruschata 1939–1943.
Album fotograficzny funkcjonariusza Einsatzgruppe i Geheime Staatspolizei na ziemiach polskich wcielonych do Rzeszy, Warszawa 2014 (zweisprachig deutsch-polnisch).
Vgl. etwa Jacek Żebrowski (Hrsg.), Zanim poddał się Hel. Niemiecki dokument z 1939 roku,
Łódź 2003.
Marian Pelczar (Hrsg.), Relacja niemieckiego oficera o walce na Westerplatte we wrześniu 1939
roku, Warszawa/Poznań 1974 (zweisprachig deutsch-polnisch).
Beispielsweise Oberkommando der Wehrmacht (Hrsg.), Die Wehrmacht. Der Freiheitskampf
des großdeutschen Volkes. Das Buch des Krieges 1939/40, Berlin 1940, S. 29–31; Rolf Bathe,
Der Feldzug der 18 Tage. Chronik des polnischen Dramas, Berlin 1939, S. 41 und 44; Friedrich
137
Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
und heimtückisch dargestellt wurde. Einmal mehr galten die Polen als unehrenhafte
Gesellen, die mit allen Tricks die Deutschen nicht nur um einen Teil von Danzig, sondern auch um einen verdienten Sieg bringen wollten.
Das war jedenfalls die Perspektive, die die deutsche Propaganda weithin einnahm.11
Wie Jochen Böhler gezeigt hat, hatte die permanente Indoktrination bei vielen Wehrmachteinheiten zu einer Art Heckenschützen-Trauma geführt,12 weshalb vielfach
unschuldige Zivilisten auf den bloßen Verdacht hin, auf Deutsche geschossen zu haben,
ermordet wurden. Auf diese Weise manifestierte sich die Wirkungsmacht der ideologischen Schulung. Was für das Heer inzwischen vielfach belegt und insbesondere für den
späteren Russlandfeldzug auch ganz offensichtlich ist, bleibt für die Marine bislang im
Unklaren.
Sicher ist indes, dass weltanschauliche Erziehung auch dort einen wichtigen Stellenwert hatte. Die Wehrmacht als Ganze arbeitete gut mit der NSDAP zusammen, etwa
in Lehrgängen. Die Truppenbetreuung selbst oblag allerdings den verantwortlichen
Truppenführern, hier hatte die Partei wenig Einflussmöglichkeiten. Diese Autonomie
zeigt sich bei der Marine etwa im 1937 erstmals erschienenen maßgeblichen Handbuch des Konteradmirals Siegfried Sorge,13 das hauptsächlich im Kapitel über Offiziersausbildung gewisse ideologische Elemente enthielt. Darüber hinaus gab es zwischen
der Kriegsmarine und der NSDAP auch keine institutionalisierte Kommunikation. In
gewissem Sinne war das aber gar nicht notwendig: Als Teil der Wehrmacht, die im nationalsozialistischen Staat als dessen Institution agierte, handelte sie natürlich im Rahmen der politischen Vorgaben; darüber hinaus bestanden selbstverständlich personelle
Verknüpfungen.14
Das spiegelte auch die Offiziersausbildung wider. Während des Zweiten Weltkrieges
wurden etwa 12 700 Marineoffiziersanwärter ausgebildet: Auf eine viermonatige infanteristische Grundausbildung mit den Zielen Selbstüberwindung, Härte und Unterord-
11
12
13
14
138
Ruge, Tätigkeit der Kriegsmarine insbesondere der Minensuchboote gegen Polen, in: Nauticus 24 (1941), S. 42–59, hier S. 45 f. (Runge war Kommandant der gegen Polen eingesetzten
Minensuchboote); Carl Lange, Die Befreiung Danzigs, Stuttgart 1940, S. 35–40; Artur Bassarek,
Danzigs Befreiung. Ein Tatsachenbericht mit Bildern, Danzig 1939, S. 20–24; Hanns Strohmenger, Danzigs Heimkehr ins Reich, Danzig 1939, S. 46 und 50; Hugo Landgraf, Kampf um Danzig. Mit Mikrophon und Stahlhelm an der Danziger Front, Dresden 1940, S. 41–45 und 68 f.;
Fritz-Otto Busch, Unsere Kriegsmarine im polnischen Feldzug, Berlin 1940, S. 24 f.; Hans Steen,
Blaue Jungen schlagen Polen. Erlebnisse von den Kämpfen unserer Truppen um die Danziger
Bucht im Blitzkrieg, Stuttgart 1940, S. 32–38.
Daniel Brewing, Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten 1939–
1945, Darmstadt 2016, S. 144–148 und 157 f.; Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 33–38.
Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 54–75.
Siegfried Sorge, Der Marineoffizier als Führer und Erzieher, Berlin 1937.
Armin Nolzen, Kriegsmarine, NSDAP und „wehrgeistige Führung“ im Zweiten Weltkrieg, in:
Stephan Huck (Hrsg.), Die Kriegsmarine. Eine Bestandsaufnahme, Bochum 2016, S. 173–188,
hier S. 174 f. und 182.
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
nung folgten sechs Monate Flottenpraktikum, dann sechs Monate theoretische Ausbildung an der Marineschule Mürwik, die mit der Seeoffiziershauptprüfung endete.
Danach begannen sechs bis acht Monate praktische Waffenlehrgänge, z. B. Schiffsartillerie, Torpedos, Minen, Nachrichtendienst sowie nochmals sechs Monate Flottenpraktikum als Fähnrich, wo die Kadetten schon Offiziersfunktionen wahrnahmen. Insgesamt
also dauerte die Ausbildung maximal 30 Monate, wobei sie 1944 sogar auf 23 Monate verkürzt wurde. Die angehenden Offiziere mussten Abitur haben sowie die volle Wehrtauglichkeit mit mindestens 1,65 m Körpergröße und 6/8 Sehkraft vorweisen; das Höchstalter
war 24 Jahre.15
Bis Kriegsbeginn 1939 gab es Segelschulschiffe („Gorch Fock“, „Horst Wessel“ und
„Albert Leo Schlageter“) sowie Schiffe der Inspektion des Bildungswesens („Emden“,
„Schlesien“, „Schleswig-Holstein“). Mit Kriegsbeginn fand das Praktikum nur mehr auf
Schiffen der Flotte statt, wobei sich das der angehenden Ingenieure deutlich von dem der
Seeoffiziere unterschied. Sie alle aber waren in den Tagesdienst integriert, was auf der
„Schleswig-Holstein“ hieß, beim Bekohlen mitzumachen und Geschütze zu bedienen.
Die Beschießung der Westerplatte als ersten Kampfeinsatz werteten die Kadetten im
Anschluss mit einem Artillerieoffizier aus. Nationalsozialistische Ideologie im Dienst
hing angesichts dieser durchaus umfassenden militärpraktischen Tätigkeiten vor allem
von den jeweiligen Vorgesetzten ab.
Explizite Schulungen gab es insbesondere an Land, in Mürwik, wo Geschichte und
Staatskunde auf dem Lehrplan standen. An der Marineschule besuchten die Kadetten
vormittags fünf, nachmittags vier Stunden Unterricht und hatten an zwei Tagen Arbeitsstunden bis 21:30 Uhr. Die Prüfungsergebnisse, auch in den genannten propagandaaffinen Bereichen, waren Grundlage für die spätere Beförderungsreihenfolge, weshalb die
präzise Rezeption der Inhalte durchaus Relevanz besaß. Am Ende der Ausbildung stand
die Offizierswahl: Um Leutnant zur See zu werden, stimmen alle Offiziere eines Schiffs
oder einer Flottille darüber ab, wer von den Kadetten in das Offizierskorps aufgenommen wurde.16
Rein wissenschaftlich betrachtet besteht hinsichtlich der ideologischen Schulung das
Problem, dass sich kaum zwischen der Wirkung von Erziehung und Sozialisation differenzieren lässt. Deshalb lässt sich nur schwer sagen, was Disposition für das individuelle
Verhalten bedeutet. Aber letztlich waren theoretische Inhalte und der Umgang mit den
Lehrern und Kameraden sowie deren Verhalten, Gruppendruck, Erwartungsnormen
und dergleichen mehr für das jeweilige Verhalten der Kadetten wichtig.17
Einen Niederschlag fanden die entsprechenden Perzeptionen und Deutungsmuster
in den Aufzeichnungen der Kadetten. Sie alle mussten ein sogenanntes Logbuch führen,
15
16
17
Christian Jentzsch, Die Ausbildung zum Marineoffizier während der Kriegsjahre 1939–1945, in:
Stephan Huck (Hrsg.), Die Kriegsmarine. Eine Bestandsaufnahme, Bochum 2016, S. 161–172,
hier S. 161 f.
Ebenda, S. 164–168.
Nolzen, Kriegsmarine, NSDAP und „wehrgeistige Führung“, S. 183.
139
Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
Abb. 1: Hans Buch als Kadett. Foto aus dem 1940
publizierten Jahrgangsbuch, dort versehen mit dem Vers:
„Das Leben ist ein Jammertal, / doch Liebe versüßt mir
die Qual, / dazu oft auch viel’ Flaschen Wein, / so leb’
ich in den Tag hinein.“*
*Kadettenzeit der Großdeutschland-Crew. 28. Juni
bis 15. Oktober 1939, Flensburg 1940, S. 131.
das immer wieder von den Vorgesetzten kontrolliert wurde.18 Allerdings gab es bislang
vom Angriff der „Schleswig-Holstein“ keine derartigen Aufzeichnungen. Ein privater
Fund liefert nun das Tagebuch des Kadetten Hans Buch, der sich mit den Kameraden
seines Offiziersanwärterjahrgangs 1938 am 30. Juni 1939 auf der „Schleswig-Holstein“
einschiffte und sich bis zum 12. Oktober an Bord aufhielt.19
Hans Buch wurde am 29. Juni 1920 in Hannover geboren. Nach der Volksschule
besuchte er dort die Oberrealschule, die er im März 1938 mit dem Abitur abschloss.
Den Arbeitsdienst leistete er von März bis September 1938 beim Bunkerbau am Westwall ab.20 Unmittelbar danach begann er die Offiziersausbildung bei der Marine. Die
ersten Abschnitte in Flensburg-Mürwik und auf dem Dänholm vor Stralsund schloss
er als Kadett Ende Juni 1939 ab, als die nächste Ausbildungsphase auf der „SchleswigHolstein“ begann. In Buchs Worten: „Der Augenblick ist gekommen, auf den wir schon
Jahre gewartet haben, von dem wir als kleiner Junge träumten, als Pennäler davon
schwärmten.“21
Nach dem Einsatz in der Danziger Bucht stand die weitere theoretische Fortbildung
auf dem Programm, die über den Dienst als Fähnrich zur Offiziershauptprüfung führte.
Nach der Fachprüfung wurde Buch zur 19. Minensuchflottille auf Boot 1903, danach als
Oberfähnrich und 1. Wachhabender Offizier auf Boot 1907 eingesetzt. Weitere Einsatzstationen waren u. a. die 4. und die 2. Minensuchflottille, wo er zum Leutnant befördert
18
19
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21
140
Jentzsch, Die Ausbildung zum Marineoffizier, S. 163.
Das Logbuch aus dieser Zeit ist in der Bibliothek der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz einsehbar.
Angaben im Logbuch vom 3. und 22. September 1939.
Logbuch, Deckelblatt; Zitat: Eintrag v. 30. 6. 1939.
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
wurde, und die Marineschule Kiel-Wik.22 Während seines Minensuchdienstes entwickelte er ein Gerät, das Minen explodieren ließ, die auf Geräusche reagierten. Es war eine
Art Schleppboje, die beim Einsatz laute Klappergeräusche von sich gab.
Buch heiratete 1943; der Ehe entstammt ein Sohn. Nach drei Jahren wurde die Ehe
geschieden. Nach dem Krieg, den er als Oberleutnant beendete, schloss er ein Lehramtsstudium ab. Damals lernte er seine spätere zweite Frau kennen. Deren Vater setzte
jedoch als Bedingung für eine Heirat voraus, dass er in seine Firma in Herne eintreten
müsse. Buch absolvierte daraufhin eine Ausbildung zum Industrie- und Handelskaufmann. Der zweiten Ehe entstammen zwei Söhne. Das Ehepaar lebte später in Bad Homburg, wo Buch am 4. März 1990 starb.
Hans Buchs Logbuch ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil er nicht nur das
Geschehen schriftlich festhielt, sondern darüber hinaus zahlreiche karikaturistische
Illustrationen hinzufügte. Dank seiner zeichnerischen Begabung hat Buch wenig später
auch einige Bilder zum Absolventenbuch seines Jahrgangs beigetragen, das die Kadetten noch vor dem Einsatz gegen Hel konzipierten.23 Den Inhalt seiner persönlichen Aufzeichnungen umreißt er auf dem Deckblatt mit: „Stralsund – Flensburg – Infanteriedienst auf dem Dänholm, in den Werkstätten der Marineschule – das ist der Inhalt des
ersten Logbuches. Die folgenden Seiten bringen die Erlebnisse als Kadett auf dem Schulschiff.“
Auf 110 nicht paginierten Seiten behandelt Buch die Zeit als Kadett auf dem Schulschiff „Schleswig-Holstein“ vom 30. Juni bis 12. Oktober 1939. Es sind Einträge zu jedem
Tag, die in deutscher Kursivschrift gehalten sind, einzelne Überschriften sind in lateinischer oder Druckschrift, gelegentlich auch in Sütterlin ausgeführt. Das Logbuch enthält
210 Zeichnungen, drei Seiten sind mit ganzseitiger Zeichnung und zwei mit ganzseitig roter Schrift ausgefüllt. Die Zeichnungen wurden mit Farbstiften angefertigt, bevor
der Text geschrieben wurde. Einige dieser Illustrationen sind schwarz-weiß mit Bleistift
gemacht, vermutlich sind es Kopien von Postkarten.
Was das Logbuch aus der großen Zahl von Kriegstagebüchern hervorhebt, sind eben
diese Zeichnungen. Ihr besonderer Reiz liegt darin, dass sie eine hohe Kunstfertigkeit
zeigen und häufig mit leichter (Selbst-)Ironie Einzelheiten karikieren, die Buch im Text
beschreibt. Zudem drücken sie eine Lebendigkeit aus, die auch die hohe emotionale Teilnahme am Geschehen bezeugt. Letzteres verdeutlichen z. B. die jeweils über den Text
gezeichnete Verbindung des Schiffes mit der Stadt Danzig durch einander gegenübergestellte Wappen am 23. und 24. August oder das ganzseitige Grabkreuz am 2. September,
als die ersten Toten des Stoßtrupps von der Westerplatte auf das Schiff gebracht wurden.
Die Niederschrift beginnt mit einem Eintrag am 30. Juni 1939, mit dem Einschiffen
auf der „Schleswig-Holstein“ in Flensburg nach einem viermonatigen Ausbildungsabschnitt: „Also, adieu Festland, wir sind jetzt tatsächlich Seeleute, oder sollen es noch
22
23
Diese Angaben sind den Nachträgen im Logbuch auf der letzten Seite entnommen.
Kadettenzeit der Großdeutschland-Crew, z. B. S. 13 ff., 24, 30 f.Eintrag Logbuch v. 23. 9. 1939.
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Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
Abb. 2: Linke Seite einer Doppelseite aus dem Logbuch Hans Buchs, 18.–20. August 1939.
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der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
Abb. 3: Rechte Seite einer Doppelseite aus dem Logbuch Hans Buchs, 18.–20. August 1939.
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Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
werden.“24 Die erste Zeit verbrachten die Kadetten auf dem Schiff im Hafen, wurden in
die neue Umgebung und den Dienst eingewiesen, der auch Mannschaftsarbeiten wie
Reinschiffmachen einschloss,25 bevor die „Schleswig-Holstein“ am 6. Juli auslief. Die
Tage auf See brachten Gefechtsdienst, Exerzieren am Geschütz, Wacheschieben, Putzen,
Unterrichtseinheiten, Torpedo-Übungsabwürfe von Fliegern, danach Rückkehr nach
Kiel.26 Unannehmlichkeiten des Alltags wie die erfolglose Jagd nach einer Kakerlake im
Spind oder der Verlust des Spindschlüssels erwähnte Buch ebenso wie die Zuweisung
einzelner Dienstposten auf dem Schiff.27 Nach einer Liegezeit und einem Tag Kaliberschießen auf See signalisierte nächtens der Austausch von Übungsgeschossen gegen
scharfe Munition am 21. August eine Änderung der politischen Lage. Tags darauf stellte
Buch vor einer Kurzfassung der politischen Vorgänge fest: „Die Ereignisse überstürzen
sich.“28
Die Tage von der Abfahrt nach Danzig am 22. August bis zum 7. September 1939 sind
im hier edierten Auszug aus dem Logbuch festgehalten, wobei auch die Zeichnungen
zum Abdruck gebracht werden.
Mit der Kapitulation der polnischen Verteidiger der Westerplatte war der Einsatz
der „Schleswig-Holstein“ noch nicht beendet. Buch schildert, wie das Schiff in der Danziger Bucht verblieb und zusammen mit dem Schwesterschiff „Schlesien“ und kleineren
Booten weiter Gdyna und Hel beschoss, jeweils bis zur Kapitulation dieser Orte.29 Und
erst ein Treffer der polnischen Verteidiger von Hel, der auf dem Schiff zwei Tote, vier
Schwer- und drei Leichtverletzte verursachte, hinterließ bei Buch den Eindruck, mehr
als nur ein aufregendes Abenteuer zu erleben: „Wir haben den Krieg in seiner grausigsten Wirklichkeit erlebt.“30
Noch vor dem Angriff auf Hel besichtigten die Kadetten die zerstörten Anlagen auf
der Westerplatte und begeisterten sich am eigenen Anteil daran, besonders als ihnen
an Bord die Wochenschau mit dem Beginn der Kampfhandlungen in Polen vorgeführt
wurde.
Drei Tageseinträge allein nimmt die Schilderung von Hitlers Besuch in Danzig
und auf der Westerplatte ein. Hitler ging an Bord, grüßte die Besatzung und führte ein
kurzes Gespräch mit dem Kommandanten: „Das war die schönste Anerkennung, der
schönste Dank.“31 Den Einsatz beendete eine Siegesparade in Danzig, zu der die Mannschaften der in der Danziger Bucht eingesetzten Schiffe aufmarschierten, vorweg die
Crew der „Schleswig-Holstein“. Drei Tage später nahm das Schiff Kurs auf Kiel, und die
24
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Logbuch, Eintrag v. 30. 6. 1939.
Logbuch, Eintrag v. 1. 7. 1939.
Logbuch, Einträge v. 10.–15. 7. 1939.
Logbuch, Einträge v. 18.–22. 7. 1939.
Logbuch, Eintrag 21. u. 22. 8. 1939.
Logbuch, Einträge v. 8.–14. 9. u. v. 25. 9.–1. 10. 1939.
Logbuch, Eintrag v. 27. 9. 1939.
Logbuch, Einträge v. 19.–21. 9. 1939, in Letzterem das Zitat.
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
Abb. 4: Logbuch, Eintrag vom 13. 9. 1939.
Kadetten mussten wieder die Bänke der Offiziersschule Mürwik drücken.32 Den ganzen
Stolz, mit der „Schleswig-Holstein“ an der „Befreiung“ von Danzig beteiligt gewesen zu
sein, drückte Buch kurz vor dieser Heimfahrt aus:
„Lebe wohl, alte Stadt, die wir heim geholt haben ins Reich, die wir befreit haben
aus den Händen der polnischen Unterdrücker, um die wir gekämpft haben. Wir
werden dich nie vergessen, du warst unser Erleben, das tiefste das wir bisher in
unserem Leben hatten.“33
Das Logbuch zeigt deutlich, wie weit die Generation der unter Zwanzigjährigen, die ihre
Sozialisation als Jugendliche im Nationalsozialismus erfahren hatte, von einer Ideologie
beeinflusst war, die Gewalt als politisches Mittel propagierte.34 Wie die große Mehrheit
der Deutschen war Buch davon überzeugt, dass Deutschland nach 1918 von Polen betrogen worden sei.35 Er notierte schon am 24. August, dass die „Schleswig-Holstein“ nicht
nur zum Besuch nach Danzig fahre, sondern mit geladenen Geschützen, „bereit zur Verteidigung deutscher Rechte“. Die Stadt kontrolliere, wie Buch einen Tag später aufschrieb,
„unser Feind, der Pole“, doch bei deren Einwohnerinnen und Einwohnern handle es sich
32
33
34
35
Logbuch, Einträge v. 7. u. v. 10. 10. 1939.
Logbuch, Eintrag v. 10. 10. 1939.
Vgl. etwa Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, 2 Bde., München 2003.
Vgl. zu den entsprechenden Propagandainhalten etwa Rudolf Jaworski, Deutsch-polnische
Feindbilder 1919–1932, in: Internationale Schulbuchforschung 6 (1984), S. 140–156; Lars Jockheck, Propaganda im Generalgouvernement. Die NS-Besatzungspresse für Deutsche und Polen
1939–1945, Osnabrück 2006, S. 41 und 55–68.
145
Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
Abb. 5 und 6: Titel des „Logbuchs“ von Hans Buch. Abgebildet sind die Wappen von Stralsund
(links oben), Flensburg (rechts oben) und Schleswig-Holstein. Mit „Kadett (w)“ bezeichnet Buch
korrekt seine Stellung als Marineoffiziersanwärter, was im Schriftverkehr durch das zugesetzte
Kürzel benannt wird.
um „deutsche Menschen, die zu Deutschland gehören, wer will und kann das abstreiten?“
So dokumentiert das Logbuch in seiner Verbindung von Karikaturen und Text exemplarisch, wie leicht es vielen Deutschen fiel, den Krieg gegen Polen als gerecht und notwendig
zu empfinden. Eine derartige Stimmung war nicht nur im Heer weitverbreitet.
Ebenfalls in Übereinstimmung mit der Propaganda war Buchs Sicht auf Polen als
nicht ebenbürtiger Gegner36 – trotz des überraschenden Widerstandes auf der Westerplatte. Der Überfall auf den Nachbarn erschien deshalb nicht verwerflich, stattdessen
dominierte Stolz auf die eigenen Erfolge. Als pars pro toto dient im Logbuch die Identifikation mit dem Schiff. Die Lektüre vermittelt den Eindruck, als habe deren Besatzung
die Danziger Bucht quasi im Alleingang erobert, zumal Buch andere deutsche Einsatzkräfte nur selten erwähnt: „Es ist etwas Besonderes um unser Schiff. Wir lösen im Krieg
gegen Polen den ersten Schuss und nehmen die letzte Stellung.“37
Im folgenden Auszug wurden kleine Fehler der Interpunktion und Orthografie im
Original stillschweigend korrigiert. Ferner wurden Seitenzahlen in Klammern einge36
37
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Jochen Böhler, Der Überfall. Deutschlands Krieg gegen Polen, Frankfurt a. M. 2009, S. 39 f. mit
Zitat der Ansprache von Franz Halder, Generalstabschef des Heeres, vom Frühjahr 1939.
Logbuch, Eintrag v. 2. 10. 1939.
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
fügt, die im Original nicht vorhanden sind. Dies dient vor allem dazu, den Zusammenhang von Zeichnungen, die auf einer Seite angebracht sind, und dem zugehörigen Text
festzuhalten.
22. August 1939 – Dienstag (S. 49)
Die Ereignisse überstürzen sich.38
Immer noch ist es Dienstag, die Dunkelheit hat sich über den Kieler Hafen gebreitet, aus
dem, gleich einem schwarzen Schatten, unser Schiff hinaus gleitet. Immer weiter zurück
bleiben die roten Lichter, die das Hafenbecken umsäumen. Wieder geht es durch die
Ostsee. Unser Ziel ist Swinemünde.
23. August 1939 Mittwoch Swinemünde
Der kommenden Erlebnisse wegen muss ich die Ereignisse der letzten Tage, die der
Nachrichtendienst und die Tagesblätter brachten, berichten:
Deutschland steht kurz vor dem Abschluss eines Nichtangriffspaktes mit Russland,
so dass uns dort der Rücken frei bleibt. Die Lage zu Polen hat sich durch das rücksichtslose Verhalten des polnischen Militärs den deutschstämmigen Bewohnerinnen und
Bewohnern gegenüber sehr verschärft. Englands Botschafter übergibt dem Führer einen
Brief, der den Inhalt der englischen Parlamentssitzung enthält.
Im Vordergrund steht die Lösung der Danziger Frage. Danzig soll, muss und wird
heimkehren ins Reich. Jeden von uns beschäftigt die Lösung dieser Frage. Werden wir
mit eingreifen im Verbunde der Flotte zur Sicherung deutschen Bodens? Wann, wann
wird etwas geschehen, das die verzweifelnde Ungewissheit von uns nimmt.
(S. 50)39 Gegen Mittag kommt Arkona und Stubbenkammer in Sicht. Wir hatten die
Ottern40 ausgefahren und machen nun die Pinassen klar zum Minensuchen, Böcke, Leinenwinden werden eingebaut. Krallengreifer und Bojen liegen bereit. Kurz vor Einlaufen
in Swinemünde werden wir ausgesetzt. Der Funker, der in der Kajüte sitzt, murmelt ins
Mikrophon und streckt eine Antennenverlängerung nach der anderen aus. Das Manöver der Boote geschieht glatt auf Trillerpfiffe. Unser Signalgast übermittelt die längeren
Befehle. Der Strand kommt in Sicht, und während unsere „Sophia“ hinten hinter einer
Waldwand verschwindet, steuern wir auf den Landungssteg zu. Der Heizersgast drückt
ordentlich auf den Hebel.
Baden in der Ostsee, die Wellen spülen um unsere Füße, Strand und Sonne … schwer
können wir uns davon trennen. Unsere Fahrt geht durch den Hafen, ein Torpeboot,41 ein
Zerstörer neben dem anderen.
38
39
40
41
Zwischenüberschrift, in lateinischer Schrift gehalten.
Der Verfasser hat im Original die Schrift ganzseitig mit einer Zeichnung des Wappens der
„Schleswig-Holstein“ unterlegt.
Minenräumgeräte.
Gemeint: Torpedoboot.
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Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
Unser Schiff liegt an einem Eiland, das verdient hätte „Mückensumpf“ genannt zu
werden. Wie die Banditen haben sich die Jungens vermummt; ihre Augen schauen hinter
einem Taschentuch hervor. Während der Ronde schmuggle ich mich auf die Nürnberg.42
Oben am Vormars blinken die Lampen: „Benötige am 24. 8. 39 um 11 Uhr Schlepper
zum Ablegen.“
24. August 39 Donnerstag See Danzig
Es geht los! Ein Vierlingslauf – MG wird morgens übernommen. Unser Schiff hat abgelegt. An der Mole vorbei rauschen wir ostwärts. Unsere Musik spielt. Die Sonne meint
es gut … „Alle Mann achteraus.“ Der Kommandant43 spricht, endlich, wir haben diese
Minute herbeigesehnt … jeder fühlt: es ist etwas Besonderes.
Ganz still ist es, nur das Sausen des Lüfterschachtes ist zu hören. Wir sind in See,
abgeschnitten von der Außenwelt, wir sind allein, die Besatzung der „Schleswig Holstein“.
„Kameraden“, sagt der Kommandant, „jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem
ich Ihnen die Aufgabe, die unser Schiff (S. 51)44 bekommen hat, berichten darf.“
Und alle verfolgen mit gespannten Gesichtern seine Worte. „Sie alle wissen, dass ich
vor wenigen Tagen in Berlin war, um die Befehle des Ob. d. M.45 und des Führers entgegenzunehmen. Die allgemeine politische Lage hat für uns folgende Aufgabe vorgesehen.
An Stelle der ‚Königsberg‘ werden wir zu einem offiziellen Besuch in Danzig einlaufen.“ Auf allen Gesichtern steht die Freude geschrieben, die diese Worte auslösen.
„Doch während das äußere Bild unseres Schiffes den Anschein eines Besuches
erweckt, werden unsere Geschütze geladen sein, bereit zur Verteidigung deutscher Rechte.
Kameraden, es ist eine hohe Aufgabe, die unser Schiff erfüllen soll, und gerade das
beweist, dass unser Schiff noch nicht zum alten Eisen gehört. Vielleicht werden wir das
Teuerste, das wir besitzen, das Leben einsetzen müssen.
Als ich mit dem Ob. d. M. über den Verlauf der kommenden Stunden sprach, bat ich
mir aus, dass die Besatzung in ihrer jetzigen Zusammensetzung zusammenbleibt, nicht,
dass wie üblich die Kadetten ausgeschifft würden. Ich glaube, ich habe da mit dem Einverständnis der Besatzung gesprochen. Außerdem sind alte, bewährte Spezialisten für
die einzelnen Waffen an Bord kommandiert worden.
Ab 16 Uhr heute Nachmittag gehen wir Kriegswache. Gegen Abend wird uns eine
Minensuchflotille erreichen, die eine Kompanie Stoßtruppsoldaten aus Memel an Bord
bringt und uns anschließend gegen Minen und U-Boote sichert. Wir müssen trotz der
schon engen Verhältnisse an Bord die Kameraden des Stoßtrupps aufnehmen und Ihnen
soviel Bequemlichkeit wie möglich bieten.
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148
Leichter Kreuzer.
Gemeint ist Kapitän zur See Gustav Kleikamp (1896–1952).
Der Verfasser hat im Original die Schrift ganzseitig mit einer Zeichnung des Danziger Wappens
unterlegt, sodass die beiden Wappen einander gegenüberstehen.
Oberbefehlshaber der Marine, Großadmiral Erich Raeder (1876–1960).
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
Dass über alle diese Dinge größte Verschwiegenheit zu wahren ist, ist wohl
selbstverständlich.“46
Welchen Eindruck diese Worte auf uns machen ist klar. Die freudige Erregung ist
gewachsen. Besonders stolz sind wir, die Kadetten, dass wir mitmachen dürfen.
Da pfeifen wir gern auf Heimaturlaub. Die werden ja Augen machen zu Hause.
(S. 52) Ich sitze in meiner Kasematte, in der wie immer Tag und Nacht das Licht
brennt. Ja, es ist ein seltsames Durcheinander. Es ist wildromantisch. Um endlich mal
wieder einmal Logbuch zu schreiben, sitze ich auf „fertig gemachten“ Handgranaten,
die fein in Kisten verpackt sind. Meine Beine liegen auf einem Ponton, neben dem sich
die Blasebälge türmen. Das schöne Gummipolster ist eine willkommene Schlafmatratze
für unsere „Jungs“, so nennen wir die Stoßtruppsoldaten. Auf den Spinden liegen Stahlhelme, Pistolen, Gewehre, Spaten … keine Ecke ist frei, überall liegen Rucksäcke, Handgranatentaschen. Auf einem Kasten mit Sprenggerät wird fleißig ein Skat gedroschen. In
den Netzhängematten schaukeln müde Krieger … es ist heiß. Ich lasse die letzten Tage
an mir vorüberziehen, die unvergesslich bleiben werden, um sie hier auf den noch leeren
Blättern meines Logbuches festzuhalten.
24. August 1939 Donnerstag
Unser Schiff braust etwas schneller als gewöhnlich vorwärts … Die Kriegswache ist aufgezogen … Kriegswache, ein leichtes Lächeln über dieses Wort, und doch ist es für uns
ernst, sehr ernst. Wir haben unsere Erkennungsmarke, die ulkige Hundemarke, umgebunden, haben Verbandspäckchen und „Losantin“ (ein Gelbkreuzschutz) empfangen
und stehen mit der Gasmaske bereit auf Posten.
Posten Ausguck, ich stehe an der großen Sichtsäule auf der Brücke, das Gerät ist auf
einen bestimmten Winkel eingerichtet … auf der ganzen Brücke befinden sich Ferngläser … das Meer wird abgesucht. Wellen, nur Wellen zeigt die Linse … die Augen ermüden, brennen, tränen. Langsam wird es dunkel … voraus kommen rote Lichter in Sicht,
die Minensuchflotille … Der Kommandant gibt Befehle zum Signaldeck … unsere ausgefahrenen Ottern werden eingenommen.
Die Minensuchboote kommen längsseits, wir haben gestoppt. In dem fahlen Licht
erkennt man am Oberdeck Feldgraue. Während der Stoßtrupp übersteigt, von kräftigen Händen gehalten, schwenken die Bootskräne aus und holen Minenwerfer, Pontons,
Sprengkisten herüber.47
(S. 53) 25. August Freitag Danzig
Gegen Mitternacht komme ich hinunter in Steuerbord fünf; mein Fuß stockt … Kisten,
Kästen mit und ohne Munition und Landsoldaten … Um Mitternacht ziehen wir auf
46
47
Eine polnische Übersetzung der vollständigen Rede, die die Notizen Buchs ergänzt, in:
Żebrowski (Hrsg.), Zanim poddał się Hel, S. 5 f.
Umfassend dokumentiert im Kriegstagebuch der „Schleswig-Holstein“, Żebrowski (Hrsg.),
Zanim poddał się Hel, S. 2 f.
149
Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
Kriegswachplätze … Vier Stunden lang stehen wir an unserem Geschütz, das Schiff ist
abgeblendet … Die schlechte Luft ist konzentriert, der Schweiß bricht aus allen Poren …
Um vier sinken wir ziemlich groggy auf die Hängematte. Eine Stunde später ist wieder
Wecken … um 6 Uhr stehe ich schon wieder als Ausguckposten, ein wenig hungrig …
aber das vergesse ich schnell, denn es kommt Land in Sicht.
Ganz leicht hebt sich aus dem Nebel die Küste ab … Eddie steht vor mir, er hat die
Marienkirche entdeckt … nicht lange danach sehe ich sie auch. Gdingen liegt an Steuerbord … voraus kommt das erste Zollboot … Die Zollbeamten grüßen mit dem deutschen Gruß … langsam fahren wir in die große Bucht, mehrere Boote steuern auf uns
zu … es sind schon Gäste an Bord, die ersten Willkommensgrüße werden überbracht.
Die Ausgucksposten verschwinden … Das ist Danzig.
Unser Schiff biegt in die Hafeneinfahrt … „Steuerbordwache an die Geschütze.“ Am
Oberdeck stehen die Kameraden in Weiß. Wir peilen durch die Sehschlitze, an der Mole
stauen sich die Massen, alles winkt, jubelt, grüßt … immer tiefer in den Hafen hinein
geht es … HJ, Arbeitsdienst, und Mädels … es ist eine winkende, bunte Masse, Flaggen
flattern, das Danziger Wappen neben dem Hakenkreuzbanner. Oben an Oberdeck ist
alles feierlich, Musik spielt … und unter Deck sind die Geschütze besetzt … Der Pole
findet uns nicht unvorbereitet vor.
Plötzlich rast Werner Peters … unser Danziger Junge, der angesichts der Heimat
außer Rand und Band ist, zu Hein … ehe wir dahinterkommen, sind wir schon im
V-Boot, Leinenkommando … erste an Land.
An unserem Liegeplatz ein riesiges Transparent „Willkommen Schleswig-Holstein“.
Wir sind den Schleppern vorausgebraust, die unseren Koloss um die Biegung schleppen.
Als er näher kommt, müssen wir feststellen, dass er sich sehr gut hier macht unser Kahn.
Während wir am Quai die Wurfleinen auffangen und (S. 54) die Stahltrossen um die
Poller belegen, muss die Polizei die Menschenmenge zurückhalten. Das sind deutsche
Menschen, die zu Deutschland gehören, wer will und kann das abstreiten?
Eine lange Reihe von modernen Autos erwartet den Kommandanten und seine
Gäste.
Kriegswachweise besetzen wir die Geschütze, während oben der große Empfangsrummel beginnt: Ehrenwache, Fallreepsgäste, Hornist. Mit der Steuerbordseite liegen
wir der Westernplatte [sic] gegenüber. Die Polen haben in der letzten Zeit hier schwere
Befestigungen, Bunker und Munitionslager gebaut.
Die Besatzung kommt nicht an Land, die Lage ist zu ernst. So stehen die Menschen
unten auf dem Quai und schauen hinauf zu uns, die wir an der Reling stehen. Fröhliche
Zurufe fliegen uns zu und, als es dämmert, singen wir, einer hat angefangen. Alle Soldatenlieder klingen auf und jedes Lied wird von denen dort unten mit stürmischem Beifall
aufgenommen.
Um acht Uhr besetzt die Steuerbordkriegswache die Geschütze … Die Stunden,
die ich nie vergessen werde, nehmen ihren Anfang. Das Schiff wird abgeblendet, noch
einmal schauen wir auf die rote Mauer, hinter der unser Feind, der Pole liegt und mit
wachen Augen alle unsere Bewegungen beobachtet.
150
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
In dem fahlen Blaulicht stehen die Geschützbedienungen an den Munitionsaufzügen … rack, rack, eine Granate nach der anderen poltert auf die Matte und wird weggeschafft … Die nackten Oberkörper glänzen … Alle Packs werden mit Bereitschaftsmunition gefüllt. Kartuschen kommen hoch, die Aufzüge surren und heulen, eine endlose
Kette empfängt die verpackten Kartuschen, dreht die Büchsendeckel auf. Mir rinnt der
Schweiß den Hals und Rücken entlang.
In Steuerbord fünf steht der Stoßtrupp um seinen Oberleutnant48, der in seiner
humorvollen, derben Art über die bevorstehende Nacht erzählt.
„Jungs“, sagt er lachend, „wir liegen hier gegenüber der Western- (S. 55)platte [sic]“,
er hebt einen Meldeblock hoch und deutet auf eine Bleistiftskizze. „Der Pole hat, wie
wir festgestellt und erfahren haben, die bestehenden Befestigungsanlagen in der letzten Zeit verstärkt.49 Unsere Aufgabe ist es, die Platte heute Nacht um 000 Uhr (Zeit X)
zu nehmen. Die M. A.50 des Schiffes wird uns eine Bresche in die Mauer schießen und
möglichst die dahinter befindlichen Stacheldrahtverhaue zusammenballern. Die elektrisch geladenen Drähte dürften uns dann nicht mehr schaden.“ Atemlose Stille, alles ist
gespannt. „Die M. A. wird nun immer vor uns weggehen. Wir werden, nachdem wir von
Dampfern übergesetzt worden sind, von Polizisten geführt und dann in einer breiten
Front, Ihr müsst mir auf Verbindung der Züge achten, sonst knallt Ihr noch Euch selber
übern Haufen. Und dann – caracho – stecht in die Büsche, nicht, dass wir nachher die
Schweinerei im Rücken haben. An den Bunkern bleiben je zwei Mann mit Handgranaten und lassen niemanden raus. Schmeißt in der Begeisterung nicht Eure Eier in die Dinger, sonst fliegen Euch die Klamotten um die Ohren. Übrigens, sollte bei der Ballerei der
M. A. das Munitionsdepot hochgehen, zieht die Köppe ein, sonst kriegt Ihr was davor.
Auf der Platte sind, wie wir erfahren haben, Fallgruben mit netten Schweinerein ausgehoben. Wenn Ihr fallt, macht die Arme auseinander. Nebenbei sind auch noch Minen
gelegt. Also, Jungs, aufpassen.
Sonst geht alles klar. Ich brauche nicht mehr zu sagen.“
Schweigend treten alle auseinander, machen Handgranaten fertig, stecken sie in die
Brustbeutel, nehmen Sturmgepäck um und sitzen zwischen uns, rauchen, knabbern an
ihrer Schokolade … „Die Letzte“ sagt einer lächelnd und zeigt auf seine Zigarette. Ein
anderer knurrt los … „Wenn ihr schießt, Mensch, da gehen die stiften.“
So saßen unsere Väter vor dem Angriff, so starrten sie in die Dunkelheit und rauchten Zigarettenketten.
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Gemeint ist hier vermutlich Oberleutnant Walter Schug (1910–1943), stellvertretender Kompaniechef des Stoßtrupps und später Kommandant von U 86; sein Vorgesetzter war Oberleutnant
Wilhelm Henningsen (1904–1939).
Demgegenüber erwähnt das Kriegstagebuch der „Schleswig-Holstein“, dass die Danziger Verbindungsoffiziere am 25. 9. 1939 keine Auskünfte zu Bewaffnung und Besatzung der Westerplatte machen konnten; die eigene Sturmkompanie aber auf den Angriff gut vorbereitet sei.
Żebrowski (Hrsg.), Zanim poddał się Hel, S. 8 und 10 f.
Marineartillerie.
151
Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
Unten im Zwischen51 stehen auf den Tischen des Gefechtsverbandsplatzes die Sterilapparate und blinken silbern.
(S. 56) Und wir sitzen an unserer Kanone, Hein spricht zu uns. „Dreht nicht, Jungs,
wenn einer ausfällt. Bin ich dabei, hier hängt die Verbandstasche, dort ist die Taschenlampe …“
Ein seltsames Gefühl überkommt uns, ganz ruhig ist man … jeder geht seinen eigenen Gedanken nach. So warten wir und rauchen, … ja, so haben wir es uns gewünscht.
Das wollten wir einmal erleben.
Es geht auf Mitternacht zu, gleich geht’s los … keiner schläft … In diesen Augenblicken trifft, wie wir am anderen Morgen erfahren,52 ein Befehl aus Berlin ein, dass die
geplante Einnahme der Westernplatte nicht eintreten darf.
Der Stoßtrupp kommt zurück, legt die Sachen ab, und dann dämmern wir alle auf
unseren Hängematten ein, langsam in einen traumlosen Schlaf, aus dem uns erst wieder
zur Ablösung der Pfiff der Bootsmannsmaatenpfeife weckt. Alle vier Stunden lösen die
Backbord- und die Steuerbordkriegswache sich ab.
26. August 1939 Sonnabend
Wieder ist es ein unvergleichlich schöner Morgen, wir sitzen auf unseren Hängematten
und schlürfen Tee mit Rum. Wenn wir durch die Sehschlitze an Backbord peilen, sehen
wir die schon am frühen Morgen harrenden Danziger.
Gegen Mittag sickert es durch. Die Backbordwache kann an Land, nach Danzig.
Donner und Doria; eigentlich sollten wir nur auf den Quai die Beine vertreten. Na,
wenn’s hinhaut, ist morgen die Steuerbordwache dabei.
Während die Kameraden an Land schießen, spielt unser Bordkino in einem alten
Getreideschuppen: Heinz Rühmann in „Der Florentiner Hut“.53 Ein konzentrierter
Unsinn, aber wir lachen, lachen … und das ist schließlich die Hauptsache.54 Abb. 7 und 8
„Alle Mann an Bord“, der Quai wird leer, unser Schiff bekommt einen anderen Platz.
(S. 57) Leinen werden losgeworfen, und wieder mühen sich die kleinen Schlepper.
Im Batteriedeck sind wir wieder auf der Hut, der Pole wird uns nie55 überraschen.
Langsam biegt das Schiff in die Kurve des Hafenkanals und macht an der Mauer unter
der alten Festung fest. Abb. 9
Die anderen werden sich aber wundern, wenn sie vom Urlaub kommen und unser
Schiff nicht mehr vorfinden am alten Platz.
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Zwischendeck.
Laut Kriegstagebuch der „Schleswig-Holstein“ um 21:20 Uhr: Żebrowski (Hrsg.), Zanim poddał
się Hel, S. 11.
Der Filmtitel ist im Original in lateinischen Buchstaben geschrieben. Vom Kinobesuch berichtet
auch Willi Aurich, vgl. Pelczar (Hrsg.), Relacja niemieckiego oficera, S. 20. Aurich erwähnt
auch, dass die Soldaten des Stoßtrupps in Zivil erscheinen, um kein Aufsehen zu erregen.
Am Rand links ist Abb. 7, rechts Abb. 8 eingefügt.
Links am Rand ist Abb. 9 eingefügt.
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
Abb. 7
Abb. 8
Abb. 9
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Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
27. August Sonntag
Wie jede vergangene Nacht filzten wir auch dieses Mal auf Hängematten, angezogen,
standen zum Wecken auf und räkelten die zerschundenen Glieder. „Mensch, heute56
wäre Bordfest gewesen“, sagt Fritze.57 Ach ja, heute ist Sonntag, wir merken es kaum …
erst als wir fleißig Reinschiff machen auf der Back, hören wir die Kirchenglocken.
Abb. 10
Hipp, hipp, hurra, an Land. Wir stürzen uns in unsere Kadettenuniform, lassen dieses Mal den Dolch zu Hause und warten auf die Gulden,58 die uns Onkel Jonathan59 nach
langem Hin und Her überreicht. Mit einem Hechtsprung geht es ins V-Boot60. Die Straßenbahn bringt uns umsonst in die Stadt, und dann stehen wir auf der Hauptstraße, die
trotz ihrer Breite Langgasse61 heißt. Abb. 11
Ein reges Leben flutet62 an uns vorüber, Großstadt. In dem Stadtbild fallen die vielen
verschiedenen Uniformen auf. Eine große Grußfreudigkeit herrscht. Die Stadt prangt
in einem wunderbaren Festschmuck. An den Fahnen wehen Goldbänder, verschlingen
sich im Winde. Die alten Patrizierhäuser, die eng zusammenstehen,63(S. 58) sind in ihrer
Schönheit das Gesicht der Stadt, die den Charakter einer altdeutschen Hansestadt trägt.
Abb. 12
Hier, die Marienkirche, Danzigs Wahrzeichen, dort der Turm der Brigittenkirche,
die ich nach einer Irrfahrt durch die engen Gässchen erreiche. Hinter der Langgasse
schaut man von der Brücke auf das Krantor, das in allen deutschen und auch ausländischen Blättern abgebildet war.
Stadt der Schicksalstage, die ereignisreich und schwer vor uns liegen. Wir wissen,
bald wirst du wieder zu unserem64 Reich gehören. Abb. 13 und 14
Man schaut uns nach, alte Herrschaften strahlen vor Wohlwollen. Die blauen Jungen
sieht man hier nur zu gern.
In unserer Kadettenuniform werden wir Feldwebel und Decksoffiziere genannt.
Nach dem langen Spaziergang durch die Stadt kehrten wir an Bord zurück, müssen
berichten von unseren Eindrücken. Unsere Gulden sind schwer zusammengeschmolzen.
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154
In der Mitte des Abschnittes zwischen dem Text ist Abb. 10 eingefügt.
Fritz Zoller, Kadett der 3. Wache auf der „Schleswig-Holstein“.
Der Danziger Gulden war die in der Freien Stadt gültige Währung.
Bootsmann Jonathan Gottwald, von den Kadetten der „Schleswig-Holstein“ mit einem ausführlichen Gedicht in ihrem Band: Kadettenzeit der Großdeutschland-Crew 28. Juni bis 15. Oktober
1939, Flensburg 1940, gewürdigt (S. 31–33) und als „Mutter der Division!“ bezeichnet (S. 149).
Verkehrsboot, ein nicht bewaffnetes Motorboot.
Heute ulica Długa.
Am Ende des vorigen und am Beginn dieses Abschnittes mitten im Text ist Abb. 11 eingefügt.
Rechts am Rand ist Abb. 12 eingefügt.
Links am Rand ist Abb. 13, rechts Abb. 14 eingefügt. Es dürfte sich dabei um gezeichnete Kopien
von Postkarten in Schwarz-Weiß handeln, da der Verfasser im Gegensatz zu seinen anderen, mit
Buntstiften gefertigten Zeichnungen beide Objekte mit Bleistift zeichnete und Flächen weitgehend ausmalte.
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
Abb. 10
Abb. 11
Abb. 12
Abb. 13
Abb. 14
155
Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
Um acht ziehen wir wieder auf Wache, immer vorbereitet. Die V-Boote ziehen mit
ihren bunten Lichtern ihre Bahn. Die Stoßtruppjungs schaukeln in Netzhängematten
unter der Decke. Wir sitzen am Geschütz und klönen mit Hein.
(S. 59) 28. August Montag
Zur Abwechslung einmal Ex-Dienst.65 Wir empfangen wie in Kiel unsere Schießinstrumente, schnallen um und werden vom V-Boot übergesetzt, neben uns liegt die Feste
Weichselmünde …
Dann stehen wir auf einer Wiese, die von mächtigen Bäumen überschattet wird, und
schon geht es los … wie damals in Mürwik.66 Abb. 15
Die lauten Kommandos unserer Korporäle belebten unsere Lebensgeister und oftmals rennen wir um die „vier Akazien“ marsch, marsch. Meiner Ansicht nach waren
es Platanen, aber ich wusste trotzdem, welche Bäume zu umkreisen waren. Es ist kaum
zu glauben, aber ich schwitzte aus allen Knopflöchern. Ein bisschen Bewegung soll der
Mensch haben.
29. August Dienstag
Was mögen nur die Danziger gedacht haben, als wir so bewaffnet Dorf Weichselmünde67
besetzten. Steuerbord Kriegswache Ausgang, wer lässt sich das zweimal sagen. Hinein in
die blaue Uniform, in das V.-Boot, in die Straßenbahn, nach Danzig … hinein mit den
letzten Gulden. Was hat ein Seemann immer … lakonische Antwort: Durst. Ach, und es68
gab wunderbares, herrliches Eis. Das meinten alle und schnalzten mit der Zunge. Abb. 16
Unser Weg durch die Stadt führte am Verkehrsbüro vorbei, das wir mit einem Stoß
von Werbeprospekten verließen. Spät, das heißt um 19 Uhr kehrten wir an Bord zurück
und zogen eisern auf Kriegswache. Unsere göttliche Ruhe wurde gestört durch eine groß
angelegte Ölübernahme von der
30. August Mittwoch
PolishOil Company
deren Vorräte uns sehr willkommen waren. Drei Prahme lagen quer über das Fahrwasser und auf ihnen lagerten die dicken Schlauchverbindungsstücke. Es macht sich
bemerkbar, dass Steuerbord 5 bei Arbeiten sehr gefragt ist.69 Abb. 17
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156
Exerzieren, also auch bei der Kriegsmarine übliche infanteristische Übungen.
In Flensburger Stadtteil Mürwik befindet sich seit 1910 die Offiziersschule der deutschen
Marine. – Links am Rand ist Abb. 15 eingefügt.
Die Festung Weichselmünde (poln. Twierdza Wisłoujście) wurde bereits im 14. Jahrhundert als
Zollstation an der damals dort in die Ostsee einmündenden Weichsel angelegt. Sie befindet sich
etwa auf halbem Weg zwischen Danziger Altstadt und Westerplatte und ist eine frühneuzeitliche Wehranlage, die 1939 nicht mehr militärisch genutzt wurde.
In die Zwischenräume ist Abb. 16 eingefügt.
Links ist Abb. 17 eingefügt.
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
Abb. 15
Abb. 16
Abb. 17
157
Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
(S. 60) LANDESSENDER DANZIG! steht auf dem großen roten Haus vor uns, das
den Eindruck einer Schule macht. Der SS-Posten fährt zusammen, antwortet kurz auf
unsere Frage nach dem Sendeleiter.
Wir drei Kadetten: Kuhlmann,70 Turck71 und ich sind bei der Musterung zum Rundfunk befohlen, ohne zu wissen, worüber wir berichten sollen. Abb. 18
Die Treppen hinauf, durch große Flure, am72 Sendesaal vorbei, in dem das Orchester
die Nachmittagsmusik spielt … kommen wir in die Abteilung Zeitfunk. Durch Telefon
geht es durch das Haus: „Die Herren von der ‚Schleswig-Holstein‘ sind da.“ Wir lachen
über diese Meldung der kleinen Telefonistin. Und dann sitzen wir mit dem Ansager, Herrn
Schwender,73 um einen großen runden Tisch, rauchen und sprechen über die entstehende
Sendung. Wir sollen das Einlaufen der Schleswig-Holstein schildern, unseren Gefühlen
Ausdruck geben. Über alldem soll stehen Danzig ist deutsch und muss deutsch bleiben.
Der M. O.74 ist ebenfalls bei dieser Besprechung. Dann gehen wir durch abgedichtete Türen,
über dicke Teppiche, die kein Geräusch entstehen lassen,75 an den großen Schreibtisch mit
den beiden Mikrophonen. Über uns flammt es rot auf: RUHE SENDUNG! Abb. 19
Der Ansager spricht langsam, eindringlich, dann schildert Ernst Turck unser Auslaufen aus Swinemünde. Ich setze den Bericht fort über das Einlaufen und Jürgen Kuhlmann hält den ersten Ausgang fest. Fast jedes Wort, das wir sprechen, mahnt und weist
darauf hin: Danzig, die deutsche Stadt, muss zurück ins Reich. Die letzten Worte verebben … sind eingraviert in die Wachsplatte.76 Abb. 20
(S. 61) Wir verlassen den Senderaum, gehen in das gegenüberliegende Zimmer …
und da schlagen uns unsere Stimmen entgegen. Ernst Turck, seltsam klar … dann höre
ich mich … Das soll meine Stimme sein, unfassbar, wie anders, wie verändert und doch
erkennen sie die Kameraden. Die Kopfresonance muss im eigenen Gehör eine große
Rolle beim Sprechen77 mitspielen. Wir lachen uns an, freuen uns über dieses Erlebnis, in
das wir erst mit ein wenig Lampenfieber hineingingen. Abb. 21
Morgen wird die Sendung durch die Lautsprecher gehen, man wird sie auf dem Schiff
hören …, auch die Polen werden aufhorchen.
Und nach der Wachsplattenaufnahme schmieden wir Pläne zur Gestaltung eines
bunten Nachmittags durch die Besatzung unseres Schiffes (dazu sollte es nicht kommen)
und dann haben wir unsere Aufgabe erledigt, verabschieden uns aus dem Funkhaus.
Die Kette der Erlebnisse reißt nicht ab.
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Jürgen Kuhlmann (1920–1945), Kadett des Jahrgangs 1938, im späteren Kriegsverlauf U-BootKommandant und im Januar 1945 mit U 1172 versenkt.
Ernst Turck (1919–1999), Kadett des Jahrgangs 1938, im späteren Kriegsverlauf U-Boot-Kommandant.
Links ist Abb. 18 eingefügt.
Nicht ermittelt.
Meldeoffizier.
Rechts ist Abb. 19 eingefügt.
Links ist Abb. 20 eingefügt.
Links ist Abb. 21 eingefügt.
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
Abb. 18
Abb. 19
Abb. 21
Abb. 20
Abb. 22
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Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
31. August Donnerstag
Wir machen Reinschiff und raten herum, was der auf dem Dienstplan festgesetzte Sonderdienst wohl bringt.
Zwei Stunden später ziehen wir mit fröhlichen Liedern zum Strand in Turnhosen …
es geht zum Baden. Hei, war das ein Indianergefühl … ein alter SA-Mann mit Gewehr
schaut uns versunken nach …
Und dann sind wir in den Dünen, Schuhe aus … in Reihe stürmen wir hinein in das
Salzwasser der Ostsee, bis wir keinen Grund mehr unter den Füßen haben, schwimmen weit hinaus und kehren leicht ermüdet an den Strand zurück, kleine Muscheln und
bunte Steine säumen den Strand ein, wir lassen uns die Wellen um die Füße spielen,
ein paar „Soldaten“ bauen wie kleine Jungen Sandburgen. Es ist ein Morgen fröhlichster Ausgelassenheit und Unbeschwertheit, ohne Gedanken an die kommenden Stunden,
von denen wir nichts ahnen.78 Abb. 22
(S. 62) 31. August 1939 Donnerstag Danzig Weichselmündung79
Wir drei: Reiner,80 Arno81 und ich, kommen nach einem recht vergnügten Urlaubsnachmittag aus Danzig zurück, erzählen im V-Boot von der Schlagsahnetorte im „Astoria“.
An Bord ist eine seltsame Hochstimmung, die gegen Abend noch steigt.
Nach Wachwechsel sitzen wir, unsere Geschützbedienung, mit Hein82 zusammen. In
einer Barkasse stehen Bierflaschen in Eis, es ist ein großartiger Abend. Wir ahnen, dass
etwas Großes bevorsteht.
Unsere Jungs vom Stoßtrupp sitzen zwischen uns … Als Sperrkadett83 muss ich mit
Pinaß-Gerät klarmachen und werde eine Zeit lang aus dem munteren Kreis geholt … als
ich zurückkomme, macht der Stoßtrupp sich klar.
Wieder stehen sie um ihren Zugoffizier … „Um 24 Uhr werden wir mit den Booten
übergesetzt“ … wie vor wenigen Tagen spricht er … „um 4. 45 Uhr setzt die Artillerie des
Schiffes ein und dann gehen wir vor.“
1. September 1939 Freitag
Jetzt wissen wir es 4.45 Uhr … reines Weißes wird angezogen … der Stoßtrupp rückt ab.
Noch einmal schütteln wir den Jungs die Hand, wir haben sie alle gern gehabt … Dann
ist es dunkel und still … das Schiff ist abgeblendet.
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Rechts ist Abb. 22 eingefügt.
Die Aufzeichnungen sind zu zwei Dritteln rot unterlegt mit „Danzig“ in gebrochener Grotesk,
z. T. mit Zusätzen des Verfassers.
Reiner Thietz, Kadett auf der „Schleswig-Holstein“ (3. Wache „Unterwasser“).
Arno Zagatowski, Kadett auf der „Schleswig-Holstein“ (3. Wache „Überwasser“).
Nicht ermittelt.
Buch war für Sperrwaffen – also Minen – zuständig, wobei es hier um Minensuchen bzw. -räumung ging. Die Besatzungsangehörigen haben immer zwei bis drei Funktionen inne („Rollen“
im Marinejargon), je nach aktuellem Auftrag des Schiffes.
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
Wir dämmern bis zum Morgengrauen hin … das Schiff setzt sich in Bewegung auf
die Westerplatte zu.
Unsere Geschützbedienung wird aufgeteilt zum Munitionsmannen84 … das passte
natürlich keinem von uns in den Kram … während ich tief unten in der Munitionskammer Hülsen aus den Buchsen ziehe … geht es oben los … wumm, Turm Anton war
das … ein leichtes Zittern geht durch das Schiff und dann geht Schuss auf Schuss, zehn
Minuten lang auf die Mauer und die Platte85 … als wir aufhören, … weiß jeder … der
Stoßtrupp geht vor.
Verworrene Meldungen kommen in die Kammer, aus denen keiner recht schlau wird …
Nicht lange danach setzt unsere Artillerie wieder ein, und dieses Mal donnert das
Trommelfeuer 1 ½ Stunden86 … „An Backbord soll ein Rohrkrepierer 4 Kadetten verletzt
haben. Der Stoßtrupp ist auf heftigste (S. 63)87 Gegenwehr gestoßen. Die Westerplatte
stark besetzt von Polen … erste Verletzte.“ Dann ist Gefechtspause … in den Kasematten
an Backbordseite sieht es toll aus … Backbord zwo88 hat den Seitenschutz und Verschluss
zerfetzt … unser kleiner Petersen89 hat einen schweren Splitter oberhalb der Lunge, stark
verletzt … Neumann90 ist die Flamme in die Augen geschlagen … Apel, Großkurth,
Schmidt91 sind verletzt … Dann werden wir unten in der Munitionskammer abgelöst,
kommen wieder an unser Geschütz … überall schlafen Übermüdete … Es ist ein scheinbar wirres Durcheinander …
Auf der Back! von den Pollern sind die Deckel fortgeflogen, Holzplanken sind herausgebrochen, der Luftdruck hat hier toll gehaust. Die Geschütze sehen braun, schwarz
aus, die graue Farbe hat Blasen geworfen. Die Schiffswand ist braungrün von Pulverdampf … ruhig, ganz ruhig ist es …
Wir liegen wieder der Festung gegenüber … auf der Westerplatte belfern MGs, einzelne Granatschüsse peitschen durch den Morgen. Krankenwagen fahren fortlaufend
den schmalen Weg entlang … ganz spiegelglatt ist das Wasser … weit voraus brennt
ein Schuppen, dessen zusammengeschossene Eisenstreben seltsam gehackt in die Luft
ragen … von der Westerplatte her ziehen dicke Rauschschwaden zu uns herüber.
Die Fensterscheiben der gegenüberliegenden Häuser sind zersplittert, Gardinen
wehen durch die Rahmen … Das ist der Krieg? denken wir.
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Mannen: Seemannssprache, von Mann zu Mann weitergeben.
Geschossen wurde von 4:48–4:55 Uhr, acht Granaten 28 cm, 59 Granaten 15 cm und 600 Schuss
der 2 cm-Flak. Stjernfelt/Böhme, Westerplatte 1939, S. 79.
Kleikamp ließ von 7:40–8:15 Uhr und nach einer kleinen Pause wieder von 8:29–8:55 Uhr schießen. Stjernfelt/Böhme, Westerplatte 1939, S. 82.
Diese Seite ergänzt die vorige in derselben Schriftform und -farbe mit „deutsch“.
Gemeint ist das zweite 15 cm-Geschütz an Backbord.
Gotthold Petersen (1919–1939), Kadett des Jahrgangs 1938, am 4. 12. 1939 seinen in Danzig erlittenen Verletzungen erlegen.
Hermann Neumann (1919–1994), Kadett des Jahrgangs 1938, später Kommandant von U 3057.
Karl-Heinz Großkurth, Horst Apel, Manfred Schmidt, Kadetten der 3. Wache auf der „Schleswig-Holstein“.
161
Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
Der Führer spricht92 … unten aus den Wohndecks, in denen die Lautsprecher stehen,
klingen manchmal die Heilrufe herauf.
Langsam ist es Nachmittag geworden … unzählige Zigaretten haben wir geraucht …
irgendwo gegessen und nun warten wir … Wir haben nur wenig Gegenfeuer bekommen
heute Morgen … scheinbar ist die Artillerie dort drüben ausgefallen.
Die ersten Verwundeten kommen an Bord mit zerrissenen Uniformen erd- und blutverschmiert … erzählen … mein kleiner Tille93 vom Pionierzug ist dabei … er hat drei
Oberschenkelschüsse. Wie er erzählt, ist er umringt von uns, die wir zuhören. (S. 64) Nach
unserem Feuer sind sie vorgegangen, und dann setzte das Feuer der Polen ein von allen Seiten und von oben … „Die Baumschützen, das ist die größte Sauerei“, sagt er. Dann ging der
Stoßtrupp zurück, ohne einen der Polen entdeckt zu haben. Unser Trommelfeuer setzte
ein … wieder gingen die Jungs vor, und nun war es, als sei der Teufel losgelassen … (Der
Pole hatte sich festgebissen in seinen ausgezeichneten Verteidigungsanlagen.)
Wir fragen noch dieses und jenes, … der dicke Möller ist tot … unser lustiger Hamburger ist nicht mehr … der kleine Schwarze Herzschuss … Arthur wird vermisst …
ganz still sind wir …94 Gegen Abend kommt eine Pinasse voller Klamotten … eine traurige Bestätigung der entsetzlichen Nachrichten.
Wir müssen ausladen, … zerschossene Feldflaschen, Gasmasken, blutige Hosen,
aufgeschnittene Stiefel, blutig schwammige Socken, ein Stahlhelm von oben durchschossen … eine Jacke, ein halber Fetzen, vollkommen blutig … (Schuss in den Handgranatenbeutel, der Junge wurde zerfetzt), ich weiß, ich brauche es nicht im Logbuch
festzuhalten, das wird mir auch so in Erinnerung bleiben …
Der Oberleutnant, der Draufgänger kommt zurück, zerfetzte Hosen, blutige Knie …
er ist jetzt Ko-Chef …95 Der Stoßtrupp ist zurückgekommen … wartet auf „Stukas“,
unsere Sturz-Kampfbomber.
In der Dunkelheit fahren wir mit Proviant und Kaffee hinüber … im Schulhaus liegt
die Kompanie, die etwas kleiner geworden ist … fünf Mann vom Pionierzug treffen wir
an … Die Wiedersehensfreude ist unbeschreiblich … auch in der Nacht bleibt es nicht
ruhig … Dumpfe Detonationen in der Ferne, … der Rundfunk meldet deutsche Truppen
im stetigen Vormarsch … Sieg auf Sieg … im Halbschlaf höre ich die Nachrichten, die
wie gewöhnlich mit dem „Marsch der Deutschen in Polen“ enden.
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Gemeint ist Hitlers Ansprache vor dem Reichstag, in der er den Überfall mit den Worten „Seit
5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ bekanntgab.
Nicht ermittelt.
Nicht ermittelt. Auch ausweislich der Verlustliste bei Tuliszka, Westerplatte 1926–1939, S. 253 f.,
macht das keinen Sinn. Tuliszka nennt 50 Namen und weist darauf hin, dass insgesamt 53 deutsche Soldaten in Danzig beerdigt wurden, von denen 50 den Kämpfen um die Westerplatte
zuzuordnen sind (S. 251, 256); dazu kommen weitere 150 Verletzte (S. 256).
Kompaniechef. Walter Schug übernahm das Kommando von Wilhelm Henningsen, der schwer
verwundet wurde und am 2. September starb.
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
2. September 1939 Sonnabend
Noch einmal um drei Uhr früh fahren wir mit heißem Kaffee zu unseren Jungs … unser
S. M. G-Zug96 von Sophie97 fährt mit hinüber.
(S. 65) Der Sonnabend Morgen bricht an. Um 4 Uhr stehen wir zur Ablösung auf der
Schanz angetreten. Der Vollmond scheint über der stillen Landschaft. Voraus türmen
sich am Himmel Wolkenberge. Wir sind abgeteilt zum Munitionstransport, die für den
Stoßtrupp bestimmt ist, inzwischen sind neue Truppen aus dem Reich übergesetzt worden … Kasten für Kasten schleppen wir Munition vorbei am Gefechtsverbandplatz …
Krankenträger mit der Rot-Kreuzbinde liegen an Deck, müde wie wir alle.
Gegen Mittag feuert unsere Artillerie wieder … Wir liegen jetzt an einem anderen
Platz … Flak-Batterien der Polen werden zwischen Gdingen und Zoppot unter Feuer
genommen98 … unsere Funker liegen drüben am Höhenzug und geben die Schussverbesserung. In regelmäßigen Abständen funken die Rohre die schweren Sachen ins
Gelände … bis das Feuer plötzlich anhält, warum, erfuhren wir abends …
Gegen achtzehn Uhr nimmt Gefechtsgruppe Steuerbord fünf die Nebelkannen vom
Bootsdeck ins V-Boot über, wir fahren hinüber … finden einen kleinen Handwagen und
fahren durch die leeren Straßen, vorbei an verlassenen Häusern auf die Felder. Unheimlich still ist es … unser Wagen poltert einen Schienenstrang entlang, rasselt auch ausgerechnet über meinen linken Fuß … dann stellen wir die Kannen auf den Feldern auf,
klar zum Vernebeln unseres Schiffes …
Während dieser Arbeit hören wir einen tiefen, singenden Ton hoch in der Luft. Wir
schauen hinauf … die Stukas kommen … in atemloser Spannung verfolgen wir die
Bomber. Der erste dreht und geht steil hinunter auf die Westerplatte zu, unter den Tragflächen lösen sich fünf Bomben … vier kleine und eine schwere rasen hinunter … eine
riesige Dreck- und Rauchsäule schießt hoch und dann dringt erst die dumpfe Detonation zu uns herüber … Der zweite, dritte, vierte saust in steilem Flug hinunter, Strich für
Strich wird die Festung belegt, Detonation auf Detonation erfolgt … Zement, Erde fliegt
(S. 66)99 hoch … Der Erdboden unter unseren Füßen erzittert … eine riesige schwarze
Rauchwand erhebt sich über der Westerplatte … und immer neue Bomber werfen ihre
mörderische Last ab, es sind über dreißig … dann sammeln sich die Flugzeuge wieder,
wenig von feindlichen Flaks unter Feuer genommen … wieder beginnt der Anflug …
Abwurf auf Abwurf erfolgt …100
Zwei Gewehrschüsse peitschen durchs Feld, die scheinbar uns gelten …
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SMG: Schweres Maschinengewehr
„Sophie“ war das Codewort für den Stoßtruppangriff auf die Westerplatte.
Zwischen 12:20 und 13:10 Uhr feuerte die „Schleswig-Holstein“ insgesamt 41 Schuss der Kaliber 28 cm und 15 cm.
99 Die Seite ist unterlegt mit einem braunen (Grab-)Kreuz, um dessen Fuß ein Kranz gelegt ist.
100 Der Angriff erfolgte zwischen 18:05 und 18:45 Uhr durch die zweite und dritte Gruppe des
Sturzkampfgeschwaders Immelmann 2 mit etwa 60 Flugzeugen. Insgesamt wurden Bomben
mit einer Sprengkraft von ca. 25 000 kg abgeworfen. Sternfjelt/Böhme, Westerplatte 1939, S. 89.
163
Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
Der zweite Anlauf ist vorbei, wir fahren an Bord zurück, an den Nebelkannen bleibt
ein Posten bis zur Dunkelheit …
Einen Toten haben wir nun an Bord … der Funkobergefreite Schuhmann101 … während der Schussverbesserung schlug eine polnische Granate ins Funkgerät … nun liegt
er drüben auf der Bahre an Land. Wir nehmen diese Nachricht still hin.
Der Ko-Chef der Stoßtruppkompanie ist nun auch seinen Verletzungen erlegen.102
An den Schotts hängt der Aufruf des Kommandanten:
Namens der Besatzung spreche ich der Kompanie die aufrichtigste Anteilnahme
anläßlich des Ablebens ihres tapferen Kompanieführers und des tödlichen Verlustes von
etwa 10 tapferen Soldaten aus. Wir werden alle Zeit nie den bewundernswürdigen und
unübertrefflichen Angriffsgeist der Kompanie vergessen und besonders nicht die tapferen Toten, die uns in wenigen Tagen zu besten Kameraden und Freunden geworden
waren. Kommandant „SX“103
Unsere Kasematte ist nun leer, die Schlauchboote und Tornister haben wir fortgeschafft, und nichts mehr erinnert daran, dass hier der Stoßtrupp mit uns gewohnt und
gelebt hat. Uns aber sind sie ewig in Erinnerung, der dicke Möller, der lustige Hamburger, die nun ihr Leben gelassen haben.
3. September Sonntag
Die Verluste des Stoßtrupps haben sich erhöht auf 19 Tote, 50 Schwer- und 40 Leichtverletzte.104 (S. 67) Es ist Sonntag, dieses Mal merken wir es wirklich gar nicht. Die Nacht war
empfindlich kalt, nun scheint die Sonne. Ich sitze auf der Hütte, die Flak bereitet Großes
vor. Aus den Decks dringen dumpf die Lautsprecher. Nachrichten. England hat ein Ultimatum gestellt, dass bis 11 Uhr die deutschen Truppen zurückzuziehen seien, anderenfalls steht England in Kriegszustand. Des Führers Antwort ist klar und eindeutig.
Der Engländer hat endlich die Maske abgerissen und zeigt unverhüllt den Hass. Sein
Wille ist Vernichtung des deutschen Volkes und Reiches. Der Führer hat einen Aufruf
an seine Soldaten der Ostfront erlassen, er begibt sich selbst an unsere Front. Im Westen
stehen die Soldaten der Westfront in den Bunkern des Westwalles.
Nun ist auch mein Bunker besetzt, den ich vor einem Jahr mit meinen fünf Arbeitsdienstkameraden baute. Ich denke zurück an die Zeit vor einem Jahr. Damals ging es
um die Tschechei. Damals stand der Arbeitsdienst militärisch geschult bereit, die selbst
gebauten Bunker und Feuerstellungen zu besetzen. –
Eine Pionierlehrabteilung mit Flammenwerfern und Mörsern ist bereit zum Endangriff auf die Westerplatte, der auch der gestrige Bombenangriff kaum geschadet hat. Erst
101 Maat Joseph Schumann.
102 Vermutlich verwechselt Buch hier Walter Schug und Wilhelm Henningsen, die beide den Rang
eines Oberleutnants hatten. Dafür spricht auch der gleich darauf wiedergegebene Aushang des
Schiffskommandanten, der Kompaniechef und Stellvertreter richtig zuordnet.
103 Kürzel der „Schleswig-Holstein“.
104 Eine komplette Verlustliste bei Tuliszka, Westerplatte 1926–1939, S. 253 f.
164
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
jetzt erkennt man das ungeheuere Befestigungswerk, das der Pole dort drüben unter den
Augen der nichts ahnenden Danziger angelegt hat. Vor wenigen Tagen vermeinte man
noch mit einer kleinen SS- und Polizeitruppe die Platte zu nehmen. Erst als der Stoßtrupp
sich schwere Verluste holte in diesem hochmodernen Panzerwerk, horchte man auf.
Nachmittags 17 Uhr. Der Franzose, der ein ähnliches Ultimatum an uns gestellt
hatte, ist nun ebenfalls mit uns in den Kriegszustand getreten.
Die alten Widersacher von 1914 sind wieder auferstanden, in ihnen hat der Neid über
den Aufstieg unseres Volkes gebohrt. Dieses Mal, das werden sie bald merken, beißen sie
auf Granit und werden sich blutige Köpfe holen.
Ab und zu vernehmen wir dumpfe Detonationen in der Ferne. Einzelne deutsche
Flieger werden von polnischer Flak unter Feuer ge-(S. 68)nommen. Natürlich gehen die
gutgemeinten Schüsse weit vorbei.
Am dunklen Abendhimmel flackert es in der Ferne blutig rot, ein deutsches Dorf ist
dort von den Polen angezündet worden.105 Über dem roten Schein ziehen dunkle Brandwolken vom Winde getragen gen Osten.
Alles ist abgeblendet in Danzig, wie gestern liegt der fahle Vollmondschein über dem
Schiff.
In den Kasematten schlafen die Geschützbedienungen den Schlaf der Ermattung.
Die Lautsprecher geben seltsam hohlklingend den Heeresbericht durch: „Deutsche
Truppen in siegreichem Vormarsch. Die polnische Luftflotte zerschlagen. Ein großer
Teil der Flugzeuge auf den Landungsplätzen bombardiert. Deutsche Luftoberhoheit über
Polen.“
Dann schlafe auch ich ein.
4. September Montag
Der Heeresbericht meldet: „Feindliches U-Boot in der Danziger Bucht versenkt, poln.
Zerstörer ‚Wycha‘106 bombardiert und kampfunfähig, ein zweiter Zerstörer107 treibt kieloben. Polnische Minensuchboote ebenfalls bombardiert.“
Der gestrige geplante Angriff auf die Westerplatte wurde aufgeschoben, um die
ganze Macht auf die Niederzwingung Polens zu konzentrieren. Unsere Artillerie soll
Landziele beschießen.
Um 9 Uhr stehen wir an den Backbordgeschützen. Endlich kommen wir (Steuerbord V) zum Feuern. Lange haben wir diesen Augenblick ersehnt. BÜ108 meldet: „Es wird
das Gut Hohen-Pettlau und die Flak-Batterie beschossen.“109
105
106
107
108
109
Unklar, was damit gemeint sein könnte.
So die Schreibweise im Original; gemeint: Zerstörer „Wicher“, s. unten
Gemeint ist der schwere Minenleger „Gryf“.
Befehlsübermittler.
Zwischen 9:18 und 12:00 Uhr verschoss die „Schleswig-Holstein“ 56 Granaten des Kalibers 15 cm in Richtung Hochredlau (poln. Redłowo), südlich von Gdynia: Żebrowski (Hrsg.),
Zanim poddał się Hel, S. 55.
165
Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
Wir funken zehn Schuss durch das Rohr. Nach jedem Schuss bricht sich der Schall an
den Wänden der gegenüberliegenden Schuppen, ein tolles Geklacker. Unsere Braken110
zischen mit einem gurgelnden Heulton landeinwärts.
Ein Zug des Maschinenpersonals ist grau eingekleidet worden und soll zur Verstärkung des Stoßtrupps nach Weichselmünde. Zehn Jungkadetten sind dabei. Scherzworte
fliegen hin und her.
Am Nachmittag Geschützreinigen, draußen scheint die Sonne, wir (S. 69) Mittelartilleristen sehnen uns nach ein bisschen Sonnenlicht. Tag und Nacht brennen in unserer
Kasematte die elektrischen Birnen.
5. September Dienstag
Reinschiff! Wahrhaftig, das tut not. In drei Stunden geben wir unserem Schiff ein etwas
besseres Aussehen und fühlen uns sofort wohler.
„Englische Bomber griffen in der vergangenen Nacht die Nordseeküste an. Über die
Hälfte der Langstreckenbomber wurden von unserer Flak und den Jägern heruntergeholt“, meldet der Rundfunk.
Drüben auf der Westerplatte kracht es wieder, deutsche Mörser legen planmäßig ihre
Braken auf die Kraftstation und das Pumpenwerk. Vom Getreidesilo holt Leutnant Hartwig111 mit MG C 30112 zwei Polen von den Bäumen. Wumm, wumm, dunkle Rauchwolken quellen hoch und stehen wie Pinien über der Festung. Die Steuerbordbatterie ist zur
Beerdigung der toten Kameraden. Reiner,113 Fritze114 mit Paradejacke, ein seltener Anblick.
Während dieser Zeit funken wir auf die Funkstation bei Gdingen.115 Die S. A.116 macht
wieder einen Mordslärm. In der Achterbatterie fällt eine Glasbirne zu Boden, zersplittert. Die Backen hüpfen.
Schon bald wird das Schießen gestoppt, denn bei der vierten Salve saßen unsere 28er
in der Sendestation, die sich nicht mehr meldet. Erfolg der schweren Artillerie, Turm
„Bruno“. Abb. 23
110
111
112
113
114
115
Geschosse.
Heinrich Hartwig (1910–?), Leutnant des Maschinengewehrzugs der „Schleswig-Holstein“.
Ein Flak-Geschütz.
Reiner Thietz, siehe oben.
Fritz Zoller, siehe oben.
Zwischen 13:37 und 13:54 Uhr schoss die „Schleswig-Holstein“ 13 Granaten des Kalibers 28 cm:
Żebrowski (Hrsg.), Zanim poddał się Hel, S. 58.
116 Schwere Artillerie, nicht die „Sturmabteilung“ der NSDAP.
166
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
Der Danziger Vorposten117
Der Führer bei seinen Soldaten an der Ostfront!
Der nördliche Korridor völlig abgeschnitten. Durchbruchsversuch der polnischen
Korridortruppen blutig abgewiesen. Pommersche Spähtrupps in Danzig eingetroffen.
Ein polnisches U-Boot und der Zerstörer „Wicher“ versenkt, der Minenleger „Gryf“
schwer beschädigt.
England verletzt Hollands Neutralität!
Schon 15 000 Gefangene in Südpolen!
Sehr bezeichnend für die englische Politik ist wieder der Lügen- (S. 70) und Hassfeldzug gegen Deutschland. Wie im Weltkrieg der Fall „Lusitania“ den Amerikaner in den
Krieg zog,118 soll heute derselbe Fall durch eine angebliche Torpedierung der „Athenia“119
durch ein deutsches U-Boot den Hass der Amerikaner entfachen. Es gelingt uns, dieses
heuchlerische Spiel aufzudecken und Herrn Churchill bloßzustellen.
Immer wieder kommen unsere Stoßtruppkameraden an Bord, um Verpflegung und
Munition zu holen, und immer wieder werden sie von uns umarmt und müssen erzählen.
Jenes mystische Dunkel, das um die Westerplatte herrscht, schafft aus Wirklichkeit
und Phantasie die spannendsten Geschichten.
So wird erzählt, dass sich die Bunker nach allen Richtungen hin bewegen und aus
mehreren Stockwerken bestehen, während geschickte Tarnungen MGs hochbringen,
künstliche Grasflächen sich heben und plötzlich das mörderische Feuer im Rücken der
vorgedrungenen Schützen beginnt. Die, mit einer Maschinenpistole, einer furchtbaren
Waffe, ausgerüsteten polnischen Baumschützen sollen grüne Stiefel haben und in einem
kleinen Panzerkorb in den Astgabeln sitzen.
Ein vorstürmender Soldat fiel und verschwand im selben Augenblick vor den Augen
seiner Kameraden. Auf Wahrheit beruht folgender Fall: Spät abends in der Dunkelheit
kam unser Pionier Goede120 sehr verwundert keine Kameraden mehr zu finden, von der
Westerplatte zurück, unversehrt trotz des mörderischen Trommelfeuers. Ein anderer
bekam einen Schuss durch die Handgranate. Nur das Pulver lief aus dem Topf, der soll
große Augen gemacht haben.
Wie stark die Befestigungsbauten dort sind, soll eine Fliegeraufnahme zeigen. Eine
117 Abb. 23, quer über die Seite in gebrochener Grotesk mit Bleistift geschrieben, „Der“ ist größtenteils mit einem Danziger Emblem (Marienkirche) unterfüttert.
118 Das englische Passagierschiff „Lusitania“ wurde am 7. 5. 1915 vom deutschen U-Boot U 20 versenkt. Wegen amerikanischer Proteste stellte Deutschland das unangekündigte Beschießen von
Zivilschiffen durch U-Boote, den sogenannten uneingeschränkten U-Boot-Krieg, bis Februar
1917 ein. Die Wiederaufnahme dieser Praxis war Anlass für den Kriegseintritt der USA im April
1917.
119 Das englische Passagierschiff „Athenia“ wurde am 3. 9. 1939 im Ostatlantik durch U 30 versenkt; es gab 112 Tote. Deutschland leugnete seine Beteiligung daran, die Propaganda behauptete eine britische Verschwörung und eine Selbstversenkung. Vgl. Cay Rademacher, Drei Tage
im September. Die letzte Fahrt der Athenia 1939, Hamburg 2009.
120 Nicht ermittelt.
167
Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
Bombe der Stuka fiel mitten auf das Dach des Hauptkommandogebäudes, ohne großen
Schaden anzurichten.
Der K. O.121 erzählte von zwei polnischen Blindgängern, die friedlich zwischen Benzintanks und einer Benzinleitung liegen.
6. September Mittwoch
Heute Morgen bot sich uns ein fesselndes Schauspiel. Um den Wald in Brand zu setzen,
hatte man nachts einen Tankwagen voll (S. 71) Brennstoff in den Wald gefahren. Durch
Zeitzünder wurde der Waggon in Flammen gesetzt und nun züngelten die schmutzigroten Flammen hoch, weit über sich eine schwarze Qualmfahne.122
Heute Mittag hörten wir zum ersten Mal im Radio seit langer Zeit wieder Musik.
Wir hatten sie nicht vermisst, aber nun lauschten wir, als wäre es ein Geschenk. Komisch
ist es mit uns beschaffen, vor wenigen Wochen hörten wir nie hin und mit einem Mal
berührt uns eine kleine Ouvertüre.
Hängematten miefen aus und wir toben in Sporthose auf Flößen herum, bewundern
eine Dalie, nur weil es in diesem grauen Krieg eine Blume ist.
Und wieder flammt es am Spätnachmittag auf. Eine gewaltige Stichflamme schießt
hoch, mit einem Puff quillt der schwarze Rauch hoch und steht über der Brandstelle wie
die geballten Rauchwolken eines Vulkans.123
7. September Donnerstag
Seit vier Uhr ist Alarm. Der graue Schiffsrumpf gleitet ganz langsam in der Morgendämmerung auf die Westerplatte zu.
Wir peilen an Backbordseite durch alle Fugen in dem „Elefantenpanzer“. Abgedeckte
Dächer, herausgesprungene Fenster haben nahezu alle Häuser. Grotesk winken die Fensterflügel, die wie die Flügel eines lahmen Vogels von der Hauswand abstehen. Ein Haus
ist zusammengestürzt. Aus den Trümmern stehen steif die Balken.
Die Werft ist vollkommen niedergebrannt. Die Eisenstreben stehen kreuz und quer
durcheinander. Der große Kran ist umgeknickt. Eine Barkasse liegt zerfetzt am Ufer.
Und dann bleiben unsere Blicke auf der Westerplatte hängen. Direkt vor uns stand
einmal ein Haus. Die Rückwand steht zerbröckelt mit tiefen Rissen. Alles andere ist ein
121 Kadettenoffizier, dazu S. 8 im Original: „K. O. heißt Kadettenoffizier und nicht etwa knock out.“
Hier Kapitänleutnant Karl-Friedrich Merten (1905–1993), der von Juli 1939 bis Mai 1940 Kadettenoffizier auf der Schleswig-Holstein war. Vgl. auch seine Memoiren: Karl-Friedrich Merten,
Nach Kompass. Lebenserinnerungen eines Seeoffiziers, Berlin 1994.
122 Tatsächlich war dies eine misslungene Operation, weil der Bahnwaggon zu früh von der Lok
abgekoppelt wurde und nicht an der vorgesehenen Stelle explodierte; auch Versuche, den Wald
auf der Westerplatte mittels Flammenwerfern abzubrennen, führten nicht zum Ziel. Vgl. Stjernfelt/Böhme, Westerplatte 1939, S. 93 f.
123 Vgl. vorherige Fußnote: gegen 15:45 Uhr wurde ein erneuter Versuch mit zwei benzolgefüllten
Eisenbahnwaggons unternommen; sie gelangten ans Ziel, aber der Brand erlosch nach 15 Minuten, ohne den gewünschten Effekt zu haben.
168
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
schwelender Haufe. Leblos recken die zerfetzten Bäume ihre Splitter in die Luft. Es sieht
aus, als sei ein riesiges Beil über die Kronen hinweggefahren. Die rote Mauer besteht nur
noch aus großen Lücken.
Mir scheint, als sehe ich einen Kriegsfilm, leblos grau liegt die Landschaft vor uns.
Aber nicht mehr lange. Unser Schiff schiebt sich heran. Die ungeheure Größe des 13 000
Tonners muss in dieser schmalen Fahrstraße ungeheuer wirken.
(S. 72) Und dann setzt das Feuer ein. Unsere Fla M. W.s124 rasseln Leuchtspurgeschosse durch die Baumkronen. Wie bunte Lampions liegen die Salvenketten in der
Luft, prasseln durch die Bäume, rot, grün, gelb. Oft überschneiden sich die Garben,
streichen alles ab. Die Flaks bollern los, kleine rote Wölkchen zerfetzen das Unterholz. Deutlich erkennbar ein Bunker. Die MA125 schießt mit Bdz126, rot sind auch die
Qualmwolken. Drüben setzt das Feuer ein. Das hölzerne Tacken der 08, das helle Knattern der 34,127 dazwischen die Detonation von Handgranaten, mit einem tiefen absinkenden Ton. Überall flammt es grell auf, Dreck fliegt ins Wasser. Kurze zwitschernde
Töne, Geschosse flitzen vorbei. Es klingt wie das abgehakte Pfeifen einer Grasmücke.
Die Geschosse unserer 2 cm128 prasseln wieder durch die Wipfel, hier und da kracht einer
herunter und fällt langsam auf den qualmenden Boden. Weiter zurück bleiben dumpfe
Detonationen sekundenlang vibrierend in der Luft und ebben langsam ab.
Schlag auf Schlag feuert jetzt die Mittelartillerie, jeder Aufschlag ist zu verfolgen. Die
15 cm bohren sich in den Boden, sprengen und reißen.
Ein Feldgrauer129 hetzt geduckt am abfallenden Ufer entlang, wirft sich flach in den
Dreck hinter einem Mauervorsprung, andere kommen nach in Schützenrudel. Keine
200 m weit ist es. Eine Maschinenpistole bellt auf und sofort liegen die Bäume unter
Feuer.
Der Trupp geht vor bis zu den Resten eines Hauses, dessen Strohdach in Fetzen herunterhängt, hastet zurück, eine Flammensäule, Detonation; wir sehen die zum Wurf
ausgeholten Arme, Handgranaten … eine ganz bestimmte Stelle wird von dem Eisenhagel überschüttet … weiter zurück geht ein Verwundeter, gestützt auf einen Kameraden.
Backbord 1 nimmt weiter zurück ein weißes Haus, es war einmal eines, unter Feuer …
Die langsam vorgehenden Feldgrauen liegen flach auf dem Erdboden, während unsere
Braken wieder durch die Gegend summen.
Ab und zu ist es für Sekunden totenstill, unheimlich still … verloren klackert ein
MG, dann setzt es wieder ein.
124 Flakmaschinenwaffen.
125 Mittlere Artillerie, Kaliber 15 cm.
126 Bodenzünder – sind nicht im Kopf, sondern im Boden des Geschosses platziert, um eine verzögerte Detonation zu verursachen.
127 Gemeint sind die beiden Maschinengewehre MG 08 sowie MG 34, wobei die Zahl jeweils das
Konstruktionsjahr angibt.
128 Die „Schleswig-Holstein“ hatte vier Flak-Maschinengewehre Kaliber 2 cm.
129 Soldat der Wehrmacht in grauer Felduniform.
169
Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
Der Sprengtrupp hat sich zurückgezogen, unsere Artillerie (S. 73) setzt mit aller
Wucht wieder ein. Explosionen, Detonationen zerreißen in schneller Folge die Luft, Krachen, Bersten. Dazwischen, wie der Wirbel einer Trommel, seltsam tot, MG-Feuer …
… eine riesige Flamme vor meinen Augen, ein ungeheurer Luftdruck stößt mich vor
die Brust, wirft mich nach achtern über die Kartuschbüchsen, dass ich längs an Deck
liege … in den Ohren singt es, das Blut rauscht am Trommelfell vorbei, wie ein Wasserfall … Turm Anton hat gefeuert. Ich peile nicht mehr …130
Um 9 Uhr liegt das Schiff am alten Platz.
1015 Uhr. Wie ein Lauffeuer eilt es durchs Schiff, von Mund zu Mund: „Die weiße
Flagge über der Westerplatte! Die Polen ergeben sich!“ Es klingt unwahrscheinlich,
wir rasen auf die Brücke, stürzen an die Gläser. Tatsächlich, dort hinten auf der Laufbrücke … Polen in grüner Uniform gehen mit erhobenen Händen über den schmalen
Steg … dann müssen wir verschwinden.
Das hatten wir nicht erwartet …
Eine Woche lang hat die Besatzung standgehalten … aus Angst, wir würden ihnen
die Augen ausstechen und sie erschießen.
Am Nachmittag steht am schwarzen Brett:
Abschrift!
Nach Fall der polnischen, starken Befestigungsanlagen auf der Westerplatte spreche ich der Sturmkompanie, Ihnen und Ihrer Schiffsbesatzung höchste Anerkennung
aus für zähen, tapferen Einsatz, der zum vollen großen Erfolg führte. In stolzer Trauer
gedenken wir unserer gefallenen Kameraden.
Der Rundfunk meldet die Einnahme und am Abend steht unser Kampf im Heeresbericht.
Literatur
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– /Mallmann, Klaus-Michael/Matthäus, Jürgen, Einsatzgruppen in Polen. Darstellung
und Dokumentation, Darmstadt 2008.
– (Hrsg.), „Größte Härte …“. Verbrechen der Wehrmacht in Polen September/Oktober
1939, Osnabrück 2005.
Brewing, Daniel, Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten 1939–1945, Darmstadt 2016.
130 Die „Schleswig-Holstein“ feuerte zwischen 4:26 und 7:14 Uhr insgesamt 5 Granaten Kaliber
28 cm, 6 Granaten mit 15 cm, 197 Granaten mit 8,8 cm und 2400 Schuss mit den Flakwaffen.
Vgl. Stjernfelt/Böhme, Westerplatte 1939, S. 95.
170
der angriFF der „SChleSWig-holStein“ auF die WeSterplatte
Buddrus, Michael, Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, 2 Bde., München 2003.
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1945, in: Stephan Huck (Hrsg.), Die Kriegsmarine. Eine Bestandsaufnahme, Bochum
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Jockheck, Lars, Propaganda im Generalgouvernement. Die NS-Besatzungspresse für
Deutsche und Polen 1939–1945, Osnabrück 2006.
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Olejnik, Tadeusz, Wieluń. Polska Guernica, Wieluń 2009.
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171
Kurt lehnStaedt · Stephan lehnStaedt
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172
Christoph Hamann
Der Krieg im Album
Dem Außeralltäglichen eine alltägliche Form geben –
Erinnern als Überschreiben
1. Die „eigene Geschichtlichkeit“
Mit der Niederschrift seiner Lebenserinnerungen hatte Gerhard W. (1920–2017) im Alter
von 80 Jahren begonnen.1 Die Darstellung seiner Militärdienstzeit von 1939 bis 1945
umfasst darin etwas mehr als 30 Seiten, die des Krieges gegen Polen ungefähr fünf Seiten. In diesen Erinnerungen erwähnt er auch sein Tagebuch über die ersten Wochen des
Krieges, aus dem er ganze Passagen zitiert. Sich an imaginierte Leser wendend, kommentiert er sechs Jahrzehnte nach ihrer Niederschrift seine historischen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1939:
„Bisher habe ich mein Tagebuch über den Polenfeldzug fast wörtlich wiedergegeben, wie ich das […] aus der Sicht eines 19jährigen Soldaten erlebt habe. Es sind
darin Gedanken zu Papier gebracht, wie sie eben nur jemand haben konnte, der
ausschließlich in der Nazizeit groß geworden ist und keine Möglichkeit hatte,
sich anderweitig zu informieren. Wenn in dem Bericht also Ansichten geäußert
sind, die heute nur noch Kopfschütteln verursachen, so bitte ich, diesen Aspekt
zu berücksichtigen und das nachzusehen.“2
Diese Passage kann einerseits als Ausdruck des Bemühens um eine Erklärung und
(implizite) Entschuldigung verstanden werden. In ihr artikuliert sich aber zugleich eine
basale Einsicht historischen Denkens. Der Autor historisiert sich selbst. Er benennt die
Ursachen unterschiedlicher Wahrnehmungen und Interpretationen von Erlebtem im
Wandel der Zeit. Denn weder der historische Laie noch die Historikerin betrachtet den
Strom der Zeit gleichsam von außerhalb, von einem Ufer vermeintlicher Objektivität
aus, das sie selbst außerhalb der Zeit situiert. Sie sind vielmehr selbst Teil des Zeitstromes, werden von ihm fort- und mitgetragen zu neuen Perspektiven und wandeln sich
mit ihm auch selbst. So weit, so bekannt.
Die wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Kontexte bzw. deren Wandel müssen
also reflektiert und diskutiert werden: Woher, in welche Richtung, wie oder wie schnell
1
2
Gerhard W., Erinnerungen, Hildesheim 2000/2001 (unveröffentlichtes Ms.). Auf Bitten der
Angehörigen wurde der Name anonymisiert.
W., Erinnerungen, S. 53; eine ähnliche Stellungnahme auch S. 50.
173
ChriStoph hamann
oder langsam ist der Zeitstrom bislang geflossen? All dies kann bei seriöser Arbeit als
geübte Praxis gelten. Nicht immer aber nimmt die oder der Forschende auch sich selbst
in den Fokus. Denn auch sie oder er schwimmt im Strom der Zeit, mal mit allen anderen,
mal individuell. Auch ihre oder seine persönliche Perspektivität wie auch den eigenen
Wandel gilt es bei der Analyse der Aufnahmen deshalb zu berücksichtigen. Denn nicht
allein das Erkenntnisobjekt, auch das Erkenntnissubjekt unterliegt der Geschichtlichkeit.3
Die zwingende Anforderung lautet deswegen bei der Interpretation fotografischer Quellen: „Ein wirklich historisches Denken muss die eigene Geschichtlichkeit mitdenken.“4
Dies betrifft im fotohistorischen Kontext insbesondere die Geschichte der eigenen
Mediensozialisation, die nicht selten geprägt ist von den ubiquitären geschichtskulturellen Bildern des Krieges in Film, Fernsehen und Publizistik. Denn die publizierten Bilder
aus der Vergangenheit prägen das mentale Bild von der Vergangenheit. Und diese individuellen mentalen Bilderwelten beeinflussen den Blick des Rezipienten auf die vor ihm
liegenden fotografischen Quellen. Die Bilder im Kopf sind deshalb ihrerseits selbstkritisch zu reflektieren. So begegnete der Zweite Weltkrieg dem Autor dieses Beitrags – wie
vielen anderen seiner Generation ebenso – zunächst in Bildern von Propagandafotografen der deutschen Wehrmacht, die nach 1945 zum Beispiel in Schulbüchern oder der
Publizistik weitgehend unkritisch veröffentlicht wurden. Der Historiker Gerhard Paul
sprach angesichts dieser ungebrochenen Rezeption von Propagandabildern deshalb vom
„späte[n] Triumph des Joseph Goebbels“.5 Später erst wurden – vor allem im Kontext der
Wehrmachtsausstellung – auch die Gegenbilder des militärischen Grauens publiziert.
Innerhalb der Spannbreite dieser Polarisierung bewegt(e) sich also die Rezeption von
Knipser-Bildern deutscher Soldaten: Propaganda oder Grauen. Der Blick sucht(e) die
Extreme. Nicht selten aber findet er in den Knipser-Alben eher unspektakuläre Bilder
des Kriegsalltags.
2. Quellen und Fragestellung
Die historiografische Auseinandersetzung mit dem Krieg gegen Polen kann in der vorliegenden biografischen Überlieferung auf Quellen unterschiedlicher medialer Art aus
unterschiedlichen Zeiten zurückgreifen. Von Gerhard W. liegt ein Fotoalbum mit einer
3
4
5
174
Hans-Jürgen Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart
2001, S. 34 ff.
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, S. 305.
Gerhard Paul, Bilder des Krieges/Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges,
Paderborn/München/Wien/Zürich 2004, S. 268; zur Rezeption der Kriegsbilder in der deutschen Erinnerungskultur, S. 268–284. Vgl. dazu auch: Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung.
Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach
1945, Berlin 1998; Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen
Erinnerungskultur, Hamburg 2001.
der Krieg im album
Sammlung von Aufnahmen zum – so der Titel – „Polenfeldzug Sept. 1939“ vor. Dieses ist mutmaßlich im engeren, jedoch mittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den
historischen Ereignissen angelegt worden.6 Denn während der militärischen Auseinandersetzungen selbst wird er dazu kaum Zeit gehabt haben. Es ist als ein ausgesprochen glücklicher Umstand zu bewerten, dass von Gerhard W. auch ein Kriegstagebuch
überliefert ist, das sich in wesentlichen Teilen ebenfalls auf die Zeit des Überfalls auf
Polen bezieht.7 Seine Beteiligung am Zweiten Weltkrieg wiederum thematisiert W. in
den schon eingangs erwähnten unveröffentlichten Erinnerungen, die er in den Jahren
2000/2001 geschrieben hat. In diesen zitierte er wiederum das Kriegstagebuch von
1939 – wie sich zeigen wird, nicht immer wörtlich. In seiner Beschäftigung mit dem
eigenen Leben setzte sich W. wenige Jahre vor seinem Tod noch einmal mit dem Fotoalbum auseinander. Dies fand seinen Niederschlag in handschriftlichen Kommentaren, die er auf kleine Zettel geschrieben und im Sinne ergänzender Bildtexte hinter die
jeweiligen Fotografien geklemmt hat. Außerdem bearbeitete er die Bildtexte von 1939
auf der Rückseite der Aufnahmen. Dies erfolgte ungefähr 2015 nach einem Gespräch
von Gerhard W. mit dem Autor dieser Ausführungen über das Fotoalbum.8 Die Überlieferung der Quellen ist also dicht und stammt aus drei Zeiträumen, nämlich 1939/40,
2000/2001 und 2015.
Die Überlieferungsdichte legt zwei Analyseschwerpunkte nahe. Nach biografischen Anmerkungen zu Gerhard W. und quellenkritischen Ausführungen zum Fotoalbum wird dieses in seiner temporalen wie thematischen Struktur sowie in Bezug
auf die Perspektivität der Fotografien analysiert. Ergänzend werden bei diesem Vorgehen vereinzelt auch Passagen aus dem Kriegstagebuch herangezogen, die sich auf
einzelne Motive der Aufnahmen beziehen. Der Fokus liegt bei diesem Schritt also
auf dem Album selbst. Die weitere Analyse nutzt die Quellenüberlieferung aus unterschiedlichen Zeiten, um der Frage nachzugehen, wie das autobiografische Erinnern
mit dem eigenen Leben bzw. den Quellen dieses Lebens umgeht, welche Strategien
es verfolgt und welche Mittel es einsetzt. Den Abschluss bilden Reflexionen über die
unterschiedliche Medialität der Quellen und die unterschiedlichen Reichweiten von
Aussagen über Vergangenheit, die auf Grundlage der verschiedenen Medien (Fotografie – Text) getroffen werden können.
6
7
8
Dafür spricht auch, dass manche der Bildtexte auf der Rückseite der Aufnahmen in ihren Angaben zu Ort und Zeit der Aufnahme (mutmaßlich aus Gründen mangelnder Kenntnis bzw. des
Vergessens) entweder unvollständig blieben (z. B. Abb. 9) oder korrigiert wurden (z. B. Abb. 10).
Für seine Aufzeichnungen nutzte W. linierte Schulhefte im DIN-A-5-Format, die er handschriftlich (Bleistift) beschrieb. Es liegen drei Hefte vor, von denen die beiden ersten Eintragungen aufweisen, die den Überfall auf Polen betreffen. Den Aufdrucken auf der Titelseite zufolge
hatte er diese Hefte in Polen erworben.
Es sei darauf verwiesen, dass Gerhard W. der Schwiegervater des Autors dieser Zeilen war. Dies
begünstigt einerseits ein Verstehen im hermeneutischen wie auch im emphatischen Sinne, birgt
andererseits die Gefahr mangelnder Distanz zum Gegenstand der Analyse. Der Autor ist sich
dessen wohl bewusst und hofft dennoch, hinlänglich professionell agiert zu haben.
175
ChriStoph hamann
3. Archivar und Autobiograf
Gerhard W. (Abb. 1), gleichermaßen Archivar wie Biograf des eigenen Lebens, stammte
aus einer Handwerkerfamilie in Hildesheim. Der Vater war, bevor er sich 1927 als Malermeister selbstständig gemacht hatte, angestellt im ortsansässigen Malerbetrieb von
Heinrich Havemann (1871–1951). Dieser nahm für die DVP zwischen 1920 bis 1928 und
dann nach dem Tod von Gustav Stresemann (1878–1929) als dessen Nachrücker noch
einmal 1929/30 ein Mandat im Deutschen Reichstag wahr. Der mündlichen Überlieferung in der Familie zufolge war das Elternhaus jedoch unpolitisch.
Nach dem Abitur 1938 und dem Reichsarbeitsdienst meldete sich W. im November
1938 freiwillig zur Wehrmacht und nahm in verschiedenen Regimentern der Flugabwehr
am Zweiten Weltkrieg teil, nach sieben Beförderungen zuletzt im Rang eines Oberleutnants. Als Funker der 5. Batterie im Flakregiment 36 der 8. Armee/Heeresgruppe A war
W. 1939 von Schlesien aus am Angriff gegen Polen beteiligt. Seine Batterie bestand aus
vier Zügen, die mit je drei 2-cm-Flakgeschützen für die Abwehr von Tieffliegerangriffen
ausgestattet war. Nach einer Verwundung in Frankreich wurde er auf der Kanalinsel
Guernsey stationiert und kam nach dem Angriff auf die Sowjetunion schließlich mit
der Heeresgruppe Mitte bis ca. 40 Kilometer vor Moskau. Das Kriegsende erlebte er in
Ostpreußen und konnte von dort mit einer Gruppe seiner Einheit über die Ostsee nach
Kiel fliehen. Ihm wurden das Eiserne Kreuz I. bzw. II. Klasse und weitere militärische
Auszeichnungen verliehen.9 Nach kurzer englischer Gefangenschaft kehrte er im August
1945 in seine Heimatstadt zurück. Nach 1945 arbeitete er bis 1986 im Justizdienst, zuletzt
als persönlicher Referent (Oberamtsrat) des Präsidenten des Landgerichts Hildesheim.10
4. Das Album
4.1 Die Quelle
Die 49 Schwarz-weiß-Fotografien, unter dem Titel „Polenfeldzug Sept. 1939“ in einem
Kapitel zusammengefasst, sind Teil eines Fotoalbums, das auch 28 Aufnahmen und eine
farbige Bildpostkarte unter dem Titel, „am Westwall Sept. 39 – Anf. Mai 40“ präsentiert.
Das mit einem Bezug aus grünem Lederimitat gebundene Album vermittelt einen hochwertigen Eindruck und beinhaltet im Querformat insgesamt 24 kartonierte Bildseiten,
davon 13 Seiten mit den Aufnahmen aus Polen. Auf diesen Seiten sind jeweils drei bis
vier Aufnahmen mittels Fotoecken auf einer Seite arrangiert. Diese Bilder dokumentieren – den Angaben auf den Rückseiten der Fotos zufolge – den Zeitraum zwischen dem
9
10
176
Verwundetenabzeichen, Medaille „Winterschlacht im Osten 1941/42“, Erdkampfabzeichen der
Luftwaffe, Flakkampfabzeichen, Verwundetenabzeichen in Silber.
Ich danke Frau Gudrun Bierbach (Hildesheim) für Auskünfte zur beruflichen Stellung von
Gerhard W.
der Krieg im album
Abb. 1: Gerhard W. Bildtext auf der Rückseite
der Aufnahme: „polyfoto 25 Breslau“ (Stempel) und handschriftlich „Sommer 1942“.
25. August und dem 13. September 1939. Dieses frühe zeitliche Ende der fotografischen
Dokumentation des Überfalls auf Polen erklärt sich aus dem Abzug seines Flakregiments schon Mitte September. Die polnischen Flugzeuge waren binnen Kurzem der
quantitativen wie militärtechnischen Überlegenheit der deutschen Luftwaffe zum Opfer
gefallen.11 Die Anwesenheit einer deutschen Flugabwehr war aus militärischen Gründen
daher nicht mehr notwendig.
Mindestens zwei Hinweise lassen vermuten, dass in das Album Aufnahmen verschiedener Bildautoren Eingang gefunden haben. Zunächst fallen die unterschiedlichen
Positiv-Abzüge auf. Es finden sich zwar durchweg kleinformatige Abzüge, diese haben
sowohl gerade Bildränder wie auch (geriffelte) Büttenränder. Manche der Abzüge zeigen die Fotografien in einer Passepartout-Optik mit einem breiten Rahmen von bis zu
19 Millimetern, andere wiederum rahmen die Bilder mit nur zwei Millimetern. Anhaltspunkte geben auch die Rückseiten der Abzüge. Neben den erläuternden Bildtexten finden sich dort bei 14 Aufnahmen mit Bleistift geschriebene Hinweise. Neben Ziffern
(nämlich „5“, „20“) sind dies Namensnennungen bzw. -kürzel wie „W.“, „Wxxx“12, „Hau.
Wxxx 0,60“ oder „1 Wxxx“. Offensichtlich handelt es sich dabei um Abzüge, die Fotografen an Angehörige der Flak-Batterie verkauften. Die Ziffern „0,60“ bestimmten mutmaßlich den zu entrichtenden Preis für die Aufnahmen. Nicht auszuschließen, aber auch
nicht zu belegen ist, dass W. auch selbst fotografiert hat. Dagegen spricht, dass er Abzüge
ankaufte; dafür könnte wiederum angeführt werden, dass er auf keinem der Bilder des
11
12
W., Erinnerungen, S. 54: „Da es in diesem Feldzug aber praktisch keine polnische Luftwaffe gab
und die meisten gegnerischen Flugzeuge bei dem Überraschungsangriff auf Polen schon am
Boden zerstört waren, hatten unsere Flakbatterien praktisch keine Aufgabe. Und die wenigen
Flugzeuge, die am Himmel erschienen, waren restlos veraltet und bedeuteten keine Gefahr für
die Truppe, im Übrigen wurden sie eine leichte Beute der schnellen deutschen Jagdflugzeuge.“
Der Familienname ist bei den hier mit xxx versehenen Angaben im Original ausgeschrieben.
177
ChriStoph hamann
Polen-Kapitels selbst zu sehen ist. Jedoch: Weder in seinen Erinnerungen noch in seinem
Tagebuch erwähnt er, dass er selbst fotografiert hat. Von den Aufnahmen lässt sich also
nur bedingt auf den Archivar schließen. Immerhin aber hat W. eben diese Bildmotive
für sein Fotoalbum ausgewählt. Lässt man einen möglichen Mangel des Angebots an
unterschiedlichen Bildmotiven außer Acht, dann scheint die Auswahl der Aufnahmen
das zu repräsentieren, was ihm wichtig war, was er für repräsentativ für das Erlebte hielt.
Die Gestaltung wie die Motivwahl der Aufnahmen lässt es bei den meisten ausschließen,
dass es sich bei diesen um propagandistische Aufnahmen handelt.
4.2 Ordnung und Anordnung
Fotoalben zeichnen sich durch eine Reihe von konstitutiven Merkmalen aus. Zu diesen gehören die Auswahl von Aufnahmen, die Ordnung der Seite und schließlich die
Anordnung der Aufnahmen in einer Reihung. Letztere kann eine additive Häufung von
Bildmotiven mit ähnlichem Thema sein. Oder der Reihe ist eine chronologische Folge
unterlegt. Die Sammlung der Fotografien „Polenfeldzug“ ist eine Mischung aus beidem.
Das Grundgerüst der Anordnung ist aber die lineare Chronologie, dies ergibt sich aus
der Datierung. Im Folgenden werden zentrale thematische Cluster der chronologischen
Folge nach vorgestellt und kommentiert.
Fokus zerstörte Orte: Die ersten Motive der Sammlung zeigen Situationen in den
oberschlesischen Orten Karlsmarkt (heute: Karłowice, Abb. 10) bzw. Kreuzburg (heute:
Kluczbork) nördlich von Oppeln (heute: Opole) ca. 20 Kilometer von der polnischen
Grenze entfernt gelegen. Am 2. September rückt die Einheit W.s über die polnische
Grenze. Schon im zeitgenössischen Tagebuch wird dies als ein entscheidender Schritt
stilisiert: „Wir überschritten die Grenze bei Szyszkow. Diesen Augenblick werde ich
wohl nie vergessen. Blutrot war schon am Abend die Sonne untergegangen, und jetzt
hatte der Mond einen fast ebenso roten Schein. Längs der Grenze waren auf deutschem
Gebiet mehrere Reihen spanische Reiter aufgestellt mit Stacheldraht verbunden. Am
Grenzpfahl stand ein Grenzbeamter, und schlagartig setzten mit Grenzübergang andere
Straßenverhältnisse ein. Hier asphaltierte Straßen. Dort huckelige Feldwege.“13
Die ersten Aufnahmen mit Motiven von Kriegszerstörungen stammen vom 3. September und zeigen das bombardierte Działoszyn, einer Stadt rund 57 Kilometer östlich
von Kluczbork und 110 Kilometer südwestlich von Łódź. Sie war schon am 1. September
von der Luftwaffe der Wehrmacht angegriffen und am 3. September besetzt worden. Im
Kriegstagebuch findet sich ein Eintrag zum 3. September:
„Weiter ging der Marsch […] nach Dzialozyn [!] an die Front. Hier hörten und
sahen wir zum ersten Male etwas von der Front, vom Krieg. Das Städtchen liegt an
der Warthe, deren jenseitige Höhen befestigt waren. […] Flak besetzt die Höhenrücken rings um die gebaute Brücke [über die Warthe]. Sie hat die Aufgabe, den
13
178
W., Kriegstagebuch I, o. P. (S. 12). Im identischen Wortlaut zitiert in den Erinnerungen, S. 51 f.
der Krieg im album
Abb. 2: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: „Dzialozyn 6. 9. 39“, mit Bleistift ergänzt „5“.
Abb. 3: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: „Von diesem Haus wurde auf uns geschossen.“
(Im Hause Einschläge der Granaten eines 2-cm-Geschützes) Rawa 11. 9. 39.
179
ChriStoph hamann
Schutz gegen feindliche Flieger zu übernehmen. […] Dort an der Warthe haben
wir zum ersten Mal einen polnischen Flieger gesehen, der auch von der schweren
8.8 Batterie beschossen wurde. […] In der Runde rings um uns brennende Dörfer,
die gerechte Sühne für feige Heckenschützen. Wieder waren an dem Tage einem
gefangenem und später befreiten Leutnant beide Augen ausgestochen worden.“14
Sowohl bei den Ansichten über die eingenommene Kleinstadt Działoszyn zu Beginn
des Einmarsches wie auch bei den später aufgenommenen Bildern über das zerstörte
Rawa (heute: Rawa Mazowiecka), einer Kleinstadt rund 78 Kilometer südwestlich von
Warschau, wird die Zerstörung der Ortschaften dokumentiert. In den raumgreifenden
Blick werden dabei zentrale Punkte der Stadt genommen (Abb. 2, 3). Bei beiden Städten
waren jeweils repräsentative Gebäude an einem großen Platz gelegen. Zumindest das
Beispiel der Aufnahme aus Rawa lässt der Gestaltung des Gebäudes wegen vermuten,
dass es sich um ein öffentliches Gebäude handelt. An der Fassade des Gebäudes in Rawa
sind Schriftzeichen angebracht, die jedoch zum Teil zerstört sind. Erkennbar sind die
Buchstaben „Dom Spol xxx zny“: Dom Społeczny ist der polnische Begriff für so etwas
wie ein Gemeinschaftshaus.
Auffallend an dieser Aufnahme wie auch an anderen motivähnlichen Bildern von
Działoszyn ist, dass die zentralen Plätze bei allen im Hintergrund wahrnehmbaren
Beschädigungen oder Zerstörungen der Randbebauung aufgeräumt und im Falle der
Stadt Rawa geradezu unversehrt erscheinen. Der Krieg erfolgte hier, so die Wahrnehmung, mit überschaubaren Kriegsschäden.
Fokus polnische Flüchtlinge: In der chronologischen Folge dominieren nach der Besetzung von Działoszyn neben Aufnahmen vom Bau einer Pontonbrücke über die Warthe
bei Płaczki (91 Kilometer nördlich von Katowice) Fotografien von Flüchtenden (Abb. 4).
In seinem Kriegstagebuch schrieb W. über diese Situationen am 5. September detailliert:
„Die ersten Flüchtlinge kommen aus den Wäldern zurück und wollen in ihre
Dörfer. […] Sie wurden alle nicht sonderlich gütig von uns behandelt. Man konnte
ja nicht wissen, ob es sich nicht um Franktireurs handelte. Heute kommen sie in
hellen Scharen an. Alles armes, elendes Volk. Auf Leiterwagen, von einem mageren Pferd gezogen, haben sie ihre wenige Habe verpackt, darauf sitzen 4–6 kleine
14
180
W., Erinnerungen, S. 52 sowie W., Kriegstagebuch I, o. P. (S. 16–18). An anderer Stelle heißt es
im Kriegstagebuch, die vielfach kolportierten Gerüchte wiederholend: „Es ist uns erzählt worden, dass die gesamte Zivilbevölkerung der Gebiete, in die deutsche Truppen einmarschiert
sind, aufgerufen worden ist, auf deutsche Soldaten zu schießen. So hat in einem Dorf der Pfaffe
mit einem MG auf der Kirche gesessen und hat geschossen. Weitere 70 Heckenschützen sind in
demselben Dorf festgestellt worden. Dass mit diesen Leuten nicht viel Federlesen gemacht worden ist, ist klar.“ Vgl. W., Kriegstagebuch I, o. P. (S. 10 f.); unter Verzicht auf den letzten Satz dieses Zitats, aber ansonsten nahezu wortgleich vgl. W., Erinnerungen, S. 51.
der Krieg im album
Abb. 4: Bildtext auf der Rückseite siehe Abb. 5: „Zivilbevölkerung auf der Flucht“
Abb. 5: Rückseite der Abb. 4:
a) „Zivilbevölkerung auf der Flucht“
(vermutlich von ca. 2015), b) ein unkenntlich gemachter Text (mutmaßlich:
„Ein ganzer Wagen voll Juden“) sowie
c) „(zwischen Szczerkow und Bedkow)
7. 9. 39.“ (Bildtexte b) und c) aus dem
Jahr 1939).
181
ChriStoph hamann
Kinder, eine alte Frau, das andere läuft zu Fuß, noch 3 größere Kinder laufen
nebenher. Der Hund ist an den Wagen angebunden und trottet stumpfsinnig
zwischen den Hinterrädern mit. Der Mann, die Peitsche in der Hand, läuft barfuß, wenn er nicht Schaftstiefel an hat. Er ist langrasiert, wenn man es überhaupt
so nennen kann. Größtenteils sind sie sehr schmutzig. Sie haben, glaube ich, alle
Ungeziefer an sich. Man muss sich sehr in Acht nehmen, um bei der Untersuchung nach Waffen kein Ungeziefer auf sich überträgt [sic]. Auch deutsche Familien sind darunter. Man erkennt sie gleich. Sie sind sauber und adrett angezogen.
Sie scheinen auch durchschnittlich wirtschaftlich besser dazustehen als die Polen
derselben Gegend.“15
Fokus Deutsche in Polen: Zwei Aufnahmen des Albums fallen aus dem Rahmen der
anderen Motive (Abb. 6, 8). Sie sind auf den 8. September datiert und waren in der
Gemeinde Grünbach (auch Grömbach, heute: Łaznowska Wola) aufgenommen worden,
etwa 25 Kilometer südöstlich von Łódź.16 Grünbach war seit 1800 zunächst von deutschen Kolonisten aus Württemberg und ab 1814/15 aus Pommern besiedelt worden. Im
Jahr 1939 waren von 90 Bauernhöfen der Gemeinde 80 im Besitz deutschstämmiger
Siedlerinnen und Siedler, 10 im Besitz von Polinnen und Polen.17
Während viele Aufnahmen des Albums in der Einstellungsgröße der Totalen gehalten sind, werden die deutschen Kolonisten frontal in der Halbtotalen bzw. der nahen
Einstellung gezeigt. In beiden Aufnahmen sind inmitten der Dorfbewohnerinnen und
-bewohner (jeweils) drei Wehrmachtsoldaten zu sehen. Eng umringt von freudig blickenden Frauen und Männern, sitzen sie in einem mit Blumen geschmückten Fahrzeug (Abb. 6). Die zweite Aufnahme (Abb. 8) zeigt rund 50 Frauen, Männer und Kinder,
die als Gruppe frontal in Richtung des Fotografen sehen und – mutmaßlich auf dessen
Anregung hin – den Arm zum „deutschen Gruß“ heben. Im Vordergrund der sichtbaren
Freude der Grünbacher Bevölkerung steht mutmaßlich das Bekenntnis zur historischen
Herkunft der Grünbacher aus Deutschland und deren Empfindung einer emotionalen
bzw. kulturellen Verbundenheit mit dem Deutschen Reich. Ob mit dem von manchen
Grünbachern gezeigten „deutschen Gruß“ auch ein politisches Bekenntnis zum Nationalsozialismus verbunden ist, muss offenbleiben. Immerhin hatten die deutschen Siedlerinnen und Siedler gleich zweifach konkreten Anlass zur Freude. W. schrieb am 8. September in sein Tagebuch:
„Die Polen sind erst gestern [aus Grünbach] ausgerückt und haben alle Leute
mitnehmen wollen. Die armen Leute sind aber geblieben, und die Pollacken
15
16
17
182
W., Kriegstagebuch I, o. P. (S. 22–24); In W.s Erinnerungen wird folgende Passage nicht zitiert:
„Größtenteils …“ bis „… auf sich überträgt“. Vgl. W., Erinnerungen, S. 53.
Zur Siedlungsgeschichte der Gemeinde Grünbach vgl. Otto Heike, 150 Jahre Schwabensiedlungen in Polen 1795–1945, Leverkusen 1979, S. 40–60.
Ebenda, S. 56.
der Krieg im album
Abb. 6: Bildtext auf der Rückseite des Fotos oben: „Die Deutschen in Grünbach
8. 9. 1939“.
Abb. 7: Handschriftliche Ergänzung Jahrzehnte später (ca. 2015): „freudige deutsche Dorfbewohner (sie
wussten noch nicht, was später auf sie zukam!)“.
Abb. 8: Bildtext auf der Rückseite des Fotos: „Ein deutsches Dorf in Polen (Grünbach) 8. 9. 39“.
183
ChriStoph hamann
haben sicher nicht mehr die Zeit gehabt, sie mit Gewalt mitzunehmen. Nur in
ihren Essenvorräten haben sie schwer gehaust. Sie haben den Deutschen sehr viel
weggenommen. Alle sind jetzt sehr froh, dass die deutschen Soldaten da sind, alle
möchten gern mal nach Deutschland, um ihr Vaterland, das sie größtenteils gar
nicht kennen, zu sehen.“18
Wenige Tage zuvor waren außerdem unter dem Vorwurf der Spionage für die Deutschen der Kirchenvorsteher, der Lehrer, der Briefträger und ein Landwirt aus Grünbach
von Polen festgenommen und mit der Erschießung bedroht worden. Nach der polnischen Kapitulation in der Schlacht um Warschau wurden diese aus dem Gefängnis in
Warschau entlassen und konnten in ihr Heimatdorf zurückkehren.19 Die in den Fotos
demonstrierte Freude kann sich also auch auf die erhoffte Entlassung bzw. Wiederkehr
der inhaftierten Grünbacher beziehen.
Fokus Waffen: Östlich von Brzeziny, einer Stadt, die etwa 15 Kilometer östlich des Zentrums von Łódź liegt, geriet die Flak-Batterie W.s am 9. September bei dem Dorf Jeżów
in eine polnische Gegenoffensive. In diesem zeitlichen Zusammenhang werden neben
Toten, Gefangenen und Verwundeten auch zwei Bilder eines erbeuteten polnischen
Tanks, eines zerstörten polnischen Geschützes oder eines „polnischen Bagagewagen von
deutscher Artillerie zusammengeschossen“ (Bildtext) gezeigt. Besonderes Interesse gilt
Bildmotiven von abgestürzten Flugzeugen (Abb. 9). Zwei undatierte Aufnahmen zeigen
einen „abgeschossenen polnischen Eindecker“, eine weitere ebenso undatierte Fotografie
eine abgestürzte deutsche Ju 87.
Fokus Verwundung, Tod: Das Blatt 8 des Albums bündelt Motive des Todes und schließt
damit thematisch an das vorhergehende Blatt 7 an. Dort wird der einzige deutsche Verwundete gezeigt, ein zerstörtes „polnisches Geschütz“ sowie zwei Aufnahmen eines
polnischen Verwundeten, „der von uns verbunden wurde in Jezow am 9. 9. 39.“ (Bildtext; zitiert wie im Original). Die deutsche Wehrmacht, so die Botschaft, verhält sich
dem unterlegenen Gegner gegenüber fair und fürsorglich – der Krieg der Deutschen ist
barmherzig. Die folgenden Aufnahmen auf dem Blatt 8 laden die Betrachtende oder den
Betrachter durch ihre Zusammenstellung zu einem wertenden Vergleich ein. Im Tod,
so die visuelle Anmutung, sind nicht alle gleich. Er ist grausam und einsam für die polnischen Soldaten (Abb. 10, 12). Sie liegen achtlos im Dickicht des Waldes, in ihren noch
zu ahnenden Bewegungen tödlich erstarrt. Der Wald ist dicht, verwildert und durch die
Nähe des Objektivs zum zentralen Motiv unübersichtlich und undurchschaubar. Der
18
19
184
W., Kriegstagebuch II, o. P. (S. 2–3). Fehlende Kommata im Original wurden nachträglich eingefügt. Diese Textstelle wurde in den Erinnerungen nur in einer knappen Zusammenfassung
wie folgt wiedergegeben: „Grünbach. Die polnischen Soldaten waren erst gerade geflüchtet und
hatten die deutschen Bewohner vorher ausgeplündert.“ Vgl. W., Erinnerungen, S. 54.
Heike, Schwabensiedlungen, S. 57.
der Krieg im album
Abb. 9: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: „Abgeschossener polnischer Eindecker in“*;
Ergänzung mit Bleistift „1 W.“ Späterer handschriftlicher Zusatz (ca. 2015): „pol. Militärflugzeug
(uralte Dinger)“.
* Eine örtliche Zuordnung erfolgt hier nicht (Auslassung so im Original).
Ort des Todes liegt im irgendwo, eine ehrende Bestattung wird nicht visualisiert. Ganz
anders dagegen das Grab des deutschen Soldaten (Abb. 11). Im Hintergrund ein lichter
Wald mit gelockerter Baumbepflanzung. Im Vordergrund das Grabkreuz mit aufgesetztem Helm und eine mit Tannenzweigen bedeckte Sandaufschüttung. Die Erinnerung an
den Gefallenen ist hier würdevoll. „‚Ein Soldatengrab‘“, formuliert der Bildtext auf der
Rückseite und ergänzt: „Viele sind auf dem Feld der Ehre geblieben.“ Während bei den
toten polnischen Soldaten eine Ortsangabe vorliegt („vor Jezow“), bleibt das deutsche
Grab im Bildtext ohne Bezug auf einen Ort oder eine konkrete militärische Situation.
Es steht damit stellvertretend für alle anderen Grablegungen deutscher Soldaten. Im
Kriegstagebuch erwähnt W., bei der Verlegung seiner Einheit nach Frankreich seien sie
am Wegesrand in Polen immer wieder auf Gräber deutscher Soldaten gestoßen.
4.3 Das Album als mediales Dispositiv
„Die modernen Bildmedien Fotografie, Film und Fernsehen“, so Gerhard Paul in seinem
Band über die Bilder des Krieges, „versuchten das katastrophisch antizivilisatorische
Ereignis des Krieges zu einem zivilisatorischen Akt umzuformen, ihm eine Ordnungsstruktur zu verpassen, die dieser per se nicht besitzt. Auf diese Weise trugen und tragen
185
ChriStoph hamann
Abb. 10: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: „Toter polnischer Soldat Wartheübergang
Dzialoszyn Vor Jezow 9.9.39“ (Streichung im Original);
Abb. 11: Bildtext auf der Rückseite der
Aufnahme: „‚Ein Soldatengrab.‘ Viele
sind auf dem Felde der Ehre geblieben.“ Mit Bleistift „W.“;
186
Abb. 12: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme:
„Toter Pole vor Jezow 9. 9. 39“; Die Aufnahmen der
Seite zusammenfassend ein handschriftlicher Zusatz
(2015): „tote Polen, ein abgeschossener polnischer
Panzer u. ein deutsches Soldatengrab“.
der Krieg im album
Abb. 13: Bildtext: „im Manöver im Raum Münster/Westf [sic] Juli/August 1939“.
die medial generierten Bilder des Krieges zur immer wieder neuen Illusion seiner Planund Kalkulierbarkeit bei.“20 Dem Außeralltäglichen des Krieges wird auch im Medium
eines privaten Fotoalbums eine alltägliche Form gegeben. Denn das Fotoalbum ist ein
mediales Dispositiv, das eine kollektive Konvention des persönlichen Erinnerns zum
Ausdruck bringt. Zum Fotoalbum gehören neben der Visualisierung zentraler Themen
in einer temporalen Abfolge auch die Einführung am Beginn der Bildsammlung wie
auch ein letztes Bild, welches das vorherige Narrativ rundet und – im vorliegenden Fall –
implizit einen Ausblick auf das Kommende andeutet.
Das Präludium: Wie bei Büchern ist auch bei Fotoalben die Rückseite des Einbands
eine Vakatseite, sie bleibt ungenutzt und leer; sie ist im Grunde genommen eine Seite vor
dem Beginn. Denn der Text oder die Sammlung von Aufnahmen setzt der Konvention
entsprechend auf der rechten Seite nach der Titelei ein.21 Gerhard W. geht anders vor.
Und dies macht temporalen Sinn. Er zeigt auf der Innenseite des Umschlags sechs kleine
20
21
Paul, Bilder des Krieges, S. 11.
Bei Büchern folgt der Innenseite des Umschlags die Titelei, nämlich Schmutztitel, Vakatseite,
Titelblatt und Impressumseite.
187
ChriStoph hamann
Abb. 14: Bildtext auf der Rückseite
der Aufnahme: „Offiziersbesprechung bei Karlsmarkt O/S. etwa
25. 8. 39“ (Karlsmarkt, heute:
Karłowice).
Aufnahmen mit entspannt wirkenden Soldaten in Ruhepausen. Diese Aufnahmen wurden während eines Manövers im August 1939 aufgenommen (Abb. 13). Ein Manöver verweist als eine Übung auf den Ernstfall, ist dieser aber selbst (noch) nicht. Diese Aufnahmen visualisieren die militärische Bereitschaft der Einheit W.s für den Krieg noch vor
dem Krieg. Sie sind gewissermaßen das vorbereitende Präludium vor dem entscheidenden Schritt. Sie sind – der editorischen Konvention eines Albums im Grunde genommen
widersprechend, der semantischen und temporalen Kohärenz jedoch folgend – auf der
üblicherweise leeren Innenseite des Einbands platziert.
Die erste Aufnahme des Kapitels „Polenfeldzug Sept. 1939“ auf dem ersten Karton
rechts zeigt eine Gruppe von Uniformierten am 25. August (Abb. 14). Nahegelegt wird
der Betrachterin und dem Betrachter, es würde eine Besprechung stattfinden. Fokussiert um eine zentrale Person, vermutlich der Kommandeur der Einheit, gruppieren
sich mehrere Offiziere, am Bildrand links steht stumm ein Funker stramm. Das Auftaktbild visualisiert in seiner Komposition die militärische Hierarchie von einem Führenden und mehreren Folgenden in einer Befehlskette. Was faktisch Gegenstand dieser
Aussprache war, ist nachrangig. Durch seine Position zwischen den Bildern des Manövers vor dem Krieg und denen der ersten Kämpfe im Krieg nimmt diese Aufnahme des
Albums „Polenfeldzug Sept. 1939“ den Status eines Auftakts ein. Anlass der Zusammenkunft war es – so die sich aus dem Motiv der Aufnahme und ihrer Platzierung in der
188
der Krieg im album
Abb. 15: Bildtext auf der Rückseite
der Aufnahme: „Wir waren im Osten, wir fahren nach Westen …verladen in Ruthenau O/S. am 13. 9. 39“
(Ruthenau, heute: Chróścice).
Sammlung ergebende Suggestion –, Anweisungen zu geben für das militärische Vorgehen vor dem und für den geplanten Einmarsch in Polen.22
Das Schlussbild: Die letzte Fotografie ist nicht allein deswegen ein Abschlussbild,
weil sie die abschließende Aufnahme der Sammlung ist, sondern auch des Motivs und
dessen Metaphorik wegen (Abb. 15). Das Foto zeigt militärisches Gerät auf einem Zug,
der das Bild diagonal von rechts vorne nach links oben in Richtung der Tiefe des Raums
quert. Auf der Rückseite der Aufnahme ist der handschriftliche Text notiert: „Wir waren
im Osten, wir fahren nach Westen … verladen in Ruthenau am 13. 9. 39.“ Das fotografische Ende des „Polenfeldzugs“ ist also markiert mit einer Aufnahme, deren zentrales Motiv der Weg ist. Die Fotografie zeigt einen Schienenstrang, welcher von A nach B
führt. Der Bildtext dupliziert das im Bild Gezeigte und markiert die Situation des Transits sprachlich und zugleich metaphorisch überhöhend. Der Weg gehe vom „Osten“ in
den „Westen“. Dies deutet gar die hier gewählte kompositorische Diagonale an. Sie folgt
der Konvention geografischer Kartenbilder, der zufolge der Westen von der Betrachterin
22
Faktisch steht die Aufnahme der Datierung zufolge (25. 8. 1939) noch im Kontext des AugustManövers; der Marschbefehl für die Einheiten erfolgte laut Tagebuch am frühen Abend des
2. September; W., Kriegstagebuch I, o. P. (S. 9).
189
ChriStoph hamann
oder dem Betrachter aus gesehen links liegt.23 Die Tempusformen „waren“ und „fahren“
unterstreichen zudem sprachlich den gegenwärtigen Übergang von der Vergangenheit
in die Zukunft.
Diese visuellen wie sprachlichen Markierungen von Beginn und Ende sowie die
chronologische Reihung der Bildmotive konstituieren in der Summe W.s Narrativ vom
Krieg in Polen. Diesem sind unterlegt die drei formalen Einheiten dramatischen Erzählens, nämlich die Einheit einer in sich geschlossenen Handlung (Krieg gegen Polen), die
Einheit der Zeit (die beiden ersten Kriegswochen) wie die Einheit der Personen (seine
Flakbatterie mit z. T. namentlich genannten Personen bzw. der anonym bleibende Feind
als Kollektivsingular). Und ein das gesamte Narrativ grundierendes Handlungsmotiv
nennt W. auch. Die Legitimität des Überfalls wird begründet mit dem Argument des
Präventivschlags, der notwendigen Notwehr. So schreibt W. noch vor Kriegsbeginn in
sein Tagebuch:
„[…] die Lage [spitzte sich] in Polen immer mehr zu. Immer umfangreicher wurden die Ausschreitungen gegen die Volksdeutschen in Polen, angezettelt von
einer wahnwitzigen Regierung, die, falls es zum Krieg kommen sollte, in ein paar
Tagen dem Reich den Frieden von Berlin aus diktieren wollte, und ausgeführt
von einer verführten Volksmenge oder auch behördlicherseits.“24
Solch ein Narrativ suggeriert als „Erzähl- und Handlungseinheit“ formal und semantisch Kohärenz und Sinn. Das Narrativ überformt den Krieg im Sinne Pauls mit einer
„Ordnungsstruktur“ – das Geschehene ist demnach sinnvoll, schlüssig und in sich
geschlossen. Krieg ist aber per se das Gegenteil von sinnvoller Ordnung.
Für Gerhard W. war der Überfall 1939 im Kern weniger ein Drama denn ein militärisches Erlebnis. Schließlich gab es nur einen (zudem geringfügig) Verwundeten in seiner Batterie.25 Aus seiner zeitgenössischen Perspektive eines Flaksoldaten, der, wie er in
den Erinnerungen schreibt, „dem Geschehen immer nur hinterher gefahren ist und den
Kampf mit den Gegnern andern überlassen hat“,26 hat der Krieg den Charakter eines
überschaubaren militärischen Feldzugs im Osten gehabt, der nun abgeschlossen ist und
nun von einem – voraussichtlich ebenso überschaubaren – militärischen Feldzug in den
Westen abgelöst wird. Der Krieg im Album von W. reproduziert so kleine erzählbare
Erlebniseinheiten, illustriert auch durch Genrebilder in einer Passepartout-Optik, die stilistisch fotografische Wertigkeit suggeriert und den Krieg ästhetisiert. Die Orientierung
23
24
25
26
190
Westliche Konventionen des Lesens bzw. der Gestaltung bei Grafiken semantisieren eine nach
rechts oben weisende Diagonale als Fortschreiten bzw. Fortschritt. Eine Aufnahme mit dieser
Gestaltung hätte aus der Perspektive des Bildautors (oder W.s) ebenso Sinn ergeben.
Kriegstagebuch I, o. P. (S. 5 f.). Diese Passage aus dem Tagebuch wurde in den Erinnerungen
wörtlich zitiert; vgl. W.; Erinnerungen, S. 50 f.
W., Kriegstagebuch II, o. P. (S. 9).
W., Erinnerungen, S. 54.
der Krieg im album
an einem Urlaub wird wachgerufen durch W.s wiederholte Hinweise in seinem Tagebuch auf das „wunderbare Wetter“, die „wunderschöne Gegend“ (5. 9.) oder den „herrlichen“ bzw. „strahlenden Tag“ (7. 9./10. 9.). Der Überfall auf Polen scheint dem 19-Jährigen
1939/40 offenbar eine Abfolge von gut begründeten siegreichen Einmärschen zu sein. Der
Zweite Weltkrieg hat als kumulierendes Drama aber viele Orte, Opfer, Handlungen und
Perspektiven, viel Grauen und Sinnlosigkeiten. Diese sind narrativ nicht einzubinden,
schon gar nicht in die konventionellen Formen des Erzählens.
5. Bildgestütztes Erinnern
Gerhard W. betont in den Erinnerungen zwar, dass er das „meiste“ der Erzählung seines Lebens aus dem Gedächtnis niedergeschrieben habe. Aber er nutzte neben seinem
Tagebuch über die ersten fünf Kriegswochen auch die Fotografien aus dem Zweiten
Weltkrieg, auf die er sich in seinen Erinnerungen mehrfach bezieht. Diese Anmerkungen zu den Bildern des Krieges geben Aufschluss darüber, welche unterschiedlichen
Funktionen die Bilder bei der Niederschrift seiner Autobiografie hatten. Und vor allem
wird deutlich, welche persönliche Haltung er zu der visuellen Hinterlassenschaft zum
Zeitpunkt der Niederschrift der Erinnerungen (2000/2001) eingenommen hatte. Wie die
Aufnahmen zeigen würden, so schreibt er zum Beispiel, habe er sich beim Reichsarbeitsdienst „körperlich gut herausgemacht“; über seine Ausbildung an der Kriegsschule
habe er zwar keine Erinnerung, aber „etwas Aufschluss“ für die Leserin und den Leser
„ergibt mein Fotoalbum mit zahlreichen Bildern“. Beim Lesen der Erinnerungen „sollte
man überhaupt immer auch mal die verschiedenen Alben zur Illustration heranziehen“.
Oder: „Wie ich den Bildern aus meinem Album entnehme“, seien die Toten seiner Einheit 1940 in Frankreich in Feldgräbern beigesetzt worden – „ich war ja durch meine
Verwundung nicht mehr dabei.“27
Die Fotografien dienen also dem vergewissernden Rückblick auf die eigene Biografie
und der Dokumentation von Ereignissen, deren Zeuge er nicht war. Die Fotos sollen für
die Leserin und den Leser eine Veranschaulichung und Illustration des Erzählten sein
oder W. selbst als Ersatz bei Erinnerungslücken dienen. Wichtig auch die Erzählhaltung
des Autors: Er schreibt für imaginierte zukünftige Leserinnen und Leser, in erster Linie
für seine Familie, denn eine Veröffentlichung des Manuskripts war nicht vorgesehen. Er
antizipiert zwar mögliche kritische Kommentare aus deren Kreis, empfiehlt den Angehörigen die Aufnahmen dennoch zur Ansicht: Sie seien dem Interessierten hilfreich.
Deutlich wird dadurch auch: Zum Zeitpunkt der Niederschrift hegt der Autor keine
(selbst-)kritischen Vorbehalte gegenüber den Fotografien – jedermann, zumindest in der
Familie, könne, ja solle sie sich ansehen. Die Kriegsfotografien im vertrauten Kreise zu
zeigen war ihm also kein Problem.
27
W., Erinnerungen, S. 42, 59, 65. Das letzte Zitat verweist noch einmal darauf, dass W. Aufnahmen
von Fotografen übernommen hat.
191
ChriStoph hamann
5.1 Überschreibungen – Bild und Text als Palimpsest
Insbesondere am Ende des Lebens ist bei einem autobiografischen Erinnern die Zukunft
und nicht die Vergangenheit der „epistemische Bezugspunkt des Gedächtnisses“.28 Weil
der Erinnernde in Hinblick auf sein hohes Alter davon ausgeht, zukünftig sein eigenes Leben nicht mehr deuten zu können, werden die Lebenserinnerungen zur abschließenden Bilanz und zur endgültigen Botschaft an die Nachwelt. Noch hat der Autor die
Deutungshoheit. Deren Verlust antizipierend, sind Erinnerungen in der Regel darum
bemüht, ein stimmiges wie auch positiv gestimmtes Bild zu bieten. W. bearbeitet dafür
die Quellen der Vergangenheit, um sie in diesem Sinne passend zu machen: sowohl das
Kriegstagebuch wie auch das Fotoalbum.
Die in seinen Lebenserinnerungen (2000/2001) zitierten Passagen des Tagebuchs von
1939 geben zu einer Selbstkritik im Grunde genommen wenig Anlass. Der Vergleich von
Tagebuch und Autobiografie jedoch zeigt: W.s eingangs zitierte selbstkritische Anmerkung („Kopfschütteln“) bezog sich auf Passagen aus dem handschriftlichen Original des
Kriegstagebuchs, die er in den Erinnerungen eben nicht zitiert hatte. Diese ausgesparten Passagen rechtfertigen aber seine rückblickenden Bedenken in der Tat. Sie machen
deutlich, wie sich der junge Mann ideologische Versatzstücke des Nationalsozialismus
und dessen Propaganda zu eigen gemacht hatte und sie reproduzierte. Dazu gehören
tagespolitische Propaganda wie die schon zitierten antipolnischen Ressentiments. Dazu
gehören aber auch antisemitische Stereotype, die in ihm wachgerufen wurden, als er polnischen Juden begegnet, wie sie, so seine Formulierungen „immer beschrieben werden:
Synagogengiebel [?], langen [!] Bart, schwarze Kappe auf dem Kopfe, schwarzer Anzug
und dreckig. Das ganze Gesindel wird auf den Markt [von Rawa] getrieben.“29 Die reale
Begegnung mit den jüdischen Gefangenen ist ihm der Nach- und Beweis, wie zutreffend
die NS-Propaganda Juden beschrieben hat. Er sieht die Propagandabilder bzw. seine
daraus resultierenden Bilder im Kopf bestätigt.
Der Vergleich des Tagebuchs von 1939 mit den Erinnerungen rund sechzig Jahre später macht nicht nur die Auslassungen offenbar. Außerdem wird deutlich, wie W. Tagebuchpassagen paraphrasierend zusammenfasst und dabei die lebendig erzählende IchPerspektive des Originals auf das ehemals persönlich Erlebte zugunsten abstrahierender
und unpersönlicher Formulierungen ausblendet. Aus dem narrativen Nacherzählen
wird zumeist ein geraffter, eher deskriptiv und nüchtern gehaltener Bericht. Bei übernommenen Passagen nimmt er sprachliche Glättungen vor, herabwürdigende Äußerungen über Polinnen und Polen im Original werden entweder umformuliert und, wie
gezeigt, drastische judenfeindliche Äußerungen erst gar nicht zitiert. Am folgenden Beispiel werden die redaktionellen Umschreibungen und Textvarianten vergleichend analysiert.
28
29
192
Christian Gudehus/Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hrsg.), Gedächtnis und Erinnerung.
Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, S. 9.
W., Kriegstagebuch II, o. P. (S. 16).
der Krieg im album
Abb. 16: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme (mutmaßlich von 1939): „‚Heckenschützenkrieg in Rawa‘ Als Strafe mussten sämtliche männl. Personen die Stadt verlassen. Sie wurden
unter Bewachung weitertransportiert 10. 9. 39“.
Am Ende des Albums tauchen zwei Fotografien mit dem gleichen Motiv auf, von
denen eine datiert ist auf den 11. September 1939. Sie sind in der Kleinstadt Rawa aufgenommen und zeigen jeweils eine lange Kolonne von Männern von vorne bzw. hinten
eine Straße entlanglaufend, die den Bildraum diagonal quert (Abb. 16). Zur Gefangennahme von Polinnen und Polen in Rawa liegen von W. neben der Bildlegende (vgl. oben
Abb. 16) noch drei weitere unterschiedliche Kontextualisierungen vor.
Kriegstagebuch, Teil II (Datierung: 10. 9. 1939): „Unendlich viele Juden sind bei dem Volk,
was aus den Häusern geholt wird. Wenn man dieses Volk schon sieht, ist man schon
satt. So richtig wie die polnischen Juden immer beschrieben werden. Synagogengiebel
(?), langen (!) Bart, schwarze Kappe auf dem Kopfe, schwarzer Anzug und dreckig. Das
ganze Gesindel wird auf den Markt getrieben.“ (S. 16)
Erinnerungen zum 10. September 1939 (Niederschrift: 2000/2001): „Ortswechsel nach Rawa,
nun schon 75 Kilometer vor Warschau. Viele Häuser sind zerstört. Schießerei auf den
Straßen. Dann tritt Ruhe ein. Viele Juden werden aus dem Ort geführt. Wohin wird man
sie bringen?30
30
W., Erinnerungen, S. 54.
193
ChriStoph hamann
Handschriftlicher Zusatz (ca. 2015): „gefangene Zivilisten, Grund der Festsetzung nicht
mehr erinnerlich“
Der Holocaust in seiner gesamten Dimension ist für W. (und viele andere) im Jahr 1939
noch außerhalb des Denkbaren. Der zeitgenössische Bildtext fokussiert allein das militärische Geschehen, dies ist offensichtlich der maßgebliche Horizont seines zeitgenössischen Denkens. Der handschriftliche Zusatz wenige Jahre vor seinem Tod abstrahiert
dagegen weitgehend vom historischen Kontext. Der militärische Zusammenhang wird
nur indirekt angedeutet („Gefangene“) und der Holocaust vollkommen ausgeblendet.
Der Text verbleibt auf der Ebene der bloßen Deskription und verweist auf die eigene
mangelnde Erinnerung, obwohl W. die konkretisierenden Passagen aus dem eigenen
Kriegstagebuch vorliegen.
Dort wiederum umfasst die plastisch beschriebene und detailreiche Nacherzählung
der Kämpfe in der schon besiegt geglaubten Stadt Rawa rund fünfeinhalb handschriftliche Seiten.31 Die Erinnerungen sechs Jahrzehnte später fassen dieses militärische Rückzugsgefecht bewaffneter Polen wiederum in sechs abstrakt und knapp gehaltenen Sätzen
zusammen. Diese geben dem Lesenden zugleich eine räumliche Orientierung. Die sechs
Sätze enden mit der rhetorischen Frage, die die Antwort im Grundsatz kennt, aber nicht
explizit benennen will: „Wohin wird man sie bringen?“ In ihr artikuliert sich verdeckt
das Wissen des 80-Jährigen um die Vernichtung der polnischen wie der europäischen
Jüdinnen und Juden bzw. den Holocaust. Deutlicher zu werden scheut er sich offenbar,
denn dies wäre mit dem Eingeständnis der eigenen Tatbeteiligung verbunden gewesen.
Ein letzter analytischer Blick auf das Album selbst und dessen Bearbeitungen durch
den Autobiografen bzw. Archivar Gerhard W. In den Erinnerungen konnte W. die Historisierung seiner selbst bzw. die Glättung der im Tagebuch beschriebenen Erfahrungen
und Wertungen mit den Mitteln der Sprache diskursiv zur Geltung bringen. Im Umgang
mit den Aufnahmen seines Kriegsalbums lassen die Medien, nämlich das Album selbst
wie auch die Aufnahmen, diskursive Kommentierungen nicht oder nur sehr eingeschränkt zu.
Er nutzt wie in den Erinnerungen auch hier das Verfahren der Auslassung. Es fehlt,
wie an den Fotoecken zu erkennen ist, eine Aufnahme in der ansonsten akribisch überlieferten wie dokumentierten Sammlung. Andererseits hat er in zwei Fällen Bildtexte
von 1939 auf den Rückseiten der Aufnahmen, die ihm kompromittierend erschienen,
mit einem Filzstift nahezu unkenntlich gemacht. Ein an sich unverfängliches Bild von
Menschen auf einem Pferdefuhrwerk hatte – so die Entzifferung des überschriebenen
Textes – als zeitgenössische Legende den Text „Ein ganzer Wagen voll Juden“ (Abb. 4).
In der Handschrift seiner späten Jahre ersetzte W. diesen Bildtext durch den folgenden
zwar nicht verkehrten, jedoch die faktischen historischen Zusammenhänge kaschierenden Text: „Zivilbevölkerung auf der Flucht“. In einem zweiten Fall zeigt die Aufnahme
frontal eine Gruppe von (mindestens) sieben älteren jüdischen Männern, die umringt
31
194
W., Kriegstagebuch II, o. P. (S. 11–15).
der Krieg im album
Abb. 17 und 18: Bildtext auf der Rückseite der Aufnahme: Unkenntlich gemacht „Rawa 11. 9. 39.“; handschriftliche Ergänzung 2015: „nicht schön anzusehen:
poln. Juden / Der dt. Soldat v. l. (Name entfallen) fiel
2 Jahre später in Russland“.
195
ChriStoph hamann
sind von grinsenden Landsern – die Gefangenen werden als Beispiele und Beleg der propagandistischen NS-Pressebilder dem Fotografen zur Dokumentation und der Betrachterin und dem Betrachter der Fotografie zur Schau gestellt (Abb. 17/18). Bis auf die Ortsund Zeitangabe („Rawa 11. 9. 39“) wurde auch hier der Text der Rückseite unleserlich
gemacht. Wie auch bei anderen Aufnahmen steckte W. Jahrzehnte später hinter diese
Fotografie einen kleinformatigen Zettel mit einem handschriftlichen Bildtext kommentierender Art, der, so die Erinnerung des Autors dieser Ausführungen, nach der Tilgung
der originalen Bildlegende ergänzt worden ist.32 Der handschriftliche Zusatz aus späterer
Zeit lautet im vorliegenden Fall „nicht schön anzusehen: poln. Juden / Der dt. Soldat v. l.
(Name entfallen) fiel 2 Jahre später in Russland“.33 Der Tod des einzelnen Landsers wird
erwähnt, die Ermordung der polnischen Juden dagegen ausgeblendet. Die Formulierung
„nicht schön anzusehen“ kann als ein sehr verqueres Schuldeingeständnis verstanden
werden, das die Tatsachen als solche nicht benennen will oder – der Wucht der moralischen Schuld wegen – nicht kann.
Die Überarbeitungen der Quellen sind der sichtbare Teil einer Erinnerungsarbeit,
die Vergangenheit per se stets aus dem Horizont der jeweiligen Gegenwart immer wieder neu reformuliert. Denn neuropsychologisch wird Erinnern als ein „dynamischer
Prozess […] eine in dauernder Metamorphose [sich] befindliche Performance“ beschrieben.34 Das Leben verändert das Erinnerte, wie das Leben sich selbst verändert. Im autobiografischen Erinnern wird die Textur des eigenen Lebens deswegen zum lebenslang
überschriebenen Palimpsest. Diese vorbewusst ohnehin und notwendig sich vollziehenden Transformationen werden bei dem Erinnern von Gerhard W. an seine Beteiligung
am Überfall auf Polen bewusst vollzogen. Gerhard W.s „Standpunkt“ war mit zunehmendem Alter die Scham über sein damaliges Ich und seine eigenen Wertungen zur Zeit
des Geschehens. Diese verursachten ihm im hohen Alter zunehmend nur noch „Kopfschütteln“.
32
33
34
196
Die Tilgung erfolgte, nachdem Gerhard W. mit dem Autor dieser Zeilen die Aufnahmen angesehen hatte. Dieser hatte die originale Bildlegende dabei zwar gelesen, der Autor erinnert sich aber
nicht mehr an den konkreten Wortlaut des Textes. Er war jedoch antisemitisch konnotiert.
Weitere Bezüge auf die jüdische Bevölkerung Polens finden sich noch einmal im Album selbst
sowie in seinem Kriegstagbuch. Auf der Rückseite einer Aufnahme, die zwei Wehrmachtangehörige sowie Frauen und Männer neben einem Brunnen zeigt, ist ohne eine weitergehende
Erläuterung vermerkt: „Jüdischer Friedhof bei Dzialoczyn 5. 9. 39.“
Bernd Roeck, Gefühlte Geschichte, in: Recherche. Zeitung für Wissenschaft 1 (2008) 2, S. 13.
Vgl. auch Erika M. Hoerning, Erfahrungen als biografische Ressourcen, in: Peter Alheit/
Erika M. Hoerning (Hrsg.), Biographisches Wissen. Beiträge zu einer Theorie lebensgeschichtlicher Erfahrung, Frankfurt a. M./New York 1989, S. 150.
der Krieg im album
6. Sprache und Fotografie
Die ebenso dichte wie diverse Überlieferung erlaubt abschließend auch Reflexionen über
Potenziale bzw. Grenzen der unterschiedlichen medialen Artefakte für die historische
Interpretation. Hier soll insbesondere die Eigenschaft (unterschiedlicher) Medialität
(Sprache, Fotografie) fokussiert werden und weniger die der Perspektivität oder zeitlichen Nähe zum Ereignis. Eine Reflexion über die im Grundsatz bekannten Unterschiede zwischen Sprache und Fotografie drängten sich dem Autor im Verlaufe seiner
Arbeit durch eine Beobachtung seines eigenen Interpretationsweges auf. Das verschollen
geglaubte Kriegstagebuch wurde erst im Laufe seiner Analyse des Albums wiederentdeckt und zwang ihn, seine bisherigen Ausführungen zu überdenken und zum Teil auch
zu revidieren. Zu fragen ist also: Welche Potenziale haben Sprache oder Fotografie beim
historischen Erinnern, wo findet fotohistorische Forschung ohne sprachliche Kontextinformationen ihre Grenzen? Schließlich – welche Rolle spielt der Blick der Betrachterin
oder des Betrachters von Fotografien?
Die Sprache als ein hoch konventionalisiertes Zeichen- und Regelsystem mit seinen
Subsystemen (Lexik, Semantik, Grammatik und Pragmatik) kann unendlich unterschiedliche kommunikative Leistungen erbringen: Sie kann zum Beispiel verschiedene
Tempi und Modi nutzen und diese Nutzung selbst wiederum reflektieren. Sie kann auch
eigene Erinnerungen oder das gegenwärtige Tun kommentieren oder auch Aussagen
über sich selbst formulieren.
Die Fotografie verfügt über alle diese Mittel nicht. Nicht alles, was gesagt werden
kann, kann auch gezeigt werden.35 Im Moment der Aufnahme repräsentiert sie den Indikativ Präsens, zum Zeitpunkt der Betrachtung der Aufnahme den Indikativ Präteritum. Sie stellt so eine Verknüpfung zwischen Vergangenheit und Gegenwart her. Der
Fotograf war vor Ort, seine Aufnahme beglaubigt durch den fotografischen Index das
Gezeigte. Mit Roland Barthes lässt sich sagen: „Es-ist-so-gewesen.“36 Die Fotografie kann
also nicht verneinen und zum Ausdruck bringen: Es ist nicht so gewesen. Denn, so noch
einmal Barthes, das „Wesen der Fotografie besteht in der Bestätigung dessen, was sie
wiedergibt“.37 Doch schon das „so“ bleibt schillernd. Sind die Aufnahmen von polnischen Flüchtlingen in W.s Fotoalbum Genrebilder des Pittoresken? Sind sie Ausdruck
des kolonialen Blicks auf ein zunehmendes Zivilisationsgefälle im „Lebensraum im
Osten“ oder (an-)teilnehmender fotografischer Ethnografie? Allen semantisch relevanten Gestaltungsmerkmalen der Fotografie zum Trotz: Das Foto selbst bleibt jenseits kulturell und gesellschaftlich konnotierter Zuschreibungen semantisch unbestimmt oder
mindestens polysem. Aus den Aufnahmen des Albums selbst lässt sich nicht ablesen,
ob der Bildautor oder Gerhard W. polnische Flüchtlinge für „dreckige Pollacken“ oder
35
36
37
So z. B. folgende Möglichkeiten einer sprachlichen Darstellung: Abstraktion, Negation, Häufigkeit, Möglichkeit.
Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M. 1985, S. 87.
Barthes, Kammer, S. 95.
197
ChriStoph hamann
„armes, elendes Volk“ und Juden für „Gesindel“ hält, so die Formulierungen im Tagebuch von Gerhard W. Und andererseits: Nicht alles, was als Bild gezeigt wird, kann auch
gesagt werden.38
Die Leerstellen semantischer Unbestimmtheit der Fotografie füllt der Blick der
Betrachterin und des Betrachters mit seinen Zuschreibungen. Denn „Sinn kann den
abgelichteten Gegenständen nur von außen durch den Betrachter verliehen werden.“39
Diese oder dieser bringt dadurch unweigerlich auch sich selbst mit ein. „Das Bild entsteht im Auge des Betrachters“, formuliert Sabine Moller, Gedächtnisforscherin und
Geschichtsdidaktikerin, und spitzt diese These gar noch zu. Ihre Forschungen zur Zeitgeschichte im Film könnten zeigen, „wie die Bildbetrachter als die eigentlichen Schöpfer
von Bild und Geschichte“ zu betrachten seien.40 Blick und Bild sind Teil eines kommunikativen (und ebenso historischen wie pragmatischen) Zusammenhangs, aus dem heraus
(Foto-)Geschichte(n) generiert werden. Am Ende der Argumentation lässt sich deshalb
sagen: Es gibt nicht nur keine Geschichte ohne Historikerinnen und Historiker wie jene
von diesen auch nicht zu trennen ist.41 Es gibt auch keine Auseinandersetzung mit den
fotografischen Quellen ohne eine sehende Rezipientin oder einen sehenden Rezipienten. Und da ihr/sein Blick eben ihr/sein Blick ist und das Vetorecht der fotografischen
Quelle – wider alle Gemeinplätze über Evidenz, Authentizität oder Realismus der Fotografie und den damit verbundenen Unterstellungen – im Kern eine doch ausgesprochen
eingeschränkte Reichweite zur Generierung historischer Erzählungen hat.42 Zu Vermeidung bloßer Projektionen müssen die Betrachterin und der Betrachter bei der Auseinandersetzung mit den Quellen auch ihren und seinen eigenen Blick und dessen Prägung
reflektieren und diesen (historisch, biografisch, kulturell, geschlechtsbezogen …) kontextualisieren. Und dies heißt in der Konsequenz schließlich auch: Diese Selbstreflexivität
muss kommuniziert werden, um ebenso transparent wie diskursiv zugänglich zu sein.
Am Ende der Argumentation schließt sich der Kreis: Blick und Bild. Die Geschichtlichkeit der Betrachterin oder des Betrachters und ihres oder seines Blicks trifft auf ein polysemes Medium. Eine redliche Auseinandersetzung mit den Knipser-Fotos aus privater
Hand zum Zweiten Weltkrieg muss beide Bedingungen bei ihrer Annäherung fortwährend in Rechnung stellen.
38
39
40
41
42
198
Auch eine umfassende Beschreibung eines Bildes wird einem zeichnerisch zwar perfekten,
jedoch blinden Zeichner nicht in die Lage versetzen, das beschriebene Bild so zu zeichnen wie es
aussieht.
Helmuth Lethen, Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit, Berlin 2014, S. 103.
Sabine Moller, Zeitgeschichte sehen. Die Aneignung von Vergangenheit durch Filme und ihre
Zuschauer, Berlin 2018, S. 19 f.
Henri-Irénée Marrou, Über die historische Erkenntnis, Freiburg/München 1973 [EA 1955],
S. 76.
Fotografien können z. B. nicht erzählen, weil eine Erzählung eine sinnhafte Verknüpfung von
mindestens zwei Ereignissen aus unterschiedlichen Zeiten ist. Eine Fotografie stellt die Zeit mit
einer Blendenöffnung vom Bruchteil einer Sekunde still.
der Krieg im album
Literatur
Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M.
1985.
Brink, Cornelia, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus
nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998.
– Bildeffekte. Überlegungen zum Zusammenhang von Fotografie und Emotion, in:
Geschichte und Gesellschaft 37 (2011), S. 104−129.
Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990.
Goertz, Hans-Jürgen, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität,
Stuttgart 2001.
Gudehus, Christian/Eichenberg, Ariane/Welzer, Harald (Hrsg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010.
Heike, Otto, 150 Jahre Schwabensiedlungen in Polen 1795–1945, Leverkusen 1979.
Hoerning, Erika M., Erfahrungen als biografische Ressourcen, in: Peter Alheit/Erika
M. Hoerning (Hrsg.), Biographisches Wissen. Beiträge zu einer Theorie lebensgeschichtlicher Erfahrung, Frankfurt a. M./New York 1989, S. 148–163.
Knoch, Habbo, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001.
Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979.
Lethen, Helmuth, Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit, Berlin
2014.
Marrou, Henri-Irénée, Über die historische Erkenntnis, Freiburg/München 1973 [EA
1955].
Moller, Sabine, Zeitgeschichte sehen. Die Aneignung von Vergangenheit durch Filme
und ihre Zuschauer, Berlin 2018.
Paul, Gerhard, Bilder des Krieges/Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen
Krieges, Paderborn/München/Wien/Zürich 2004.
Roeck, Bernd, Gefühlte Geschichte, in: Recherche. Zeitung für Wissenschaft 1 (2008) 2,
S. 13–15.
Quellen
Gerhard W., Erinnerungen, Hildesheim 2000/2001 (unveröffentlichtes Ms.).
Gerhard W., Fotoalbum „Polenfeldzug Sept. 1939 / am Westwall Sept. 39 − Anfang Mai
40“ [o. O.; o. J.].
Gerhard W., Kriegstagebuch I/II.
199
Abkürzungsverzeichnis
AK
AVO
BArch
Bdz.
BlSchG
Bp
BÜ
DV
DVF
DR
EVZ
Fla M. W.
GHWK
HJ
IMT
Inf. Div.
IR/I. R.
KdF
K. O.
Ko-Chef
KZ
M. A.
MA
MG
MHM
M. O.
m. w. N.
NdsLA
NS
NSDAP
Ob. d. M.
o. P.
o. V.
PK
RAD
RDA
RfSS/RFSS
RGBl.
Armia Krajowa (Heimatarmee)
Ausführungsverordnung
Bundesarchiv Berlin
Bodenzünder
Blutschutzgesetz
Beobachtungsabteilung
Befehlsübermittler
Deutsche Verwaltung (Zeitschrift)
Deutscher Verband für Fotografie
Deutsches Recht (Zeitschrift)
Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft
Flakmaschinenwaffen
Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz
Hitlerjugend
Internationales Militärtribunal (Nürnberg)
Infanterie-Divisionen
Infanterie-Regiment
Kraft durch Freude
Kadettenoffizier
Kompaniechef
Konzentrationslager
Marineartillerie
Mittlere Artillerie, Kaliber 15 cm
Maschinengewehr
Militärhistorisches Museum Dresden
Meldeoffizier
mit weiteren Nachweisen
Niedersächsisches Landesarchiv
Nationalsozialismus
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
Oberbefehlshaber der Marine
ohne Paginierung
ohne Verfasser
Propagandakompanie der Wehrmacht
Reichsarbeitsdienst
Reichsverband Deutscher Amateurphotographen
Reichsführer SS (oder: Reichsführer-SS)
Reichsgesetzblatt
201
abKÜrzungSverzeiChniS
RMBliV
RMdI
RPrMdI
S. A.
SA
SD
SMG
SS
Stukas
SX
V-Boot
VEJ
VfZ
VO
ZfG
ZfSG
ZPwN
ZZF
202
Reichsministerialblatt der inneren Verwaltung
Reichsministerium des Innern
Reichs- und Preußisches Ministerium des Innern
Schwere Artillerie
Sturmabteilung
Sicherheitsdienst des Reichsführers SS
Schweres Maschinengewehr
Schutzstaffel
Sturz-Kampfbomber
Abkürzung für die „Schleswig-Holstein“
Verkehrsboot
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das
nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (Editionsreihe)
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Verordnung
Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts
Związek Polaków w Niemczech (Bund der Polen in Deutschland e. V.)
Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Abbildungsverzeichnis
Der Kriegsbeginn 1939 und die Erinnerung an die deutschen Verbrechen in Polen
Abb. 1: Yad Vashem Jerusalem, 138 GO 2.
„Völkische Flurbereinigung“ in den besetzten und annektierten Gebieten Polens
Abb. 1: Bundesarchiv, Bild 183-B0527-0001-293.
Abb. 2: Völkischer Beobachter vom 26. August 1939.
Abb. 3: Bundesarchiv Berlin, R 58/825, Fol. 29.
Abb. 4: Bundesarchiv Berlin, R 58/825, Fol. 30.
Abb. 5: gemeinfrei.
Abb. 6: Bundesarchiv, R 49 Bild-0705.
Abb. 7: IPN Warszawa, 59745.
„Wir glauben an die Objektivität der Kamera.“
Private Fotografie der Wehrmachtsoldaten im Zweiten Weltkrieg.
Abb. 1: Friedrich Bilges, Album I, Polen 1939 © Privatbesitz Dr. Hartmut Bilges,
Isernhagen.
Abb. 2–5: Hans-Georg Schulz, Album I, Polen 1939 © Privatbesitz Schwarz/Dippold.
Abb. 6–7: Hermann Jaspers, Album I, Polen 1939 © Privatbesitz Inge Jaspers.
Abb. 8–12: Album anonym, Polen 1939 © Münchner Stadtmuseum, Sammlung
Fotografie.
Ein Fotokonvolut zum Überfall auf Polen: Die Aufnahmen des Batterieführers
Kurt Seeliger
Alle Abbildungen © Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz.
Der Angriff der „Schleswig-Holstein“ auf die Westerplatte. Aus dem Logbuch des
Seekadetten Hans Buch
Alle Abbildungen © Privatbesitz Buch/Werner.
Der Krieg im Album. Dem Außeralltäglichen eine alltägliche Form geben –
Erinnern als Überschreiben
Alle Abbildungen © Privatbesitz Hamann.
203
Namensregister
Seitenzahlen provisorisch! K.
Anders, Władysław 92
Apel, Horst 151
Arthur 152
Assmann, Jan 83
Aurich, Willi 129, 145
Barthes, Roland 189
Beck, Józef 22
Best, Werner 62
Bilges, Friedrich 71
Boehm, Hermann 26
Böhler, Jochen 8, 11, 13, 96, 100, 116, 130
Buch, Hans 16, 127, 132, 133, 134, 135, 136,
138, 154
Canaris, Wilhelm 63
Churchill, Winston 158
Dammann, Martin 121, 122
Datner, Szymon 64
Fieldorf, Emil 92
Franco, Francisco 25
Frick, Wilhelm 33, 35
Friedrich der Große 45
Frieser, Karl-Heinz 45
Gerhard W. 165, 167, 168, 170, 171, 173, 175,
177, 178, 181, 182, 183, 184, 186, 187, 188,
189
Goebbels, Joseph 22, 38, 73, 79, 166
Goede, Pionier 159
Göring, Hermann 36
Gottwald, Jonathan 146
Grass, Günter 11
Grimm, Hans 20
Großkurth,Karl-Heinz 151
Guderian, Heinz 52, 56
Halder, Franz 51, 62, 63, 66
Hartwig, Heinrich 157
Havemann, Henrich 168
Hein 144, 150
Henke, Carl 128
Henningsen, Wilhelm 128, 143, 152, 154
Heß, Rudolf 33, 35
Heydrich, Reinhard 24, 27, 28, 29, 36, 62,
67
Himmler, Heinrich 8, 20, 30, 33, 34, 35, 38,
39
Hitler, Adolf 8, 11, 20, 25, 26, 29, 30, 34, 45,
48, 49, 53, 54, 56, 62, 63, 65, 128, 135, 139,
152, 155, 158
Jäger, Jens 96
Jaspers, Hermann 72
Keitel, Wilhelm 33
Kennan, George F. 5
Kleeberg, Franciszek 108, 110
Kleikamp, Gustav 127, 139
Koch, Hermann 107, 108
Koppe, Wilhelm 33
Kuhlmann, Jürgen 148
Lammers, Hans-Heinrich 33
Lochner, Louis P. 62
Machcewicz, Paweł 35
Merten, Karl-Friedrich 159
Möller 152, 154
Moller, Sabine 189
Mussolini, Benito 49
Naujocks, Alfred 27
Neumann, Hermann 151
Otto, Paul 110
Paul, Gerhard 96, 166, 178, 182
Peters, Werner 142
Petersen, Gotthold 151
Pilecki, Witold 92
Piłsudski, Józef 22
Raeder, Erich 139
Rauff, Walther 28, 29
Ritter von Schobert, Eugen 78
Rommel, Erwin 55
Rühmann, Heinz 145
Schmidt, Manfred 151
Schug, Walter 143, 152, 154
Schuhmann, Joseph 154
Schulz, Hans-Georg 71, 72
204
namenSregiSter
Schwender, Ansager 148
Seeliger, Edith 107
Seeliger, Kurt Bruno 14, 16, 95, 101, 106,
107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115,
117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125
Seeliger, Paul 106
Sendler, Irena 92
Sikorski, Władysław 92
Sontag, Susan 96
Sorge, Siegfried 130
Stalin, Josef 26, 31, 48, 49, 53, 55
Starke, Sandra 101
Stiewe, Willy 75
Stresemann, Gustav 168
Stuckart, Wilhelm 23, 29, 34, 35, 36
Sucharski, Henryk 129
Szacka, Barbara 85, 90
Thierack, Otto Georg 38
Thietz, Reiner 150, 157
Tille 152
Traugott, Herr 110
Turck, Ernst 148, 149
Uebelhoer, Friedrich 37
von Bismarck, Otto 45
von Brauchitsch, Walther 67
von Goethe, Johann Wolfgang 188
von Kleist, Ewald 56
von Manstein, Erich 11
von Moltke, Hans-Adolf 22
von Ribbentrop, Joachim 25, 31
Schlöndorff, Volker 11
von Vormann, Nikolaus 53
Wagner, Eduard 62, 63
Weller, Oberstudiendirektor 113
Zagatowski, Arno 150
Zoller, Fritz 145, 157
205
Ortsregister
Seitenzahlen provisorisch! K.
Aufgenommen wurden deutsche und polnische Schreibweisen von Orten jeweils dann,
wenn sie so in Quellenzitaten vorkommen.
Afrika 21
Antoniówka 110, 118
Arkona 142
Asien 5
Auschwitz 9
Bad Harzburg 111
Bad Homburg 136
Bedkow (Będków) 177
Belzec (poln. Bełżec) 10
Benelux-Staaten 6
Berlin 23, 24, 27, 40, 50, 72, 74, 75, 132, 147,
185
Beuthen 26
Białystok 85, 88
Blankenburg 109
Böhmen 40
Braunschweig 109, 111
Breslau 111, 171
Brest-Litowsk 21, 54
Bromberg siehe Bydgoszcz
Brzeziny 179
Bydgoszcz (dt. Bromberg) 62, 72
Calbe an der Saale 110, 111
China 22
Chojnice (dt. Konitz) 26
Częstochowa (dt. Tschenstochau) 66
Dalmatien 6
Dänemark 6
Dänholm 136, 137
Danzig (polnisch Gdańsk) 8, 12, 16, 17, 26,
31, 33, 36, 38, 51, 84, 87, 130, 133, 137, 138,
139, 140, 141, 142, 143, 145, 148, 149, 150,
152, 153, 156, 159, 160, 161
DDR 7, 12
206
Deutschland 5, 6, 12, 13, 15, 21, 24, 27, 31,
38, 39, 49, 56, 74, 92, 93, 130, 139, 145,
162, 178
Dresden 16
Drzewica 115, 120, 121
Działoszyn 174, 175, 176
England 57
Estland 32, 33, 35
Europa 5, 6
Flensburg 137, 141
Frampol 54
Frankreich 6, 46, 47, 49, 58, 111, 172, 180,
186
Gdańsk siehe Danzig
Gdingen siehe Gdynia
Gdynia (dt. Gdingen) 130, 131, 138, 160, 161
Generalgouvernement 9, 10, 34, 35, 38, 85,
88, 89
Gleiwitz siehe Gliwice
Gliwice (dt. Gleiwitz) 28
Główna 38
Govarczov (eigentlich Gowarczów) 113
Groß Born (heute: Borne Sulinowo) 110
Großbritannien 49
Grünbach (auch Grömbach, heute
Łaznowska Wola) 177, 178, 179
Guernsey 172
Hannover 136
Harwood, Australien 109
Hel 137, 138
Herne 136
Hildesheim 171, 172
Hochredlau (poln. Redłowo) 160
Hultschiner Ländchen 26
Iran 57
Istrien 6
ortSregiSter
Italien 5, 6, 33, 35, 111
Janów 79
Jedlin 114
Jedwabne 91
Jeżów 179, 180, 181
Jugoslawien 22, 33
Kałuszyn 73
Karlsmarkt (heute
Karłowice) 174, 183
Katowice 176
Katyń 85, 93
Kiel 138, 139, 141, 150, 172
Kiel-Wik 136
Kluczbork 174
Klwov (eigentlich Klwów) 114
Kock 55, 109, 110, 113, 126
Konitz siehe Chojnice
Końskie 110
Kozienice 114, 115
Krakau 39, 53, 85
Kraśnik 55
Kreuzburg (poln. Kluczbork) 79, 174
Kulmsee (poln. Chełmża) 72
Kuschten (poln. Kosieczyn) 72
Kutno 72, 73
Lausitz 35
Leokadiow 124
Lettland 32, 33, 35
Litauen 27, 32, 33
Łódź 38, 174, 177, 179
London 93
Lublin 38, 55
Luxemburg 39, 40
Madagaskar 25
Madrid 27
Magdeburg 111
Mähren 40
Manschukuo 27
Masowien 73
Memel 143
Memelland 27, 33
Modlin 55
Mokra 52
Monte Cassino 57, 93
Moskau 31, 172
München 80
Münster 182
Mürwik 134, 135, 136, 139, 150
Niederschlesien 79
Norwegen 6
Obersalzberg 63, 64
Oberschlesien 26, 35
Odrzyvol (eigentlich Odrzywół) 114
Oels 111
Olsagebiet (poln. Zaolzie) 26
Opoczno 79
Oppeln (heute
Opole) 174
Osmanisches Reich 6
Österreich 6, 7, 25, 40
Österreich-Ungarn 6
Ostgalizien 88
Ostmitteleuropa 5, 6
Ostoberschlesien 33, 85
Ostpreußen 26, 49, 52, 74, 172
Paris 75
Pearl Harbour 5
Płaczki 176
Płock 72
Polen 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17,
21, 22, 25, 26, 27, 29, 31, 32, 33, 40, 46, 47,
48, 49, 50, 51, 54, 55, 56, 58, 61, 62, 64,
65, 69, 72, 79, 84, 85, 88, 89, 90, 91, 92,
93, 97, 108, 109, 111, 118, 119, 128, 130, 131,
132, 133, 139, 140, 141, 156, 159, 160, 172,
177, 179, 180, 183, 184, 185
Pommern 26, 38, 49, 52, 89, 177
Posen 35, 38
Prag 39
Preußen 13
Przemyśl 13, 68, 85, 88
Przytyk 114
Puławy 109
Pułtusk 73
207
ortSregiSter
Radom 109, 110, 114
Rawa (heute
Rawa Mazowiecka) 79, 175, 176, 187, 188,
189, 191
Riga 32
Różan 73
Rumänien 33, 54, 55
Russland 13, 111, 141, 190, 191
Ruthenau (heute
Chróścice) 183, 184
Scheidelwitz (heute: Szydłowice) 110
Schlesien 89, 109, 172
Schleswig-Holstein 141
Schneidemühl (heute Piła) 38
Schnorke (poln. Ciarka) 79
Sieciechów 115
Slezki (eigentlich Siczki) 114
Sobibor (poln. Sobibór) 10
Sowjetunion 7, 8, 9, 12, 22, 23, 31, 32, 33, 35,
49, 54, 57, 58, 61, 63, 85, 88, 89, 92, 93,
172
Stettin (heute Szczecin) 38
Stralsund 136, 137, 141
Stubbenkammer 142
Sudetenland 26, 33
Südosteuropa 6, 9
Südtirol 33
Swinemünde (heute Świnoujście) 141, 142,
152
208
Szczerców 117, 174, 177
Teschener Land (Zaolzie) 26
Treblinka 10
Tschechei 159
Tschechoslowakei 26, 33
Tschenstochau siehe Cęstochowa
Ukraine 33, 88
Ungarn 27, 33
USA 5, 162
Vilnius (poln. Wilno, dt. Wilna) 32
Warschau 9, 11, 25, 39, 48, 49, 52, 53, 54, 55,
62, 67, 73, 79, 85, 89, 93, 114, 175, 178, 188
Warthegau, Wartheland 31, 35, 36, 38, 39
Weichselmünde (poln. Wisłoujście) 150
Weißrussland 33
Westerplatte 12, 17, 51, 130, 131, 132, 133, 134,
137, 138, 139, 140, 146, 147, 150, 154, 155,
156, 157, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 166
Westpreußen 36, 85
Wieluń 51, 54, 67, 109, 110, 130
Wien 39
Wola 9
Wolfenbüttel 109, 111
Wolhynien 88
Württemberg 177
Zakościele 122, 123
Zbąszyń (Bentschen) 26
Zwoleń 110, 118