Die ööffentliche Macht der Moral
Abu Ghraib als iko
konische Wendung im Krieg gegenn den Terror
Dis
issertation zur Erlangung des
akademischen Gra
rades eines Doktors der Sozialwisse
senschaften
vorgelegt von
Binder, Werner
an der
Geis
eisteswissenschaftliche Sektion
Fachbe
bereich Geschichte und Soziologiee
Konstanz, 2012
Inhaltsverzeichnis
Danksagung
8
I. Einleitung
10
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Methodologische Rechtfertigung – Das sachliche Pathos der Distanz
Der theoretische Rahmen – Soziologie als historische Kulturwissenschaft
„Abu Ghraib“ als soziales Phänomen – Forschungsfragen
„Abu Ghraib“ als multiples Phänomen – Der Missbrauch, die Bilder und der Skandal
„Abu Ghraib“ als Krise – Das Außerordentliche und die soziale Ordnung
„Abu Ghraib“ als Zäsur – Ereignishaftigkeit und Wirkmächtigkeit
„Abu Ghraib“ als totales soziales Phänomen
Methodisches Vorgehen – Dichte Beschreibung und theoretische Durchdringung
Theoretisch-begrifflicher Teil – Handlung, Kultur und Öffentlichkeit
Historisch-empirischer Teil – Entstehung, Ablauf und Wirkung eines Skandals
12
15
16
17
19
21
23
24
25
27
II. Theoretisch-begrifflicher Teil
30
1. Kulturelle Grundlagen des Handelns und Erlebens
31
1.1. Intentionalität und Handlung
32
1.1.1.
1.1.2.
1.1.3.
1.1.4.
1.1.5.
33
38
41
43
46
Kognitive und affektive Modi der Intentionalität
Individuelle und kollektive Modi der Intentionalität
Ziele erreichen – Teleologische Handlungsintentionalität
Regeln befolgen – Deontologische Handlungsintentionalität
Einverständnis erzielen – Kommunikative Handlungsintentionalität
1.2. Kulturelle Hintergründe des Handelns und Erlebens
50
1.2.1.
1.2.2.
1.2.3.
1.2.4.
1.2.5.
53
56
59
63
65
Routine und Krise – Kognitive Hintergründe des Handelns und Erlebens
Stimmung und Identität – Emotionale und evaluative Hintergründe des Handelns
Pragmatismus und Praxistheorie – Zur Kritik des handlungstheoretischen Monismus
Erklären und Erzählen – Zur Logik kultursoziologischer Handlungserklärungen
Mimesis und Resonanz – Zwei Mechanismen kultursoziologischer Erklärungen
1.3. Kultur als symbolische Ordnung und soziales Imaginäres
68
1.3.1.
1.3.2.
1.3.3.
1.3.4.
1.3.5.
70
73
78
82
84
Der kulturelle Hintergrund der Sprache
Kultur als symbolische Ordnung – Diskurse, Codes, Programme
Kultur als soziales Imaginäres – Imagination, Institution, Phantasma
Die Kultur und das Reale – Anlehnung, Ereignis, Spur
Latenz und Ordnung – Kulturelles Trauma und symbolischer Diskurs
2. Elementare Formen kultureller Repräsentation
87
2.1. Bild und Ikone
90
2.1.1.
2.1.2.
2.1.3.
2.1.4.
2.1.5.
92
96
100
103
106
Bild und Text – Vom iconic turn zu einer Hermeneutik des Bildes
Bild und Körper – Repräsentation und Verkörperung
Bilder des Selbst – Image und Identität
Fotografie als Bildmedium – Realismus als medialer Effekt
Säkulare Ikonen – Heilige Bilder und kultische Praxis
2.2. Erzählung und Mythos
111
2.2.1.
2.2.2.
2.2.3.
2.2.4.
2.2.5.
114
116
119
121
124
Theorie fiktionaler Modi – low mimesis und high mimesis
Theorie literarischer Gattungen – Komödie, Romanze, Tragödie, Satire
Handeln und Geschichte als Erzählung – metasociology und metahistory
Die doppelte Narratologie der Kultursoziologie
Mythos und Identität
2.3. Ritual und Performanz
128
2.3.1.
2.3.2.
2.3.3.
2.3.4.
2.3.5.
129
133
137
141
144
Performativität – Wiederholung, Zitat, Wirksamkeit
Rituelle Performanz – Konformität und Transformation
Theatralische Performanz – Fiktionalität und Reflexion
Soziale Performanz – Authentizität und Resonanz
Soziale Dramen und Bühnendramen – Ein mimetisch-performativer Kreislauf
3. Phänomene der Macht, Anerkennung und Unterwerfung
148
3.1. Macht und Gewalt
149
3.1.1.
3.1.2.
3.1.3.
3.1.4.
3.1.5.
150
156
159
162
166
Gesichter der Macht
Die Macht der Bilder? – Einfluss als soziologische Kategorie
Gewalt als Aktionsmacht und Grenzfall des Sozialen
Die Gewalterfahrung als souveräne Überschreitung und Flow-Erlebnis
Technische, rituelle und performative Aspekte der Gewalt
3.2. Ehre und Würde
170
3.2.1.
3.2.2.
3.2.3.
3.2.4.
3.2.5.
172
173
176
180
182
Ehre und Würde
Würde als Ausdrucksphänomen und performative Leistung
Menschenwürde als Repräsentation und Bedingung von Selbstachtung
Würde, Demütigung und Entwürdigung
Menschen als Menschen sehen – Bildanthropologische Implikationen
3.3. Erniedrigung und Folter
185
3.3.1.
3.3.2.
3.3.3.
3.3.4.
3.3.5.
187
191
193
195
199
Demut als rituelle Erniedrigung
Initiation als rituelle Erniedrigung
Demütigung als rituelle Erniedrigung
Folter als Verhörtechnik und rituelle Demütigung
Die Abschaffung der Folter und die Würde des Menschen
4. Moral und Öffentlichkeit
203
4.1. Moral
205
4.1.1.
4.1.2.
4.1.3.
4.1.4.
4.1.5.
206
209
212
215
220
Soziale und moralische Normen
Soziologie als „moralfreie“ Wissenschaft der Moral
Moral als symbolische Ordnung und soziales Imaginäres
Die moralische Ordnung moderner Gesellschaften
Moralische Dilemmata – Die Unbestimmtheit moralischer Ordnungen
4.2. Öffentlichkeit
223
4.2.1.
4.2.2.
4.2.3.
4.2.4.
4.2.5.
224
226
228
231
233
Öffentlicher Raum und Versammlungsöffentlichkeit
Öffentlichkeit als „metatopischer“ Raum – Die Massenmedien
Der Staat als kollektiv legitimierte Handlungssphäre – Politik, Recht, Militär
Politische Öffentlichkeit als zivilgesellschaftlicher Diskurs
Öffentlichkeit als Vorstellung – Imagination, Repräsentation, Inszenierung
4.3. Öffentliche Moral – Zur Theorie zivilgesellschaftliche Diskurse
236
4.3.1.
4.3.2.
4.3.3.
4.3.4.
4.3.5.
237
240
244
249
251
Normative und deskriptive Theorien der öffentlichen Meinung
Die Struktur zivilgesellschaftlicher Diskurse
Die relative Autonomie öffentlicher Diskurse – Staat, Markt und Zivilgesellschaft
Öffentliche Meinung als diskursive Hegemonie – Die „Schweigespirale“
Einheit und Polarität zivilgesellschaftlicher Diskurse – Sekundäre Codierungen
5. Der Skandal – Grundzüge einer kultursoziologischen Theorie
258
5.1. Skandalkritik und Skandaltheorie
263
5.1.1.
5.1.2.
5.1.3.
5.1.4.
5.1.5.
265
267
268
270
274
Ideologiekritische Formen der Skandalkritik
Konservative Skandalkritik
Die naive Affirmation des Skandals
Die funktionale Theorie des Skandals und ihre Kritiker
Zur Funktionalität und Kontingenz von Skandalen
5.2. Der Skandal als Ereignis, Ritual und Drama
278
5.2.1.
5.2.2.
5.2.3.
280
283
287
Der Skandal als Medienereignis
Der Skandal als öffentliches Ritual
Der Skandal als soziales Drama
5.3. Der Skandal als sozialer Prozess – Ein Verlaufsschema
292
5.3.1.
5.3.2.
5.3.3.
5.3.4.
5.3.5.
293
295
298
300
303
Die moralische Verfehlung als abweichendes Verhalten
Die Enthüllung als Selektion der Massenmedien
Die Empörung als Aufstand der Anständigen
Die Krise als gesellschaftlicher Konflikt
Die Bewältigung des Skandals und sein Nachspiel
III. Historisch-empirischer Teil
307
6. Exposition: Amerika auf dem Weg nach Abu Ghraib
308
6.1. Amerika und der Zweite Weltkrieg – Trauma und Triumph
312
6.1.1.
6.1.2.
6.1.3.
314
316
319
„Pearl Harbor“ – Traumatisches Ereignis und kollektives Symbol
„Hiroshima“ – Triumphale Performanz und kollektive Verdrängung
„Holocaust“ – Zur Universalisierung eines moralischen Codes
6.2. Der Vietnamkrieg –Ein dreifaches amerikanisches Trauma
324
6.2.1.
6.2.2.
6.2.3.
325
329
331
Der Vietnamkrieg im amerikanischen Gedächtnis
Das „Vietnamsyndrom“ als nationales Trauma des Scheiterns
Das liberale Tätertrauma – My Lai und die Ikonen des Vietnamkrieges
6.3. Das Abu-Ghraib-Gefängnis und der Golfkrieg von 1991
340
6.3.1.
6.3.2.
6.3.3.
341
343
345
Zur Sakralsoziologie des Raumes – Das Gefängnis
Abu Ghraib und der Golfkrieg von 1991
Das Gefängnis nach dem Golfkrieg
6.4. Der 11. September 2001 und der Krieg gegen den Terror
350
6.4.1.
6.4.2.
6.4.3.
351
354
358
Der 11. September 2001 als Shock und Wiederholung
Amerikanische Sicherheitspolitik nach dem 11. September 2001
Terror und Folter im öffentlichen Diskurs und in der populären Imagination
6.5. Der Irakkrieg von 2003und die Transformation von Abu Ghraib
363
6.5.1.
6.5.2.
6.5.3.
366
368
371
Der Bilderkrieg – Zur Transition und Performanz von Souveränität
Imagewechsel – Abu Ghraib als amerikanisches Militärgefängnis
Mission not accomplished – Irak, ein zweites Vietnam?
7. Die Skandalfotos: Interpretation – Rekonstruktion – Rezeption
7.0.1.
Zur Methode – Ikonologie als kulturwissenschaftliche Bildhermeneutik
374
375
7.1. Interpretation I – Die Ikone des Skandals
379
7.1.1.
7.1.2.
7.1.3.
381
383
386
Vorikonographische Beschreibung und ikonische Interpretation
Die Rolle des Fotographen und die Ikonographie der Inszenierung
Zur ikonographischen und ikonologischen Analyse der kulturellen Muster
7.2. Interpretation II – Die menschliche Pyramide
392
7.2.1.
7.2.2.
7.2.3.
7.2.4.
7.2.5.
393
399
400
404
406
Die Pos(s)e – Touristen und Großwildjäger
Die Gummihandschuhe – Folter als purifizierendes Ritual
„Thumbs up“ als Geste des Triumphs und der Dominanz
Heroische Selbststilisierung oder das scheinbare Heldentum
Die Rhetorik des Bösen und das unscheinbare Heldentum
7.3. Interpretation III – Sexualität, Erniedrigung und Folter
409
7.3.1.
7.3.2.
7.3.3.
411
414
418
Erzwungene Masturbation und symbolische Kastrationsandrohung
Die Inszenierung von Homosexualität
Die Soldatin als Domina – Entmannung und Entmenschlichung
7.4. Rekonstruktion – Folter als rituelle Demütigung
421
7.4.1.
7.4.2.
7.4.3.
422
424
428
Individualistische, situative und sozialpsychologische Erklärungsansätze
Neo-Institutionalistische und kulturwissenschaftliche Erklärungsansätze
Folter in Abu Ghraib als rituelle Demütigung und performative Inszenierung
7.5. Rezeption – Das Reale und die Imagination von Folter
433
7.5.1.
7.5.2.
7.5.3.
434
436
437
Abu Ghraib als Einbruch des Realen – Enthüllung, Schock, Genuss
Abu Ghraib als Verkehrung der symbolischen Ordnung
Abu Ghraib und das Imaginäre der Folter
8. Diskursanalyse I – Entstehung und Bewältigung des Skandals
8.0.1.
Anmerkungen zur Methode – Auswahl und Auswertung der Daten
441
443
8.1. Bildbruch – Enthüllung und Rahmung der Normverstösse
447
8.1.1.
8.1.2.
8.1.3.
447
451
453
Von der Armee in die Medien – „whistle-blower“ und „deep throat“
Die Erstausstrahlung der Bilder auf CBS und ihre Veröffentlichung im New Yorker
Schock und Abscheu – Der Bildbruch der Abu-Ghraib-Fotografien
8.2. Identitätskrise – Abu Ghraib als Imageproblem
458
8.2.1.
8.2.2.
8.2.3.
459
463
471
Der Skandal zwischen Public-Relations-Desaster und Identitätskrise
Öffentliche Entschuldigungen als Techniken der nationalen Imagepflege
Rücktrittforderungen an Rumsfeld – Vergleiche mit Watergate und Vietnam
8.3. Soziale Spaltung? – Diskurshegemonie und Gegendiskurs
476
8.3.1.
8.3.2.
8.3.3.
478
482
485
Der konservativ-hegemoniale Diskurs – Das „bad-apple“-Narrativ
Der links-liberale Gegendiskurs – Hersh, Zimbardo und Sonntag
Der rechts-konservative Gegendiskurs – James Inhofe und Rush Limbaugh
8.4. Ausweitung der Krise und retardierende Momente
487
8.4.1.
8.4.2.
8.4.3.
488
491
495
Die Ausweitung der Krise
Retardierende Momente – Der Daily-Mirror-Skandal und „Nick“ Berg
„Nichtereignisse“ – „Pat“ Tillmans Tod und seine Vertuschung
8.5. Rechtliche Bewältigung und Politische Reintegration
498
8.5.1.
8.5.2.
8.5.3.
499
502
505
Die Strafprozesse gegen die Täter und die Abmahnung der Vorgesetzten
Die offiziellen Untersuchungsberichte zu Abu Ghraib
Abu Ghraib im Wahlkampf 2004 und die Wiederwahl von Bush
9. Diskursanalyse II (2004-2006) – Politik, Recht und Kunst
512
9.1. Memoranda, Geheimgefängnisse, Folter
513
9.1.1.
9.1.2.
9.1.3.
516
518
520
Das Nachspiel der Memoranda – Die Anhörung des Alberto R. Gonzales
Die Debatte um die Geheimgefängnisse und den Schutz von Informanten
Anstöße für die Folterdebatte und Ausweitung der Verantwortlichkeit
9.2. Ein neuer politischer Konsens – Das McCain-Amendment
522
9.2.1.
9.2.2.
9.2.3.
522
525
526
Das McCain-Amendment als Schicksalsfrage amerikanischer Identität
Die Verabschiedung des McCain-Amendments
Das McCain-Amendment und das amerikanische Militär
9.3. Abu Ghraib, Guantanamo und der Supreme Court
529
9.3.1.
9.3.2.
9.3.3.
532
534
538
Rasul v. Bush – Die rechtliche Einhegung von Guantanamo
Hamdan v. Rumsfeld – Das „Kriegsverbrechertribunal“
Boumediene v. Bush – Die Restauration des habeas corpus
9.4. Politischer Aktivismus und politische Kunst
542
9.4.1.
9.4.2.
9.4.3.
545
550
558
Plakative Kunst und politischer Aktivismus im urbanen Raum
Performing Abu Ghraib, showing torture – Aufführungen und Ausstellungen
Politische Kunst, die Rückkehr des Realen und die „doppelte Mimesis“
9.5. Internationales Recht und nationale Politik
562
9.5.1.
9.5.2.
9.5.3
563
564
565
CCR v. Rumsfeld et al. I – Strafanzeige gegen Verteidigungsminister Rumsfeld
Die Kongresswahlen 2006 und Rumsfelds Rücktritt
CCR v. Rumsfeld et al. II – Strafanzeige gegen den Ex-Minister Rumsfeld
10. Diskursanalyse III (2006-2009) – Spätfolgen des Skandals
568
10.1. Abu Ghraib und der Präsidentschaftswahlkampf 2008
569
10.1.1. Abu Ghraib und Waterboarding im republikanischen Vorwahlkampf
10.1.2. Der Präsidentschaftswahlkampf im Schatten von George W. Bush
10.1.3. Die überparteiliche Bericht des Verteidigungsausschusses
572
575
580
10.2. Bildkritik und narrative Rekonstruktion – Die Dokumentationen
582
10.2.1. Road to Guantanamo (2006) und Taxi to the Dark Side (2007)
10.2.2. Autorität und vorauseilender Gehorsam – Ghosts of Abu Ghraib (2007)
10.2.3. Die Geschichte hinter den Bildern – Standard Operating Procedure (2008)
584
586
10.3. Abu Ghraib in der Populärkultur und die Debatte um 24
590
10.3.1. Post-Abu-Ghraib-Fiction – Die Renaissance des unschuldig verstrickten Opfers
10.3.2. Fiktive Folter in der Kritik – Die öffentliche Debatte zu 24
10.3.3. Folter und Abu Ghraib in der Populärkultur – Unthinkable und Tal der Wölfe
593
596
602
10.4. Abu Ghraib und die Folterdebatte
607
10.4.1. Die Akademische Folterdebatte – Abu Ghraib als Argument und Symbol
10.4.2. Der öffentliche Diskurs zum Waterboarding – Verhörtechnik oder Folter?
10.4.3. Die Unabweisbarkeit der Folterfrage und die Phantasmen der Interrogation
610
614
618
10.5. Die Obama-Präsidentschaft – Bewältigung oder Verdrängung?
622
10.5.1. Das Folterverbot unter Obama
10.5.2. Verarbeitung und Verdrängung – Abu Ghraib, ein kulturelles Trauma?
10.5.3. Die unveröffentlichten Abu-Ghraib-Bilder und die Wiki-Leaks-Affäre
622
624
628
IV. Schlussbetrachtung
1. Abu Ghraib als Zäsur
2. Abu Ghraib als totales soziales Phänomen
3. Abu Ghraib als ikonische Wendung im Krieg gegen den Terror
4. Theoretische Implikationen – Plädoyer für eine starke Kultursoziologie
5. Ausblick – Kultursoziologische Perspektiven auf die Finanz- und Wirtschaftskrise
V. Literatur
631
632
636
638
641
644
648
Danksagung
Wie jede gute Geschichte, so hatte auch diese Dissertation einen Anfang, eine Mitte und ein
Ende. Die Geschichte dieser Arbeit als ein heroisches Ein-Mann-Unternehmen zu erzählen
verstieße nicht nur gegen die wissenschaftlichen Gepflogenheiten, sondern entspräche auch
nicht der Wahrheit. Auf meinem Weg begegneten mir Mentoren, Gefährten und streitbare
Kritiker, ohne die es diese Arbeit – zumindest in der vorliegenden Form – nicht geben würde.
Die bloße Nennung aller Personen und Institutionen, die hierfür von Bedeutung waren, würde
jeglichen Rahmen sprengen – ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich viele der Namen
jener, die mir in persönlichen Gesprächen oder auf Konferenzen hilfreiche Anregungen zuteil
werden ließen, niemals erfahren oder aber schon lange vergessen habe. Angesichts der
Unmöglichkeit, jedem gerecht werden zu können, werde ich mich daher im Folgenden auf die
wichtigsten Personen beschränken – die übrigen mögen mir dies nachsehen.
Prof. Dr. Bernhard Giesen bin ich zu allergrößtem Dank verpflichtet – nicht nur weil er die
Betreuung dieser Arbeit bereitwillig annahm, sondern auch weil er mir an seinem Lehrstuhl in
Konstanz eine intellektuelle Heimat bot. Von seiner Lektüre des Manuskripts, seiner Kritik
und seiner Ermutigung hat diese Arbeit ungemein profitiert. Ich danke ebenfalls Prof. Dr.
Thomas Weitin, der sich nicht nur für das Thema meines Dissertationsvorhabens begeistern
ließ, sondern mir auch einige wichtige Hinweise mit auf den Weg gegeben hat. Ausdrücklich
möchte ich mich bei meinen beiden Betreuern für den Umfang der vorliegenden Arbeit
entschuldigen, den eine Kollegin kürzlich als einen „Anschlag auf die Gutachter“ bezeichnet
hat. Nicht zuletzt wegen des Umfangs der Arbeit war auch die Hilfe, die mir von vielen Seiten
zu Teil wurde, von unschätzbarem Wert. Vor Marco Gerster und Kim-Claude Meyer verneige
ich mich in tiefster Dankbarkeit, da beide weite Teile der vorliegenden Arbeit in
unterschiedlichen Arbeitsphasen kritisch gegengelesen und niemals mit hilfreichen
Vorschlägen gespart haben. Dank gebührt auch Francis Le Maître, Thorn-Rennig Kray und
Christian Hillmann, die einzelne Kapitel dieser Arbeit kommentiert haben, sowie den anderen
Teilnehmern unseres kultursoziologischen Kolloquiums, von deren Anregungen und Kritik
ich profitieren konnte. Bei Yasemine Soytemel möchte ich mich für die Diskussionen im
ehemaligen gemeinsamen Büro bedanken – in denen sie mehr als einmal in die Rolle des
advocatus diaboli geschlüpft ist.
Heike Kanter möchte ich dafür danken, das sie – als einzige – diese Arbeit von ihren
8
Anfängen bis zu ihrem Ende begleitet hat. In der Anfangszeit in Berlin waren die
Spaziergänge mit Heike, der ich auch das Thema dieser Arbeit zu verdanken habe, eine
unentbehrliche Inspirationsquelle für mich, gegen Ende half mir ihre kritische Lektüre zwei
meiner Kapitel. Prof. Dr. Martin Leiner hat mich in einer kritischen Zeit zu Beginn der Arbeit
mit selbstlosem Einsatz unterstützt, weswegen ich tief in seiner Schuld stehe. Prof. Dr. Gerd
Blum danke ich für die Diskussionen in Konstanz und die Lektüre des einschlägigen
Kunstkapitels, das von seiner Expertise ungemein profitieren konnte. Schließlich möchte ich
auch noch den ehemaligen Fellows und Meistern der Konstanzer Meisterklasse meinen Dank
aussprechen. Es war mir eine Ehre und ein Vergnügen, mehrmals an ihr teilnehmen und
Aspekte meiner Arbeit diskutieren zu dürfen. Vor allem die Auseinandersetzung mit einem
überaus streitbaren Prof. John Searle hat diese Arbeit nachhaltig geprägt, wofür ich ihm
großen Dank schulde.
Zu danken ist weiterhin dem Netzwerk Transatlantische Kooperation an der Universität
Konstanz, das zwei Forschungsaufenthalte in New Haven förderte. Dem Center for Cultural
Sociology an der Yale University danke ich für die herzliche Gastfreundschaft, das anregende
intellektuelle Umfeld und die Gelegenheit, erste Ergebnisse meiner empirischen Arbeit im
Workshop des Centers diskutieren zu dürfen. Ich danke allen Teilnehmern, deren Kritik unter
anderem dafür verantwortlich ist, dass in der vorliegenden Fassung der Arbeit auch
Fernsehtranskripte berücksichtigt wurden. Prof. Jeffrey C. Alexander danke ich für seinen
Zuspruch und seine Ermutigung den bereits eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen.
Bedanken möchte ich mich außerdem bei Dr. Dominik Bartmanski – für die gemeinsamen
Gespräche und die nun schon mehr als vier Jahre währende Freundschaft.
Hendrik Stary hat die vorliegende Arbeit mit viel Sorgfalt und Aufwand redigiert, wofür
ich ihm unendlich dankbar bin. Die noch verbliebenen stilistischen Mängel und inhaltlichen
Unklarheiten gehen natürlich auf mein Konto. Dank gebührt auch meiner Familie, die mich
immer auf jede erdenkliche Art und Weise unterstützt hat – obgleich die vorliegende Arbeit
für sie wohl immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben wird. Abschließend möchte ich noch
Sophie Schinko, die mich über mehrere Jahre begleitet hat und mich in dieser Zeit mit dieser
Arbeit teilen musste, von ganzem Herzen danken.
Konstanz, im April 2012
Werner „Abu“ Binder
9
I. Einleitung
Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt
geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen;
die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.
G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (2000/1821: 28)
Vor etwa acht Jahren, am 28. April 2004, gelangten Fotografien von amerikanischen Soldaten
an die Öffentlichkeit, die die Welt schockierten.1 Auf den Bildern war zu sehen, wie irakische
Gefangene von den Soldaten gedemütigt und zu sexuellen Handlungen gezwungen wurden.
Viele der Bilder zeigten die amerikanischen Täter, die sich grinsend und in selbstgefälliger
Pose neben den erniedrigten Gefangenen ablichten ließen. Zu allem Überfluss fanden diese
Missbrauchsfälle in dem berüchtigten Gefängnis von Abu Ghraib, einem Vorort von Bagdad,
statt, in dem schon Saddam Hussein seine politischen Feinde zu foltern pflegte.2
Der Aufschrei in den amerikanischen Medien war dementsprechend groß. Journalisten und
Kommentatoren beschäftigten sich ausführlich mit den Vorwürfen gegen die Soldaten und
auch mit den Bildern selbst. Intellektuelle und Wissenschaftler schalteten sich in die Debatte
ein. Empörte Bürger wandten sich in Leserbriefen an die Öffentlichkeit und verliehen so ihrer
Beschämung über die Taten „ihrer“ Soldaten einen Ausdruck. Sie entschuldigten sich im
Namen der Nation und forderten „ihre“ Politiker auf, sich ebenfalls zu entschuldigen. Schnell
gaben die Militärführung und die Regierung der Vereinigten Staaten dem öffentlichen Druck
nach, indem sie die Vorfälle aufs Schärfste verurteilten und öffentliche Entschuldigungen an
die Opfer und das irakische Volk richteten. Schon bald wurden Sondersitzungen des
Verteidigungsausschusses des Senates einberufen, in denen die Vorfälle einmütig verurteilt,
Vorgesetzte befragt und Verantwortliche zum Handeln aufgerufen wurden.
Kurzum: Die Veröffentlichung der Fotografien löste einen Skandal aus, der Mitte Mai
seinen Höhepunkt erreichte, bevor die öffentlichen Empörung wieder verebbte und das
Thema allmählich in den Hintergrund trat. Es kann wohl dem öffentlichen Druck
1
Es waren auch weibliche Soldaten an der Entstehung dieser Fotografien beteiligt. In der vorliegenden
Arbeit wird – aus Rücksichtnahme auf die Verständlichkeit und den Sprachfluss des Textes – jedoch
durchgehend die männliche Form verwendet. Es sollte sich von selbst verstehen, dass dadurch nicht die
zentrale Rolle von Frauen als Tätern, Journalistinnen, Intellektuellen oder Politikerinnen innerhalb des
Diskurses über Abu Ghraib in Abrede gestellt wird.
2
Es gibt unterschiedliche Schreibweisen des arabischen Namens, so z.B. auch „Abu Ghureib“ oder „Abu
Ghuraib“. In dieser Arbeit wird die amerikanische Schreibweise „Abu Ghraib“ verwendet, die sich im
Zuge des Gefängnisskandals auch weltweit durchgesetzt hat.
10
zugeschlagen werden, dass bereits im Mai der erste Angeklagte zu einer Gefängnisstrafe
verurteilt wurde. Abu Ghraib erhitzte die Gemüter und dominierte über Wochen die
Medienlandschaft in den Vereinigten Staaten. Ohne Zweifel war der Abu-Ghraib-Skandal,
jedenfalls für die amerikanische Öffentlichkeit, das Medienereignis des Jahres 2004 –
zumindest wenn man von den Präsidentschaftswahlen im gleichen Jahr absieht. Abu Ghraib
spielte aber nicht nur in amerikanischen und irakischen Diskursen eine wichtige Rolle, es war
ein globales Medienereignis, das in Europa und der arabischen Welt, ja sogar in Ländern wie
Südafrika und Indien, mit großem Interesse verfolgt wurde.3 Zu Recht nannte ein kürzlich in
einem deutschen Magazin erschienener Artikel die Enthüllungen von Abu Ghraib einen
„Weltskandal“ – und zeigte noch einmal jenes Foto, das als „Ikone des Skandals“ bekannt
wurde (7.1).4
Heute, mehr als acht Jahre nach Ausbruch des Skandals, ist der öffentliche Zorn über
dieses Ereignis weitestgehend verflogen – auch wenn die Fotografien von Abu Ghraib
vielleicht noch nicht ganz aus dem Bildgedächtnis der Weltgesellschaft verschwunden sind.
Die republikanische Bush-Administration, in deren Amtszeit die Missbrauchsfälle geschahen
und öffentlich wurden, hat vor mehr als drei Jahren ihren Platz geräumt. Der Letzte der Täter
von Abu Ghraib, der im Gefängnis seine Haftstrafe absaß, wurde im August 2011 auf
Bewährung entlassen. Vieles deutet darauf hin, dass Abu Ghraib nur eine temporäre
Bedeutung hatte. „Abu Ghraib“ mag – wenn überhaupt – ein wichtiges Ereignis einer
historischen Epoche – oder vielleicht besser: Episode – gewesen sein, ein Symbol des
sogenannten „Krieges gegen den Terror“,5 der nach dem 11. September 2001 mit viel
Emphase ausgerufen worden war (6.4), aber zwischenzeitlich an Bedeutung verloren hat. Die
Finanzkrise und ihre Ausläufer, aber auch die Revolutionen in mehreren arabischen Ländern,
der sogenannte „Arabische Frühling“, haben die Bedrohung durch den islamistischen Terror
in den Hintergrund gedrängt. Die Amerikaner haben ihre Truppen mittlerweile aus dem Irak
abgezogen, ein vorgezogener Abzug aus Afghanistan wird – nach dem jüngsten Massaker
3
So liegt beispielsweise von Christine Buchinger (2006) eine komparative Analyse der Berichterstattung
über Abu Ghraib in den südafrikanischen Tageszeitungen Cape Times und Mail&Guardien vor.
4
Bernhard Pörksen und Hanne Detel: „Kollaps der Kontexte. In der Digital-Ära wird der Kontrollverlust
zur Alltagserfahrung – und der Skandal allgegenwärtig“, Der Spiegel, Nr. 14, 2. April 2012, S. 140-141.
5
Die offizielle Bezeichnung, die unter der Bush-Regierung eingeführt worden war und von der ObamaAdministration wieder abgeschafft wurde, lautete „Global War on Terrorism“. In den amerikanischen
Medien kam allerdings meist die Kurzform „War on Terror“ zur Anwendung, deren deutsche
Übersetzung in dieser Arbeit als Bezeichnung für eine historische Epoche und einen amerikanischen
Politikstil verwendet wird.
11
eines amerikanischen Soldaten an Zivilisten – ebenfalls diskutiert. So bedeutsam die
Missbrauchsfälle und der anschließende Skandal für Opfer und Täter, für Iraker wie für
Amerikaner, auch gewesen sein mochten, warum sollte sich ein Soziologe – und zudem ein
deutscher Soziologe – Jahre später mit diesem Ereignis noch einmal auseinandersetzen?
Diese Frage besitzt durchaus ihre Berechtigung. Ihre vorläufige Beantwortung soll im
Folgenden als ein Leitfaden für die Explikation des Erkenntnisinteresses und der
Problemstellung dieser Arbeit dienen. Zunächst ist die zeitliche und kulturelle Distanz zum
Forschungsgegenstand, aber auch die angestrebte Distanzierung von moralisierenden
Zugängen als ein methodologischer Vorzug dieser Studie auszuweisen, der sie – zumindest
ihrem Anspruch nach – von allen bisherigen Arbeiten zu Abu Ghraib unterscheidet. Danach
ist der theoretische Rahmen dieser Arbeit zu skizzieren, bevor die soziologische Relevanz des
Phänomens anhand seiner unterschiedlichen Aspekte demonstriert wird. Abschließend soll
dann noch auf die Methode und die Gliederung dieser Arbeit eingegangen werden.
1. Methodologische Rechtfertigung – Das sachliche Pathos der Distanz
Es wäre falsch zu behaupten, dass „Abu Ghraib“ von wissenschaftlicher Seite zu wenig
Aufmerksamkeit gefunden hätte. Insbesondere in den ersten Jahren nach dem Skandal
erfreute sich das Thema einer großen wissenschaftlichen Popularität: Vor allem Aufsätze,
aber auch einzelne Monographien unterschiedlicher disziplinärer Ausrichtung nahmen sich
des Themas dankbar an. Bei der Durchsicht der einschlägigen Literatur fällt allerdings auf,
dass sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit „Abu Ghraib“ fast ausschließlich in
einer theoretisch informierten Diskussion der Missbrauchsfälle und der Fotografien erschöpft.
Zur Rolle von „Abu Ghraib“ im öffentlichen Diskurs der Vereinigten Staaten, dem
eigentlichen Skandal, liegen immer noch so gut wie keine Arbeiten vor (vgl. auch die
Einleitung zum achten Kapitel). Die vorliegende Arbeit kann somit für sich in Anspruch
nehmen, eine wichtige Lücke in der bisherigen Forschung zu „Abu Ghraib“ zu schließen. Die
bereits erschienenen Arbeiten zu diesem Thema sind in dieser Studie nicht nur als
Forschungsliteratur
heranzuziehen,
sondern
zugleich
auch
als
Teil
des
Forschungsgegenstandes zu berücksichtigen. Ohne die Skandalisierung der Missbrauchsfälle
– so die Vermutung – lässt sich die wissenschaftliche Konjunktur des Themas nicht verstehen.
Für die wissenschaftliche Literatur zu „Abu Ghraib“ – und das betrifft Arbeiten von
Amerikanern und Nichtamerikanern gleichermaßen – ist eine mehr oder weniger starke
normative bzw. politische Schlagseite charakteristisch. Dagegen wäre nichts einzuwenden,
wenn nicht die analytische Schärfe vieler Untersuchungen unter einem moralisierenden Blick
12
auf die Missbrauchsfälle und Bilder zu leiden hätte. Gerade jene Kulturwissenschaftler, die
den sogenannten „cultural studies“ nahe stehen, nehmen es mit der Werturteilsfreiheit oft
nicht so genau – oder lehnen sie sogar schlichtweg ab. Die Funktion moralisierender bzw.
politisierender Argumentation in wissenschaftlichen Diskursen liegt auf der Hand: Sie sichert
die Zustimmung der Leser und Zuhörer, und das unabhängig vom wissenschaftlichen Ertrag
der Arbeit. Eine public sociology, die zu den drängenden Fragen einer Gesellschaft öffentlich
Stellung bezieht, ist durchaus wünschenswert und im gesellschaftlichen Interesse. Nur sollte
darüber nicht vergessen werden, dass die primäre Aufgabe von Wissenschaftlern nicht darin
besteht, als öffentlicher Sinnstifter oder politische Kritiker aufzutreten. Wissenschaft soll
zunächst einmal „wahres“, überzeitliches Wissen produzieren. Dies fällt ihr umso leichter, je
mehr Distanz sie zu ihrem Gegenstand wahren kann.
Eine zeitliche Distanz zu einem Ereignis des öffentlichen Interesses kann seiner sachlichen
Analyse durchaus förderlich sein. Die Tatsache, dass Abu Ghraib heute nicht mehr im
Zentrum des öffentlichen Interesses steht, erleichtet nicht nur die moralische Distanzierung,
sondern erlaubt es auch, das Ereignis als relativ abgeschlossene Einheit zu untersuchen. Dem
Wert wissenschaftlicher Wahrheit tut die verflossene Zeit keinen Abbruch. Im Gegensatz zu
den Informationen der Massenmedien besitzt wissenschaftliche Wahrheit kein Verfallsdatum
– sie lässt sich höchstens wiederlegen.6 Der wissenschaftliche Wert einer Untersuchung des
Abu-Ghraib-Skandals ist unabhängig vom derzeitigen öffentlichen Interesse. Darüber hinaus
gereicht es dieser Studie zum Vorteil, dass sie nicht von einem Amerikaner durchgeführt
wurde. Eine kulturelle Distanz zum amerikanischen Diskurs erleichtert einerseits die
Identifikation dominanter Muster und blinder Flecke, andererseits aber auch die Distanzierung
gegenüber moralischen und politischen Fragen. Allerdings bedarf die kulturelle Distanz
zugleich einer kulturellen Vertrautheit, um wissenschaftliches Verständnis zu fördern und
Missverständnissen vorzubeugen.7
6
Die Zeitlichkeit der medialen Öffentlichkeit ist eine andere als die der Wissenschaft. Dies wird in
gesellschaftlichen Krisen immer wieder aufs Neue deutlich: Von der Wissenschaft werden auf einmal
Antworten verlangt, während die Wissenschaftler erst einmal Anträge schreiben und sich auf mehrere
Jahre Forschung einstellen. In den Augen der Öffentlichkeit kommen derartige wissenschaftliche
Untersuchungen daher fast immer „zu spät.“ Die Wissenschaft würde sich daher selbst überfordern und
ihren eigenen Maßstäben schwerlich gerecht werden, wenn sie versuchen würde, mit aktuellen Themen
Schritt zu halten.
7
So nutzte der Verfasser mehrfach die Gelegenheit, seine Arbeit auf Vorträgen in den Vereinigten Staaten,
aber auch im privaten Gespräch mit amerikanischen Akademikern und „normalen“ Bürgern zu
diskutieren. Das liberale Klima an amerikanischen Universitäten begünstigte unter Akademikern eine
kritische Haltung gegenüber der damaligen Bush-Regierung, was sich unter anderem darin äußerte, dass
die längerfristigen Konsequenzen des Skandals systematisch unterschätzt wurden. Dies wird nicht zuletzt
13
Die Distanz zum Leben, die Hegel für die Philosophie zugleich pathetisch einforderte und
sentimentalisch beklagte, steht auch der Soziologie gut zu Gesicht.8 Die vorliegende Arbeit
bekennt sich darüber hinaus auch zum Prinzip der Werturteilsfreiheit, wie es von Max Weber
eingefordert wurde. Sie versucht, wertende Stellungnahmen zu vermeiden, oder sie – gesetzt
den Fall – als solche auszuflaggen. Man kann schnell Übereinstimmung darüber erzielen, dass
der Missbrauch von Gefangenen oder der Einsatz von Folter „unmoralisch“ oder „illegitim“
sei. Nur ist dies – soziologisch betrachtet – nicht besonders interessant. Soziologisch
interessant ist hingegen die Frage, wie es unter den Mitgliedern einer Gesellschaft zu einer
Übereinstimmung in diesen Fragen kommt – und unter welchen Bedingungen sich dies
ändert. Die persönliche Meinung eines einzelnen Soziologen, gesamtgesellschaftlich ohnehin
eher irrelevant, ist in einer Analyse öffentlicher Diskurse fehl am Platz. Gesellschaftlich zählt
alleine die öffentliche Meinung, die materiellen und symbolischen Strukturen, die ihr zu
Grunde liegen, die sozialen Prozesse, die sie konstituieren, und die kontingenten Ereignisse,
die sie beeinflussen. Die Macht der Moral, so eine These dieser Arbeit, kann nur öffentlich
wirksam werden.
Die zeitliche Distanz zu dem Ereignis kommt dieser Arbeit noch in anderer Hinsicht
zugute. Die vereinzelten Arbeiten, die sich für den amerikanischen Diskurs zu Abu Ghraib
interessieren, beschäftigen sich ausschließlich mit den ersten Wochen nach dem Erscheinen
der Fotografien, was gewisse Einseitigkeiten in der Einschätzung des Skandals und seiner
Folgen begünstigt. Für die vorliegende Arbeit wurden Artikel amerikanischer Tageszeitungen
und Transkripte amerikanischer Fernsehsendungen vom 1. Januar 2004 bis zum 31. Dezember
2009 einer systematischen Analyse unterzogen (8.0.1). Zwar dauerte die „heiße Phase“ des
Skandals nur vier Wochen, doch zeigen die Daten, dass „Abu Ghraib“ auch in den
darauffolgenden Monaten und Jahren immer wieder in unterschiedlichen Kontexten
auftauchte: Es wurde mit politischen Debatten und Gerichtsurteilen in Verbindung gebracht
(9.1-3); es spielte in den Wahlkämpfen von 2004 und 2008 eine gewisse Rolle (8.5.3; 10.1);
schließlich wurde es immer wieder im Zusammenhang mit Kunstwerken, populärkulturellen
Erzeugnissen und der Folterdebatte genannt (9.4; 10.3-4). Diese zeitliche Distanz zu dem hier
auch in einem Beitrag deutlich, den der Autor mit einem amerikanischen Theologen und einem
kanadischen Anthropologen für einen Sammelband verfasste (Binder et al. 2011).
8
Das Pathos der Distanz kommt wohl am eindrucksvollsten bei Luhmann zum Ausdruck, der den „Flug
[…] über den Wolken“ an die Stelle der Hegelschen „Eule der Minerva“ treten lässt (2006/1984: 13).
Allerdings lässt der hohe Abstraktionsgrad von Luhmanns Theorie sozialer Systeme nur noch wenig von
der reichhaltigen Textur der gesellschaftlichen Wirklichkeit erkennen, die der Ausgangspunkt einer
kultursoziologischen Erklärung von sozialen Phänomenen sein muss.
14
untersuchten Ereignis erlaubt es dieser Arbeit, die Langzeitfolgen des Skandals in den Blick
zu bekommen. Ein weiterer Vorteil der zeitlichen Distanz liegt darin, dass die
zwischenzeitlich erschienenen Studien an verschiedenen Stellen eingearbeitet werden
konnten.
2. Der theoretische Rahmen – Soziologie als historische Kulturwissenschaft
Dieser Arbeit liegt die theoretische Annahme zu Grunde, dass menschliches Wahrnehmen,
Denken und Handeln in einen Horizont von Sinn und Bedeutung eingebettet ist, der sich dem
Bewusstsein der beteiligten Akteure entzieht. Dieser „Hintergrund“ des Handelns und
Erlebens – und dies macht ihn für Soziologen interessant – variiert mit der
Gruppenzugehörigkeit der Akteure, aber auch von Gesellschaft zu Gesellschaft. Der sozial
geteilte Sinnhorizont einer Gruppe ist ihre „Kultur“. Im Gegensatz zu konkurrierenden
Ansätzen in der Soziologie, die individuelles Handeln durch subjektiven Sinn (z.B.
Interessen) oder durch objektive Strukturen (z.B. Klassenlage) erklären wollen, lässt sich
diese Arbeit einem kultursoziologischen Programm zuordnen, das von einer relativen
Autonomie der Kultur ausgeht.9 Der kulturelle Hintergrund von sozialen Gruppen oder
ganzen Gesellschaften ist dabei durch und durch historisch. Kultur fungiert als ein
„historisches Apriori“ (Foucault), das dem Handeln der Akteure wie auch den
gesellschaftlichen Diskursen zu Grunde liegt.
In den letzten Jahren erfreut sich der Begriff der „Kultur“ einer steigenden Beliebtheit,
wovon nicht zuletzt die Konjunktur der cultural studies zeugt, die sich – theoretisch
eklektisch – mit unterschiedlichen kulturellen Phänomenen befassen. Derartige Studien
kranken jedoch oft an einem fehlenden theoretischen Rahmen, den sie oft mit steilen Thesen
und normativen Argumenten zu kompensieren versuchen, wie nicht zuletzt die
Stellungnahmen der „üblichen Verdächtigen“ (z.B. Žižek, Sonntag, Butler) zu den AbuGhraib-Bildern demonstrieren. Demgegenüber kann die Soziologie auf eine lange
kultursoziologische Tradition zurückblicken. Gerade heute gilt: Kultur ist viel zu wichtig, um
sie als Soziologe den cultural studies zu überlassen. Aus diesem Grund brauchen wir eine
Kultursoziologie, die sich in systematischer Weise mit Kultur beschäftigt.
Ein Mangel der gegenwärtigen Kultursoziologie liegt darin, dass es ihr bisher nicht
9
Der hier vertretene Ansatz folgt in weiten Teilen dem „strong program in cultural sociology“, das von
Jeffrey C. Alexander und Philip Smith in einer programmatischen Streitschrift eingefordert wurde (2003).
15
gelungen ist, an die Debatten zur soziologischen Handlungstheorie anzuknüpfen.10 Auch
wenn nahezu alle Kultursoziologen davon ausgehen, dass „Kultur“ einen Einfluss auf
menschliches Handeln besitzt, erfolgt doch selten eine Spezifizierung der Wirksamkeit der
Kultur im Handeln.11 Auch wenn sich der empirische Teil dieser Arbeit überwiegend auf der
Makroebene des öffentlichen Diskurses bewegt, darf nicht unterschlagen werden, dass
Diskurse aus Aussagen bestehen, die von Akteuren artikuliert werden, und dass diese
Artikulation als eine Handlung verstanden werden muss. Die Konzeption des „kulturellen
Hintergrundes“, die zu Beginn dieser Arbeit entworfen wird, macht nicht nur die „kulturelle
Verfassung des Handelns“ (Giesen) verständlich, sondern ermöglicht es uns auch, zu
verstehen, wie kulturelle Prinzipien in öffentlichen Diskursen wirksam werden.
3. „Abu Ghraib“ als soziales Phänomen – Forschungsfragen
Eine soziologische Arbeit über „Abu Ghraib“ lässt sich alleine schon damit rechtfertigen, dass
„Abu Ghraib“ als soziales Phänomen in den Gegenstandsbereich der Disziplin fällt. Darüber
hinaus lassen sich auch inhaltliche Gründe anführen, die eine soziologische Untersuchung des
Abu-Ghraib-Skandals besonders lohnend erscheinen lassen. Genau genommen verbirgt sich
hinter dem Kürzel „Abu Ghraib“ ein Komplex unterschiedlicher soziale Phänomene.
Grundlegend kann man zwischen den Missbrauchsfällen in jenem irakischen Gefängnis
einerseits und dem Skandal im amerikanischen Diskurs andererseits unterscheiden. Diese
Mehrebenstruktur des Phänomens deutet auf eine Verschränkung der Mikroebene des
Handelns mit der Makroebene öffentlicher Diskurse hin. Wie ist aber dieses Verhältnis zu
konzeptualisieren? Eine mögliche These in diesem Zusammenhang könnte lauten, dass die
10
Folgt man Hans Joas und Wolfgang Knöbl, so muss sich jede sozialwissenschaftliche Theoriebildung drei
grundlegende Fragen stellen: „Was ist Handeln?“; „Was ist soziale Ordnung?“; „Was bestimmt sozialen
Wandel?“ (2004: 37). Gerade hinsichtlich der Frage des Handelns muss vielen kultursoziologischen
Ansätzen ein Defizit konstatiert werden. Kultursoziologische Theorien sind bis heute im Wesentlichen
Theorien sozialer Ordnung, wenn auch in jüngster Zeit das „Außerordentliche“ als notwendiges Korrelat
der sozialen Ordnung zunehmend an Aufmerksamkeit erfährt (Giesen 2010). Schwerer tun sich
kultursoziologische Theorien mit der Frage des sozialen Wandels. Der bloße Verweis auf die Instabilität
von Bedeutungen oder eine „Kontingenzperspektive“ auf Kultur (Reckwitz 2004) wird den Ansprüchen
wissenschaftlicher Erklärungen nicht gerecht.
11
Die wenigen kultursoziologischen Ansätze, die eine Brücke zwischen „Handeln“ und „Kultur“ zu schlagen
versuchen, weisen teils erhebliche Mängel auf: Oft gehen sie von einem instrumentellem Verhältnis
zwischen Handlung und Kultur aus (Swidler 1986), oder sie verabschieden den Handlungsbegriff zu
Gunsten einer oberflächlichen Konzeption von sozialer Praxis (Reckwitz 2006b). Selbst bei dem derzeit
attraktivsten Theorieangebot, Bourdieus Konzeption des „Habitus“ (1982, 1999), handelt es sich letztlich
um eine Blackbox, die – will man denn zu einem angemessenen Handlungsverständnis gelangen –
geöffnet werden muss.
16
Skandalfotografien im Fall von Abu Ghraib als eine Scharnierstelle zwischen den
Missbrauchsfällen im irakischen Gefängnis und dem zivilgesellschaftlichen Diskurs der
Vereinigten Staaten fungierten.
Im Folgenden wird die These vertreten, dass der Abu-Ghraib-Skandal nicht nur ein
soziales Phänomen unter anderen darstellt, sondern dass es sich bei ihm um ein
„außerordentliches“ Ereignis handelt, das einen privilegierten Zugang zur sozialen Ordnung
und zum kulturellen Hintergrund der amerikanischen Gesellschaft bietet. Für die Soziologie
sind außerordentliche Ereignisse wie Skandale oder Krisen von unschätzbarem Wert, weil sie
als Indikatoren einer gesellschaftlichen Tiefenstruktur gedeutet werden können. Gemäß dem
kultursoziologischen Ansatz dieser Arbeit wird diese Tiefenstruktur als kultureller
Hintergrund einer Gesellschaft gedeutet. Es stellt sich die Frage, was die kollektive Empörung
über die Missbrauchsfälle über den kulturellen Hintergrund und die nationale Identität der
Amerikaner aussagt. Zugleich muss berücksichtigt werden, dass außerordentliche Ereignisse
auch einen Beitrag zur Reproduktion dieser Tiefenstruktur leisten können.
Außerordentliche Ereignisse können nicht nur zur Reproduktion der sozialen Ordnung
beitragen, sondern auch die Tiefenstruktur einer Gesellschaft nachhaltig verändern. Ein
Ereignis, das sich durch eine besondere Wirkmächtigkeit auszeichnet, soll im Folgenden
„Zäsur“ genannt werden. Zäsuren markieren Übergänge zwischen kulturellen und
historischen Formationen. Für diese Arbeit stellt sich die Frage, ob sich der Abu-GhraibSkandal als historische Zäsur verstehen lässt. Dies wäre dann der Fall, wenn der Skandal –
über einzelne institutionelle Veränderungen hinaus – zu einem tiefgreifenden und
nachhaltigen Wandel der amerikanischen Gesellschaft geführt hat. In diesem Zusammenhang
stellt sich auch die Frage nach der Reichweite der Wirkung außerordentlicher Ereignisse. Ein
Ereignis geschieht meist in einem bestimmten Bereich der Gesellschaft, kann aber von dort
aus gegebenenfalls auf andere gesellschaftliche Bereiche übergreifen. War die Wirkung des
Abu-Ghraib-Skandals auf wenige Bereiche der Gesellschaft beschränkt, oder entfaltete sich
seine Wirksamkeit grenzüberschreitend?
4. Abu Ghraib als multiples Phänomen – Der Missbrauch, die Bilder und der Skandal
Bei den Missbrauchsfällen handelt es sich um mikrosoziologische Phänomene der Gewalt und
der Erniedrigung, während der Skandal ein makrosoziologisches Phänomen par excellence
17
darstellt.12 Der Schwerpunkt dieser Untersuchung liegt zwar auf dem öffentlichen Diskurs,
dem Abu-Ghraib-Skandal als einem Makrophänomen, allerdings sollte die Mikroebene des
Handelns darüber nicht vernachlässigt werden. Die vorliegende Arbeit geht auf Distanz zu
radikal-konstruktivistischen Diskursansätzen, für die allein die makrosoziologische Ebene des
Diskurses auschlaggebend ist. Stattdessen interessiert sie sich für die „Übersetzung“ von
Phänomenen von der Mikroebene auf die Makroebene – und vice versa. Gerade der AbuGhraib-Skandal zeigt, dass das Handeln von Individuen globale Auswirkungen haben kann –
was nicht nur auf die Täter von Abu Ghraib zutrifft, sondern auch auf die anderen
Protagonisten des Skandals. Wenn wir uns für die Entstehung des Skandals interessieren,
sollten auch die Ursachen der Missbrauchsfälle in die Untersuchung mit einbezogen werden.
Das Gleiche gilt in noch viel größerem Maße für die Fotografien aus dem Gefängnis: Die
Vorgeschichte des Skandals zeigt, dass es ohne die Bilder zu keinem Skandal gekommen
wäre (8.1.2). Insofern hat es uns zu interessieren, warum die Täter ihre Missetaten mit ihren
Digitalkameras dokumentierten und wie diese Bilder schließlich in die Öffentlichkeit
gelangten. Die vorliegende Arbeit geht noch einen Schritt weiter: Nicht die bloße Tatsache,
dass es überhaupt Bilder gegeben hat, war für den Verlauf des Skandals entscheidend,
sondern ihr spezifischer ikonischer Gehalt.
Die Fotografien von Abu Ghraib nehmen in dieser Arbeit eine Schlüsselstellung ein, da sie
einerseits als ein Produkt der Missbrauchsfälle zu betrachten sind, andererseits aber auch für
die Rezeption des Skandals maßgeblich waren. Anhand einer Interpretation der Bilder soll
eine Rekonstruktion der Missbrauchsfälle erfolgen, die nicht zuletzt Rückschlüsse über den
kulturellen Hintergrund und die soziale Funktion der Missbrauchsfälle zulässt. Warum
nahmen die Missbrauchsfälle gerade jene Formen an, die auf den Fotos zu sehen sind? Nur
wer die Rolle der Kultur im sozialen Leben ernst nimmt und sich nicht von vornherein auf
„rationale“ Handlungsmotive festlegt, kann auch scheinbar „sinnlose“ Akte der Demütigung
wie die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib verständlich machen und ursächlich erklären. Erst
eine kultursoziologische Perspektive kann jene Bedeutungen in den Blick bekommen, die sich
in den Erniedrigungsritualen der Soldaten und ihren Bildern manifestierten – und letztendlich
den Ausschlag für die öffentliche Empörung gaben.
Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt allerdings auf der Rezeption der
Missbrauchsfälle durch die amerikanische Öffentlichkeit. Es geht vor allem darum, die
12
Zur Mikro-Makro-Unterscheidung vgl. die Ausführungen von James Coleman (1995: 1-29) und den von
Jeffrey C. Alexander, Bernhard Giesen, Neil Smelser und Richard Münch herausgegebenen Sammelband
(1987).
18
Entstehung des Skandals, seinen Ablauf und seine Folgen zu erklären. Die Frage nach den
Auswirkungen des Abu-Ghraib-Skandals stellt sich hier in doppelter Weise: So kann man
nach den unmittelbaren Wirkungen des Skandals fragen, oder aber man kann versuchen, die
indirekten Auswirkungen des Abu-Ghraib-Skandals in den Blick zu bekommen. Leicht drängt
sich nämlich der Eindruck auf, dass der Skandal in weiten Teilen folgenlos geblieben ist: Kein
Offizier wurde bestraft, Donald Rumsfeld musste nicht zurücktreten, und George W. Bush
konnte sich wenige Monate später in den Präsidentschaftswahlen gegen seinen Konkurrenten
Kerry durchsetzen. Angesichts dieser Faktenlage sollte nicht vorschnell auf die Ohnmacht der
Moral geschlossen werden. Der öffentlichen Moral kommt eine eigene Macht zu, die
allerdings auf eine entsprechende kulturelle Rahmung angewiesen bleibt.
Der Brückenschlag zwischen der Mikroebene des Handelns und der Makroebene
öffentlicher Diskurse ist eine wichtige Aufgabe der Soziologie. Bei der Transformation von
Mikrophänomenen in Makrophänomene handelt es sich nicht um eine simple Aggregation
individueller Handlungen, sondern immer auch um eine Selektion vor dem Hintergrund
überindividueller Strukturen – auch wenn diese erst im Handeln der Akteure ihre
Wirksamkeit erlangen. Dies wird unter anderem in der Metapher der „Übersetzung“ von
Mikrophänomenen in Makrophänomene deutlich. Das Resultat einer Übersetzung hängt nicht
nur von der ursprünglichen Aussage ab, sondern auch von der Logik der Sprache, in die die
Aussage übersetzt wird. Die objektive Gestalt der Missbrauchsfälle und der Fotografien von
Abu Ghraib legten nicht deren Deutung fest, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass im
amerikanischen Diskurs unterschiedliche Deutungen miteinander konkurrierten (8.3) und sich
die hegemoniale Deutung der Vorfälle im Verlauf des Skandals veränderte.
5. „Abu Ghraib“ als Krise – Das Außerordentliche und die soziale Ordnung
Das „Ereignis“ ist die zeitliche Erscheinungsform des „Außerordentlichen“, das aus dem
alltäglichen Rahmen fällt und die geltende Ordnung in Frage stellt.13 Bei außerordentlichen
Ereignissen kann es sich um positive Ereignisse – beispielsweise um Gründungsakte, die eine
neue Ordnung setzen –, aber auch um negative Ereignisse, die als eine Krise der bestehende
Ordnung, als eine Verletzung von Hintergrundannahmen wahrgenommen werden, handeln.
Die jeweilige Wahrnehmung von Ereignissen bleibt natürlich vom Standpunkt des
Beobachters abhängig und kann durchaus auch ambivalente Züge tragen: Revolutionäre
13
Paradigmatisch für eine solche „Soziologie des Außerordentlichen“ ist die Kultursoziologie von Bernhard
Giesen (2004c, 2010).
19
Situation etwa können sowohl als soziale Krisen als auch als Gründungsakte einer neuen
Ordnung erlebt werden.
Vor allem Krisen sind für Soziologen von Interesse, da sie die Prinzipien der sozialen
Ordnung beobachtbar machen. In der Überschreitung der sozialen Ordnung tritt eine
gesellschaftliche Tiefenstruktur zu Tage, die im lebensweltlichen Alltag der Akteure latent
bleibt. So wird erst durch die Übertretung einer Norm bzw. durch die öffentliche Reaktion auf
ihre Übertretung die Existenz dieser Norm sichtbar. Man muss sogar noch einen Schritt
weitergehen: Die Übertretung von Normen ist für die Reproduktion einer normativen
Ordnung konstitutiv, da eine Norm, die niemals übertreten würde, bald nicht mehr von einer
bloßen Gewohnheit zu unterscheiden wäre. So machten erst die Missbrauchsfälle und der
Skandal von Abu Ghraib (wieder?) unmissverständlich klar, dass die sexuelle Demütigung
von Gefangenen als verwerflich anzusehen ist – selbst wenn den Gefangenen ansonsten kein
Haar gekrümmt worden wäre. Ab und an ist die Übertretung einer Norm erforderlich, da sie
nur so den Akteuren als Norm bewusst werden kann. In diesem Sinne stellt das
Außerordentliche nicht nur das Gegenteil der sozialen Ordnung dar, sondern kann zu Recht
als „Grund der sozialen Wirklichkeit“ (Giesen) bezeichnet werden. Jede soziale Ordnung ist
und bleibt auf außerordentliche Ereignisse und Störungen angewiesen. Genau genommen
handelt es sich bei der sozialen Ordnung und dem Außerordentlichen um zwei Seiten
derselben Medaille: Wie jede soziale Ordnung auf dem Außerordentlichen beruht, so kann
auch ein außerordentliches Ereignis nur vor dem Hintergrund einer fraglos unterstellten
Ordnung in Erscheinung treten. Zwischen der sozialen Ordnung und dem Außerordentlichen
herrscht somit ein komplementäres Verhältnis.
Außerordentliche Ereignisse sind für die Soziologie in doppelter Hinsicht von Interesse:
Einerseits spielen sie eine wichtige Rolle in Gesellschaften, andererseits kommt ihnen eine
epistemologische Relevanz zu, die sie vor allen anderen sozialen Phänomenen auszeichnet.
Gerade soziale Krisen bieten einen einzigartigen Zugang zur normativen und kulturellen
Tiefenstruktur von Gesellschaften. Der kulturelle Hintergrund des Handelns und Erlebens
wird gerade in Krisen sicht- und beobachtbar, wie nicht zuletzt Garfinkels berühmte
„Krisenexperimente“ gezeigt haben (1.2.1). Diese Einsicht lässt sich von der Mikrosoziologie
auf die Makrosoziologie übertragen. Auch im Skandal tritt eine soziale Krise zu Tage, die aus
der Überschreitung einer moralischen Norm resultiert. Skandale machen als „makrosoziale
Krisenexperimente“ die moralische Ordnung einer Gesellschaft zuallererst einer Beobachtung
zugänglich – wobei es sich hier natürlich nicht um ein Experiment im engeren Sinne handelt,
20
da Skandale in aller Regel nicht aus einem soziologischen Erkenntnisinteresse heraus lanciert
werden. Die Skandalforschung ist auf die Analyse historischer Ereignisse angewiesen. In
diesem Sinne hat die Soziologie Krisen als einmalige Chancen zu begreifen – und zu nutzen.
Im dieser Arbeit wird die These vertreten, dass der Abu-Ghraib-Skandal eine soziale Krise
ausgelöst hat. Die kollektive Empörung über die publik gewordenen Missbrauchsfälle muss
somit als Indikator einer gesellschaftlichen Tiefenstruktur interpretiert werden. In der
Reaktion auf die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib kommt beispielsweise die Idee der
Menschenwürde (3.2), die auf den Bildern mit Füßen getreten wurde, in ihrer Verletzbarkeit
zum Ausdruck. Darüberhinaus deutet die Reaktion im amerikanischen Diskurs auf eine Krise
der nationalen Identität hin, die durch die Taten der eigenen Soldaten ausgelöst wurde (8.2).
Schließlich werden im Diskurs auch jene Narrative und Bilder sichtbar, die nach dem 11.
September 2001 die Anwendung von Folter legitim erscheinen ließen, aber auf die
Missbrauchsfälle von Abu Ghraib nicht mehr angewendet werden konnten.
6. „Abu Ghraib“ als Zäsur – Ereignishaftigkeit und Wirkmächtigkeit
Außerordentliche Ereignisse können nicht nur als vorübergehende Krisen in Erscheinung
treten, sondern auch einen historischen Einschnitt, eine „Zäsur“ markieren. Eine Zäsur
zeichnet sich vor allen anderen Ereignissen durch ihre Wirkmächtigkeit aus. Während das
außerordentliche Ereignis die Tiefenstruktur sichtbar macht, verändert eine Zäsur diese
Tiefenstruktur. Es stellt sich nun die Frage, inwieweit der Abu-Ghraib-Skandal retrospektiv
tatsächlich als Zäsur bezeichnet werden kann. Um diese Frage später beantworten zu können,
wollen wir zunächst einmal die Ereignishaftigkeit und Wirkmächtigkeit von Ereignissen zu
operationalisieren versuchen.
In einigen Bereichen der Sozialwissenschaft haben sich Verfahren durchgesetzt, die die
Produktion wissenschaftlicher Wahrheit an die Prüfung von Hypothesen knüpfen.14 In einer
historisch verfahrende Soziologie, der es weniger Linie um die Bestätigung und Widerlegung
von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhängen, als vielmehr um die Erklärung
von historischen Phänomenen geht, lässt sich ein solches Verfahren nur bedingt anwenden.
Trotzdem
lässt
sich
eine
zentrale
Fragestellung
dieser
Arbeit
mithilfe
zweier
entgegengesetzter Hypothesen schärfer formulieren. Die Minimalhypothese dieser Arbeit
14
Während es im klassischen Positivismus darum ging, Hypothesen zu bestätigen, lässt der kritische
Rationalismus von Popper nur noch eine Widerlegung von Hypothesen zu. Die Annahmen des kritischen
Rationalismus führen in der Forschungspraxis zum sogenannten „Null-Ritual“, der Aufstellung von NullHypothesen alleine zum Zwecke ihrer Widerlegung.
21
lautet: Der Abu-Ghraib-Skandal hat zu keinen nennenswerten Veränderungen geführt. Die
komplementäre Maximalhypothese lautet: Der Abu-Ghraib-Skandal stellt eine Zäsur, ein
außerordentliches Ereignis dar, das gravierende Umwälzungen zur Folge hatte. Es versteht
sich von selbst, dass beide Hypothesen – auf die Spitze getrieben – unrealistisch sind. Die
Minimalhypothese wäre ein Nichtereignis, während der Maximalhypothese das absolute,
unüberbietbare Ereignis entspräche.15 Das soziologische Narrativ, das in dieser Arbeit
entfaltet wird, bewegt sich zwischen diesen beiden Polen und wird die Wirkmächtigkeit des
Skandals in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht spezifizieren müssen.
Während das absolute Ereignis den Wendepunkt in der Geschichte darstellt, markieren
„gewöhnliche“ Zäsuren den Übergang von einer historischen Epoche zur nächsten. Als
empirische Näherungsgröße für die Maximalhypothese bietet sich für diese Arbeit der 11.
September 2001 an. Ohne Zweifel markierte der Anschlag auf das World Trade Center in
New York eine Zäsur, die vielerorts als Menetekel für das 21. Jahrhundert gedeutet wurde.16
Gleichwohl muss im Rückblick konstatiert werden, dass die Bedeutung von „9/11“
überschätzt wurde. Ob sich ein Ereignis als Zäsur beschreiben lässt, hängt zum einen von den
antizipierten und zum anderen von den tatsächlichen Folgen dieses Ereignisses ab. Die
Anschläge vom 11. September 2001 hatten gravierende institutionelle und kulturelle
Veränderungen zur Folge, die unter dem deutschsprachigen Kürzel „Krieg gegen den Terror“
subsumiert werden können: die Enttabuisierung von Folter, die Legitimierung und
Durchführung von Angriffskriegen, die Errichtung des exterritorialen Gefangenenlagers in
Guantanamo Bay, Kuba, um nur einige von ihnen zu nennen (6.4-5). Dieser Arbeit liegt die
Annahme zu Grunde, dass der Abu-Ghraib-Skandal als ein gegenläufiges Ereignis zum 11.
September 2001 betrachtet werden kann: Die Geschehnisse in Abu Ghraib stellten somit die
Konsequenzen in Frage, die aus 9/11 gezogen wurden. Gesetzt den Fall, dass beide Ereignisse
gegenläufig aufeinander bezogen sind, bietet sich der 11. September 2001 als ein
vergleichender Maßstab an, um die Ereignishaftigkeit und Wirksamkeit des Abu-GhraibSkandals zu bestimmen. Die Maximalhypothese träfe zu, wenn der Skandal die Wirkungen
von 9/11 zunichtegemacht oder sie sogar übertroffen hat. Hatte der Abu-Ghraib-Skandal
keinerlei Einfluss auf den „Krieg gegen den Terror“, so wäre die Minimalhypothese bestätigt.
15
Das „absolute Ereignis“ in seiner unüberbietbaren Bedeutung gibt es eigentlich nur in der Heilsgeschichte
der achsenzeitlichen Religionen. Die Erscheinung des Messias, der messianische Moment, ist hier eine
Zäsur im wahrsten Sinne des Wortes: der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte.
16
Dem Thema „9/11 als Zäsur“ wurden in den letzten Jahren mehrere kulturwissenschaftlich ausgerichtete
Sammelbände gewidmet (Poppe et al. 2009; Schüller & Seiler 2010).
22
Wie eine mögliche Korrektivfunktion des Skandals aussehen könnte, soll noch einmal kurz
am Beispiel der Folterdebatte illustriert werden. So lässt sich zeigen, dass im Zuge des
Krieges gegen den Terror nicht nur das moderne Tabu der Folter öffentlich in Frage gestellt
wurde, sondern auch die Zulässigkeit von Verhörtechniken enorm ausgeweitet wurden (6.4.).
Diese Konsequenzen von 9/11 lassen sich als ein tiefgreifender Wandel der moralischen
Ordnung und des kulturellen Hintergrundes beschreiben, der durch ein außerordentliches
Ereignis bzw. die Rahmung von 9/11 als einem außerordentlichen Ereignis herbeigeführt
wurde. Im Anschluss daran wird diese Arbeit die Frage beantworten, inwieweit der AbuGhraib-Skandal zu einer Restauration der moralischen Ordnung geführt hat. Auch wenn die
Vorfälle von Abu Ghraib nicht als Folter im engeren Sinne, sondern „nur“ als
„Missbrauchsfälle“ gerahmt wurden, darf ein Einfluss auf die Folterdebatte nicht von
vornherein ausgeschlossen werden. So könnte der Abu-Ghraib-Skandal zu einer Veränderung
der kulturellen Tiefenstruktur der amerikanischen Gesellschaft geführt haben, was wiederum
einen indirekten Einfluss auf die Folterdebatte gehabt haben könnte. Über eine Veränderung
des kulturellen Hintergrundes kann ein Ereignis eine eigentümliche Wirksamkeit und
Strahlkraft entfalten – manchmal bis in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein.
7. „Abu Ghraib“ als totales soziales Phänomen
In dieser Arbeit soll außerdem der Frage nachgegangen werden, inwieweit es sich bei Abu
Ghraib um ein „totales soziales Phänomen“ handelt.17 Ein „totales soziales Phänomen“ in dem
hier verwendeten Sinne bleibt nicht auf einen gesellschaftlichen Teilbereich – wie die Politik
oder die Wissenschaft – beschränkt, sondern überschreitet die gesellschaftlichen
Systemgrenzen. Gerade öffentliche Diskurse scheinen besonders prädestiniert dafür zu sein,
als Mittler zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen und Diskursen zu
fungieren. Daraus ergeben sich folgende Forschungsfragen: In welchen Diskursen wird Abu
Ghraib zum Thema gemacht, in welchen Zusammenhängen werden die Bilder zitiert oder die
Missbrauchsfälle als Metapher verwendet?
Die Beantwortung der Frage, ob es sich bei Abu Ghraib um ein „totales soziales
Phänomen“ handelt, erfordert eine Auseinandersetzung mit politischen und rechtlichen
Entscheidungen, die auf den ersten Blick nichts mit den Missbrauchsfällen zu tun haben, aber
dennoch im Diskurs zu Abu Ghraib auftauchen. Andere gesellschaftliche Teilbereiche, in
17
Der Begriff stammt aus Marcel Mauss’ Essay über die „Gabe“ (1990), die von ihm als „totales soziales
Phänomen“ charakterisiert wird.
23
denen ein Einfluss von Abu Ghraib vermutet werden darf, sind jene der Kunst (9.4) und der
Populärkultur (10.3), aber auch die akademische Folterdebatte (10.4). Sollte sich Abu Ghraib
als „totales soziales Phänomen“ erweisen, müssten bestimmte Theorien der funktionalen
Differenzierung überdacht und gegebenenfalls erweitert werden. Der kultursoziologische
Ansatz in dieser Arbeit legt die Existenz eines gesellschaftlich geteilten kulturellen
Hintergrundes nahe, der seine Wirkung auch über Systemgrenzen hinweg entfaltet.
8. Methodisches Vorgehen – Dichte Beschreibung und theoretische Durchdringung
Die Methode im empirischen Teil dieser Arbeit lässt sich als „dichte Beschreibung“ (Geertz)
bzw. als „narrative Rekonstruktion“ (Alexander) bezeichnen. Bei einer „dichten
Beschreibung“ handelt es sich immer schon um eine Interpretation, die die Bedeutung einer
Situation für die beteiligten Akteure mit zu erfassen versucht. Im Kontext des hier
aufgespannten kultursoziologischen Rahmens darf sie sich nicht damit begnügen, die
intentionalen Sinnzuschreibungen der Akteure sichtbar zu machen, sondern hat auch jene
vorintentionalen Sinnhorizonte freizulegen, die für die Akteure selbst unzugänglich sind. Die
Anwendung dieser Methode stellt insofern ein gewisses Wagnis dar, als sich kulturelle
Hintergründe weder „objektiv“ messen noch „persönlich“ abfragen lassen, vielmehr müssen
sie indirekt erschlossen werden. Jede Interpretation bleibt auf Plausibilität und intersubjektive
Zustimmung angewiesen – was aber letztlich auch für die Interpretation von Messwerten und
Umfrageergebnissen gilt. Die konkrete Ausgestaltung dieser Methode hängt von dem zu
untersuchenden Gegenstand ab. Auch wenn Bilder, Texte und Handlungen unterschiedliche
Interpretationstechniken erfordern, dienen sie ein- und demselben Erkenntnisinteresse: Immer
geht es um die Rekonstruktion der Bedeutung, die sich in einem sozialen Akt oder einem
kulturellen Artefakt manifestiert. Während sich die Bildanalyse im siebten Kapitel an
kunstgeschichtlichen Vorbildern orientiert, versteht sich die Diskursanalyse, die in den letzten
drei Kapitel zum Einsatz kommt, als eine narrative Rekonstruktion des Abu-Ghraib-Skandals
– eine soziologisch informierte Erzählung, die den Verlauf des Skandals und seiner Ausläufer
rekonstruieren und theoretisch durchdringen will.
Ziel dieser Arbeit ist die Erklärung des Abu-Ghraib-Skandals in seinem „geschichtlichen
So-und-nicht-anders-Gewordensein“ (Weber). Nicht nur die Auswahl des empirischen
Materials, sondern auch die theoretischen Ausführungen wurden – obwohl sie für sich eine
gewisse Eigenständigkeit beanspruchen können – diesem Ziel untergeordnet. Die vorliegende
Arbeit gliedert sich in einen begrifflich-theoretischen Teil und einen historisch-empirischen
Teil, wobei beide Teile jeweils fünf Kapitel umfassen. Theorie und Empirie sind in dieser
24
Arbeit – und waren es bereits während ihres Entstehungsprozesses – wechselseitig
aufeinander bezogen. Die theoretischen Konzepte wurden mit Blick auf das empirische
Datenmaterial entworfen und immer wieder in der Auseinandersetzung mit dem Material
angepasst. Das empirische Material sollte mit theoretischen Begrifflichkeiten durchdrungen
und die theoretischen Begriffe empirisch gesättigt werden.
9. Theoretisch-begrifflicher Teil – Handlung, Kultur und Öffentlichkeit
Der theoretisch-begriffliche Teil dieser Arbeit führt einerseits in die theoretischen und
begrifflichen Grundlagen der empirischen Studie ein, andererseits ist er auch als ein
eigenständiger systematischer Beitrag zur soziologischen Theoriebildung zu verstehen. Dies
gilt vor allem für das erste Kapitel, das in den hier vertretenen kultursoziologischen Ansatz
einführt, sowie für das fünfte Kapitel, das eine kultursoziologische Theorie des Skandals
skizziert. Das zweite Kapitel über die elementaren Formen der kulturellen Repräsentation
vertritt ebenfalls einen systematischen Anspruch, obgleich auch die Zugänge zu den
jeweiligen Unterkapiteln zu verscheiden sind, um von einer einheitlichen Systematik sprechen
zu können. Auch das vierte Kapitel argumentiert vor einem kultursoziologischen Hintergrund
für ein spezifisches Verständnis von Moral und Öffentlichkeit, das nicht von allen Vertretern
der Disziplin geteilt wird. Das dritte Kapitel tanzt insofern aus der Reihe, als die „Phänomene
der Macht, Anerkennung und Unterwerfung“ nicht systematisch aufeinander aufbauen, aber
dennoch miteinander verflochten sind.
Im ersten Kapitel dieser Arbeit werden zunächst die bewusstseinstheoretischen Grundlagen
des Handelns skizziert und dann drei Modelle von Handlungsintentionalität vorgestellt, die
sich jedoch alle als unzureichend erweisen (1.1). Im Rückgriff auf neuere philosophische
Debatten wird dann eine Unterscheidung zwischen der „Intentionalität“ des Bewusstseins und
dem „vorintentionalen“ Hintergrund des Handelns eingeführt. Der „kulturellen Hintergrund“
des Handelns und Erlebens (1.2) bezeichnet jenen Teil des vorintentionalen Hintergrundes,
der von der jeweiligen sozialen Zugehörigkeit abhängt. Die Tatsache, dass intentionales
Handeln immer in einen vorintentionalen bzw. kulturellen Hintergrund eingebettet ist, erlaubt
es uns, zu verstehen, wie Kultur immer schon im Handeln wirksam ist. Darüber hinaus wird
vorgeschlagen, den kulturellen Hintergrund als komplementäres Verhältnis zwischen einer
symbolischen Ordnung, die auf binären Codes und Programmen basiert, und einem sozialen
Imaginären, das eine diffuse, aber unhintergehbare Voraussetzung einer Zuweisung von
Codewerten darstellt (1.3), zu begreifen.
Das zweite Kapitel widmet sich den drei elementaren Formen kultureller Repräsentation,
25
dem Bild (2.1), der Erzählung (2.2) und der Performanz (2.3). In zweifacher Hinsicht sind
diese kulturelle Formen von Bedeutung: Einerseits handelt es sich bei ihnen um Handlungen
bzw. um Produkte von Handlungen; andererseits stehen sie auch für kulturelle
Hintergrundmuster, die dem Erleben und Handeln von Akteuren zu Grunde liegen. Ikonische,
narrative und performative Muster sind ein wesentlicher Bestandteil des sozialen Imaginären,
das als kultureller Hintergrund das Handeln von Akteuren präfiguriert und auch öffentliche
Diskurse strukturiert. Der Fall Abu Ghraib ist vorzüglich geeignet, um den Gebrauch dieser
elementaren Formen näher zu untersuchen: Die ikonischen Sinngehalte der Fotografien
spielten bei der Rezeption der Missbrauchsfälle eine wichtige Rolle (7.5; 8.1.3); die kulturelle
Rahmung der Missbrauchsfälle vollzog sich anhand von narrativen Strukturen (8.3);
schließlich muss auch der eigentümlichen Performanz der Täter (7.4.3) und dem Auftreten der
Teilnehmer im öffentlichen Diskurs (z.B. 8.2) eine ursächliche Wirksamkeit zugesprochen
werden.
Die übrigen theoretischen Kapitel widmen sich unterschiedlichen sozialen Phänomenen
aus einer kultursoziologischen Perspektive. Alle diese Phänomene spielen im empirischen
Teil dieser Arbeit eine wichtige Rolle. So werden im dritten Kapitel die Begriffe „Macht“ und
„Gewalt“ (3.1), „Ehre“ und „Würde“ (3.2), „Erniedrigung“ und „Folter“ (3.3) behandelt, um
unter anderem ein Licht auf die performative Dimension von Macht, auf die transgressive
Eigenlogik der Gewalt sowie auf Missbrauch und Folter als Formen der Entwürdigung zu
werfen. Im vierten Kapitel folgt eine soziologische Betrachtung der Phänomene „Moral“ (4.1)
und „Öffentlichkeit“ (4.2), die in einem Modell der „öffentlichen Moral“ als dem Produkt
eines öffentlichen Diskurses kulminiert (4.3), das der Diskursanalyse in dieser Arbeit zu
Grunde gelegt wird. Das hier vertretene Modell greift eine bekannte Konzeption der Struktur
zivilgesellschaftlicher Diskurse als einer symbolischen Ordnung auf, erweitert sie allerdings
um das moralisches Imaginäre und eine Binnendifferenzierung politischer Öffentlichkeiten.
Das fünfte Kapitel, in dem eine kultursoziologische Theorie des Skandals skizziert wird,
knüpft an diese Ausführungen zu Moral und Öffentlichkeit an. Im Vordergrund stehen dabei
die gesellschaftlichen Funktionen und Folgen von Skandalen (5.1-2). Am Schluss steht ein
allgemeines Verlaufsschema von Skandalen, das Einsatzpunkte für das Handeln einzelner
Akteure markiert, aber zugleich der Offenheit des Skandals als einem sozialen Prozess mit
ungewissen Ausgang gerecht zu werden versucht (5.3). Dieses Verlaufsschema dient als
interpretative Folie für die Analyse des Abu-Ghraib-Skandals.
26
10. Historisch-empirischer Teil – Entstehung, Ablauf und Wirkung eines Skandals
Der empirische Teil dieser Arbeit gliedert sich in eine Darstellung der Vorgeschichte von Abu
Ghraib, in eine Interpretation der einschlägigen Skandalbilder sowie in eine Analyse des
eigentlichen Skandals. Während sich das siebte Kapitel der Interpretation von einschlägigen
Fotografien aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis widmet, zielen die letzten drei Kapitel dieser
Arbeit auf eine Diskurs- und Medienanalyse der amerikanischen Öffentlichkeit. Das jeweilige
Datenmaterial – Bilder auf der einen und Texte auf der anderen Seite – macht
unterschiedliche Herangehensweisen erforderlich, über die an Ort und Stelle Rechenschaft
abzulegen ist.
Das sechste Kapitel, die historische Exposition, stellt den Auftakt zur eigentlichen Analyse
des Skandals dar. Der Abu-Ghraib-Skandal lässt sich nur in seinem historischen Kontext, das
heißt vor dem Hintergrund des „Krieges gegen den Terror“, verstehen, der als Reaktion auf
die Anschläge vom 11. September 2001 erfolgte. Die Geschichte dieses „Krieges“ und des
Abu-Ghraib-Skandals lässt sich bis zum Zweiten Weltkrieg zurückverfolgen (6.1), der im
nationalen Gedächtnis als „good war“ verankert ist und die Kriegsnarrative in den Vereinigten
Staaten bis heute prägt. Die Tragödie des Vietnamkrieges stellt in gewisser Weise den
ambivalenten und „unreinen“ Gegenpol zum Zweiten Weltkrieg dar. Die öffentlich
umstrittene Deutung des Vietnamkrieges spaltete den amerikanischen Diskurs in zwei Lager,
was sich auch in der Rezeption des Abu-Ghraib-Skandals bemerkbar machte (vgl. 8.5.3).
Darüberhinaus hat Vietnam mit dem My-Lai-Massaker und seinen fotografischen Ikonen
sogar Vergleiche zu Abu Ghraib zu bieten. Schließlich ist auch die Vorgeschichte des AbuGhraib-Gefängnisses unter Saddam Hussein und der Golfkrieg von 1991 von Interesse (6.3).
Wie bereits erwähnt, stellt der Krieg gegen den Terror eine historische Epoche dar, die mit der
Zäsur des 11. September 2001 einsetzte und zu institutionellen und kulturellen
Veränderungen führte (6.4). Wie wir sehen werden, waren die Veränderungen im kulturellen
Hintergrund entscheidend für die narrative Rahmung des Iraks im Vorfeld des Krieges von
2003. Ohne den 11. September 2001 wäre eine Invasion des Iraks nicht so ohne Weiteres
möglich gewesen. Schließlich muss auch auf den Verlauf des Irakkriegs von 2003
eingegangen werden, in dessen Zuge es zu den Missbrauchsfällen kam (6.5). Erst die
bröckelnde Legitimation des Krieges, die ambivalenten Bemühungen, mit dem Erbe von
Saddam Hussein aufzuräumen, sowie die ausbleibende Befriedung des Iraks schufen die
Bedingungen für die Entstehung der Missbrauchsfälle und die Wirkung des Abu-GhraibSkandals.
27
Das siebte Kapitel dieser Arbeit widmet sich der Interpretation und Diskussion der
einschlägigen Fotografien aus Abu Ghraib. Die Bilder lassen sich in zwei Richtungen
interpretieren: Einerseits verweisen sie auf ihre Produktionskontexte – die Misshandlungen im
Gefängnis –, andererseits aber auch auf ihre öffentliche Rezeption. Entscheidend ist, dass sich
in den Bildern Sinngehalte objektiviert haben, die einerseits eine Rekonstruktion der Vorfälle
ermöglichen, andererseits aber auch einen Ansatzpunkt für eine Erklärung der öffentlichen
Wirkung dieser Bilder bieten. Die in dieser Arbeit angewandte kultursoziologische Methode
der Bildinterpretation orientiert sich im Wesentlichen an der Ikonologie von Erwin Panofsky
(7.0.1). Die hier in Angriff genommene Interpretation der Skandalbilder (7.1-3) ist keine
Übung um ihrer selbst willen, sondern zielt auf eine Rekonstruktion der Missbrauchsfälle und
der Freilegung von Rezeptionsmustern, die für den öffentlichen Diskurs eine Rolle spielten.
Im Anschluss an die Interpretation der Bilder folgt der Versuch einer Rekonstruktion der
Missbrauchsfälle (7.4), bei dem zur Erklärung des Gefangenenmissbrauchs auch die
offiziellen Armeeberichte und andere Quellen herangezogen werden. Abschließend sollen
dann noch wesentliche Aspekte der Rezeption der Bilder diskutiert und generalisiert werden.
Die Analyse des öffentlichen amerikanischen Diskurses zu Abu Ghraib erfolgte anhand
von Artikeln der New York Times, der Washington Post, der USA Today und des Wall Street
Journal sowie Transkripten der amerikanischen Sender CNN, MSNBC, Fox News und CBS.
Zur Ergänzung des Datenmaterials wurde aber auch auf Magazine wie den New Yorker sowie
auf Bücher, Filme und Dokumentationen zurückgegriffen, die in den Artikeln im
Zusammenhang mit Abu Ghraib genannte wurden. In einem Zeitraum von sechs Jahren, vom
1. Januar 2004 bis zum 31. Dezember 2009, wurden alle Artikel und Transkripte
berücksichtigt, die als Treffer bei Lexis-Nexis mit dem Suchbegriff „Abu Ghraib“ angezeigt
wurden. Alles in allem wurden mehrere tausend Artikel und Transkripte durchgesehen. Die
hier durchgeführte Diskurs- und Medienanalyse orientiert sich an keiner spezifischen
Methode, sondern viel mehr an konkreten Vorbildern.18 Die Vorgehensweise steht allerdings
in einem engen Zusammenhang mit den theoretischen Ausführungen über symbolische
Ordnungen, das soziale Imaginäre und zivilgesellschaftliche Diskurse. So wurde das Material
im Hinblick auf seine binäre Struktur, Schlüsselmetaphern und implizite Narrative untersucht.
Die Frage nach den Wirkungen des Abu-Ghraib-Skandals stellt sich in doppelter Weise:
Einerseits kann nach den unmittelbaren Wirkungen des Skandals gefragt werden, andererseits
18
Stilprägend für diese Arbeit waren vor allem die narratologisch inspirierten Analysen von Philip Smith
(2008b, 2005) sowie Jeffrey Alexanders Buch über den Präsidentschaftswahlkampf 2008 (2010).
28
kann man auch versuchen, die indirekten Auswirkungen des Abu-Ghraib-Skandals in den
Blick zu bekommen. In der frühen Phase des Skandals (bis Ende 2004) kann die bei
amerikanischen Liberalen verbreitete Vorstellung, dass der Abu-Ghraib-Skandal in weiten
Teilen folgenlos blieb,19 zunächst einige Plausibilität für sich in Anspruch nehmen. Im achten
Kapitel soll auf Basis des empirischen Materials der Frage nachgegangen werden, welche
Mechanismen bei der Bewältigung des Skandals zum Greifen kamen (8.2), welche Ereignisse
ein Abflauen des Skandals begünstigten (8.4.2-3), und warum es eigentlich den Demokraten
im Wahlkampf nicht möglich war, den Skandal zu ihren Gunsten zu nutzen (8.5.3). Bei der
vorläufigen Bewältigung des Skandals kam Bildern (8.4.2), Narrativen (8.3.1) und
Performanzen (8.2.2) eine entscheidende Rolle zu. Die längerfristigen Folgen des Skandals,
seine mittlere und späte Phase, werden dann im neunten und zehnten Kapitel genauer unter
die Lupe genommen. In der zweiten Amtszeit der Bush-Administration kam es zu einem
Wechsel im politischen Klima, der – so die These – als eine Spätfolge des Abu-GhraibSkandals aufgefasst werden muss. Im Datenmaterial finden sich Hinweise auf politische und
rechtliche Folgen des Abu-Ghraib-Skandals, seine Rezeption in der Kunst (9.4), aber auch
seine Wirkung auf die Populärkultur (10.3) und die Folterdebatte (10.4). Abschließend ist
dann noch einmal auf die Politik der Obama-Administration einzugehen und zu diskutieren,
inwieweit sie eine Kehrtwende zur Vorgängerregierung darstellt (10.5).
19
So z.B. Mark Danner: „Frozen Scandal“, New York Review of Books 55 (19), 4. Dezember 2008, S. 2628.
29
II. Theoretisch-begrifflicher Teil
1. Kulturelle Grundlagen des Handelns und Erlebens
1.1. Intentionalität und Handlung
1.2. Kulturelle Hintergründe des Handelns und Erlebens
1.3. Kultur als symbolische Ordnung und soziales Imaginäres
2. Elementare Formen kultureller Repräsentation
2.1. Bild und Ikone
2.2. Erzählung und Mythos
2.3. Ritual und Performanz
3. Phänomene der Macht, Anerkennung und Unterwerfung
3.1. Macht und Gewalt
3.2. Ehre und Würde
3.3. Erniedrigung und Folter
4. Moral und Öffentlichkeit
4.1. Moral
4.2. Öffentlichkeit
4.3. Öffentliche Moral – Öffentliche Meinung und zivilgesellschaftlicher Diskurs
5. Der Skandal – Grundzüge einer kultursoziologischen Theorie
5.1. Skandalkritik und Skandaltheorie
5.2. Der Skandal als Ereignis, Ritual und Drama
5.3. Der Skandal als sozialer Prozess –Ein Verlaufsschema
30
1. Kulturelle Grundlagen des Handelns und Erlebens
Dieses einleitende Kapitel verfolgt das Ziel, die empirische Untersuchung des Abu-GhraibSkandals in einen handlungstheoretischen und kultursoziologischen Rahmen einzubetten.
Trotz einiger wegweisender Arbeiten auf diesem Gebiet ist immer noch unklar, wie sich
kulturtheoretische Erklärungen in den Diskussionszusammenhang der soziologischen
Handlungstheorie einfügen lassen.20 Zur Klärung dieses Verhältnisses ist zunächst die
Relevanz von intentionalen Bewusstseinsmodellen aufzuzeigen und eine Typologie von
Bewusstseinszuständen zu entwickeln (1.1.1-2). Im Anschluss daran werden drei verbreitete
Modelle von Handlungsintentionalität diskutiert und deren Grenzen ausgelotet (1.1.3-5). In
einem zweiten Schrittwird dann gezeigt, dass die Einbettung von intentionalen Zuständen in
einen vorintentionalen Hintergrund nicht nur notwendig, sondern auch handlungstheoretisch
relevant ist (1.2.1-2). Es folgt eine kurze Auseinandersetzung mit ausgewählten
handlungstheoretischen Alternativen zu der hier vorgeschlagenen Dualität von intentionalem
Akt und vorintentionalem Hintergrund (1.2.3) sowie einige Überlegungen zu kausalen
Erklärungen und sozialen Mechanismen in der Kultursoziologie (1.2.4-5). Im dritten Teil
erfolgt dann, im Anschluss an eine Debatte über das Verhältnis von Zeichen und Bedeutung
(1.3.1.), eine Rekonstruktion des kulturellen Hintergrundes als einem komplementären
Verhältnis von symbolischer Ordnung (1.3.2) und sozialem Imaginären (1.3.3). Abschließend
soll die begriffliche Trias von „Symbolischem“ und „Imaginärem“ durch das „Reale“
vervollständigt (1.3.4) und am Phänomen des kulturellen Traumas verdeutlicht werden
(1.3.5). Im Folgenden soll lediglich eine Verortung kultursoziologischer Erklärungen in
20
So wies Jeffrey C. Alexander in einer seiner früheren Arbeiten auf die Notwendigkeit hin, Kultur als
interne Umwelt in soziologischen Handlungserklärungen angemessen zu berücksichtigen (1988a). Auch
in der zusammen mit Philip Smith verfassten programmatischen Schrift für eine neue Kultursoziologie
wird dieser Anspruch erneuert (2001), wenn auch in den empirischen Arbeiten der beiden Autoren nicht
wirklich eingelöst. Das von Ann Swidler vorgeschlagene Modell von Kultur als Repertoire oder „toolkit“
lässt ebenfalls viele Fragen offen (1986), wie die Autorin in der theoretischen Rekapitulation ihres
jüngsten Buches freimütig gesteht (2005: 181-213). In der neueren deutschen Soziologie hat Andreas
Reckwitz den wohl wichtigsten Beitrag zu einer kulturtheoretischen Handlungserklärung geleistet (2003,
2006b). Allerdings hat sich Reckwitzs eigener Theorieentwurf und seine empirische Forschung (2006a)
von dem ursprünglich erhobenen Erklärungsanspruch erheblich entfernt (vgl. 1.2.3). Die Theorie sozialer
Praktiken belässt es bei einer kulturtheoretischen Neubeschreibung des Handelns, die gegenüber
traditionellen soziologischen Handlungstheorien nur begrenzt anschlussfähig ist. Eine kritische
Auseinandersetzung mit der jüngst erschienenen Arbeit von Clemens Kroneberg (2011), die sich aus
einer Rational-Choice-Perspektive an einer Synthese von Kultur und Handeln versucht, kann in dieser
Arbeit leider nicht stattfinden – soll aber an anderer Stelle nachfolgen.
31
aktuellen philosophischen und soziologischen Diskursen angestrebt werden. Für eine
handlungstheoretische Begründung der Kultursoziologie wäre ein weitaus größerer Aufwand
und Umfang zu veranschlagen.
1.1. Intentionalität und Handlung
Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig
gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales
Handeln deutend verstehen und dadurch in seinen Wirkungen und
seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich verstehen will.
Max Weber, Soziologische Grundbegriffe
(1988/1921: 542; 2002/1921-22: 1)
Max Webers klassische Definition der Soziologie als einer verstehenden und erklärenden
Wissenschaft vom sozialen Handeln ist auch noch heute ein Dreh- und Angelpunkt für das
Selbstverständnis der Disziplin. Weber zufolge unterscheidet sich das Handeln eines Akteurs
vom bloßen körperlichen Verhalten durch den subjektiv gemeinten Sinn, den der Handelnde
mit seiner Handlung verbindet. Handeln lässt sich, so Weber, nur im Rekurs auf Bewusstsein
und Bedeutung verstehen, was ihn gerade für kultursoziologische Ansätze interessant macht.
Dennoch gehen die folgenden Überlegungen davon aus, dass diese vielzitierte Definition
nicht als das letzte Wort in Sachen soziologischer Handlungstheorie gelten kann. So ist
Webers Eingrenzung des Gegenstandsbereichs der Soziologie auf „soziales Handeln“, das
sich am Verhalten anderer Akteure orientiert (2002/1921-22: 1, 11f.), bestenfalls
missverständlich. Schließlich geht es den meisten Soziologen um die soziale Bedingt- und
Verfasstheit jedweden Handelns, beispielsweise durch Sozialisation und Kultur. Es gibt kein
Handeln, das in diesem Sinne nicht schon durch und durch „sozial“ wäre. Bei näherer
Betrachtung erweist sich auch der Begriff des subjektiv gemeinten Sinns als fragwürdig (im
besten Sinn des Wortes). So hält Weber, trotz der von ihm selbst gesehenen Schwierigkeiten,
an einem subjektbezogenen Sinnbegriff fest – auch wenn das Verstehen des tatsächlichen
Sinns der Psychologie und der Geschichte vorbehalten bleiben soll. Soziologen werden
hingegen angehalten, sich auf den typischen Sinn des Handelns zu beschränken, der
letztendlich auf Zuschreibung beruht. Webers verstehende Soziologie changiert somit
zwischen einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, der es um einfühlendes Erleben in das
32
Bewusstsein der Anderen geht (vgl. Dilthey 1981), und einem neukantianisch inspirierten
Konstruktivismus, der die Resultate des Verstehens nur als Zuschreibung eines Beobachters
begreifen kann. Dass hier der Neukantianer überwiegt (so auch Schluchter 2006: 197-233),
zeigen nicht zuletzt Webers methodischen Überlegungen zum Idealtypus (1988/1904: 161214).
Die bei Weber angedeutete Zwischenlage der Soziologie, zwischen Hermeneutik und
Konstruktivismus, scheint fruchtbarer als die jeweilige reine Lehre zu sein. Es spricht
grundsätzlich nichts dagegen, den subjektiven Sinn einer Handlung oder auch mentale
Dispositionen für eine soziologische Handlungserklärung heranzuziehen. Die Soziologie darf
das menschliche Bewusstsein nicht den Philosophen und Kognitionswissenschaftlern
überlassen, sondern sollte deren Erkenntnisse für die eigenen Analysen nutzen. Im Rahmen
der hier vorgeschlagenen kultursoziologischen Handlungstheorie, die bei den vorintentionalen
Strukturen des Bewusstseins ansetzt, erweist sich der subjektive Sinnbegriff von Weber
jedoch als unzureichend. So findet sich in seinen Schriften kein ausgearbeiteter Begriff eines
objektiven bzw. objektivierten Sinns, der sozusagen „hinter dem Rücken“ des individuellen
Bewusstseins seine Wirkung entfaltet.21 In der klassischen wie auch in der neueren Soziologie
gibt es alternative Sinnbegriffe, die auch diese Sinndimension erfassen, so der
„dokumentarische Sinn“ in Mannheims Wissenssoziologie (2009: 40-60), der „latente Sinn“
in der objektiven Hermeneutik (Oevermann 1986) und natürlich der „soziale Sinn“ des
Habitus (Bourdieu 1999). Eine hermeneutisch verfahrende Sozialwissenschaft bleibt auf die
Rekonstruktion
eines
subjektiven
undobjektiven
Sinns
angewiesen.
Eine
solche
Rekonstruktion von Sinn stellt allerdings immer auch eine wissenschaftliche Konstruktion
und damit eine Sinnzuschreibung des jeweiligen Beobachters dar. Trotzdem bleibt eine
Auseinandersetzung mit den bewusstseinstheoretischen Grundlagen des Erlebens und
Handelns unabdingbar.
1.1.1. Kognitive und affektive Modi der Intentionalität
Im Folgenden sollen einige wesentliche Strukturmerkmale des menschlichen Bewusstseins
aus der Philosophie des Geistes und der Sozialphilosophie umrissen werden, um sie für eine
21
In diesem Zusammenhang ist die Debatte über „Transintentionalität“ interessant, wo nichtintendierte
Folgen absichtsvollen Handelns und vergleichbare soziale Prozesse, die ebenfalls „hinter dem Rücken“
der Akteure ablaufen, in theorievergleichender Absicht diskutiert werden (Greshoff et al. 2003). Die
Eigenmächtigkeit des Sozialen zeigt sich aber schon im Vorfeld des Intentionalen, wie in einem Beitrag
von Wolfgang Ludwig Schneider deutlich wird (2003: 466-468). Ein Theorievergleich zur
„Subintentionalität“ steht noch aus, wenngleich diese Arbeit dazu erste Anstöße geben will (1.2-3).
33
soziologische Handlungstheorie fruchtbar zu machen. In der Philosophieherrscht mittlerweile
ein breiter Konsens darüber, dass „Intentionalität“ als zentrales Merkmal des Bewusstsein
anzusehen ist. Seit den grundlegenden Arbeiten von Brentano (1973/1874) und, etwas später,
vor allem von Husserl (1987/1929), steht der Begriff der „Intentionalität“ in der Philosophie
des Geistes für die Bezogenheit von Bewusstseinsakten (noesis) auf Bewusstseinsinhalte
(noema). Dieser philosophische Begriff der Intentionalität schließt zwar unser alltägliches
Verständnis von Absichten bzw. Intentionen ein, geht aber nicht vollständig darin auf. In der
philosophischen Terminologie zeichnen sich auch die Bewusstseinszustände des Fühlens und
Vorstellens durch Intentionalität aus. Man kann nicht ein Gefühl haben, ohne etwas zu fühlen,
ebenso wenig eine Vorstellung haben, die nicht Vorstellung von etwas wäre. Intentionalität
lässt sich durch einige wenige Unterscheidungen in eine Vielfalt von Bewusstseinsakten
auffächern und systematisieren. So können wir Handlungsintentionalität beispielsweise von
der Intentionalität anderer Bewusstseinszustände unterscheiden, die Intentionalität des
Bewusstseins lässt sich in kognitive und affektive Zustände unterteilen; zudem kann es
intentionale Bewusstseinszustände und Handlungsintentionen sowohl in einem individuellen
als auch in einem kollektiven Modus geben (1.1.2).
Intentionalität des Bewusstseins bedeutet zunächst nichts anderes als seine Bezogenheit auf
Bewusstseinsinhalte bzw. intentionale Gehalte. Kognitive Bewusstseinszustände beziehen
sich auf eine als objektiv wahrgenommene Außenwelt, affektive Bewusstseinszustände stehen
in Bezug zu einer subjektiv empfundenen Innenwelt, der inneren Umwelt des
Handelns.22Beispiele
für
kognitive
Bewusstseinszustände
sind
Wahrnehmungen,
Überzeugungen und Erwartungen, während es sich bei Gefühlen, Bedürfnissen und
Wünschen um affektive Bewusstseinszustände handelt. Der Philosoph John Searle hat in
seinen
Schriften
darauf
aufmerksam
gemacht
(grundlegend
1987),
dass
sich
Bewusstseinszustände nach ihren Erfüllungsbedingungen klassifizieren lassen.23 Bei
intentionalen Zuständen mit deutlich erkennbaren Erfüllungsbedingungen kann man sinnvoll
22
Alternativ zu dieser binären Unterscheidung könnte man auch die parsonianische Trias von kognitiven,
kathektischen und evaluativen Aspekten verwenden (Parsons & Shils 1962/1951b). Searle selbst
unterscheidet zwischen kognitiven und volitiven Bewusstseinszuständen (2010: 38; vgl. auch 1987),
wobei die Intentionalität von Gefühlen bei ihm keine Rolle spielt. Seine Kategorie der volitiven
Intentionalität wird in dieser Arbeit zusammen mit den Emotionen zu den affektiven
Bewusstseinszuständen gezählt.
23
Allerdings sind, so Searle, intentionale Akte nicht autonom, da ihre Erfüllungsbedingungen immer relativ
zu einem gegebenen vorintentionalen Hintergrund zu sehen sind (1992: 175-196), der wiederum –
zumindest in Teilen – kulturell bedingt ist (1.2). Eine intentionalistische Bewusstseinstheorie stößt so an
Grenzen, die sich jedoch kulturalistisch überwinden lassen.
34
von einem Erfolg oder Misserfolg sprechen. So können sich Überzeugungen als falsch
erweisen und Wünsche unerfüllt bleiben. Daneben gibt es aber auch kognitive und affektive
Bewusstseinszustände, die keine klare Erfüllungsbedingung besitzen. So kann die reine
Wahrnehmung nichtwahr oder falsch sein,24 sondern nur die aufgrund von Wahrnehmungen
gebildeten Überzeugungen. Gefühle können ebenfalls nicht in einem herkömmlichen Sinne
fehlgehen oder sich als „unwahr“ entpuppen: Wer hasst, empfindet Hass, wer Liebe spürt, der
liebt. Hingegen kann ein Bedürfnis nach Zuneigung unbefriedigt und der Wunsch, geliebt zu
werden, unerfüllt bleiben.
In seinem jüngsten Buch geht Searle davon aus, dass sich Bewusstseinszustände ohne
Erfüllungsbedingungen durch ein so genanntes „Presup-Fit“ (2010: 29), d.h. durch eine
angenommene Korrespondenz zwischen Bewusstsein und Welt, auszeichnen. Die
Bewusstseinszustände, die Erfüllungsbedingungen besitzen, lassen sich dahingehend
unterscheiden, auf welche Weise eine Übereinstimmung mit der Welt erzielt wird.
Überzeugungen und Erwartungen, die sich als falsch herausstellen, werden der Welt
angepasst („mind-to-world fit“). Bei Bedürfnissen und Wünschen, die eine Diskrepanz von
Bewusstsein und Weltbezeugen, muss die Welt in Übereinstimmung mit dem Bewusstsein
gebracht werden („world-to-mind fit“). Es fällt auf, dass diese Unterscheidung mit der
Differenz zwischen kognitiven und affektiven Zuständen korrespondiert. Die bisher
diskutierten Unterscheidungen lassen sich wie folgt in einer Typologie handlungsrelevanter
Bewusstseinszustände festhalten:
Bewusstseinszustand
Kognitiv
Affektiv
ohne Erfüllungsbedingung
Wahrnehmung
Gefühle
mit Erfüllungsbedingung
Überzeugungen und Erwartungen
Bedürfnisse und Wünsche
(theoretische Erfüllung)
(praktische Erfüllung)
Sowohl kognitive als auch affektive Bewusstseinszustände tragen auf ihre Weise zur
Definition und Bewertung von Situationen bei und stellen Gründe und Motive zum Handeln
bereit. Es gibt aber auch Bewusstseinszustände, die sich in dieser Kreuztabelle nicht
unterbringen lassen, da sie nicht so recht zu der hier vorgeschlagenen kognitiv/affektiv-
24
John Searle (1987) vertritt hier eine andere Position, die in erster Linie seinem gehaltvolleren
Wahrnehmungsbegriff geschuldet ist, wonach der Akt der Wahrnehmung scheitert, wenn er die externe
Welt nicht angemessen zu repräsentieren vermag.
35
Unterscheidung passen und scheinbar keine wie auch immer geartete Passung zur Welt
aufweisen. Auf der einen Seite gibt es basale körperliche Empfindungen wie Schmerz und
Lust, denen einige Autoren von vornherein jegliche Form von Intentionalität absprechen (z.B.
McGinn 1982, vgl. 1.3.4), auf der anderen Seite aber auch den intentionalen Akt der
Imagination, der sich nicht auf Gegenstände dieser Welt beziehen muss. Bloße Vorstellungen
sind zunächst nicht handlungsrelevant, es sei denn sie sind in der Lage, handlungsrelevante
Überzeugungen oder Erwartungen, Gefühle oder Wünsche zu wecken. So kann die bloße
Vorstellung eines Terroraktes einen davon überzeugen, dass ein solcher faktisch möglich und
daher zu erwarten ist, was wiederum den Wunsch hervorrufen kann, denselben zu
verhindern.25 Auch die Vermeidung von Schmerz wird erst dann zu einer möglichen
Antriebsfeder des Handelns, wenn Schmerz als affektiv besetztes Leiden wahrgenommen
wird.
Im Anschluss an Galtung (1959) und Luhmann (2008/1972: 40-53) kann man kognitive
von normativen Erwartungen unterscheiden. Kognitive Erwartungen können sich – wie
andere Überzeugungen – als wahr oder falsch erweisen. Sie werden deshalb im Falle der
Enttäuschung einfach den neuen Realitäten angepasst. So kann beispielsweise die Enthüllung,
dass amerikanische Geheimdienste mutmaßliche Terroristen zur Folter in andere Länder
überstellen, zunächst als reine Information zur Kenntnis genommen werden. Im Gegensatz
dazu werden normative Erwartungen auch im Enttäuschungsfall beibehalten. An die Stelle der
Differenz von wahr/falsch tritt dann die Unterscheidung richtig/falsch. So kamen viele
amerikanische Bürger infolge des Abu-Ghraib-Skandals zu dem Schluss, dass eine solche
Umgehung des Folterverbots nicht richtig sein könne. Im Anschluss an Luhmann lassen sich
Normen in diesem Sinne auch als „kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen“
definieren (2008/1972: 43). Darüberhinaus können sie auch in Regelwerken institutionalisiert
werden, wie beispielsweise in der UN-Folterkonvention, die explizit eine Überstellung von
Menschen in Länder, wo ihnen Folter droht, verbietet.
Offen bleibt bei Luhmann allerdings, wie die Lernunwilligkeit der Akteure im Bezug auf
25
Ein klassische Beispiel für diese Macht der Imagination ist – und davon wird später mehr die Rede sein
(6.4) – das ticking-bomb-Szenario, wie es von Luhmann lange vor dem 11. September 2001 diskutiert
wurde (2008/1993). Ein ähnliches Beispiel liefert John Searle in einem kurzen Paper über den Krieg
gegen den Terror, dass mit der Imagination einer terroristischen Nuklearattacke beginnt. Das Manuskript
ist nicht publiziert, aber im Internet (unter http://socrates.berkeley.edu/~jsearle/pdf/terrorism.pdf; letzter
Zugriff am 11. September 2011) zu finden. Solchen Gedankenexperimenten ist gemein, dass Imagination
eingesetzt wird, um Erwartungen zu erzeugen, die dann als Ausgangsbasis für die eigene Argumentation
fungieren.
36
Normen erklärt werden kann. Eine Erklärung findet sich bei Émile Durkheim, der in seiner
Analyse moralischer Normen vom „Gefühl der Obligation“ spricht (1996: 124-129). Es deutet
vieles darauf hin, dass emotionale Blockaden für die Lernunwilligkeit hinsichtlich der
Übertretung von Normen verantwortlich sind. Die Verletzung von Normen wird in den
seltensten Fällen schulterzuckend hingenommen, sondern hat in der Regel innere
Gefühlswallungen oder gar offene Empörung zur Folge. Ohne diese emotionale Reaktion auf
die Normverletzung bleibt die kontrafaktische Stabilisierung der enttäuschten Erwartungen
aus und die übertretene Norm wird auf Dauer verschwinden. Weiterhin kann dem Empörten
ein Bedürfnis oder gar ein Wunsch nach normativer Konformität unterstellt werden. Beim
genaueren Hinsehen erweist sich damit die Geltung von Normen als ein komplexes
Zusammenspiel von kognitiven, emotionalen und motivationalen Komponenten.
Im Anschluss an Martha Nussbaumlässt sich Affekten eine evaluative Funktion
zuschreiben (2001: 19-88). Dies bedeutet, dass Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche der
Bewertung von Handlungsfolgen dienlich sein können. Nun liegt aber, so Harry Frankfurt
(1971), das Wesen der menschlichen Freiheit darin, reflexiv zu seinen Wünschen und
Bedürfnissen Stellung beziehen zu können. Um dieser Besonderheit menschlicher Akteure
Rechnung zu tragen, führt Frankfurt die Unterscheidung zwischen „Wünschen erster
Ordnung“ und „Wünschen zweiter Ordnung“ ein. Erst die Distanzierung von unmittelbaren
Bedürfnissen und Wünschen erlaubt es Rauchern mit dem Rauchen aufzuhören, Pädophilen
sich in eine Therapie zu begeben und politischen Häftlingen in einen Hungerstreik zu treten.
Der Sozialphilosoph Charles Taylor führte die Unterscheidung zwischen starken und
schwachen Wertungen in die sozialwissenschaftliche Debatte ein (1975), wo sie von Hans
Joas zur näheren Bestimmung des Wertbegriffs verwendet wurde (1997). Die Berufung auf
Werte dient unter anderem dazu, das eigene Handeln unter Berufung auf überpersönliche
Prinzipien, die als solche der Kritik entzogen sind, zu legitimieren. Dem „heldenhaften
Folterer“ – eine popkulturelle Figur, die sich nach dem 11. September 2001 größter
Beliebtheit erfreute (6.4.3) – ist Gewalt eigentlich zuwider, aber er muss foltern, weil ihm die
Pflicht gegenüber seinem Land zu einem Wunsch zweiter Ordnung geworden ist. Wir sehen,
dass sich auch die soziologischen Begriffe „Norm“ und „Wert“ im Rekurs auf intentionale
Bewusstseinszustände verständlich machen lassen.26 Die Ergebnisse lassen sich wie folgt in
einer Kreuztabelle bündig wiedergeben:
26
Ähnliche Überlegungen zur Unterscheidung zwischen Normen und Werten finden sich im übrigen auch
bei Durkheim, der zwischen einem „obligatorischen“ und einem „motivationalen“ Aspekt der Moral
unterscheidet (1996: 85f.)
37
Komplexe mentale Zustände
Erwartungen
Bewertungen
Leitunterscheidung
Kognitiv/Normativ
Affektiv/Evaluativ
Soziales Korrelat
Normen (obligatorisch)
Werte (motivational)
In diesem Abschnitt haben wir mit einfachen Unterscheidungen den Grundstock für eine
relativ komplexe soziologische Handlungstheorie gelegt. Normen und Werte sind die sozialen
Korrelate, die normativen Erwartungen und Wünschen zweiter Ordnung auf der Ebene des
intentionalen Bewusstseins entsprechen.
1.1.2. Individuelle und kollektive Modi der Intentionalität
Kognitive und affektive Bewusstseinszustände können sowohl auf das Erleben einzelner
Individuen bezogen werden als auch kollektiver Natur sein. Individuelle Intentionalität
scheint weitestgehend unproblematisch zu sein, wohingegen zunächst unklar bleibt, was denn
genau unter „kollektiv geteilten Bewusstseinszuständen“ zu verstehen ist. Haben in diesem
Fall die Mitglieder eines Kollektivs nur ähnliche Gefühle gegenüber einem Objekt, oder
können sie gar ein und dasselbe Gefühl teilen? Die Relevanz von kollektiven
Bewusstseinszuständen für die Soziologie steht außer Frage und ist auch für diese Arbeit von
grundlegender Bedeutung, weswegen hier der Versuch einer Klärung der Begrifflichkeiten
unternommen werden soll. Ausgangspunkt ist die Definition des „Kollektivbewusstseins“ in
Durkheims Arbeitsteilung:
Die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen Überzeugungen und Gefühle im Durchschnitt der Mitglieder
einer bestimmten Gesellschaft bildet ein umgrenztes System, das sein eigenes Leben hat; man könnte sie
das gemeinsame oder Kollektivbewusstsein nennen. (2004/1893: 128)
An dieser Stelle ist noch nicht ganz klar, ob Durkheim das massenhafte Vorhandensein
ähnlicher Bewusstseinszustände im Auge hat oder die gemeinsamen Gefühle und
Überzeugungen als eigenständige Kategorie verstanden wissen will. Genauer geht Durkheim
auf den „sozialen Charakter“ von Gefühlen am Beispiel eines Moralskandals ein:
Man bleibt auf der Straße stehen, man besucht sich, man trifft sich an bestimmten Orten um gemeinsam
über das Ereignis zu reden, und man empört sich gemeinsam. Aus all diesen einander ähnlichen
Zornesausbrüchen entsteht ein je nach Fall mehr oder weniger bestimmter einheitlicher Zorn, der der
Zorn eines jeden ist, ohne deshalb ein persönlicher zu sein; der öffentliche Zorn. (2004/1893: 153)
Die Formulierung, dass kollektive Gefühle zwar Bewusstseinszustände von Individuen sind,
ohne aber deswegen persönliche Gefühle zu sein, macht deutlich, dass Durkheim an einer
starken Lesart der Kollektivität von Bewusstseinszuständen gelegen ist. Die emotionale
Reaktion auf den Normverstoß ist eben „nicht nur allgemein“, so wie das Aufspannen von
38
Regenschirmen eine allgemein verbreitete Reaktion auf den einsetzenden Regen darstellt,
sondern zugleich „auch kollektiv“ (2004/1893: 152). Durkheims Einsicht lässt sich nicht nur
auf die ganze Bandbreite kollektiver Bewusstseinszustände übertragen, sondern auch in einen
Bezug zur neueren Debatte um „kollektive Intentionalität“ setzen – ein Begriff, der es erlaubt,
auf den nebulösen Begriff des „Kollektivbewusstseins“ zu verzichten, ohne dabei jedoch
seinen theoretischen Gewinn preiszugeben.27
Im gegenwärtigen philosophischen Diskurs ist der Status von kollektiver Intentionalität ein
heiß diskutiertes Thema.28 Der Vorstellung, dass sich kollektive Intentionalität auf
individuelle Intentionalität und ein Wissen über die Intentionalität anderer Personen
reduzieren lasse, steht die Behauptung einer bewusstseinsexternen, kollektiven Intentionalität
gegenüber. Die beiden Extrempositionen sind dabei jedoch nicht nur theoretisch unzureichend
(vgl. Searle 2009: 103-109), sondern tun sich auch mit der Integration solcher Handlungen
schwer, deren Motivation auf List oder Sabotage beruht. Wenn sich, um ein Beispiel zu
geben, ein Agent der Regierung mit einem mutmaßlichen Terroristen unter dem Vorwand
trifft, gemeinsam Anschläge durchzuführen, handelt es sich dann bei der Planung der
Anschläge um einen Fall von kollektiver Intentionalität? Oder unterliegt der Terrorist nicht
vielmehr einer Täuschung, die nicht nur die Motive seines Mitstreiters, sondern auch das
Verständnis
seiner
eigenen
Intentionalität
betrifft?
Searles
eigene
Beiträge
zur
Intentionalitätsdebatte schlagen einen Mittelweg ein (z.B. 1995: 23-26; 2009), der
überraschenderweise mit Durkheims Ausführungen auf einer Linie liegt. Searle zufolge ist
kollektive Intentionalität ein Teil des jeweiligen individuellen Bewusstseins, der als Modus
der Intentionalität selbst keinen intentionalen Gehalt besitzt. So sei es schlechthin unmöglich,
dass man sich hinsichtlich der Kollektivität seiner Überzeugungen oder Gefühle irren könne.
Searle kommt schließlich zu dem paradox anmutenden Schluss, dass man kollektive
Überzeugungen oder Gefühle auch unabhängig von anderen Bewusstseinen haben kann.
Diese scheinbare Paradoxie lässt sich auf empirisch fruchtbare Weise entfalten, wenn man
27
Selbst Durkheim ging später zu dem vielfach kritisierten Begriff aus seinem Erstlingswerk auf Distanz. In
den Formen des religiösen Lebens entwirft er ein Menschen- und Gesellschaftsbild (2005/1912),das eine
soziologische Übersetzung des metaphysischen Dualismus im abendländischen Rationalismus,
insbesondere aber der Philosophie Kants, darstellt (vgl. Schluchter 2006: 190). In der menschlichen Brust
schlummerten zwei Seelen – die persönliche Seele und die Seele des Kollektivs: „In dem Maß, in dem
das Individuum an der Gesellschaft teilnimmt, im Denken wie im Handeln, transzendiert es sich selbst.“
(Durkheim 2005/1912: 37)
28
Eine Sammlung von zentralen Beitragen findet sich in einem von Hans Bernhard Schmid und David P.
Schweikard (2009) herausgegebenen Band, der einen vorzüglichen Einstieg in die Debatte bietet.
39
sich im Anschluss an Margaret Gilbert (2009) die normativen Implikation kollektiven
Denkens, Fühlens und Handelns vergegenwärtigt. So lassen sich kollektive Akte keineswegs
auf ein aufeinander abgestimmtes Handeln und ein wechselseitiges Wissen umeinander
reduzieren; vielmehr beinhalten sie immer auch normative Erwartungen gegenüber etwaigen
Mitstreitern. Gemeinsam spazieren gehen – um das Beispiel Gilberts aufzugreifen – bedeutet
auch, dass man auf seinen Partner Rücksicht nimmt und eventuell sein Schritttempo anpasst.
Nicht nur gemeinsame Handlungen beinhalten eine normative Komponente, sondern auch
kollektive Überzeugungen und Gefühle. So verpflichten sich Kreationisten wie auch
Anhänger der Evolutionstheorieauf ihre jeweiligen gemeinsamen Überzeugungen, wobei ein
individuelles Abweichen hier schnell als normative Verfehlung gebrandmarkt und mit dem
Ausschluss aus der Gemeinschaft sanktioniert wird. In vergleichbarer Weise können von
Angehörigen eines Kollektivs bestimmte Gefühle als verpflichtend empfunden werden.29Auch
ein Mangel an Entrüstung angesichts offensichtlicher Normverletzungen kann wiederum zu
Wellen der Empörung führen, wie nicht zuletzt der Abu-Ghraib-Skandal gezeigt hat (8.3.3).
Halten wir fest: Zugehörigkeit zu einer Gruppe verpflichtet im Handeln, Denken und
Fühlen. Die internalistische Position in der Intentionalitätsdebatte umschifft somit nicht nur
die theoretischen Untiefen der Extrempositionen, sondern lässt sich auch empirisch fruchtbar
machen. Zu unserer vorläufigen Charakterisierung von sozialen Normen müssen wir aber
noch ein Element hinzufügen: Normen bedürfen der kollektiven Anerkennung, um sich als
kontrafaktische Erwartungshaltungen stabilisieren zu können. Kollektive Intentionalität lässt
sich deswegen auch nicht auf ein individuelles Wissen um die Intentionen der Anderen und
die Kenntnis der daraus resultierenden Normen reduzieren, da schon der Begriff der sozialen
Norm eine kollektive Intentionalität im Sinne einer kollektiven Anerkennung voraussetzt.
Nach Einführung der grundlegenden Unterscheidung zwischen kognitiven und affektiven,
normativen und evaluativen, individuellen und kollektiven Bewusstseinszuständen, soll nun
auch auf Handlungsintentionalität im engeren Sinne eingegangen werden. Das bisher
erarbeitete begriffliche Instrumentarium ist so nicht nur auf die Intentionalität des Erlebens,
sondern auch auf die Intentionalität von Handlungen anwendbar. Handlungsintentionalität
kann individuell oder kollektiv sein, sie orientiert sich an kognitiven wie an normativen
Erwartungen und wird sowohl durch Bedürfnisse als auch durch Wünsche motiviert. Im
Folgenden soll auf drei grundlegende Modelle der Handlungsintentionalität eingegangen
29
So wurde nach dem 11. September 2001 in Deutschland ein Lehrer vom Dienst suspendiert, weil er, statt
bedingungsloses Mitgefühl mit den Opfern und uneingeschränkte Solidarität mit der USA zu zeigen, sich
gegenüber seinen Schülern mit einer gewissen Schadenfreude äußerte.
40
werden, die für die soziologische Handlungstheorie besonders folgenreich waren. An den
Grenzen
der
jeweiligen
Handlungsmodelle
zeigt
sich
die
Notwendigkeit
einer
kultursoziologischen Fundierung der Handlungstheorie, die dann im nächsten Kapitel
umrissen werden soll (1.2).
1.1.3. Ziele erreichen – Teleologische Handlungsintentionalität
Das Modell der teleologischen Handlungsintentionalität trägt der Tatsache Rechnung, dass
Menschen durch ihr Handeln Ziele erreichen wollen. Die wohl bislang am besten
ausgearbeitete phänomenologische Beschreibung teleologischen Handelns geht auf Alfred
Schütz zurück (vgl. Schütz & Luckmann 1979). Eine Besonderheit dieser Betrachtung liegt
unter anderem in der konstitutiven Rolle, die hier der Imagination zugewiesen wird. Am
Anfang des Handels steht nämlich der „Entwurf“. So stellt sich der Handelnde, nachdem er
seine Umwelt kognitiv erfasst und affektiv bewertet hat, das Ziel des zu erreichenden Zustand
als verwirklichte Zukunft vor – was im Schullatein von Schütz „modo futuri exacti” heißt
(1979: 27-33). Darüberhinaus unterscheidet Schütz zwischen sogenannten „Um-zu-Motiven“
und „Weil-Motiven“ (1979: 33-36). Um-zu-Motive motivieren das Handeln und seine
einzelnen Handlungsschritte vom anvisierten Ziel her, während weil-Motive die Handlung im
Rekurs auf bereits bestehende Einstellungen motivieren. Unter „Einstellungen“ versteht
Schütz in erster Linie intentionale Bewusstseinszustände wiebeispielsweise die Furcht vor
Schlangen oder auch Terroristen, die Akteure zu bestimmten Handlungen veranlassen
können. So führten die Anschläge vom 11. September 2001 etwa dazu, dass viele Amerikaner
vom Flugzeug auf das Auto umstiegen, was einen Zuwachs an Verkehrstoten zur Folge hatte,
der die Anzahl der Opfer in den Todesflügen von 9/11 übertraf (Gigerenzer 2004). Nach
Schütz lassen sich für jede Handlung sowohl Um-zu-Motive als auch Weil-Motive angeben.30
Zu einer Handlungstheorie wird das teleologische Handlungsmodell erst dann, wenn man
die wirksamen kausalen Faktoren spezifiziert, was über eine rein phänomenologische
Beschreibung hinausgeht. Das teleologische Modell spielt insbesondere in utilitaristischen
oder nutzenorientierten Handlungserklärungen eine zentrale Rolle. Die utilitaristische
Erklärung basiert auf einem heuristischen Modell der Wirtschaftswissenschaften, dem
30
Damit unterläuft Schütz auch Webers idealtypische Unterscheidung zwischen unterschiedlichen
Handlungstypen, insbesondere aber zwischen affektivem und zweckrationalem Handeln (1988/1921: 565567; 2002/1921-22: 12f.). Ein Gewaltakt kann durch ein Gefühl des Zorns motiviert sein, aber zugleich
auch ein Ziel anvisieren, dass es mit Hilfe geeigneter Kampfmittel zu erreichen gilt. Leidenschaft und
Kalkül schließen sich keinesfalls aus, sondern gehen – auch empirisch – gerne Hand in Hand.
41
sogenannten homo oeconomicus.31 Dieser besitzt zum einen stabile Bedürfnisse und
Wünsche, die sogenannten „Präferenzen“, deren Befriedigung ihm einen Nutzen verschafft.
Zum anderen hegt ein Akteur auch Erwartungen und Überzeugungen bezüglich seiner
Umwelt und den Folgen seines Handelns. Nach diesem Modell vollzieht sich das Handeln als
eine Nutzenmaximierung auf Basis von individuellen Präferenzen und Erwartungen.
Ungeachtet der Tatsache, dass sich die klassische Soziologie gerade in Abgrenzung zu den
Wirtschaftswissenschaften etablierte, erfreuten sich utilitaristische Handlungstheorien lange
Zeit auch in der Soziologie einer großen Beliebtheit. Am konsequentesten wird das
utilitaristische Paradigma von den sogenannten „Rational-Choice-Theorien“ vertreten, die in
den letzten Jahren aufgrund ihrer überzogenen Rationalitätsannahmen und einer Tendenz zum
Instrumentalismus selbst bei früheren Sympathisanten in die Kritik geraten sind (Green &
Shapiro 1999; Elster 2000; Hedström 2008: 91-98). John Elster (2007) und Peter Hedström
(2008: 60-67) vertreten eine moderate und vereinfachte Theorie nutzenorientierten Handelns,
die sogenannte „DBO-Theorie“. Bei Hedström stellen die mentalen Zustände der handelnden
Akteure und deren materielle Opportunitäten die kausalen Faktoren des Handelns dar:
Bedürfnisse im Sinne affektiver Prozesse (Desires), Überzeugungen im Sinne kognitiver Vorgänge
(Beliefs) und Opportunitäten (Opportunities) sind die primären theoretischen Begriffe auf denen die
Handlungs- und Interaktionsanalyse basiert. […] Die Ursache einer Handlung ist eine Konstellation von
Bedürfnissen, Überzeugungen und Opportunitäten, angesichts derer die Handlung begründet erscheint.
(2008: 61f.; Hervorhebung im Original)
Diese Theorie arbeitet mit der Unterscheidung zwischen kognitiven und affektiven
Bewusstseinszuständen, wie sie in ähnlicher Weise weiter oben eingeführt wurde (1.1.1), und
den Opportunitäten, die von den Bedürfnissen und Überzeugungen der Akteure unabhängig
sind. Die Annahme der Nutzenmaximierung wird von Hedström zu Gunsten einer weniger
technischen, wenn auch schwammigeren Vorstellung einer plausiblen Konstellation von
Bedürfnissen, Überzeugungen und Opportunitäten aufgegeben. Hedström geht mit dem
Philosophen Donald Davidson (1985) davon aus, dass Bedürfnisse und Überzeugungen nicht
nur Gründe für das Handeln bereitstellen, sondern diese zugleich auch als Ursachen einer
Handlung betrachtet werden dürfen.32 Dem Urteil von Hedström und Davidson soll sich hier
angeschlossen werden (vgl. auch Reed 2012: 37-39), jedoch mit der Einschränkung, dass – so
31
Für eine vergleichende Diskussion dieses Modells siehe Harmut Esser (1999: 231-250). Allerdings stellt
Essers Versuch einer umfassenden Handlungstheorie allenfalls eine Modifikation und Immunisierung der
ursprünglichen nutzentheoretischen Handlungserklärung dar, die im Kern erhalten bleibt. Gleiches gilt für
die Kulturalisierung des homo oeconomicus durch Clemens Kroneberg (2011).
32
Diese Annahme ist in der philosophischen Debatte um teleologische Handlungserklärungen nicht
unumstritten (vgl. den Sammelband von Horn & Löhrer 2010b).
42
die in dieser Arbeit vertretene These – die kulturellen Hintergründe des Handelns seiner
rationalen Begründung logisch und empirisch vorausgehen (1.2). Allerdings ist zu beachten,
dass intentionale Kausalität und physikalische Kausalität strikt voneinander zu trennen sind,
auch wenn sie möglicherweise in Erklärungen eine vergleichbare Funktion erfüllen. Der
intentionalen Kausalität affektiver und kognitiver Prozesse steht die Realität der
Opportunitäten entgegen, welche allerdings nur über ihre mentale Vermittlung auf den
eigentlichen Handlungsimpuls wirken. Sie stellen aber insoweit einen eigenständigen
kausalen Faktor dar, als sie über das Scheitern oder Gelingen einer Handlung entscheiden – so
wie der Versuch zu Fliegen an der Schwerkraft scheitern kann.
1.1.4. Regeln befolgen – Deontologische Handlungsintentionalität
Die Geburt der modernen Soziologie bei Weber und Durkheim verdankt sich der bewussten
Abgrenzung gegenüber den nutzenorientierten Handlungstheorien. So stellt für Weber das
zweckrationale Handeln nur einen künstlich gebildeten Idealtypus neben den anderen
Handlungstypen dar. Weit davon entfernt, Rationalität zum allgemeinen und ahistorischen
Prinzip zu erheben, versuchte Weberin seiner Religionssoziologie, den okzidentalen
Rationalismus als eine spezifische historische Formation auszuweisen (vgl. Schluchter 1979).
Durkheim hat schon in seiner Arbeitsteilung (2004/1893) auf die normative Fundierung
nutzenorientierten Handels hingewiesen. So basiert jeder Vertrag, und dies betrifft auch den
Gesellschaftsvertrag bei Hobbes (1999/1651), auf den „nichtkontraktuellen Grundlagen der
Vertragsform“ (Durkheim 2004/1893: 34).
Die wohl elaborierteste Kritik am utilitaristischen Handlungsmodell entstammt allerdings
Parsons Frühwerk The Structure of Social Action (1968/1937: 51-60). Dort vertritt er die
These, dass alle utilitaristischen Erklärungsversuche menschlichen Handelns letztendlich am
„utilitarian dilemma“ scheitern. Entweder sind Mittel und Zwecke einer Handlung vom
Handelnden willkürlich wählbar und damit empirisch zufällig, was es der Theorie letztlich
verunmöglicht, die faktische Existenz einer sozialen Ordnung zu begründen; oder aber die
Mittel und Zwecke sind dem Handelnden durch die Situation vorgegeben, was in einen
sozialwissenschaftlichen Positivismus mündet, der dem voluntaristischen Charakter des
menschlichen Handelns nicht Rechnung zu tragen vermag. Parsons Lösung des Dilemmas
besteht darin, das teleologische Handeln in einen normativen Rahmen einzubetten, der sowohl
die legitimen Mittel als auch die angestrebten Handlungsziele definiert (1968/1937: 43-51).
Sozial geteilte Normen regeln den Gebrauch der Mittel während gesellschaftlich vermittelte
Werte zur Zielorientierung der Handlung beitragen. Normen und Werte werden nicht den
43
externen Handlungsbedingungen zugerechnet, sondern stellen eine innere Umwelt des
Handelns dar. Durch diesen theoretischen Kunstgriff entzieht sich Parsons dem Vorwurf des
Positivismus und glaubt auch weiterhin an einer voluntaristischen Konzeption des Handelns
festzuhalten zu können.
Parsons ergänzte das teleologische Ausgangsmodell durch ein deontologisches
Handlungsverständnis, das die Legitimität von Mitteln und Handlungszielen in den
Vordergrund rückt. Die raffinierteren utilitaristischen Theorien haben auf diese Kritik reagiert
und versuchen, die deontologische Dimension des Sozialen, die schon bei Durkheim und
Weber eine entscheidende Rolle gespielt hat, in ihr Modell einzubauen. So werden soziale
Normen über die Konstruktion interner Sanktionen in das Nutzenkalkül von Rational-ChoiceTheorien eingespeist, während gesellschaftlich vermittelte Werte als Präferenzen internalisiert
werden. Allerdings geht durch diese Reformulierung gerade das deontologische Moment
verloren, dem wir durch die Unterscheidung von kognitiven und normativen Erwartungen und
Wünschen erster und zweiter Ordnung Rechnung getragen haben (1.1.1).33
In der philosophischen Handlungstheorie herrscht hingegen weithin Konsens darüber, dass
es Gründe gibt, die jenseits der primären motivationalen Ebene der Bedürfnisse liegen. Searle
spricht in diesem Zusammenhang von „desire-independent reasons for action“ (2001).
Während das teleologische Handeln in erster Linie von der individuellen Intentionalität der
Akteure aus gedacht wird, wenngleich diese auch gemeinsam Ziele verfolgen können, stellt
die kollektive Geltung von Normen oder Gründen für das deontologische Handlungsmodell
eine
unhintergehbare
Voraussetzung
dar.
Hierdurch
lassen
sich
normativistische
Handlungserklärungen klar von utilitaristischen Erklärungen abgrenzen. Soziale Normen und
kulturelle Werte beanspruchen im normativistischen Modell eine bedürfnisunabhängige
Geltung und motivieren nicht erst über die Erwartung von Sanktionen. Aber auch gegenüber
normativistischen Handlungserklärungen wurden bedeutende Einwände geltend gemacht.
Zum
einen
wird
das
normativistische
Handlungsverständnis
nur
schwerlich
der
Interpretationsbedürftigkeit von sozialen Normen und Werten gerecht, zum anderen entzieht
sich die Dialektik von Regel und Ausnahme dem normativistischen Handlungsverständnis.
Der erste Einwand wurde von LudwigWittgenstein in seinen Philosophischen
Untersuchungen formuliert, wo er sich mit der Frage auseinandersetzt, was es denn heißt,
einer Regel zu folgen (1984/1953). Auch wenn sich seine Untersuchung in erster Linie den
33
Diese utilitaristische Verkürzung der Geltung von Normen auf die Vermeidung von negativ bewerteten
Sanktionen kritisierte schon Durkheim (1996: 59) an Herbert Spencers utilitaristischer Ethik.
44
Regeln der Sprache widmet, hat sie doch weitreichende Konsequenzen für ein angemessenes
Verständnis von Normativität. Dies ist von eminenter Bedeutung für die Soziologie, da
gesellschaftliches Zusammenleben in hohem Maße von sozialen Normen und ihren
Interpretationen geprägt ist. Wittgenstein zeigt an einer Reihe von Beispielen, dass die
Bedeutung einer Regel nicht unabhängig von ihrer Anwendung verstanden werden kann. Die
Annahme, dass die Anwendung einer Regel wiederum von einer Regel geregelt wird, mündet
in einem infiniten Regress. Wittgensteins schlägt stattdessen vor, die Sprache als ein
„Sprachspiel“ zu begreifen, das „nicht überall von Regeln begrenzt“ ist (1984/1953: 287).
Sprache ist über ihre Regelhaftigkeit hinaus auch „Lebensform“ und soziale Praxis.
Diese Erkenntnisse lassen sich auf das Gebiet der Handlungstheorien übertragen: Handeln
ist regelgeleitet, ohne vollständig durch Regeln determiniert zu sein. Die Anwendung einer
Regel ist damit auf einen vorintentionalen Hintergrund angewiesen, der den handelnden
Akteuren nicht bewusst werden darf (1.2). Eine ähnliche Denkfigur findet sich auch bei
Parsons (1966/1951), der die sozialen Ordnung auf die Latenz kultureller Muster gründet.
Diese Latenz sozialer Deutungsmuster verhindert einen Absturz in den Regress und
ermöglicht so eine „angemessene“ Interpretation bzw. eine „richtige“ Anwendung von
Regeln. Für die Kultursoziologie besteht der Vorzug der parsonianischen Lösung darin, dass
die Kluft zwischen der Regel und der Interpretation bestehen bleibt (vgl. Ortmann 2003), was
die Erklärung einer Handlung als Anwendung einer Regel im Rückgriff auf kulturelle Muster
zuallererst ermöglicht. Einige an Wittgenstein anknüpfende Praxistheorien lassen diese Kluft
zwischen der Regel und ihrer Anwendung erst gar nicht aufkommen – jedoch um den Preis,
dass sie auf eine kausale Handlungserklärung zu Gunsten einer bloßen Beschreibung
verzichten müssen (so Schatzki 1996, vgl. auch 1.2.3). Die tautologische Feststellung, dass
die Kluft zwischen Regel und Anwendung ein praktisches Problem darstelle, das nur in der
Praxis gelöst werden könne, muss in einer Kultursoziologie mit Erklärungsanspruch
enttautologisiert und in eine empirische Fragestellung transformiert werden: Welche
kulturellen Muster liegen einer Praxis zu Grunde und erlauben es den jeweiligen Akteuren,
die Kluft zwischen einer Regel und ihrer Anwendung auf eine spezifische Art und Weise zu
überbrücken?
Ein ähnliches Problem tut sich auf, wenn unterschiedliche Regeln miteinander kollidieren
oder aber Ausnahmen von den Handelnden für sich in Anspruch genommen werden. Dies ist
in der zeitgenössischen Folterdebatte der Fall, wenn die Menschenwürde eines Terroristen mit
der Menschenwürde seiner (möglichen) Opfer in Konflikt gerät (4.1.5). Normativistisch
45
argumentierende Autoren versuchen, den Regelkonflikt und die Zulässigkeit von Ausnahmen
durch „Metaregeln“ einzuhegen (z.B. Edgerton 1985). Theorietechnisch ist dies sicherlich
keine elegante Lösung, da auch dieser Ansatz in einen infiniten Regress führt. Weitaus
wichtiger aber sind die empirischen Defizite einer solchen Herangehensweise, welche der
konstitutiven Bedeutung der Ausnahme für das Soziale nicht gerecht zu werden vermag(vgl.
Giesen 2010: 9-66).Regel und Ausnahme sind Wechselbegriffe, die zueinander im Verhältnis
von Figur und Hintergrundstehen. Sie sind asymmetrisch, aber dennoch gleichwertig. Regeln
bestimmen den Alltag und bilden so den Hintergrund, vor dem die außeralltägliche Ausnahme
in Erscheinung treten kann. Die Ausnahmeist aber zugleich auch regelbegründend und
gesellschaftskonstituierend, weswegen sie oft mit dem „Heiligen“ oder der Figur des
„Helden“ in Verbindung gebracht wird (vgl. Giesen 2004c: 15-22; 2010: 76-80). Ausnahmen
von der Regel lassen sich nur im Rückgriff auf latente Deutungsmuster erklären. Ob die
Überschreitung einer Norm als fruchtbare Innovation oder furchtbares Vergehen, als
heroische Trangressivität oder als verbrecherische Handlung wahrgenommen wird, ist eine
Frage der kulturellen Rahmung (und der sozialen Performanz, vgl. 2.3.4).
1.1.5. Einverständnis erzielen – Kommunikative Handlungsintentionalität
Bevor zur Kultur als einem vorintentionalen Hintergrund des intentionalen Handelns
übergegangen wird, soll noch auf einen dritten Typus von Handlungsintentionalität
eingegangen werden, der insbesondere im Anschluss an die Arbeiten von Mead und Simmel
an Bedeutung gewonnen hat. Beide Autoren haben gemein, dass sie der Intersubjektivität des
Handelns besondere Aufmerksamkeit schenken und eine „Verflüssigung“ des Sozialen
anstreben. So hat Georg Simmel (1992/1908) die Kategorie der „Wechselwirkung“ aus der
Kritik der reinen Vernunft von Kant übernommen und zum Prinzip des Sozialen erhoben. Das
Soziale lässt sich nach Simmel nicht auf einzelne Handlungen mit ihren Ursachen und
Wirkungen reduzieren, sondern muss als Emergenz sozialer Formen begriffen werden.
Aufgrund dieses intersubjektivistischen Verständnisses des Sozialen zieht es Simmel vor,
vom Prozess der „Vergesellschaftung“ statt von „Gesellschaft“ zu sprechen. Einen ähnlichen
Ansatz verfolgt auch George Herbert Mead (1970), der das Soziale als einen symbolisch
vermittelten Austausch von Gesten begreift, der nicht nur die Interaktionen der Akteure
strukturiert,
sondern
auch
deren
Identität
bestimmt.
Im
Rückgriff
auf
Meads
Sozialpsychologie und Simmels Begriff der „Wechselwirkung“, der in der englischen
Übersetzung zu „interaction“ verwässert wurde, begründete Herber Blumer (1969) das
Forschungsprogramm des symbolische Interaktionismus, der sich auf die Fahnen schrieb,
46
soziale Ordnung als ein Produkt von Interaktionen zu begreifen. Die Geltung sozialer
Normen, aber auch die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke stellen für symbolische
Interaktionisten keine unverrückbaren sozialen Tatsachen mehr dar, sondern werden zum
Verhandlungsgegenstand zwischen Akteuren. Der symbolische Interaktionismus begreift
soziale Ordnung als „negotiated order“. Der israelische Soziologe Shmuel Eisenstadt hat die
Unzulänglichkeit dieser Vorstellung einmal besonders prägnant auf den Punkt gebracht:
Thus on the whole (with the exception of some ethnomethodologists), approaches that stressed
negotiation in the construction of social interaction neglected to inquire into the rules governing such
negotiations or into the processes that establish such rules. (1990: 250)
Dem Prozess der Aushandlung liegt eine verborgene Ordnung zu Grunde, wie auch die
Bedeutung von Wörtern nur mit Hilfe einer immer schon vorausgesetzten Sprache geklärt
werden kann.34In Anlehnung an Durkheim können wir auch von den nichtverhandelbaren
Grundlagen sozialer Aushandlungsprozesse sprechen. Die Ethnomethodologie versuchte diese
verborgene Ordnung in ihren Krisenexperimenten sichtbar zu machen (Garfinkel 1967, vgl.
1.2.1). Dabei stellte sich heraus, dass selbst die alltäglichsten Interaktionen extrem störanfällig
sind. Schon durch ein buchstäbliches Missverstehen einer Begrüßung („How are you?“) lässt
sich ein emotionaler Ausbruch und Abbruch der Interaktion provozieren (1967: 44).
Während es den symbolischen Interaktionisten um die strategische Aushandlung der
sozialen Ordnung ging, versuchte man in Deutschland diese Ordnung auf die Geltung
universeller – und damit nicht verhandelbarer – Kommunikationsnormen zu gründen. Für
einen derartigen Versuch, der kommunikativen Handlungsintentionalität eine deontologische
Unterfütterung zu geben, steht insbesondere die Diskursethik des Philosophen Karl-Otto Apel
(1976). Seine „transzendental-pragmatische Letztbegründung“ der Diskursethik war im
philosophischen Diskurs dann allerdings doch nicht konsensfähig. Selbst Jürgen Habermas,
der mit der Diskursethik offen sympathisierte, übte Kritik an der Idee einer Letztbegründung
und schlug ihre Ersetzung durch das phänomenologische Konzept der „Lebenswelt“ vor.35
Die Pointe seiner eigenen Theorie des kommunikativen Handelns (1995) liegt darin, dass
kognitive Tatsachen, normative Regeln und rationale Argumente in Diskursen kritisiert und
34
Auch Bourdieu wendet sich gegen diese Vorstellung von kommunikativer Handlungsintentionalität, wenn
er sagt, dass es sich bei dem Habitus um die Bedingung „nicht nur der Abstimmung der Praktiken,
sondern auch der Praktiken der Abstimmung“ handele (1999: 111).
35
Habermas wirft der Diskursethik einen dogmatischen Rückfall in die Bewusstseinsphilosophie vor, da sie
letztendlich auf einer „Identifikation von Aussagenwahrheit und Gewissheitserlebnis“ beruhe (1983:
106). Hingegen seien die Regeln des Diskurses von vorneherein in der alltäglichen Sprachpraxis der
Lebenswelt angelegt: „Die moralischen Alltagsintuitionen bedürfen der Aufklärung der Philosophen
nicht“ (1983: 108; Hervorhebung im Original).
47
hinterfragt werden können. Beim teleologischen Handeln steht die Wahl der Ziele, Mittel und
Strategien zur Disposition, während beim sogenannten „normregulierten Handeln“ (dem
unser deontologisches Handlungsmodell entspricht), die Geltung von Normen und Werten
diskutiert werden kann. Im Diskurs kann so ein Einverständnis zwischen den Handelnden
erzielt werden, wodurch das kommunikative Handeln einen Beitrag zur sozialen Ordnung
leistet. Allerdings vollzieht sich dieser Diskurs immer auf dem unhinterfragbaren Boden der
Lebenswelt, dem von Habermas nicht hinreichend Rechnung getragen wird. Der zwanglose
Zwang des besseren Arguments, so ließe sich gegen Habermas einwenden, liegt nicht in einer
universalen Vernunft, sondern in kulturellen Mustern begründet, deren Verbreitung nicht
einfach vorausgesetzt werden darf. Die Aufgabe einer kultursoziologischen Handlungstheorie
ist es, einen Weg zur Konzeptualisierung dieser partikulären Muster zu finden, die jenseits
von kritisierbaren Geltungsansprüchen und Argumenten die kulturellen Voraussetzungen
jeglicher Kritik darstellen.36
Vor diesem Hintergrund erweist sich auch die mit der Theorie des kommunikativen
Handelns unmittelbar konkurrierende Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann
(2006/1984) als unzureichend. Auch wenn Luhmann auf den klassischen Begriff der
Handlung zu Gunsten der kommunikativen Zuschreibung von Handlungen verzichtet, wird
die Selektionsleistung des jeweiligen Bewusstseins und der sozialen Systeme nach dem
Modell von Intentionalität gedacht (2006/1984: 92-147). Er versäumt es allerdings, der
Strukturiertheit von Selektionen in systematischer Weise Rechnung zu tragen. Die
Kontingenz der Selektion, die nicht mit der Beliebigkeit von Selektionen gleichgesetzt
werden darf, verdeckt bei Luhmann die Erklärungsbedürftigkeit von stabilen Mustern der
Selektion. Stattdessen wird bei ihm der Verzicht auf Kausalerklärungen zu einer
wissenschaftlichen Tugend verklärt. Diesem Mangel könnte man im Rückgriff auf das
Konzept der Organisationskultur, wie es Luhmann in seinem posthum erschienenen Buch
Organisation und Entscheidung entwirft (2000), Abhilfe schaffen. Dort wird Kultur nicht, wie
noch in den sozialen Systemen (2006/1984: 224), als Themenvorrat, sondern nunmehr als
Summe der „unentscheidbaren Entscheidungsprämissen“ im Hintergrund von Entscheidungen
begriffen (2000: 239-248). Dem entspricht Bourdieus Bestimmung des Habitus als „nicht
ausgewählter Grundlage aller ‚Auswahlentscheidungen‘“ (1999: 114). In derselben Weise
ließe sich nun nach den Prämissen jeglicher Selektion in Systemen fragen oder –
36
Vgl. hierzu Durkheims Ausführungen über „das Prinzip der freien Kritik“ in modernen Gesellschaften,
das selbst nicht mehr kritisiert werden darf (2005/1912: 294).
48
handlungstheoretisch
formuliert
–
nach
den
vorintentionalen
Bedingungen
der
Intentionalität.37
Die hier vorgestellten intentionalen Handlungsmodelle haben gemeinsam, dass sie ein
Verstehen und ein Erklären von Handlungen durch Gründe ermöglichen. Es wurde gezeigt,
dass jedes dieser Handlungsmodelle für sich genommen unzureichend ist, da seine
Erklärungskraft an fest umrissene Grenzen stößt – sei es nun die „randomness of ends“ des
teleologischen Handlungsmodells (1.1.3) oder aber der infinite Regress des normativistischen
Regelverständnisses (1.1.4). Die kommunikative Handlungsintentionalität kann ebenso wenig
zufriedenstellen, da auch soziale Interaktionen nicht ohne den Verweis auf strategisches
Handeln oder Normen der Interaktion auskommen. Aber auch eine Synthese aller drei
Modelle ergäbe immer noch kein Ganzes. Im Folgenden soll die These erhärtet werden, dass
intentionale Bewusstseinsakte und absichtsvolles Handeln immer in einen vorintentionalen
Hintergrund eingebettet sind. Unter den Philosophen hat sich vor allem Searle für die
Unabdingbarkeit eines Erlebens- und Handlungshintergrundes stark gemacht (1987: 180-202;
1995: 127-147). Unter den Soziologen war es in erster Linie Pierre Bourdieu, der mit dem
Begriff des „Habitus“ das Augenmerk auf die unbewussten und regelhaften Mechanismen
gelenkt hat, welche unter anderem die Schichtung einer Gesellschaft hinter dem Rücken ihrer
Mitglieder reproduzieren (1982).
37
Aus denselben Gründen muss auch Luhmanns Ontotheologie des Beobachters („Am Anfang war die
Unterscheidung“) zurückgewiesen werden. Der beste Einwand stammt ausgerechnet von einem seiner
Gewährsmänner. George Spencer Brown zufolge kann die „erste“ Unterscheidung nur eine künstliche
Fiktion sein, da sie logisch unmöglich ist: „There can be no distinction without motive, and there can be
no motive unless contents are seen to differ in value“ (1994: 1). Jede Unterscheidung setzt also schon
Motive und damit auch Unterschiede voraus. Den Ausweg aus diesem Zirkel hat Parsons vorgezeichnet:
Es ist die Latenz kultureller Muster, die jeder intentionalen Unterscheidung zu Grunde liegt.
49
1.2. Kulturelle Hintergründe des Handelns und Erlebens
What kind of expectancies make up a “seen but unnoticed”
background of common understandings, and how are they related to
person’s recognition of stable courses of interpersonal transactions?
Harold Garfinkel, Studies of the Routine
Grounds of Everyday Activity (1967: 44)
Eine bewusstseinstheoretisch ansetzende Handlungstheorie kann menschliches Handeln
verstehend erklären, indem sie die Gründe einer Handlung als deren Ursachen behandelt. Eine
kultursoziologische Handlungstheoriedarf aber nicht bei der Intentionalität des Handelns
stehenbleiben, sondern muss dessen kulturelle Hintergründe freilegen. Mag auch das
jeweilige Handeln seine eigenen Motive und gute Gründe haben – Sinn machen diese nur vor
einem sozial geteilten Hintergrund, welcher den handelnden Akteuren in aller Regel
verborgen bleibt. Innerhalb dieses kulturellen Horizonts gewinnt intentionales Handeln und
Erleben erst seine eigentümliche Gestalt und Tönung. Im Folgenden sollen die Grundzüge
einer kultursoziologischen Handlungs- und Kulturtheorie in Auseinandersetzung mit den
soziologischen und philosophischen Debatten der letzten Jahre herausgearbeitet werden.38 Es
sind verschiedene Begriffe in Umlauf, die – trotz unterschiedlicher Aktzentsetzungen – eine
theoriearchitektonisch vergleichbare Position besetzen. Neben dem hier bevorzugten Begriff
des „Hintergrundes“ (bzw. „Background“) sind dies vor allem die phänomenologische
„Lebenswelt“, Wittgensteins „Lebensform“ und Bourdieus „Habitus“, aber auch der
strukturalistische „Code“-Begriff und die – in den letzten Jahren stark in Mode gekommene –
kulturwissenschaftliche Rede vom „Imaginären“. Der Begriff des Hintergrundes, der in dieser
Arbeit als eine Art tertium comparationis fungiert, hat den Vorteil, dass er in seiner
Funktionsweise, insbesondere aber in seiner Beziehung zur Intentionalität des Handelns und
Erlebens, in den Arbeiten von Searle in bisher unübertroffener Weise herausgearbeitet wurde
(1987: 180-202; 1995: 127-147).39 Zu guter Letzt ist der Ausdruck „kultureller Hintergrund“
38
Husserl – und im Anschluss daran Luhmann (1997: 147f.) – verstehen unter dem Hintergrund der
Intentionalität den Horizont der Welt, der gegenüber der bestimmten Intentionalität des Sinns vollständig
unbestimmt bleiben muss. Das hier vorgeschlagene Modell des vorintentionalen Hintergrundes schlägt
einen Mittelweg ein, da von einem Horizont des Erlebens und Handelns ausgegangen wird, der weder
restlos bestimmt noch gänzlich unbestimmt ist. Diese Zwischenlage des Hintergrundes, zwischen
Bestimmtheit, Unbestimmtheit und Bestimmbarkeit, wird in dieser Arbeit vor allem in der Konzeption
des „sozialen Imaginären“ Rechnung getragen (1.3.3).
39
Auf den alternativen Entwurf einer philosophischen Theorie des Hintergrundes im Anschluss an
Heideggers Sein und Zeit durch Hubert L. Dreyfus kann hier nicht eingegangen werden (1991). Da
50
vergleichsweise neutral und besitzt den seltenen Vorzugeiner Allgemeinverständlichkeit, ohne
deswegen missverständlich zu sein.
Der Begriff des vorintentionalen bzw. kulturellen Hintergrundes befindet sich in
unmittelbarer Nachbarschaft zum ethnomethodologischen Verständnis der Alltagswelt als
dem „‚seen but unnoticed’ background of common understandings“ (Garfinkel 1967: 44).
Bereits erwähnt wurde, dass Eisenstadt die Vertreter der Ethnomethodologie von seiner Kritik
am symbolischen Interaktionismus ausdrücklich ausnahm (1990: 250, vgl. 1.1.5).40 Bernhard
Giesen spricht gar von der „ethnomodologischen Revolution“ der siebziger Jahre (1991b:
136-139), die erstmals die vorintentionalen und unbewussten Vorrausetzungen des Handelns
explizit gemacht habe: „Der Prozess, der intentionales Handeln erst ermöglicht, ist damit auf
eine Ebene verwiesen, die selbst nicht allein auf Intentionalität und Bewusstsein beruht“
(1991b: 137). Diese überindividuellen Prinzipien – bei Giesen heißen sie „symbolische
Codes“ – stellen „die Tiefenstruktur der mikrosozialen Wirklichkeitsebene“ dar, die mit der
Rolle der Grammatik für eine Sprache vergleichbar sei (1991b: 138). In Auseinandersetzung
mit den Aporien intentionaler und intersubjektivistisch ansetzender Sozialtheorien vollzog
Giesen eine Wende zur Kultursoziologie. Die Affinität von Ethnomethodologie und
Kultursoziologie zeigt sich unter anderem auch in dem Wechselspiel von Routine und Krise,
das in den ethnomethodologischen Alltagsexperimenten deutlich zu Tage getreten ist (1.2.1).
Gerade weil der kulturelle Hintergrund des Handelns die alltägliche Ordnung stiftet, die nur
durch außerordentliche Ereignisse sichtbar gemacht werden kann, stellt eine empirische
verfahrende Kultursoziologie immer auch eine „Soziologie des Außerordentlichen“ dar (vgl.
Giesen 2010). Erst die Überschreitung oder Einklammerung der geltenden sozialen Ordnung,
sei es durch Krisenexperimente à la Garfinkel, durch eine „methodische Fremdheitshaltung“
(Bohnsack & Nohl 2002) oder aber durch historische Vergleiche, macht die Kontingenz
kultureller Ordnungsprinzipien beobachtbar.
Neben der Ethnomethodologie und neueren Ansätzen der Kultursoziologie gibt es noch ein
weiteres, erst im Entstehen begriffenes Feld, das sich aus einer soziologischen Perspektive mit
Dreyfus im Gegensatz zu Searle auf ein nicht-mentalistisches Verständnis des Hintergrundes setzt, ist
sein Entwurf im Rahmen des hier verfolgten Ansatzes weniger nützlich und ähnlichen Einwänden
ausgesetzt wie die kultursoziologische Praxistheorie und der soziologische Pragmatismus (1.2.3). Neuere
philosophische Arbeiten zum „Background“ finden sich in einem von Zdravko Radman (2012)
herausgegebenen Sammelband.
40
Verehrer des symbolischen Interaktionismus neigen dazu, diese fundamentalen Unterschiede zwischen
symbolischen Interaktionisten und Ethnomethodologen herunterzuspielen (z.B. Joas & Knöbl 2004: 183250).
51
dem sozial geteilten Hintergrund des Handelns und Erlebens auseinandersetzt. Die sogenannte
„kognitive Soziologie“ geht davon aus, dass menschliches Verhalten entscheidend von
kognitiven, emotionalen und motivationalen Prozessen und Mustern geprägt wird, die zwar
unbewusst ablaufen, aber dennoch mental verankert sind. Eviatar Zerubavel (1993, 1999), ein
Pionier dieser jungen Teildisziplin, setzt sich in seinen einführenden Werken mit den
kognitiven Schemata des Wahrnehmens, des Erinnerns und der Klassifikation auseinander.
Auch der Soziologe Paul DiMaggio (1997) hat darauf hingewiesen, dass die empirische
Kognitionsforschung viele Annahmen und Überlegungen einer mentalistisch verfahrenden
Kultursoziologie bestätigt. Zunehmend wird die „cognitive sociology“ auch als theoretische
Grundlage für kultursoziologische Erklärungen herangezogen. So zeigte Stephen Vaisey in
einer Studie (2009), dass kognitive und evaluative Schemata, die von den Befragten zum
Zeitpunkt der Befragung nicht artikuliert werden konnten, deren späteres Handeln besser
erklären konnten als die diskursive Äußerungen der Befragten selbst. Er wendet die
Ergebnisse seiner Studie gegen Ann Swidlers verkürztes Modell von Kultur als „toolkit“
(1986). An dessen Stelle setzt Vaisey die Metapher des „rider on the back of an elephant“
(2009: 1686f.), wobei der Reiter das intentionale Bewusstsein darstellt, das dem
überdimensionierten Reittier – dem kulturellen Hintergrund – weitestgehend ausgeliefert ist.
Der Begriff des Hintergrundes lässt sich hinsichtlich seiner sozialen Ausbreitung, seiner
qualitativen Unterschiedlichkeit und seiner Beziehung zu den unterschiedlichen Gattungen
kultureller Repräsentation spezifizieren. Der sozial geteilte Hintergrund, der alleine als
kultureller Hintergrund des Handelns und Erlebens in Frage kommt, muss von dem reinindividuellen und dem universell-menschlichen Hintergrund unterschieden werden.41
Zerubavel spricht von „social mindscapes“, die zwischen der Individualität des Erlebens und
der biologischen Ausstattung des Menschen liegen. Auch wenn eine Beschäftigung mit dem
biologisch-universellen Hintergrund des Menschenauch aus soziologischer Perspektive
sicherlich reizvoll und lohnend wäre,42 kann im Folgenden nur auf die kulturelle Dimension
des Hintergrundes eingegangen werden.
Quer zur Ausbreitung des Hintergrundes kann eine analytische Unterscheidung zwischen
41
Auch in Searles Ausführungen zum Hintergrund findet man die Unterscheidung zwischen einem tiefen
Hintergrund, den alle Menschen miteinander teilen, und flacheren Regionen, die kulturell oder individuell
variieren können (2001: 58).
42
Insbesondere die neuere Debatte zur Spiegelneurone, die möglicherweise eine neurophysiologische
Grundlage für basale sensomotorische Fähigkeiten, aber auch für die Befähigung zur Empathie darstellt,
ist für Soziologen von großem Interesse (vgl. Rizzolatti & Sinigaglia 2008; Zaboura 2009).
52
kognitiven, emotionalen und evaluativen Hintergründen getroffen werden (1.1-2), die
allerdings nicht mit den korrespondierenden intentionalen Akten verwechselt werden dürfen.
Nicht zuletzt Searle hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es unangemessen ist, diese
eingefleischten Überzeugungen, Erwartungshaltungen und Wertbindungen als intentionale
Akte aufzufassen. Am Beispiel von kognitiven Erwartungshaltungen lässt sich dieser
Unterschied zwischen intentionalen Akten und Hintergrundannahmen besonders gut
verdeutlichen. So gewinnt das Unerwartete nur vor einem Horizont des Erwartbaren seine
spezifische Gestalt. Außerordentliche Ereignisse, die wie der 11. September 2001außerhalb
des Erwartbaren liegen (6.4), können Gesellschaften in einen Schockzustand versetzen. Hier
kann eine einfache kognitive Anpassung an die veränderte Situation, die Luhmann als
„Lernen“ bezeichnet, nicht so ohne weiteres stattfinden. Der kulturell geformte Hintergrund
des Erwartbaren besitzt keinen dem Bewusstsein zugänglichen intentionalen Gehalt, sondern
stellt eine vorbewusste Grundlage für intentionale Erwartungen und „worst case“-Szenarien
dar. Das Gleiche gilt auch für latente Normen und Werte, die selbst nicht zum Gegenstand
von Normrevisionen und Wertediskussionen werden können, ohne ihrerseits wieder latente
Muster vorauszusetzen.
Zu guter Letzt lassen sich auch ikonische, narrative und dramatische Strukturen des
Hintergrundes identifizieren (Giesen 2004b; 2010: 56-66). Die kulturelle Rahmung durch
ikonische oder narrative Muster vereinigt disparate Elemente und Ereignisse aus dem
Erlebnisstrom zu einem bedeutungsvollen Ganzen. Kulturell tradierte, visuelle Schemata
beeinflussen nicht nur die Produktion und Rezeption von Bildern, sondern auch die alltägliche
Wahrnehmung (2.1). Auch im Bezug auf personale und kollektive Identitäten sprechen wir
von Selbstbildern, die eine Voraussetzung des Handelns und Erlebens darstellen (vgl. Giesen
1999 und 2.1.3). Die Bildlichkeit des Hintergrundes greift aber auch in den Bereich des
Sprachlichen über. So findet in den letzten Jahren die Metapher als einer „Substruktur des
Denkens“ (Blumenberg 1998: 13) wieder verstärkt Beachtung.43 Narrative und dramatische
Grundstrukturen liegen in vergleichbarer Weise der Wahrnehmung von Handlungsabläufen,
der Präsentation des Selbst und der Konstruktion von Identität zu Grunde (vgl. 2.2-3).
1.2.1. „Routine“ und „Krise“ – Kognitive Hintergründe des Handelns und Erlebens
Ein lohnender Gegenstand der kultursoziologischen Analyse stellt der Begriff „analytische
43
Beispielsweise in der neueren philosophischen Hermeneutik (Fellmann 1991: 135-141), den
Kognitionswissenschaften (Lakoff & Johnson 2003) oder der Interdiskursanalyse von Jürgen Link (1982),
aber auch in den Studien von Susanne Lüdemann zum soziologischen und politischen Imaginären (2004).
53
Soziologie“
dar.
Er
bedient
sich
einer
semantischen
Opposition,
die
in
der
Gegenwartsphilosophie gebräuchlich ist, nämlich jener zwischen analytischer und
kontinentaler Philosophie. Die analytische Philosophie hat sich ein Diktum des jungen
Wittgensteins zu eigen gemacht: „Alles was gedacht werden kann, kann klar gedacht werden“
(1984/1921: 33). Sie beschäftigt sich vor allem mit der logischen Klärung der Sprache und
dominierte lange Zeit im angelsächsischen Raum, während es im Nachkriegsdeutschland zu
einer Koexistenz von analytischer und kontinentaler Philosophie kam. Obwohl diese
Unterscheidung in der akademischen Philosophie zunehmend an Bedeutung verliert, gibt es in
der Soziologie neuerdings Versuche, sich diese anzueignen. Peter Hedströms analytische
Soziologie setzt wie ihr philosophisches Pendant auf Präzision und Klarheit, wodurch sie sich
von konkurrierenden Ansätzen abzugrenzen versucht (2008). Sein Paradebeispiel für
theoretische Unklarheit ist Bourdieus Definition des Habitus. Bei den sogenannten
„Habitusformen“ handelt es sich, laut Bourdieu, um „Systeme dauerhafter und übertragbarer
Dispositionen“, die
[…] als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsvorlagen für
Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepasst sein können, ohne jedoch bewusstes
Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen
Operationen vorauszusetzen, die objektiv „geregelt“ und „regelmäßig“ sind, ohne aus dem ordnenden
Handeln eines Dirigenten hervorgegangen zu sein. (Bourdieu 1999: 98; bei Hedström 2008: 15)
Hedström zufolge gleichen derartige Definitionen „mentale[n] Wolken, die eher verschleiern
als erklären“ – nicht zuletzt, weil in Bourdieus Ausführungen unklar bleibe, wie genau denn
dieser Habitus nun funktioniere. Demgegenüber lässt sich einwenden, dass die Probleme des
Habitusbegriffs nicht nur dem idiosynkratrischen Denk- und Schreibstil des französischen
Soziologen geschuldet sind, sondern auch auf eine generelle Problematik kultursoziologischer
Handlungserklärungen aufmerksam machen. Die begrifflichen Schwierigkeiten im Umgang
mit dem Hintergrund des Handelns resultieren zu einem großen Teil aus einer bewussten
Distanz von kultursoziologischen Erklärungsansätzen gegenüber „alltagspsychologischen“
Modellen (Horn & Löhrer 2010a) oder dem „Common Sense“ (Davidson 2010), der bei
vielen intentionalen Handlungstheorien Pate steht. So konstatiert der analytische Philosoph
John Searle, der sich seit Jahrzehnten um eine begriffliche Klärung des „Background“
bemüht, dass „wir kein natürliches Vokabular zur Erörterung der fraglichen Phänomene
haben“ und daher „leicht in ein intentionalistisches Vokabular verfallen“ können (1987: 198).
Gerade weil sich das Bewusstsein durch Intentionalität auszeichnet und wir es gewohnt sind,
mit intentionalen Begriffen zu operieren, fällt es uns sehr viel schwerer, den vorintentionalen
Hintergrund des Bewusstseins begrifflich zu fassen (1987: 198-200). Die von Hedström
54
monierte Unklarheit liegt demzufolge nicht (nur) am vermeintlichen Unvermögen des Autors
Bourdieu, sondern auch am Gegenstand selbst. Der Handlungshintergrund ist theoretisch nur
schwer in den Griff zu bekommen und auch empirisch nur auf Umwegen zu untersuchen.
Searle schlägt deswegen vor, den Hintergrund durch Krisenexperimente beobachtbar zu
machen:
Meines Erachtens erforschen wir den Hintergrund am besten anhand von Fällen, in denen etwas
schiefgeht; das heißt, in denen intentionale Zustände ihre Erfüllung wegen eines Fehlschlags auf Seiten
der vorintentionalen Hintergrundsbedingungen für Intentionalität nicht erreichen. (1987: 196)
Diese Einsicht ist für Soziologen wenig überraschend. Dies ist vor allem Harold Garfinkel,
dem Begründer der Ethnomethodologie zu verdanken, der durch Krisenexperimente den
immer schon vorausgesetzten Hintergrund des Handelns sichtbar zu machen versuchte. Ein
Beispiel für ein solches Krisenexperiment, bei dem ein Experimentator bewusst gegen die
alltäglich Erwartungshaltung verstößt, ist folgendes Begrüßungsszenario:
The victim waved his hand cheerily.
(S) How are you?
(E) How am I in regard to what? My health, my finances, my school work , my peace of mind, my…?
(S) (Red in the face and suddenly out of control.) Look! I was just trying to be polite. Frankly, I don’t
give a damn how you are. (Garfinkel 1967: 44)
Der Experimentator nimmt die Begrüßungsformel hier wortwörtlich, so als ob sich das Opfer
wirklich nach seinem Befinden erkundigt hätte. Aber damit nicht genug: Der Experimentator
verstößt zudem noch gegen das „principle of charity“ (Quine 1969: 58-60), indem er das
Opfer auf die Ambiguität und Unbestimmtheit seiner Frage aufmerksam macht. Das Opfer
quittiert diese Überkorrektheit und Verletzung seiner Hintergrundannahmen mit einem
emotionalen Ausbruch. Inwieweit handelt es sich bei der Erwartung des Opfers, dass seine
Begrüßung auch als solche verstanden wird, um einen intentionalen Akt? Searle argumentiert
in seinen Schriften zum Hintergrund, dass wir einen Fehler machen, wenn wir diese
impliziten Erwartungen als unbewusste intentionale Zustände deuten (1987: 181-184).Genau
so wenig erwarten wir (auch nicht unbewusst), dass der Boden nicht unter unseren Füßen
hinweg bricht oder aber der Himmel uns nicht auf den Kopf fällt. Kognitive Überzeugungen
und Erwartungen, die derart tief verankert sind, müssen dem vorintentionalen Hintergrund,
nicht dem intentionalen Bewusstsein zugeschlagen werden. Kognitive Hintergrundannahmen
und Schemata, z.B. die Klassifikationssysteme von Durkheim und Mauss (1987/1902), liegen
nicht nur artikulierten Überzeugungen und Erwartungen, sondern auch jedem Akt der
55
visuellen Wahrnehmung zu Grunde (Zerubavel 1999: 23-34).44
Als kulturelle Muster prägen auch Rahmen und Skripte unser Alltagshandeln, ohne dass diese
bewusst aktiviert werden müssten (vgl. Goffman 1977). Die Unterscheidung von Skripten und
Rahmen bezieht sich ihrerseits auf die Leitdifferenz von Handlung und Situation. Bei Skripten
handelt es sich um kognitive Modelle des Handelns, die durch die typisierte Rahmung einer
Situation aktiviert werden. Skripte regulieren dadurch die eigenen Handlungen und stellen
einen Erwartungshorizont für Interaktionen bereit.45 Wer gegen ein sozial verbreitetes Skript
verstößt, riskiert, auf Unverständnis oder gar Empörung zustoßen. Als mentale Repräsentation
von Handlungsketten besitzen Skripte eine narrative Struktur und beruhen damit auf
narrativen Grundmustern, die ebenfalls zum Hintergrund des Handelns und Erlebens gezählt
werden müssen (Searle 1995: 134f., vgl. 2.2). Allerdings sind Skripte und Erzählungen immer
auch emotional und evaluativ eingefärbt, sodass sie nicht alleine dem kognitiven Hintergrund
zugerechnet werden dürfen.
1.2.2. Emotionale und evaluative Hintergründe des Handelns – Stimmung und Identität
Die Unterscheidung zwischen kognitiven und affektiven Bewusstseinszuständen (1.1.1) lässt
sich auch auf die Analyse des kulturellen Hintergrundes übertragen. Nicht nur kognitive
Schemata liegen dem Erleben und Handeln von Akteuren zu Grunde, sondern auch
emotionale und evaluative Muster. Der emotionale Hintergrund individueller Akteure ist –
zumindest in der Soziologie – weitgehend unerforscht geblieben, von Kollektiven einmal
ganz zu schweigen. Dies ist umso bemerkenswerter, als kollektive Stimmungen wie das
Wirtschafts- und Konsumklima von Meinungsforschungsinstituten erhoben oder aber
nationale Depressionen und Euphorien anlässlich von wichtigen Sportereignissen in der
Presse in aller Selbstverständlichkeit diskutiert werden. In der Philosophie wurde die
Bedeutung des emotionalen Hintergrundes vor allem in Heideggers Daseinsanalyse
herausgearbeitet.46 Heidegger spricht von der „Stimmung“, die dem menschlichen Dasein erst
44
Der kognitive Hintergrund strukturiert nicht nur unser Alltagshandeln, sondern spielt auch bei der
Entstehung von wissenschaftlichen Überzeugungen und Tatsachen eine Rolle, wie nicht zuletzt die
wissenschaftssoziologischen Analysen von Fleck (1980) und Kuhn (2003) gezeigt haben. „Normale“
wissenschaftliche Forschung findet immer vor einem kulturellen Hintergrund von Erwartungshaltungen
und impliziten Annahmen, dem sogenannten „Paradigma“, statt.
45
Auch in den elaborierteren Theorien des Rational-Choice-Paradigmas hat sich mittlerweile die Rede von
Skripten etabliert (2001; Esser 2004: 53-61). Allerdings kommt hier aufgrund des utilitaristisch
verkürzten Handlungsverständnisses die kulturelle Tiefendimension von Skripten zu kurz.
46
Die Philosophin Martha Nussbaum spricht von „Hintergrundemotionen“ bzw. „background emotions“
(2001: 69-75), deren Bedeutung allerdings zwischen vorintentionalen affektiven Stimmungen und
56
die Welt erschließt und es in seinem Sosein bestimmt und durchstimmt (1986/1927: § 29,
134-140). An einer Stellegeht er auch auf den emotionalen Hintergrund sozialer Gruppen ein:
Die Öffentlichkeit las die Seinsart des Man (vgl. § 27) hat nicht nur überhaupt ihre Gestimmtheit, sie
braucht Stimmung und „macht“ sie für sich. In sie hinein und aus ihr heraus spricht der Redner. Es bedarf
des Verständnisses der Möglichkeiten der Stimmung um sie in der rechten Weise zu wecken und zu
lenken. (1986/1927: 138 f.)
Ein solches Verständnis kollektiver Stimmungen gereicht nicht nur dem Redner zu Vorteil,
sondern auch einer Soziologie, die den Erfolg populistischer Stimmungsmache, die
Emotionalität revolutionärer Situationen oder aber den Verlauf von Skandalen erklären will.
Der Einfluss individueller und kollektiver Stimmungen auf das Erleben und Handeln lässt
sich schwerlich bestreiten. Insbesondere Risikoabschätzungen sind in hohem Grade von den
emotionalen Dispositionen der Akteure abhängig, wie nicht zuletzt die Phänomene der „moral
panic” (Cohen 1982) und „science scare“ (Smith 2012) zeigen. Die wohl systematischste
Auseinandersetzung mit kollektiven Stimmungen findet man immer noch in der Theorie
kollektiven Verhaltens des amerikanischen Soziologen Neil Smelser (1972/1962), wenngleich
es auch neuere Überlegen zu „emotionalen Klimata“ gibt (Vester 1991, 2006).
Nicht
nur
kognitive
Erwartungen
und
emotionale
Dispositionen
können
zu
unhintergehbaren Voraussetzungen des Handelns und Erlebens werden. Auch Normen und
Werte können so tief verankert sein, dass sie zum evaluativen Hintergrund einer Gesellschaft
gezählt werden müssen. Der Sozialphilosoph Charles Taylor, auf dessen Konzeption des
Imaginären wir später noch eingehen werden (1.3.3), setzt sich in seinen Quellen des Selbst
mit den „Hintergrundsprachen“ und dem „Hintergrundbild“ der Moral auseinander (1994).
Ausgehend von der bereits erwähnten Unterscheidung von schwachen und starken Wertungen
(1.1.1) zeichnet Taylor das Bild eines Selbst in einem moralischen Raum, der eine Hierarchie
der Werten veranschaulichen soll. Er spricht auch von „moralischen Landkarten“ oder
„Topographien“, die dem Einzelnen Orientierung bei seinen Urteilen bieten. Taylors
moralische Landkarten dürfen keineswegs als rein individuell missverstanden werden, da sie
sich bei Mitgliedern einer Gesellschaft in weiten Teilen überlappen (2009: 275-295, vgl.
4.1).47
dauernden aber meist unbewussten intentionalen Gefühlen changiert. In den folgenden Überlegungen
geht es in erster Linie um vorintentionalen Stimmungen.
47
Der exzessive Gebrauch räumlicher Metaphern bei Taylor ist symptomatisch für die Schwierigkeiten
einer Versprachlichung des Vorintentionalen. Im vorliegenden Fall ist die Raummetaphorik besonders
fruchtbar, weil es auf diese Weise gelingt, den ordnungsstiftenden, aber nichtbegrifflichen Charakter des
moralischen Hintergrundes anschaulich macht. Thorn Kray (2010) hat in einer jüngeren Arbeit die
Bedeutung von Metaphern für die soziologische Theoriebildung an der räumlichen Metaphorik der
57
Diese Vorstellung eines Selbst im moralischen Raum ist bei Taylor aufs Engste mit dem
Begriff der „Identität“ verknüpft, der ebenfalls die Merkmale eines vorintentionalen
Hintergrundes besitzt. Für Taylor fallen die starken Wertungen, die einer vollzieht, und seine
Identität als Selbstbild zusammen. In diesem Sinne ist Identität dem evaluativen Hintergrund
und nicht etwa dem kognitiven oder emotionalen Hintergrund zuzuschlagen (wobei sie
natürlich mit dem Selbstgefühl verknüpft ist). In seinem Standardwerk zur „kollektiven
Identität“ hat Giesen den Identitätsbegriff gegenüber utilitaristischen Ansätzen der
Handlungserklärung folgendermaßen in Anschlag gebracht: „Identität ist selbst ranghöchstes
und nicht weiter relativierbares Ziel, sie wird bei strategischen Erwägungen immer schon
vorausgesetzt, sie dient nicht Interessen, sondern definiert Interessen“ (1999: 13). Die
Konstruktion von kollektiver Identität geht hier gerade nicht auf bewusste Planung und
Intentionalität zurück, sondern ist dem kulturellen Hintergrund einer Gesellschaft geschuldet:
„Selbstbilder und ihr Gegenstück, die Bilder des Fremden, gewinnen ihre Überzeugungkraft
nicht aus der Nützlichkeit für bestimmte Interessen der Mitglieder, sondern aus der
Einbettung in allgemeine Weltbilder“ (1999: 17). Die enge Verknüpfung von Identität und
Werten gilt natürlich auch für kollektive Identität, was sich in Deutschland als Dreiklang von
Leitkultur, nationaler Identität und „unseren Werten“ äußert. Allerdings müssen kollektive
Identitäten und gemeinsame Werte hinreichend unbestimmt bleiben, da ansonsten ihre
vermeintliche Selbstverständlichkeit verloren ginge, was nicht zuletzt die Leitkulturdebatten
in Deutschland gezeigt haben. Darüberhinaus spielen bei der Konstruktion individueller und
kollektiver Identität auch Bilder, Erzählungen und Performanzen eine große Rolle. Im Falle
kollektiver Identität sind dies vor allem Symbole, Gründungsmythen und Rituale (Giesen
1999). Als individueller und kollektiver Hintergrund des Handelns muss Identität jedoch
immer vorausgesetzt werden, da sie weder durch bewusste Reflexion erreichbar ist noch
diskursiv begründet werden kann.
Wir haben gesehen, dass es unterschiedliche Formen des Handlungshintergrundes gibt, die
die Realisierung unterschiedlicher Bewusstseinszustände prädisponieren. Es lassen sich zwei
weitere Momente des kulturellen Hintergrundes unterscheiden. Einerseits können wir den
Handlungshintergrund als eine symbolische Ordnung von Differenzen und Äquivalenzen
begreifen (1.3.2); andererseits lässt er sich als soziales Imaginäres, das nach einer narrativAkteur-Netzwerk-Theorie aufgezeigt. Die räumliche Metaphorik bei Latour (2007) ist hinsichtlich ihrer
Funktion, nämlich Unschärfe durch Anschaulichkeit zu kompensieren (vgl. Kray 2010: 135), durchaus
mit Taylors Verwendung vergleichbar.
58
bildliche Logik verfährt, charakterisieren (1.3.3). Bevor auf diese komplementären Aspekte
von Kultur eingegangen wird, sollen in den folgenden Abschnitten noch mögliche
Alternativen zu der hier vorgeschlagen Theorie diskutiert und der Frage nach der Kausalität in
Handlungserklärungen durch kulturelle Dispositionen nachgegangen werden.
1.2.3. Kritik des handlungstheoretischen Monismus — Pragmatismus und Praxistheorie
Die hier verhandelten Ansätze haben eines gemeinsam: Sie setzen auf eine dualistische
Konzeption von Habitus und Praxis (Bourdieu 1982, 1998), vorintentionalem Hintergrund
und intentionalem Handeln (Searle 1987, 1995), Code und Prozess (Giesen 1991a, 1991b).
Dieser Dualismus von inkorporierter Struktur und sozialem Prozess ist allerdings nicht
alternativlos. Einige Stränge der gegenwärtigen Theorielandschaft weisen diesen Dualismus
(als cartesianisch) von sich und ziehen sich stattdessen auf eine monistische Theorie des
Handelns zurück. Die beiden prominentesten Ansätze sind wohl der soziologische
Pragmatismus und die kultursoziologische Praxistheorie.48
Der soziologische Pragmatismus geht auf den deutschen Soziologen Hans Joas zurück.49
Dieser vertritt die These, dass der philosophische Pragmatismus „vor allem eine Reflexion auf
die vor aller bewussten Intentionalität des Handelns liegende Einbettung des Subjekts in
Praxis und Sozialität darstellt“ und „damit die Konzeption des nutzenkalkulierenden
Individuums auf handlungstheoretischer Ebene unterläuft“ (1987: 264). Auch der
Pragmatismus kritisiert das intentionale Handlungsverständnis, allerdings weisen seine
48
Ursprünglich stellt der Begriff der praxis kein allgemeines Modell menschlichen Handelns dar, sondern
eine zweckfreie (vornehmlich politische) Tätigkeit, die bei Aristoteles vom Herstellen (poesis) und der
theoretischen Anschauung (theoria) unterschieden wird. Diese Begriffsfassung liegt auch dem
Praxisverständnis von Hannah Arendts in ihrer Vita Activa zu Grunde (1996). Im heutigen Diskurs hat
sich ein allgemeinerer Praxisbegriff durchgesetzt, der wohl auf Marxens Thesen über Feuerbach
zurückgeht (1971). Dort heißt es: „Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch“, wobei Praxis als
„menschliche sinnliche Tätigkeit“ aufgefasst wird. Marx verwendet den Begriff der Praxis, um den Hiatus
zwischen Materialismus und Idealismus zu überwinden. So ist „die Frage, ob dem menschlichen Denken
gegenständliche Wahrheit zukomme“, für Marx eine praktische Frage. In der Praxis werde das Denken
und damit auch die Kultur wirksam. Marxens Begriff der Praxis besitzt zudem eine normative und
politische Aufladung, die auch noch im heutigen Diskurs mitschwingt. Der revolutionären Impetus
kulminiert in seiner letzten These: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es
kömmt darauf an, sie zu verändern“. Für den Kultursoziologen stellt sich diese Frage anders dar: Wie
interpretieren Menschen die Welt und was für Veränderungen ergeben sich aus den Folgen ihrer
Handlungen? Und damit verwandelt sich die praktische Frage nach der Wirksamkeit von Ideen in eine
empirische Fragestellung nach dem kausalen Einfluss kultureller Faktoren.
49
Der soziologischen Pragmatismus knüpft an die philosophische Tradition des amerikanischen
Pragmatismus an, der sich überwiegend mit handlungstheoretischen Fragen auseinandersetzt. Der neuere
französische Pragmatismus (z.B. Boltanski & Thévenot 2007) bleibt hier unberücksichtigt, da er sich mit
der diskursive Rechtfertigung des Handelns beschäftigt und nicht mit dem Handelns selbst.
59
Vertreter einen cartesianischen Dualismus zwischen Körper und Geist bzw. Handeln und
Bewusstsein strikt zurück. Durkheim, der in seinen Vorlesungen zum Pragmatismus diesen
als handlungstheoretischen Monismus kritisiert hatte (1987), wird von Joas vorgeworfen, von
einer „Handlungsunabhängigkeit des Bewusstseins“ auszugehen (1987: 264). Joas selbst setzt
auf ein reflexives Verständnis von Intentionalität (1992: 218-244), das allerdings nicht an den
vorreflexiven und vorintentionalen Hintergrund des Handelns und Erlebens heranreicht. Auch
wenn sich menschliches Handeln immer an konkreten Handlungsproblemen orientiert, ist an
der Einsicht festzuhalten, dass diese Probleme nur vor einem Handlungshintergrund sichtbar
und wirksam werden können. Gegen Joas‘ Fundamentalkritik des Dualismus ließe sich
einwenden, dass der Status des menschlichen Geistes in der Philosophie wie auch in den
Neurowissenschaften nach wie vor umstritten ist.50 Die Frage, inwieweit mentale Phänomene
gegenüber dem Handeln eine Eigenständigkeit besitzen, droht zu einer scholastischen Frage
zu verkommen, solange wir keine hinreichenden empirischen Indizien besitzen. In Anbetracht
dieser Lage scheint es sinnvoll zu sein, ihre vorläufige Beantwortung an forschungspraktische
Kriterien zu knüpfen. Dies soll kurz an einem neueren Ansatz aus dem Feld der
Praxistheorienproblematisiert werden, der eine dem Pragmatismus vergleichbare Position
vertritt, sich aber stärker mit dem Problem einer kulturtheoretischen Handlungserklärung
befasst.
Andreas Reckwitz versucht in seiner Transformation der Kulturtheorien in einer
Auseinandersetzung mit strukturalistischen und phänomenologischen Kulturtheorien zu
zeigen, dass neuere Entwicklungen in der kulturalistischen Handlungstheorie in einer Theorie
sozialer Praktiken kulminieren (2006b). Sein eigener Entwurf einer Theorie sozialer Praktiken
orientiert sich stark an den Überlegungen des Sozialphilosophen Theodore R. Schatzki (1996,
1997). Zwischen beiden Autoren herrscht Einigkeit über die Ablehnung des Dualismus von
Handlungspraxis und mentalem Handlungshintergrund, allerdings ziehen sie daraus
unterschiedliche Schlüsse. Während Schatzki die kausale Erklärung sozialer Praktiken aus
logischen Gründen, die im handlungstheoretischen Monismus der Praxistheorie begründet
liegen, für unmöglich hält, bleibt bei Reckwitz die Möglichkeit einer kausalen
Handlungserklärung zunächst offen.
50
So warnt der Philosoph McGinn eindringlich vor überzogenen Absetzbewegungen gegenüber den
„supposed excesses of Cartesian dualism“ (2004: 2). Auch die Einfachheit von Modellen dürfe nicht als
unangefochtenes und letztlich ausschlaggebendes Kriterium gelten: „Occam’s razor quickly turns into
Procrustes‘ bed. Modesty becomes a retreat from ambition. […] What we must do is face the mental facts
and develop adequate descriptive and explanatory theories—or admit we can’t.“ (2004: 3)
60
Bevor auf das Problem der Kausalerklärung bei Reckwitz eingegangen wird, empfiehlt
sich ein Blick auf seine Kritik an dualistischen bzw. mentalistischen Handlungskonzeptionen.
Diese Kritik wird in seiner (inhaltlich korrekten) Darstellung von Bourdieus Habitusbegriff
besonders deutlich. Der Habitus ist demnach „im Akteur mental verankert und gleichzeitig
eine kollektive, dem einzelnen Subjekt präexistente Wissensstruktur“, wobei Reckwitz an
dieser Konzeption bemängelt, dass die kollektiven Muster „nicht außerhalb des Mentalen“
situiert sind, „sondern in den nicht-bewussten Strukturen des Mentalen selbst“ verortet
werden (2006b: 324). Reckwitz versucht zwar zur Ehrenrettung von Bourdieu diesem eine
antimentalistische Stoßrichtung nachzuweisen, die sich in der Inkorporierung des Habitus
zeige, doch bleibt ihm der Habitusbegriff, der in Bourdieus Werk die Hauptlast der kausalen
Handlungserklärung trägt, ein Dorn im Auge. Konsequenterweise wird dieser Begriff in
seiner eigenen Theorie denn auch ersatzlos gestrichen.51 Diese Begriffsentscheidung bleibt in
theoretischer Hinsicht nicht folgenlos:
Dies hat zur Konsequenz, dass aus Sicht der Praxistheorie und im Gegensatz zum Mentalismus Wissen
und seine Formen nicht ‚praxisenthoben‘ als Bestandteil und Eigenschaften von Personen, sondern immer
nur in Zuordnung zu einer Praktik zu verstehen und zu rekonstruieren ist: Statt zu Fragen, welches
Wissen eine Gruppe von Personen, d.h. eine Addition von Individuen, ‚besitzt‘, lautet die Frage, welches
Wissen in einer bestimmen sozialen Praktik zum Einsatz kommt (und erst darauf aufbauend kann man auf
die Personen als Träger der Praktiken rückschließen). (Reckwitz 2003: 292; Hervorhebung im Original)
An diesem Zitat lassen sich zwei zentrale Merkmale der Praxistheorie heraus präparieren: Da
wäre zum einender handlungstheoretische Monismus bzw. Aktivismus, der sich in der Kritik
mentalistischer Zuschreibungen äußert, zum anderen aber die Forderung nach einer radikalen
Entkopplung von kulturellen Mustern und sozialen Gruppen, die bei genauerer Betrachtung
eine Konsequenz der Verabschiedung des Mentalen darstellt. Der Aktivismus der
Praxistheorie – von Reckwitz als Praxisnähe gefeiert – führt in letzter Konsequenz zu einem
Verzicht auf eine kausale Handlungserklärung. Die Möglichkeit einer kausalen Erklärung in
den Kulturwissenschaften setzt nach Schatzki voraus, dass Zustände isoliert werden können,
die nicht schon logisch-begrifflich in der jeweiligen Praxis enthalten sind. Der von Reckwitz
zu Anfang des Buches erhobene kausale Erklärungsanspruch wird zwar gegen Ende noch
51
Geht man einmal der Frage nach, welche Argumente bei Reckwitz gegen den handlungstheoretischen
Dualismus sprechen, so wird einem schnell klar, dass der Dualismus selbst das eigentliche Problem
darstellt. So wie sich die „analytische Soziologie“ im wissenschaftlichen Diskurs als ein positiv besetztes
Symbol und bzw. als eine vertrauenswürdige Marke zu etablieren versucht, dient der „cartesianische
Dualismus“ den monistischen Handlungstheorien als ansteckendes Negativsymbol und konstitutives
Außen (1.3.2), das zu allem Überfluss noch mit Horrorvorstellungen aus dem sozialen Imaginären (wie
dem „Geist in der Maschine“) aufgeladen ist (1.3.3). Der Begriff der „Praxis“ wirkt hingegen progressiv
und unverfänglich, wozu paradoxerweise auch seine marxistische Vorgeschichte beiträgt.
61
einmal verteidigt (2006b: 593-599), doch zeigen nicht zuletzt seine empirischen Arbeiten,
dass sich die Anwendung seiner Theorie weitestgehend in einer terminologischen
Neubeschreibung sozialer Phänomene erschöpft (2006a). Im Gegensatz dazu geht diese
Arbeit
von
einer
relativen
Autonomie
von
kulturellen
Mustern
gegenüber
der
Handlungspraxis aus, was eine gehaltvolle Handlungserklärung zuallererst ermöglicht.52 Auch
die – bei Reckwitz fast apriorisch anmutende – theoretische Entkopplung von Kultur und
Gruppe muss in Zweifel gezogen werden. Die Verbreitung kultureller Muster entlang sozialer
Grenzen stellt eine empirische Frage dar, die nicht einer theoretischen Vorentscheidung zum
Opfer fallen darf. Diese Forderung wird zwar auch von Reckwitz erhoben, doch beraubt er
sich zugleich des theoretischen Instrumentariums, das es ihm erlauben würde, die Korrelation
von sozialen Grenzen und kulturellen Mustern durch einen geteilten kulturellen Hintergrund
zu erklären.
Mit den neueren Theorien des Geistes, die von einer vorintentionalen Fundierung des
Intentionalen in einer mental verankerten und leiblich inkorporierten Kultur ausgehen, stellt
eine dualistische Handlungskonzeption kein grundsätzliches Problem mehr dar. Die
praxeologische Analyse des Handelns fokussiert zu einseitig auf den Prozess des Handelns,
während seine Vorstrukturierung und sein Ereignischarakter ausgeblendet werden. Das
Ereignis einer Handlung kultursoziologisch zu erklären bedeutet, sein Eintreten vor einem
Hintergrund sozial erworbener, mentaler Dispositionen verständlich zu machen.53
Mentalistische Theorien der Kultur setzen allerdings eine relative Autonomie des
menschlichen Geistes gegenüber sozialen Praktiken und öffentlichen Bedeutungen voraus.
Ein Indiz, das für diese Autonomie spricht, ist die strukturierende Wirkung des Habitus, die
sich auch über die Grenzen von Praxisfelder hinaus entfaltet. Die statistische
Übereinstimmung zwischen Kinderstube und Kunstgenuss, zwischen kulinarischen Vorlieben
und politischen Wahlentscheidung sind alles andere als zufällig (Bourdieu 1982). Eine
mentalistische Handlungserklärung durch den kulturellen Hintergrund stellt eine kausale
Erklärung von Handlungen dar. Zwar erweist sich die genaue Bestimmung des kausalen
52
Auch der von Reckwitz (2006b: 478-522) als Gewährsmann einer Theorie sozialer Praktiken
vereinnahmte Charles Taylor geht seit längerem von der relativen Unabhängigkeit eines mental
verankerten sozialen Imaginären gegenüber der Handlungspraxis aus, wobei er sich explizit auf
philosophische Theorien des Hintergrundes bezieht (2002: 107; 2007: 172f.; vgl. 1.3.3).
53
Auch wenn Vertreter einer individualistisch ansetzenden Bewusstseins- und Handlungstheorie darauf
insistieren, dass „Selbst und Selbstbewusstsein […] nicht ausschließlich sozial vermittelt“ sind
(Schluchter 2007: 299), muss diese Annahme weitestgehend folgenlos bleiben. Die privaten Quellen des
Selbst sind soziologisch betrachtet eine „Residualkategorie“ (zu diesem Konzept vgl. Alexander 1982).
62
Einflusses von Kultur als schwierig, doch lassen sich mit Hilfe von Brückenhypothesen und
sozialen Mechanismen, die auf ein nicht-intentionalistisches und nicht-physikalistisches
Vokabular zurückgreifen, auch in den Kulturwissenschaften kausale Aussagen treffen.
1.2.4. Erklären und Erzählen – Zur Logik kultursoziologischer Handlungserklärungen
Die
Möglichkeit
oder
Nützlichkeit
von
Kausalerklärungen
in
den
Sozial-
und
Geisteswissenschaften ist ein vieldiskutiertes Thema. Die Praktikabilität des deduktivnomologischen Erklärungsmodell, dem zufolge sich das zu Erklärende aus einem allgemeinen
Gesetz und seinen Randbedingungen herleiten lassen muss, wurde nicht erst von den
zeitgenössischen Verfechtern „mechanismischer Erklärungen“ angezweifelt (Hedström 1998;
Gorski
2004;
Edling
&
Hedström
2005;
Gross
2009).
Schon
in
Webers
Wissenschaftslehreheißt es: „je ‚allgemeiner’, d. h. abstrakter, die Gesetze [sind], desto
weniger leisten sie für die Bedürfnisse der kausalen Zurechnung individueller Erscheinungen
und damit indirekt für das Verständnis der Bedeutung der Kulturvorgänge“ (1988/1904: 178).
Für Weber sind nomologische Gesetzmäßigkeiten nur Mittel zum Zweck der Erkenntnis der
historischen Wirklichkeit. Sie müssen als spezifische kausale Mechanismen formuliert
werden, da „die allgemeinsten Gesetze, weil die inhaltleersten, regemäßig auch die
wertlosesten“ sind (1988/1904: 179f.).
Die Entdeckung und Verwendung geeigneter sozialer Mechanismen ist eine mögliche
Formkultursoziologischer Erklärungen, auf die sich etwas genauer einzugehen lohnt.
Allerdings hat die aktuellen Debatte über mechanismische Erklärungen zu keiner allgemein
akzeptierten Begriffsfassung geführt.54Die Versuche von Jon Elster (1998b, 2007), den
Begriff des „sozialen Mechanismus“ zu definieren, sind den alternativen Ansätzen
vorzuziehen, da er die Abkehr vom nomologischen Gesetzesbegriff am konsequentesten
vollzogen hat. Elster zufolge handelt es sich bei sozialen Mechanismen um „frequently
54
Ein Überblick über verschiedene Positionen findet man in dem Sammelband von Peter Hedström (1998)
und seiner Anatomie des Sozialen (2008: 42-43), sowie in einem Beitrag von Lutz Bornmann (2010: 30).
Die von Michael Schmid (2006) beanspruchte Überwindung der multiparadigmatischen Soziologie durch
den Ansatz mechanismischer Erklärungen ist wohl selber einem psychologischen Mechanismus
geschuldet: dem Wunschdenken. Nimmt man die Vertreter dieses Ansatzes genauer unter die Lupe, so
fallen unterschiedliche theoretische Voraussetzungen auf, welche die einzelnen Ansätze unüberbrückbar
machen. So lehnen einige das deduktiv-nomologische Modell kategorisch ab, während andere gerne einen
allgemein-nomologischen Kern retten würden. Mario Bunge (2010) vertritt gar einen „Systemismus“
mechanismischer Erklärungen, der dem methodologischen Individualismus der meisten Mitstreiter
gehörig zuwiderlaufen dürfte. Der methodologische Individualismus geht keineswegs zwingend aus der
Logik mechanismischer Erklärungen hervor. Zurückhaltung ist gegenüber jenen geboten, die das
deduktiv-nomologische Programm im neuen Gewand mechanismischer Erklärungen weiterführen wollen.
63
occurring and easily recognizable patterns that are triggered under generally unknown
conditions or with indeterminate consequences“ (2007: 36), also um leicht erkennbare und
häufig auftretende kausale Zusammenhänge, die unter unbekannten Bedingungen mit
unvorhersehbaren Folgen ausgelöst werden. Eine mechanismische Erklärung stellt damit eine
vergleichsweise anspruchslose und realistische Form der kausalen Erklärung dar. Sie erlaubt
zwar keine Vorhersagen, ermöglicht aber doch zumindest plausible kausale Rekonstruktionen.
Die Abkehr vom deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell und der zurückgeschraubte
Erklärungsanspruch von mechanismischen Erklärungen weist Ähnlichkeiten zu narrativen
Ansätzen der historischen Erklärung auf (hierzu Ricoeur 2007d: 166-154; vgl. auch 2.2.4).55
In dem Maße, wie sich ein historisches Ereignis nicht mehr aus allgemeinen Gesetzen und
Randbedingungen deduzieren lässt, gewinnen sprachliche Argumentation und Narration an
Bedeutung. Im Anschluss an den sprachanalytischen Geschichtsphilosophen Arthur C. Danto
(1985) lässt sich eine Erzählung als „Form der Erklärung kontingenter Ereignisse“ begreifen
(so Fellmann 1991: 163).56 In diesem Sinne ist auch die in dieser Arbeit vorgenommene
Erklärung des Abu-Ghraib-Skandals eine Erzählung, die mithilfe von sozialen Mechanismen
eine wissenschaftliche Plausibilität vor dem Hintergrund des bisherigen Forschungstandes zu
erzielen versucht.
Die intentionalistische Kausalität von Gründen darf jedoch nicht mit der deterministischen
Kausalität von Billardkugeln gleichgesetzt werden, wenn auch beide Formen der Kausalität in
Handlungserklärungen eine Rolle spielen können. Neben der Erklärung durch Gründe und
Ursachen lässt sich eine dritte Form kausaler Erklärung identifizieren, die für eine an
vorintentionalen Strukturen ansetzende Kultursoziologie von großer Bedeutung ist. Eine
Handlungserklärung durch Dispositionen beruht auf der Vorstellung einer „Background
causation“, wie sie von Searle in seinen Studien zum „Hintergrund“ eingeführt wurde (1995:
55
Die Nähe von Erklären und Erzählen wird in Elsters Anmerkungen zur Interpretation von literarischen
Texten besonders deutlich (2007: 246-256). Ihm zufolge ist die Güte einer Erzählung nach der
Plausibilität des Handlungsverlaufes zu beurteilen, welche wiederum auf die Wahl des Autors
zurückzuführen ist. Auch wenn dieses intentionalistische Verständnis von Literatur zu kurz greift, bleibt
diese Parallelisierung von Erklären und Erzählen durchaus erhellend: Eine gute Erzählung ist immer auch
eine gute Erklärung – und umgekehrt.
56
Margaret Sommers und Gloria Gibson haben die Konstruktion von Narrationen als dem „epistemological
other“ von wissenschaftlichen Erklärungen einer Kritik unterzogen (1994). Diese Konstruktion derartiger
Feindbilder erfreut sich in den Sozialwissenschaften nach wie vor größter Beliebtheit, was der Erfindung
einer „harten“ Identität der Sozialwissenschaften jenseits der Geisteswissenschaften durchaus dienlich
sein mag. Den genannten Autorinnen ist allerdings insofern zuzustimmen, als dieses epistemologische
„othering“ nicht nur unnötig, sondern dem Erkenntnisinteresse der Soziologie ganz und gar abträglich ist.
64
137-147). Der vorintentionale Hintergrund bestimmt intentionale Akte und Gründe auf eine
Weise, die nicht physikalistisch oder intentional verstanden werden darf. Über das Konzept
der Hintergrundverursachung lassen sich kulturelle Dispositionen als eigenständig wirksame
kausale Faktoren – neben intentionalen Zuständen und physikalischen Prozessen – zur
Handlungserklärung heranziehen.
Soziale Mechanismen stellen kausale Beziehungen zwischen einzelnen Elementen der
Handlungserklärung her, ohne dass dabei auf allgemeine Gesetze zurückgegriffen wird. Elster
bemerkte, dass soziale Mechanismen häufig in Gegensatzpaaren auftreten, die beide für sich
Plausibilität beanspruchen können und alleine schon deswegen aus dem deduktivnomologischen Erklärungsmodell herausfallen. Oft lassen sich für diese Gegensatzpaare
Sprichwörter finden, wie beispielsweise „gleich und gleich gesellt sich gern“ oder
„Gegensätze ziehen sich an“ (vgl. Elster 2007: 38). Fallen beispielsweise Bedürfnisse und
deren Erfüllbarkeit bei einem Handelnden auseinander – ein klassischer Fall „kognitiver
Dissonanz“ (Festinger 1968) – so ist nicht ohne weiteres klar, welche Folgen dies haben wird.
Der Handelnde kann sich über die Erfüllbarkeit seines Begehrens täuschen („wishful
thinking“), seine Bedürfnisstruktur kann sich den Gegebenheiten anpassen („sour grapes“),
oder aber sein Begehren kann durch dessen Unerfüllbarkeit noch weiter anwachsen (Elster
2007: 39). Dies gilt auch für kollektive Bedürfnisse, wie sich am Krieg gegen den Terror
aufzeigen lässt. Das gesteigerte Bedürfnis nach Sicherheit entfachte nicht nur einen neuen
Folterdiskurs, sondern führte auch zu politischen Maßnahmen und populären Imaginationen,
die sich als „magical thinking“ oder „wish fulfillment“ deuten lassen (vgl. Holmes 2006; 6.4;
10.3-4). So waren die Folgen des Schocks und die Mechanismen der Bewältigung von 9/11
zwar vorhersehbar und nachvollziehbar, aber nicht vorhersagbar und alternativlos.
1.2.5. Mimesis und Resonanz – ZweiMechanismen kultursoziologischer Erklärungen
Diese Komplementarität sozialer Mechanismen trifft auch auf den Mechanismus der
Nachahmung oder mimesis zu, dem bei der Entstehung und Verbreitung von kulturellen
Mustern eine entscheidende Bedeutung zukommt.57„Die Nachahmungsgabe des Menschen ist
allgemein“, heißt es schon bei Johann Wolfgang von Goethe, „er will nachmachen,
nachbilden, was er sieht“ (1989: 541). Die empirische Frage, was zum Gegenstand der
57
Das Konzept der mimesis, das auf Platon und Aristoteles zurückgeht, wurde von Gabriel Tarde
(2003/1895) in die Soziologie eingeführt und hat in den letzten Jahren durch das evolutionsbiologische
Konzept des „Mems“, welches die genetischen Mechanismen der biologischen Evolution auf die
kulturelle Evolution überträgt (vgl. Dawkins 2010: 316-334), eine vermehrte Aufmerksamkeit erfahren.
65
Nachahmung wird, bleibt mit dieser Feststellung allerdings offen. So findet sich in Gabriel
Tardes Gesetzen der Nachahmung auch der Begriff der „Gegen-Nachahmung“ (2003/1895:
13-15), der eine negative Form der Nachahmung bezeichnet.58 Somit stellt selbst das
pubertäre Aufbegehren von Jugendlichen, die bloß nicht so sein wollen wie ihre Eltern, eine
Form von Nachahmung dar. Bei den sogenannten „Gesetzen“ der Nachahmung handelt es
sich nicht um allgemeine Gesetze, sondern um soziale Mechanismen, die unter unbekannten
Bedingungen ausgelöst werden. Tarde versucht zwar die Randbedingungen der Nachahmung
zu spezifizieren, indem er beispielsweise feststellt, dass die niederen Klassen vorzugsweise
die höheren Klassen nachahmen (2003/1895: 238-268), gelangt aber dadurch nicht zu
Gesetzen, die ausnahmslos gelten.
Nicht nur Handlungen können nachgeahmt werden, sondern auch Überzeugungen, Gefühle
und Wünsche. So hat René Girard darauf hingewiesen, dass nicht nur das Verhalten, sondern
auch das Begehren anderer Akteure imitiert werden kann (2006: 214-219).59Der
Mechanismus der Nachahmung kann sowohl das Phänomen der emotionalen Ansteckung als
auch die Verbreitung von Moden erklären. Aber damit hört die Macht der Nachahmung nicht
auf, denn diese erstreckt sich bis in den Hintergrund sensomotorischer Bewegungsabläufe,
emotionaler Stimmungen und kultureller Muster. Tarde (2003/1895) spricht von einer
„mimetischen Ansteckung“ und von „Nachahmungsstrahlen“, die sich in einer Gesellschaft
ausbreiten. Die Annahme einer Verbreitung und Stabilisierung von kulturellen Muster über
den Mechanismus der Nachahmung muss keineswegs in eine statische Konzeption von
sozialer Ordnung münden. Die schiere Unmöglichkeit einer Wiederholung im strikten Sinne
hat unausweichlich zur Folge, dass sich immer wieder Differenzen einschleichen, die dann
ihrerseits wieder zum Gegenstand der Nachahmung werden können – gerade wenn sie sich
durch soziale Wirksamkeit auszeichnen. Kulturelle Muster stehen also in einem evolutionären
Zusammenhang von Variation, Selektion und erneuter Stabilisierung. Darüberhinaus verdankt
sich kulturelle Differenzierung nicht alleine diesem evolutionären Prozess, sondern auch mehr
58
Daneben gibt es bei Tarde aber auch noch einen Mechanismus der Erschaffung des Neuen: die
„Erfindung“. Diese Trennung von Nachahmung und Erfindung ist allerdings nicht besonders glücklich,
da das Neue in aller Regel eine Variation in der Nachahmung bzw. eine Permutation des Altbekannten
darstellt. So auch Edward Shils in seiner Bestimmung des Verhältnisses von Innovation und Tradition
(1975: 204-210).
59
Bei Girard führt das mimetische Begehren notwendig zu Konflikten, die durch einen komplexen
Mechanismus bewältigt werden können, der wiederum auf dem Prinzip der Nachahmung basiert. Die
Gemeinschaft stürzt sich auf ein beliebiges Opfer, wobei eine solche Feindseligkeit gegenüber dem Opfer
wiederum von allen nachgeahmt wird. Der „Sündenbock“-Mechanismus verspricht eine temporäre
Verflüchtigung der aufgestauten Aggressionen.
66
oder weniger intentionalen Akten der Gegen-Nachahmung, der Distinktion und Innovation.
Die Dialektik von Nachahmung und Distinktion stellt uns vor die Frage, wann ein kulturelles
Muster nachgeahmt wird – und wann nicht.60
Der soziale Mechanismus der Nachahmung gibt uns also keine Antwort darauf, welche
kulturellen Muster oder Handlungen nachgeahmt werden, wann der komplementäre
Mechanismus der Distinktion zum Zuge kommt, welche Abweichungen von der Norm wieder
in der Versenkung verschwinden und welche zur Mode werden. Eine Antwort auf dieses
Problem verspricht der Begriff der „Resonanz“, der allerdings noch nicht zureichend
theoretisiert worden ist (vgl. aber Giesen 1999; Luhmann 2004; Göhler 2005: 68f.).61 Giesen
bestimmt Resonanz als ein „Verhältnis zwischen der Produktion und Rezeption von
Codierungen“ (1999: 187), sprich: kulturellen Mustern. Neben den Ähnlichkeiten und
Unähnlichkeiten vor dem Hintergrund bereits bestehender kultureller Muster können auch
Leerstellen die Resonanz von Texten und Performanzen steigern. Studien in der kognitiven
Psychologie legen nahe, dass kulturelle Muster immer weniger auf direkter Erfahrung
beruhen, sondern in hohem Grade von medial vermittelten Bildern und Narrativen abhängen
(vgl. DiMaggio 1997: 268).
Für den Effekt einer Performanz, eines Bildes oder einer Erzählung ist die jeweilige
Resonanz im kulturellen Hintergrund des Rezipienten von entscheidender Bedeutung. Der
metaphorische Gebrauch des physikalischen Konzepts der Resonanz soll deutlich machen,
dass wir es im Bereich von Kommunikation und Kultur nicht mit einer einfachen
Durchgriffskausalität zu tun haben. Empfangene Signale und wahrgenommene Bedeutungen
60
Eine kleine Schrift des jungen Goethe aus dem Jahre 1789, „Einfache Nachahmung der Natur, Manier,
Styl“, vermag die eigentümliche Dialektik von Nachahmung und Distinktion zu erhellen (1998: 225-229).
Die einfache Nachahmung der Natur stellt nach Goethe den ersten Schritt in der Entwicklung eines
Künstlers dar. Hier erlernt er die Techniken, die er für seinen weiteren künstlerischen Lebenslauf
benötigt. Die Manier hingegen stellt eine bewusste Abweichung von dem Vorbild der Natur dar, die dem
subjektiven Empfinden des Künstlers geschuldet ist. Erst der „Styl“ führt beides, Subjektivität und
Objektivität, in vollendeter Meisterschaft zusammen. Dieser Stilbegriff ließe sich soziologisch fruchtbar
machen, wenn man ihn als Abweichung versteht, die wiederum zum Gegenstand der Nachahmung –
beispielsweise durch junge Künstler – wird.
61
Luhmann versteht unter „Resonanz“ die durch Irritationen ausgelöste Eigenschwingung von Systemen,
die durch Feedback-Schleifen bis zur Resonanzkatastrophe führen kann (2004). Allerdings stellt der
Begriff der „Resonanz“ wie auch das häufiger verwendete Konzept der „Irritation“ bei Luhmann eine
Blackbox dar. Stattdessen sollte sich die Kultursoziologie eher am Modell der Übertragung orientieren.
Dass es keine „Punkt-für-Punkt-Übereinstimmungen“ zwischen dem Empfänger und Sender gibt, muss
nicht zur Preisgabe einer kausalen Interpretation von „Resonanz“ führen. Kulturelle Resonanz liegt
zwischen der hermetischen Abgeschlossenheit autopoietischer Systeme und einer physikalischen
Durchgriffskausalität. Sie entfaltet sich im Zwischenraum menschlicher Interaktion.
67
machen ihren Einfluss dadurch geltend, dass sie ihre Rezipienten gemäß der Beschaffenheit
des jeweiligen kulturellen Resonanzbodens in eine Eigenschwingung versetzen, die wiederum
Affekte und Bedeutungen generiert. Es lassen sich zwei Modi von Resonanz unterscheiden.
Im Falle der „Konsonanz“ fügt sich das empfangene Signal in den kulturellen Resonanzboden
ein – es schwingt sozusagen im harmonischen Gleichklang mit. Bei der „Dissonanz“ wird das
empfangene Signal als Störung einer harmonischen Ordnung wahrgenommen – was zu einer
dauerhaften Veränderung des Resonanzbodens führen kann. Konsonanz und Dissonanz
können durchaus zusammengehen, wie nicht zuletzt die Abu-Ghraib-Bilder zeigen, die sich
zum Selbstbild der Amerikaner dissonant verhielten, aber auch bekannte Motive wachriefen
(7.5). Kulturelle Muster können sich, wie auch Emotionen, unter geeigneten Bedingungen
geradezu epidemisch ausbreiten, indem sich die Resonanzen einer öffentlich vollzogenen
Handlung durch mimetische Ansteckung wechselseitig verstärken. Darüber hinaus kann es
auch zu dem Phänomen der symbolischen Ansteckung kommen: Die aufgerufenen kulturellen
Muster überlagern sich und werden miteinander verknüpft. Dies gilt nicht nur im Guten,
sondern auch im Schlechten: So wurde die Reputation des amerikanischen Militärs und der
Militärbasis in Guantanamo Bay von dem Abu-Ghraib-Skandal in Mitleidenschaft gezogen
(z.B. 10.4.2).
1.3. Kultur als symbolische Ordnung und soziales Imaginäres
Alles, was auf diese oder jene Weise von der Gesellschaft
aufgenommen oder wahrgenommen wird, muss etwas bedeuten,
muss mit einer Bedeutung beladen sein.
Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als
imaginäre Institution (1987: 394)
Die Kultursoziologie interessiert sich vornehmlich für die Rolle von Bedeutungen und
Sinnzuschreibungen im sozialen Verkehr und gesellschaftlichen Leben (vgl. Alexander
2003a), insbesondere aber für den vorintentionalen und sozial geteilten Hintergrund, der
Bedeutung und Sinn zuallererst konstituiert. Schon den klassischen Strukturalisten ging es
darum, „basic regularities that govern the production of meanings in social life“ (Laclau 1993:
21) zu finden. Letztendlich geht es also nicht um den „subjektiv gemeinten Sinn“ einer
Handlung, sondern um deren kulturelle Bedingungen, die selbst unseren innigsten
68
Überzeugungen und Gefühlen zu Grunde liegen. In diesem Abschnitt wird noch einmal
stärker auf den kollektiven Hintergrund, der den einzelnen intentionalen Zuständen erst ihre
Bedeutsamkeit verleiht, eingegangen. Dabei soll ein doppelter Kulturbegriff umrissen werden,
welcher strukturalistische Ansätze, die Kultur als symbolische Ordnung auffassen, mit antiund poststrukturalistischen Ansätzen, die Kultur als soziales Imaginäres verstehen,
kombiniert.
Indem sie die symbolische Ordnung und das soziale Imaginäre als komplementäre Pole der
Kultur bestimmt, greift diese Untersuchung auf die Begriffstrias von Symbolischem,
Imaginärem und Realem zurück, die im zeitgenössischen kulturwissenschaftlichen Diskurs
nicht nur äußerst unterschiedlich, sondern oft auch unscharf verwendet wird.62 Die
Konzentration auf wenige Autoren und eine Zurichtung der Begriffe für die Zwecke der
vorliegenden Arbeit ist damit unbedingt erforderlich. Die begriffliche Triade hat ihren
Ursprung in der Psychoanalyse von Jaques Lacan (1980/1964), der damit an Freuds
Unterscheidung zwischen dem „Es“, dem „Ich“ und dem „Über-Ich“ anknüpft. Lacans
Verständnis dieser Trias ist nicht nur außerordentlich komplex, sondern darüberhinaus auch
unterseinen Anhängern umstritten. Auch wenn sich die Terminologie von Lacan in den letzten
Jahren dank ihrer Popularisierung durch die Schriften des slowenischen Kulturtheoretikers
Slavoj Žižek (2001, 2008) einer wachsenden Beliebtheit erfreut, soll von einer Exegese dieses
„dunklen“ Autors abgesehen werden. Das gleiche gilt für Jean Baudrillard und seine
idiosynkratrische Fassung der Triade (1991). Stattdessen werden im Folgenden soziologisch
einschlägigere Autoren herangezogen, insbesondere aber die Theorie des gesellschaftlichen
Imaginären von Cornelius Castoriadis (1987), einem Sozialphilosophen und – wie Lacan –
praktizierendem Psychoanalytiker.63 Auch wenn der Begriff der Gesellschaft als imaginäre
62
Eine Ausnahmeerscheinung ist diesbezüglich der Konstanzer Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser, der
eine vergleichbare Begriffstriade vorgeschlagen hat, um die Eigenheit fiktionaler Texte zu erfassen
(1991). Das Fiktive muss sowohl von dem Realen als auch von dem Imaginären unterschieden werden.
Literatur entsteht durch einen Akt der Überschreitung, genauer durch das Fingieren, welches Reales und
Imaginäres in der symbolischen Form des Textes zusammenbringt. Das Imaginäre fungiert bei Iser als
„Ermöglichungsgrund des Textes“, der allerdings nur durch den Akt des Fingierens „konkret und somit
wirksam“ wird (1991: 50f.). Dies lässt sich auf eine soziologische Handlungstheorie übertragen, da nur
im faktischen Handlungsvollzug das soziale Imaginäre wirksam wird.
63
Der aus Griechenland stammende, aber in Frankreich lehrende Castoriadis hat sich möglicherweise durch
seinen Kollegen Lacan inspirieren lassen, auch wenn dieser in seinem opus magnum keine Erwähnung
findet. Nur an einer Stelle grenzt sich Castoriadis vom terminologischen Gebrauch des Symbolischen in
„gewissen psychoanalytischen Strömungen“ (1987: 399, Fn. 10) ab. Eine explizite Kritik an Lacan und
seinen Schülern ist allerdings in anderen Schriften zu finden (z.B. Castoriadis 1981: 100-104). Das in der
Gesellschaft als imaginäre Institution im Anschluss an Marx und die griechische Philosophie entwickelte
69
Institution im Zentrum seiner Überlegungen steht, geht er ebenfalls davon aus, dass sich
dieses Imaginäre nur in seiner Beziehung zum Symbolischen und Realen verstehen lässt.64
1.3.1. Der kulturelle Hintergrund der Sprache
Gerade weil die Begriffe „Bedeutung“ und „Sinn“ zum Kerngeschäft der Kultursoziologie
gehören, führt, will man zu einem gehaltvollen und praktikablen Kulturbegriff gelangen, kein
Weg an einer Auseinandersetzung mit Bedeutungs- und Zeichentheorien vorbei. Für die
Entwicklung der zeitgenössischen Kulturtheorien waren die Überlegungen von Ferdinand de
Saussure, der durch seinencours de linguistique générale zum Ahnvater des Strukturalismus
wurde (1967/1916), wohl am einflussreichsten. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass
Sprache (langue) als ein Hintergrund des Sprechens (parole) fungiert. Zugleich soll in einer
Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Sprachtheorie die Komplementarität von
symbolischer Ordnung und sozialem Imaginären begründet werden.
In seinen in Genf gehaltenen Vorlesungen vertrat Saussure die These, dass das sprachliche
Zeichen und seine Bestandteile im Wesentlichen psychischer oder mentaler Natur sind: „Das
sprachliche Zeichen vereinigt nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung
und ein Lautbild“ (1967/1916: 77). Bei einem Zeichen handelt es sich also zunächst um ein
reines Bewusstseinsphänomen, das aus einer Vorstellung mit intentionalem Gehalt (dem
Bezeichnetem bzw. Signifikat) und einer Wahrnehmung mit intentionalem Gehalt (dem
Bezeichnendem bzw. Signifikant) zusammengesetzt ist. Die Beziehung zwischen dem
Signifikat und dem Signifikanten ist, so lautet der erste Grundsatz von Saussure, beliebig
bzw. arbiträr.65 Diese Rede von Beliebigkeit und Arbitrarität bedeutet gerade nicht, dass „die
Bezeichnung von der freien Wahl der sprechenden Person abhinge“, sondern besagt nur, dass
Modell des Imaginären unterscheidet sich erheblich von Lacans psychoanalytischem Gebrauch der
Triade, sodass die Eigenständigkeit und Originalität von Castoriadis außer Frage steht.
64
Bei dieser Dreiteilung handelt es sich nicht etwa um eine französische Spezialität, da schon der
amerikanische Pragmatist und Begründer der Semiotik, Charles S. Peirce, um die Jahrhundertwende eine
Drei-Welten-Ontologie vertrat, die mit der Unterscheidung zwischen dem Imaginären, Symbolischen und
Realen in wesentlichen Punkten übereinstimmt (1998/1908: 434 ff.). So steht der Welt des Realen („the
brute actuality of things and facts“), das Ideelle („all mere ideas“) gegenüber, während das Universum der
Zeichen zwischen diesen beiden Polen vermittelt. Zum symbolischen Zwischenreich zählt Peirce nicht
nur sprachliche Zeichen, sondern auch Bewusstsein, Leben und gesellschaftliche Institutionen
(1998/1908: 435). Sowohl Castoriadis wie auch Peirce begreifen das Symbolische als eine notwendige
Vermittlung, ohne welche das Reale keine Bedeutung und das Imaginäre keine Existenz hätte.
65
Auch die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens bzw. Symbols findet sich schon in der Zeichentheorie
von Peirce (1998/1894). Seine semiotische Trias von Symbol, ikonischem und indexikalischem Zeichen
ähnelt im Übrigen der Unterscheidung zwischen Symbolischem, Imaginärem und Realem (1.3.2-5).
70
ein sprachliches Zeichen grundsätzlich „unmotiviert ist, d.h. beliebig im Verhältnis zum
Bezeichneten“ (1967/1916: 80). Anders gesagt: Es besteht kein natürlicher Zusammenhang
zwischen Signifikat und Signifikant. Die Arbitrarität des Zeichens ist die Bedingung der
Möglichkeit der Veränderbarkeit von Zeichen und damit auch der Historizität von Sprache.
Aus ihr folgt auch, dass die Bedeutung eines Zeichens nicht aus sich selbst heraus verstanden
werden kann, sondern sich seiner Stellung innerhalb eines Systems verdankt. Zeichen sind
nämlich „nicht positiv durch ihren Inhalt, sondern negativ durch ihre Beziehungen zu den
anderen Gliedern des Systems definiert“ (1967/1916: 139). So wie sich ideelle Vorstellungen
voneinander unterscheiden, tun dies auch die materiellen Lautbilder. Erst ihre jeweilige
Stellung in einem „System stellt die im Innern jedes Zeichens zwischen lautlichen und
psychischen Elementen bestehende Verbindung her“ (1967/1916: 144). Damit ist die
Bedeutung eines Zeichens ein Produkt seiner Differenz zu anderen Zeichen innerhalb
desselben Zeichensystems. Was beispielsweise „gut“ heißt, verstehen wir nur vor dem
Hintergrund dessen, was wir „böse“ oder „schlecht“ nennen würden. Gerade auch moralisch
und politisch besetze Begriffe wie „Folter“ bzw. „torture“ haben keine natürliche und
unveränderliche Bedeutung, sondern erhalten diese in einem Diskurs in Abgrenzung zu
anderen Begriffen wie beispielsweise „harsh interrogation technique“ (6.4), „abuse“ (7.0.1)
oder „waterboarding“ (10.4.2). Aus der Tatsache, dass sich die Bedeutung des einzelnen
Wortes aus seinen Relationen ergibt, folgert Saussure: „die Sprache ist eine Form und nicht
Substanz“ (1967/1916: 146, vgl. auch 134). Der intentionale Gebrauch von sprachlichen
Zeichen (parole) ist somit nur vor dem vorintentionalen und überindividuellen Hintergrund
eines immer schon vorausgesetzten Zeichensystems (langue) verständlich.
Die Sprachtheorie von Saussure wurde erst zum Vorbild der strukturalistischen Bewegung,
später auch zum Gegenstand der anti- und poststrukturalistischen Kritik. Dem
Kulturtheoretiker und politischen Philosoph Ernesto Laclau zufolge führt dieses formalstrukturalistische Modell des Zeichens in ein theoretisches Dilemma (1993: 432). Die
eindeutige Koppelung von einem Signifikat und genau einem Signifikanten, die sogenannte
„Isomorphie des Zeichens“, macht – gegen die ausdrückliche Absicht von Saussure – die
Einführung einer substanziellen Bedeutung erforderlich. Will man auf die Annahme einer
substanziellen Bedeutung verzichten, so muss man die Isomorphie des Zeichens aufgeben.
Letzteres geschieht in der glossematischen Schule der Linguistik, welche die semantischen
und die lautlichen Bestandteile des Zeichens weiter dekomponiert, sodass die Entsprechung
von Vorstellungsbild und Lautbild vollständig verabschiedet werden muss (Laclau 1993:
71
432f.).
Grundsätzlich lässt sich auch ein alternativer Weg zur Lösung des Dilemmas beschreiten,
den Cornelius Castoriadis in seiner Kritik der strukturalistischen Sprachtheorie vorgezeichnet
hat. Auch Castoriadis knüpft an die Zeichentheorie von Saussure und die Unterscheidung von
Signifikant und Signifikat an. Aber im Gegensatz zu Saussure und seinen strukturalistischen
Nachfolgern vertritt er die These, dass die Bedeutung eines Zeichen nicht alleine aus seiner
Differenz zu anderen Zeichen verstanden werden kann. Wer auf den Begriff einer autonomen
Bedeutung zu verzichten glaubt, so Castoriadis, schaffe den Sinn und damit den Menschen
überhaupt ab (1987: 239). Sinn bedarf zwar immer einer symbolischen Artikulation, aber er
ist „an keine besondere Signifikantenstruktur gebunden“ (1987: 237, Hervorhebung im
Original). Sinn weist einen Bedeutungsüberschuss auf, der über das einzelne Zeichen
hinausgeht. Zeichen So verweisen Zeichen immer auch auf nichtsymbolische Sachverhalte,
seien sie nun wahrgenommen, gedacht oder aber vorgestellt (1987: 241). Castoriadis möchte
an der Einsicht des Strukturalismus festhalten, dass es ohne Symbolisierung keine Bedeutung
gäbe, stellt jedoch dessen Schlussfolgerung, dass sich Bedeutung in der Symbolisierung
erschöpfe, in Frage. Für ihn stellen Bedeutungen nicht mehr nur Formen dar, also Relationen
innerhalb des Zeichens und zwischen den Zeichen, sondern sie wandeln sich – zumindest
teilweise – in eine amorphe Substanz, dem sogenannten „Magma“ des sozialen Imaginären,
das sich der differenziellen Identitäts- und Mengenlogik des Symbolischen widersetzt.66
Die beiden Auswege aus dem Dilemma schließen sich nicht aus, sondern stellen zwei
komplementäre Seiten der Kultur dar, wie dies auch schonCastoriadis Unterscheidung
zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären nahegelegt hat. Kultur kann zum einen als
differenzielle symbolische Ordnung aufgefasst werden, die als vorintentionaler Hintergrund
nicht nur dem Sprechen, sondern auch allen übrigen intentionalen Akte zu Grunde liegt. Zum
anderen muss aber auch die unaufhebbare Ambiguität und Ambivalenz von Bedeutungen
angemessen berücksichtigt werden (vgl. Giesen 2010: 17-37), weswegen Kultur immer auch
als substanzielles „Magma“ gesellschaftlicher Bedeutungen zu verstehen ist, das als soziales
Imaginäres ebenfalls einen vorintentionalen Hintergrund des Handelns und Erlebens darstellt.
66
Wie schon der vorintentionale Hintergrund (1.2.1), so lässt sich – Castoriadis zufolge – auch der Begriff
des „Magmas“ weder „in der Umgangssprache“ noch in „irgendeiner anderen Sprache angemessen“
definieren, wenngleich er sich zu folgendem Versuch hinreißen lässt: „Ein Magma ist etwas, dem sich
mengenlogische Organisationen unbegrenzt entnehmen lassen (oder: worin sich solche Organisation
unbegrenzt konstruieren lassen), das sich aber niemals durch eine endliche oder unendliche Folge von
mengentheoretischer Zusammenfassungen zurückgewinnen lässt.“ (1987: 564)
72
1.3.2. Kultur als symbolische Ordnung – Diskurse, Codes, Programme
Wenn im Folgenden von Kultur als einer symbolischen Ordnung die Rede ist, so ist damit ein
System organisierter Differenzen gemeint, das als strukturierende Struktur sozialen Prozessen
zu Grunde liegt und sich dadurch als strukturierte Struktur beständig reproduziert. Auch wenn
der vorintentionale Hintergrund die konstitutive Bedingung eines jeden intentionalen Aktes
ist, muss von einem Verhältnis der Wechselwirkung zwischen Hintergrund und Intentionalität
ausgegangen werden. Die symbolische Ordnung stellt (wie auch der kulturelle Hintergrund in
seiner Gesamtheit) ein historisch-gesellschaftliches Apriori dar und ist (einer lebendige
Sprache gleich) einem ständigem Wandel unterworfen. Dieser Kulturbegriff geht auf die
strukturalistische Tradition zurück, die von Saussure in den Grundfragen der allgemeinen
Sprachwissenschaft begründet, aber von Claude Levi-Strauss (1967) und Roland Barthes
(1985b, 2005, 2007) auf nichtsprachliche Bereiche ausgeweitet wurde. Die differenzielle
Ordnung von Zeichensystem stellt damit nicht mehr nur einen kulturellen Hintergrund des
Sprechens, sondern aller Formen von Intentionalität und Kommunikation dar. Im Folgenden
soll das Konzept der symbolische Ordnung im Anschluss an die Diskurstheorien von Laclau
und Mouffe (2000) sowie der Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie von Luhmann (1991,
1997) entlang der Begriffe „Diskurs“, „Code“ und „Programm“ näher bestimmt und
verdeutlicht werden.
Während die „Sprache“ bei Saussure ein relativ geschlossenes, aus einzelnen Zeichen
bestehendes System darstellt, handelt es sich bei einem „Diskurs“ um eine offene Totalität
von Aussagen.67 Damit wird auch das Sprechen selbst, das bei Saussure noch alleine der
Willkür des Sprechers unterliegt, einem historisch-gesellschaftlichen Apriori unterworfen.
Das Wörterbuch der Sprache und die Regeln der Grammatik ermöglichen die Artikulation
einer Vielzahl von Aussagen. Der Begriff des Diskurses trägt der Tatsache Rechnung, dass
nur ein Bruchteil dieser Aussagen in konkreten historischen Diskursen realisiert wird: Nicht
alles, was gesagt werden könnte, wird auch gesagt. So entstand nach dem 11. September 2001
ein Folterdiskurs, indem auf einmal andere Aussagen zur Folter möglich wurden, als in den
Jahren zuvor (6.4.).
Ernesto Laclau und Chantal Mouffe(2000) haben ihre Theorie des politischen Diskurses im
Rückgriff auf Foucaults Diskursanalyse und Gramscis Hegemoniebegriff entwickelt. Ähnlich
67
Den folgenden Überlegungen liegt ein strukturalistisches Diskursmodell zu Grunde, wie es sich
beispielsweise bei Foucault (2008) findet, und nicht etwa das normative Modell des rationalen und
herrschaftsfreien Diskurses, das eine Weile in Deutschland verbreitet war (vgl. 1.1.5).
73
wie Castoriadis unterziehen sie den orthodoxen Marxismus einer kulturalistischen und
poststrukturalistischen Kritik, die insbesondere die Doxa von der Determination des
kulturellen Überbaus durch die ökonomische Basis angreift. Den grundlegenden Akt der
Hervorbringung von Diskursen nennen Laclau und Mouffe „Artikulation“. Der Akt der
Artikulation bringt eine Menge heterogener symbolischer Elemente in eine Beziehung
zueinander und stellt dadurch die künstliche Homogenität des Diskurses her. Laclau zufolge
besitzt das Diskursive einen quasi-transzendentalen Status: „The basic hypothesis of a
discursive approach is that the very possibility of perception, thought and action depends on
the structuration of a certain meaningful field which pre-exists any factual immediacy” (1993:
431).68 Als gesellschaftliche Bedingung der Möglichkeit von intentionalen Akten des
Wahrnehmens, Denkens und Handelns entspricht der Diskursbegriff damit dem „Habitus“
von Bourdieu und dem „Background“ aus Searles Sozialontologie. Laclau und Mouffe weiten
die strukturalistisch-diskursanalytische Methode auf nichtsprachliches Handeln und Erleben
aus, was die bis dato gängige Unterscheidung zwischen diskursiven und nichtdiskursiven
Praktiken unterläuft (Laclau 1993: 433; Laclau & Mouffe 2000).69 Auch die sogenannten
„nichtdiskursiven Praktiken“ werden durch Diskurse formiert und informiert, was kein Primat
des Sprachlichen bedeutet. Vielmehr sind die nichtdiskursiven Praktiken selbst Bestandteile
des Diskurses.70
Als ein offenes System von Differenzen ist die Einheit des Diskurses – anders als bei der
relativ abgeschlossenen Totalität einer Sprache – nicht von vornherein gesichert. Die Einheit
des Diskurses stellt nicht nur ein praktisches, sondern auch ein theoretisches Problem dar, für
das es unterschiedliche Lösungsansätze gibt. Während der frühe Foucault noch von der
epistemeals dem generativen und einheitsstiftenden Prinzip des Diskurses spricht (2008), gibt
er dieses Konzept später zu Gunsten einer vergleichsweise flachen Konzeption des Diskurses
68
Im Gegensatz zum Apriori der Transzendentalphilosophie, das eine zeitlose Bedingung der Möglichkeit
von Erkenntnis darstellt, unterliegen Diskurse und der kultureller Hintergrund einem gesellschaftlichen
Wandel. Es handelt sich bei ihnen um historische Aprioris, die die gesellschaftlichen Grenzen des
Wahrnehmens, Denkens und Handelns bestimmen. Das Konzept des gesellschaftlichen Aprioris kann sich
auf die Kantkritik von Durkheim berufen, der die apriorischen Verstandeskategorien (2005/1912: 27-42)
und den kategorischen Imperativ (1996: 84-117) historisierte und soziogenetisch zu erklären versuchte.
69
Diese Unterscheidung findet sich beispielsweise in der Praxistheorie von Reckwitz, der allerdings von
einem Primat des Praxisbegriffs gegenüber dem Diskursbegriff ausgeht (2008).
70
Diskurse über rituelle Reinheit erschöpfen sich nicht in den kodifizierten Reinheitsgeboten und
diesbezüglichen Kommentaren, sondern beinhalten auch die rituellen Praxis, die nach den gleichen
symbolischen Differenzen operiert. Auch eine rituelle Abweichung stellt eine Aussage innerhalb des
Reinigungsdiskurses dar, auf die weitere Aussagen, seien es Kommentare oder eine veränderte
Ritualpraxis, folgen können.
74
auf, welche die Einheit des Diskurses nur noch auf der Ebene der Aussagen, dass heißt im
Spiel ihrer Differenzen, verortet. Bei Luhmann wird die Einheit eines Diskurses – zumindest
in den Funktionssystemen der modernen Gesellschaft – über einen binären Code als einer
Leitdifferenz hergestellt (z.B. Recht/Unrecht im Rechtssystem). Die Anwendung des binären
Codes schließt das System nach außen hin operativ ab. Diese Codes sind allerdings inhaltlich
unbestimmt, weswegen sie einer Festlegung auf der Programmebene bedürfen. Laclau und
Mouffe verwenden einen ähnliches Konzept, den sogenannten „leeren Signifikanten“, um den
sich die Differenzen des Diskurses als äquivalent gruppieren und in Opposition zu einem
konstitutiven Außen die Einheit des Systems herstellen (Laclau & Mouffe 2000; Laclau 2002:
65-78). Die jeweilige und zeitweilige Besetzung des leeren Signifikanten, die dem Diskurs
seine Einheit verleiht, heißt bei den beiden Autoren „Hegemonie“. Im Folgenden soll uns
zunächst das Begriffspaar „leerer Signifikant“ und „Hegemonie“, dann aber auch Luhmanns
Differenz von „Code“ und „Programm“ beschäftigen. Die folgenden Überlegungen sind nicht
nur für ein tiefergehendes Verständnis der Funktionsweise von symbolischen Ordnungen
wichtig, sondern überschreiten zugleich die Grenzen des Symbolischen auf das soziale
Imaginäre hin.71
Ein leerer Signifikant ist ein Signifikant ohne ein Signifikat. Die Vorstellung eines leeren
Signifikanten wäre für Saussure aufgrund der von ihm vertretenen Isomorphie des Zeichens
ein Ding der Unmöglichkeit, da jedem Lautbild genau eine Vorstellung zugeordnet werden
muss (1.3.1). Laclau und Mouffe, die aus theoretischen Gründen die Isomorphie des Zeichens
ablehnen, erblicken in der Existenz von leeren Signifikanten die Voraussetzung für politische
und öffentliche Diskurse. Gerade weil leere Signifikanten keine feste Bedeutung besitzen,
können sie das System, ja das Kollektiv selbst repräsentieren (vgl. Giesen 2004c: 77-80). Die
partikularen Differenzen des Diskurses werden um den leeren Signifikanten zu
Äquivalenzketten aneinandergereiht, wobei der leere Signifikant vorübergehend mit einem
partikularen Gegensatz besetzt und dadurch gefüllt werden kann. Die Äquivalenz der
Differenzen und die Besetzung des leeren Signifikats schafft eine Superdifferenz zwischen
dem Diskurs und seinem konstitutiven Außen. Ein Beispiel für die zeitweilige Besetzung des
leeren Signifikanten ist der sogenannte „Krieg gegen den Terror“ – ein globaler Diskurs, der
71
Robert Seyfert (2011) zeigt in seiner Theorie der Institutionalisierungen am Beispiel von Ernesto Laclau
und Chantal Mouffe die Unzulänglichkeit einer rein auf Differenzen beruhenden „Negativität der
Institutionalisierung“ auf. Diese erweitert er dann im Rückgriff auf die Arbeiten von Henri Bergson und
Cornelius Castoriadis um eine positive Dimension der Institutionalisierung, die sich in Teilen mit dem
hier entwickelten Begriff des Imaginären deckt (vgl. 1.3.3).
75
eine spezifische Differenz zwischen der freien Welt und ihrer Bedrohung durch Terroristen
und Schurkenstaaten zog (6.4).
Die Einsichten von Laclau und Mouffe müssen keineswegs auf politische Diskurse
beschränkt, sondern können auch auf andere gesellschaftliche Bereiche ausgeweitet werden.
So kann Wissenschaft als ein Diskurs verstanden werden, der sich um den (an sich) leeren
Signifikanten der wissenschaftlichen Wahrheit dreht. Die Frage, welche Füllung dieser
Signifikant erhält, kann nicht aus dem „Wesen“ der Wissenschaft beantwortet werden. Jede
Füllung des (an sich) leeren Signifikanten „wissenschaftliche Wahrheit“ stellt ein spezifisches
historisches Produkt dar, das jedoch für universell und zeitlos ausgegeben wird. Bei genauerer
Betrachtung fällt die Übereinstimmung zwischendem Begriff des leeren Signifikanten und
Luhmanns binären Codes ins Auge. Der binäre Code eines Funktionssystems erfüllt dieselbe
Funktion wie ein leerer Signifikant, indem er das System gegen sein konstitutives Außen,
seine Umwelt, abschließt. Der leere Signifikant und das konstitutive Außen des Diskurses
können als Form des binären Codes betrachtet werden, mit dem das System operiert. Die
grundlegende soziale Differenz zwischen Innen und Außen wird durch den symbolischen
Code des Diskurses erzeugt und repräsentiert.72 Dieses Verständnis von Diskursen als binär
codierten Systemen findet sich nicht nur bei Luhmann, sondern auch in der neueren
amerikanischen Kultursoziologie, die sich der Analysezivilgesellschaftlicher Diskurse widmet
(Smith 1991; Alexander 1993; Alexander & Smith 1994).
Mit der Arbitrarität des binären Codes stellt sich nun allerdings das Problem einer
Zuordnung von Codewerten zu einzelnen Aussagen und Handlungen. Wann ist eine Handlung
als moralisch verwerflich oder eine Aussage als wissenschaftlich gesichert anzusehen? Es
würde keinen Diskurs der Moral geben, wenn alle Handlungen moralisch wären, keinen
wissenschaftlichen Diskurs, wenn alle Aussagen wahr sein könnten (Luhmann spricht vom
Erfordernis der Limitationalität, 1991). Ohne konstitutives Außen bräche das System in sich
zusammen. Laclau und Mouffe lösen dieses Problem mit ihrem Begriff der „Hegemonie“, der
zeitweiligen Besetzung des leeren Signifikanten, während in Luhmanns Systemtheorie die
72
Die ursprüngliche Form des symbolischen Codes ist wohl Durkheims Unterscheidung zwischen dem
„Heiligen“ und dem „Profanem“ (2005/1912: 61-68), die eine Art „Mutterkuchen“ der symbolischen
Differenzierung der Gesellschaft darstellt. An die Stelle des Heiligen tritt in modernen Gesellschaften die
religiöse Transzendenz, die wissenschaftliche Wahrheit oder auch das moralisch Gute. Daran schließt
sich eine weitere Unterscheidung von Durkheim an, nämlich jene zwischen dem „reinen“ und dem
„unreinen Heiligen“ (2005/1912: 548-555). Diese Polarität des Religiösen wurde von Durkheims Schüler
Robert Hertz in seiner Studie über die Vorherrschaft der rechten Hand ausgearbeitet (2007), aufgrund der
er (zusammen mit Durkheim) zu den Gründervätern des sozialwissenschaftlichen Strukturalismus und
Poststrukturalismus gezählt werden kann (so Moebius & Papilloud 2007).
76
Zuweisung von Codewerten von „Programmen“ übernommen wird. Die Programme der
Wissenschaft sind beispielsweise Theorien und Methoden (1991: 401-432). Luhmanns
Konzeption dieser Programmierung orientiert sich am Modell der teleologischen
Intentionalität und der deontologischen Intentionalität (1.1.3-4). Im Rechtssystem dominieren
sogenannte „Kausalprogramme“ (mit wenn-dann-Klauseln), die nach Maßgabe der
rechtlichen Normen festlegen, was als Recht und was als Unrecht zu gelten hat; in der
Wirtschaft herrschen „Finalprogramme“ vor, mit deren Hilfe beispielsweise die Profitabilität
von Unternehmungen eingeschätzt werden kann (Luhmann 2000: 256-278).
Die Programmebene ist unabhängig von der Ebene des binären Codes. Dies ermöglicht
nicht nur die Existenz unterschiedlichster wissenschaftlicher Paradigmen, Rechtsordnungen
und Religionen, sondern auch interne Konkurrenz zwischen wissenschaftlichen Theorien,
Rechtsauslegungen und religiösen Schulen. Über Kausal- bzw. Finalprogramme zur
Erlangung des Seelenheils oder zur Konsolidierung eines Unternehmens lässt sich trefflich
streiten. Diese Konzeption berührt Fragen, die wir schon in dem einführenden Abschnitt zur
Handlungsintentionalität behandelt haben (1.1). Regeln, Mittel und Ziele müssen zuallererst
interpretiert und das kommunikative Einverständnis muss immer vor einem gemeinsamen
kulturellen Hintergrund erzielt werden. Hier geht die Kultur als symbolische Ordnung in das
soziale Imaginäre über, das Interpretationsfolien für die Zuweisung von Codewerten
bereitstellt. Rechtsprechung ist nicht nur einem kodifizierten Regelkanon, sondern auch dem
sich wandelnden Rechtsverständnis unterworfen. Investmententscheidungen sind nicht nur
von objektiven Kennzahlen, sondern auch von betriebswirtschaftlichen Trends abhängig.
Angesicht der inhärenten Instabilität und Unbestimmtheit des Symbolischen, für die der
Begriff des leeren Signifikanten steht, muss die Einheit des Diskurses imaginiert werden.73
Das „strong program“ von Jeffrey C. Alexander und Philip Smith (2003, 1996), das sich
einem struktural-hermeneutischen Ansatz verschrieben hat, setzt auf eine kulturalistische
Lösung des Problems der Zuweisung von Codewerten.74 Hier sind es vor allem Narrative und
Performanzen (2.2-3), die die Zuordnung eines bestimmten Codewertes nahe legen (Smith
2005; Alexander 2006b). Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2008 versuchte sich
73
Ein Vergleich des Begriffs des leeren Signifikanten und Isers „Leerstelle als ausgesparter
Anschließbarkeit“ (1994: 284-230) wäre sicherlich lohnend. Sowohl die Leerstelle im Text als auch der
leere Signifikant des Diskurses sind ein Einfallstor für das gesellschaftliche Imaginäre.
74
Vgl. hierzu die kritische Besprechung des „strong program“ bei Andreas Pettenkofer (2002), der zu Recht
auf die „Unterbestimmtheit“ und „Unentscheidbarkeit“ symbolischer Ordnungen verweist, wenn er auch
keine Hinweise gibt, wie denn damit theoretisch umzugehen sei. Die kultursoziologischen Arbeiten von
Alexander und Smith stellen nichtsdestotrotz einen Fortschritt gegenüber den bisherigen Ansätzen dar.
77
beispielsweise John McCain als „maverick“ zu inszenieren, weil er so Wähler für sich zu
gewinnen glaubte (Alexander 2010: 107f.). Die vorliegende Arbeit nimmt dieses Modell auf
und erweitert es in einer entscheidenden Hinsicht: Die Zuordnung von Codewerten durch
Performanzen, Narrative und Bilder, wie die aus Abu Ghraib, gewinnt erst vor dem
Hintergrund eines sozialen Imaginären an Plausibilität.
1.3.3. Kultur als soziales Imaginäres – Imagination, Institution, Phantasma
Schon die übersubjektive Struktur von Zeichensystemen fungiert, wie wir gesehen haben, als
ein Hintergrund intentionalen Handelns und Erlebens. Allerdings zeigte die Diskussion der
strukturalistischen Sprachtheorie und der poststrukturalistischen Diskurstheorie, dass sich
Bedeutung nicht alleine auf Zeichensysteme reduzieren lässt. Dem soll das Konzept des
sozialen Imaginären – als einem Pendant der symbolischen Ordnung – Abhilfe leisten. Folgt
man Wolfgang Iser (1991), so darf man das Imaginäre weder mit der Imagination als einem
individuellem Vermögen (Kant, Coleridge), noch mit der Imagination als einem intentionalem
Akt, der bewussten Vorstellung als einer anschaulichen Vergegenwärtigung von etwas
Abwesendem (Husserl 1980; Sartre 1980), gleichsetzen. In dieser Arbeit soll das Imaginäre
stattdessen als Teil eines kollektiven und vorintentionalen Hintergrundes konzeptualisiert
werden. In den letzten Jahren wurde der Begriff des sozialen Imaginären, der im
Wesentlichen auf Castoriadis zurückgeht (1987), unter anderem von dem Sozialphilosophen
Charles Taylor popularisiert (2002, 2005; C. Taylor 2007). Taylor führt das soziale Imaginäre
zunächst als Gegenbegriff zu „Theorie“ ein:75
I speak of “imaginary” (i) because I’m talking about the way ordinary people “imagine” their social
surroundings, and this is often not expressed in theoretical terms, it is carried in images, stories, legends,
etc. But it is also the case (ii) theory is often a possession of a small minority, whereas what is interesting
in the social imaginary is that it is shared by large groups of people, if not the whole society. Which leads
to a third difference: (iii) the social imaginary is that common understanding which makes possible
common practices, and a widely shared sense of legitimacy. (2007: 171f.)
Hier ist zunächst einmal hervorzuheben, dass das soziale Imaginäre keineswegs nur in seiner
unbestimmtesten Form als rohes Bedeutungsmagma existiert, sondern sich auch in kulturellen
Mustern und Gattungen manifestiert, die unter anderem in Bilder und Erzählungen zu Tage
treten (2.1-2). Des Weiteren gilt, dass die Kollektivität des sozialen Imaginären der
Regelmäßigkeit von sozialen Praxen vorgeordnet ist. Mit seiner Konzeption des sozialen
Imaginären geht Taylor damit über jene zeitgenössischen Praxistheorien hinaus, die Kultur
75
Im Folgenden wird Taylor im Original zitiert, da die deutsche Übersetzung der „social imaginaries“ in
„soziale Vorstellungschemata“ (2009) den Verweis auf die Debatte zum Imaginären leider etwas zu kurz
kommen lässt.
78
unmittelbar an die Praxis zu koppeln versuchen (vgl. 1.2.3).76 Stattdessen stellt er seinen
Begriff des Imaginären in einen Bezug zur aktuellen philosophischen Debatte über den
Hintergrund:
What I’m calling the social imaginary extends beyond the immediate background understanding which
makes sense of our particular practices. […] This wider grasp has no clear limits. That’s the very nature
of what contemporary philosophers have described as “background”. It is in fact that largely unstructured
and inarticulate understanding of our whole situation, within which particular features of our world show
up for us in the sense they have. It can never be adequately expressed in the form of explicit doctrines,
because of its very unlimited and indefinite nature. That is another reason for speaking here of an
“imaginary”, and not a theory. (C. Taylor 2007: 172 f.)
Die unbegrenzte und unerschöpfliche Natur des Imaginären erinnert stark an die Metapher des
Magmas bei Castoriadis, der von Taylor im Übrigen nicht erwähnt wird. Das opus magnum
von Castoriadis (1987) bleibt trotz ihrer Schwächen die bis dato ambitionierteste
Auseinandersetzung mit sozialen Imaginären. Seine recht abstrakten und nicht immer klaren
Gedankengänge sind soziologisch höchst interessant und fruchtbar, wenn auch im Folgenden
eine gewisse Reduktion von Komplexität geleistet werden muss, um seine Anschlussfähigkeit
für die empirische Sozial- und Diskursforschung zu sichern. Ausgangspunkt von Castoriadis
ist eine Kritik des zeitgenössischen Marxismus, dem er vorwirft, die menschlichen
Bedürfnisse zu natürlichen Grundbedürfnissen zu hypostasieren. Im Gegenzug macht er die
Künstlichkeit und Kontingenz von Bedürfnissen geltend, was selbst auf scheinbar basale
Bedürfnisse zutrifft. So kann sich der Mensch kann sich von seinem Selbsterhaltungstrieb
distanzieren, indem er sich in den Dienst einer (imaginären) Sache stellt: er kann aus
politischen Gründen in den Hungerstreik treten, sich in Vorbereitung auf ein wichtiges
Fußballspiel in sexueller Enthaltsamkeit üben oder gar aus einer religiösen Heilserwartung
heraus einen Selbstmordanschlag verüben. Kurzum: Das System der Bedürfnisse muss als ein
Produkt des gesellschaftlichen Imaginären verstanden werden.77 Castoriadis geißelt den
„szientifischen Positivismus“ und „ökonomischen Determinismus“ des Vulgärmarxismus und
setzt an dessen Stelle eine Theorie der Praxis, die den subjektiven, aber dennoch sozialen
Moment des praktischen Entwurfs hervorhebt. Der Entwurf ist als praktische Vorstellung auf
die Einbildungskraft angewiesen, die allerdings gesellschaftlichen Beschränkungen unterliegt.
Bei Castoriadis legt das gesellschaftliche Imaginäre fest,
76
Umso seltsamer, dass gerade Charles Taylor bei Andres Reckwitz (2006b: 478-522) als Gewährsmann
einer solchen Theorie sozialer Praktiken in Anspruch genommen wird.
77
Diese Kritik trifft natürlich nicht nur den orthodoxen Marxismus, sondern auch jene Rational-ChoiceTheorien, welche Parsons Kritik der „randomness of ends“ im Utilitarismus (vgl. 1.1.3) durch eine
positivistische Rückführung der Präferenzen auf Grundbedürfnisse entkräften möchten.
79
[…] unter welchen Bedingungen und in welchem Rahmen etwas zum Gegenstand möglichen Handelns
und Vorstellens werden kann, und gewährleistet damit von vornherein – konstruktionsgemäß, wenn man
so sagen kann – den Zusammenhalt jener undefinierten und wesentlich offenen Menge von Individuen,
Handlungen, Gegenständen, Funktionen und Institutionen im abgeleiteten und üblichen Sinne, kurz: den
Zusammenhang dessen, was jedesmal konkret eine Gesellschaft ist. (1987: 602)
Castoriadis zufolge lässt sich Geschichte nicht ohne ein produktives oder schöpferisches
Prinzip denken, das er „radikales Imaginäres“ nennt. Während das radikale Imaginäre für die
Kreativität des Handelns und die Offenheit des Geschichte steht, ist für die soziologische
Analyse von Institutionen und Gesellschaftendas aktuelle Imaginäre von weitaus größerer
Bedeutung. Im menschlichen Handeln verfestigen sich Vorstellungen und Bedeutungen
nämlich zu einem relativ stabilen System:
Ein solches System von Bedeutungen legt jeweils Aufbau und Gliederung der gesellschaftlichen Welt
fest. Sind diese Bedeutungen erst einmal konstituiert, existieren sie in einer Weise, die wir als aktuelles
Imaginäres (oder Imaginiertes) bezeichnet haben. (Castoriadis 1987: 251)
In seiner Verschränkung mit dem Realen schlägt sich das Imaginäre in gesellschaftlichen
Institutionen nieder: „Die Institution ist ein symbolisches, gesellschaftlich sanktioniertes Netz,
in dem sich ein funktionaler und ein imaginärer Anteil in wechselnden Proportionen
miteinander verbinden“ (1987: 226). Die symbolische und institutionelle Ordnung bewahrt
gegenüber dem Imaginären eine gewisse Eigenständigkeit, da sie ebenfalls vom Realen
abhängt. Selbst die wissenschaftliche Forschung ist nicht vor empirischen Überraschungen
oder Anomalien gefeit, die im herrschenden Paradigma so nicht vorgesehen waren.
Castoriadis geht davon aus, dass Institutionen in einem gesellschaftlichen Zusammenhang
bestimmte Funktionen erfüllen können. Allerdings ist er der Überzeugung, dass diese
Funktionen nicht die Entstehung und den Bestand einer Institution erklären können. Auch
Luhmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass funktionale Äquivalente zu einer gegebenen
Institution immer denkbar sind. Wie eine mathematische Funktion mehrere Lösungen besitzen
kann, gibt es auch für gesellschaftliche Anpassungsprobleme verschiedene Lösungen. Die
symbolische Superstruktur wird durch die materielle Infrastruktur niemals vollständig
determiniert. Dies bedeutet, dass die gesellschaftlichen Institutionen nur im Rückgriff auf das
soziale Imaginäre und nicht etwa durch funktionale Erfordernisse erklärt werden können. Das
Imaginäre kann auch Institutionen stützen, die ihre Funktion schon lange verloren haben.
Dem sozialen Imaginären kommt eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Konstitution
kollektiver Akteure zu, insbesondere wenn der Kreis unmittelbarer Interaktion verlassen wird.
Auch Nationen müssen als imaginierte Gemeinschaften verstanden werden; so jedenfalls die
These von Benedict Andersons bahnbrechender Studie über den modernen Nationalismus
(1996). Anderson hat zudem auf die Bedeutung von kulturellen Formen wie dem Roman
80
hingewiesen, ohne welche die Imagination der Nation seines Erachtens kaum möglich
gewesen wäre. Giesen (1999) hat im Anschluss an Anderson hervorgehoben, dass auch
nationale Gemeinschaften auf traditionelle Symbole und Rituale angewiesen bleiben. An die
Stelle des Totems tritt die Nationalfahne, die Versammlung des Stammes wird durch den
Urnengang der Wähler abgelöst. Auch Taylor misst dem gemeinschaftsstiftenden Charakter
des sozialen Imaginären eine große Bedeutung bei: So lassen sich Kollektivsingulare wie
„Volk“ und „Öffentlichkeit“ nur über kollektiv geteilte Vorstellungschemata erklären (vgl.
2007: 185-207; 4.2.5). Erst mit Hilfe der individuellen Vorstellungskraft und des sozialen
Imaginären lässt sich kollektive Intentionalität auch auf größere soziale Einheiten beziehen.
Ohne imaginierte Gemeinschaften käme kein Soldat auf die Idee, für „sein Vaterland“ sterben
zu wollen.
Das soziale Imaginäre tritt an die Stelle des überkommenen Begriffs der „Ideologie“, der
einen Zugang zur unverstellten Wirklichkeit voraussetzt.78 Wir gehen mit Castoriadis davon
aus, dass unser Zugang zur Wirklichkeit immer durch imaginäre Bedeutungen und Bilder
vermittelt wird. Dennoch gibt es einen mit der Ideologie verwandten Begriff, der für die
vorliegende Untersuchung fruchtbar gemacht werden kann. Der auf Freud zurückgehende
Begriff des „Phantasmas“ kann als eine pathologische Form des Imaginären verstanden
werden, die – durch Bedürfnisse und Emotionen motiviert – von den Zumutungen des Realen
weitestgehend abgeschirmt wird. Eine beispielhafte Analyse eines kollektiven Phantasmas hat
Philip Sarasin in seinem Buch Anthrax vorgelegt (2004). Er behandelt darin die
amerikanische Besessenheit vom „Bioterrorismus“, die erst das Thema von Kinofilmen war
und dann im Zuge des 11. Septembers 2001 virulent wurde. So wurden unmittelbar nach dem
Anschlag Teams losgeschickt, die nach Spuren eines bioterroristischen Angriffs suchen
sollten. Sarasin zufolge müssen wir uns die tatsächlichen Anthrax-Anschläge, die Amerika in
den Monaten nach 9/11 heimsuchten, als eine surreale Verwirklichung dieses Phantasmas
vorstellen. Im Laufe dieser Arbeit wird deutlich werden, dass sich auch das sogenannte
„ticking-bomb-Szenario“, das in Fernsehserien wie 24 und in Folterdiskursen eine zentrale
Rolle spielte, als Phantasma deuten lässt (6.4.3; 10.3.2; 10.4.3).
78
Allerdings kann man mit Paul Ricoeur (2005/1976) von der Ideologie und der Utopie als zwei Modi des
Imaginären sprechen. Während Ricoeur der Ideologie, die näher am aktuellen Imaginären liegt, die
Funktion der Legitimation von Autorität und der Integration von Gruppen zuschreibt, vermag es die
Utopie, die näher am Quell des radikalen Imaginären liegt, Alternativen zum Bestehenden aufzuzeigen.
81
1.3.4. Die Kultur und das Reale – Anlehnung, Ereignis, Spur
In den letzten Jahren erfreut sich das „Reale“ in den Kulturwissenschaften wachsender
Beliebtheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unmittelbarkeit versuchen Autoren wie
Gumbrecht die „Präsenz“ gegen allseitige Repräsentationen und ausufernde Interpretation
stark zu machen (2004). Aber auch sein überaus enthusiastisch begonnenes Unterfangen endet
mit der resignativen Feststellung: „In unserer Kultur kommen Präsenzphänomene stets als
‚Präsenzeffekte’ daher, denn sie werden notwendig von Wolken und Sinn umgeben,
umfangen und vermittelt“ (2004: 127). Aus kultursoziologischer Perspektive wird man noch
einen Schritt weiter gehen müssen: Präsenz ist ein Effekt, der ohne eine symbolische
Vermittlung gar nicht erst zu Stande kommt. Hier kommt die Hegelsche Einsicht zu tragen,
wonach Unmittelbarkeit notwendig vermittelt ist. In diesem Sinne soll auch das „Reale“ in
dieser Arbeit verstanden werden: Präsenz und Authentizität sind als Effekte erfolgreicher
sozialer Performanzen zu begreifen (2.2.4), Indexikalität und Realismus von Fotografien sind
einem medialen Effekt geschuldet (2.1.4) und auch die Vorfälle von Abu Ghraib werden erst
über ihre symbolisch vermittelten Effekten gesellschaftlich relevant (7.5). Dennoch stellt das
reale Ereignis („wie es wirklich war“) als unerreichbares Faszinosum eine treibende Kraft im
Diskurs dar. Es lassen sich drei Aspekte des Realen unterscheiden, die hier „Anlehnung“,
„Ereignis“ und „Spur“ genannt werden sollen.
Mit dem Begriff der „Anlehnung“ versucht Castoriadis dem schwer bestreitbaren
Sachverhalt Rechnung zu tragen, dass symbolische Unterschiede und gesellschaftliche
Bedeutungen zum Teil auf natürlichen Differenzen beruhen, ohne dass auf Letztere
unmittelbar zugegriffen werden kann (1987: 385-398). Castoriadis geht beispielsweise von
der Existenz zweier Geschlechter als einer universellen Naturtatsache aus, die allerdings mit
unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedeutungen versehen werden. Das Geschlecht sei
sowohl ein biologisches Merkmal (Sex) als auch ein kulturelles Muster (Gender). Durch diese
symbolische und imaginäre Anlehnung schreibe sich die Gesellschaft jedoch in die natürliche
Welt ein und verändere sie nach dem Bilde, das sie sich von ihr macht.79 Die Anlehnung der
Gesellschaft an die Natur ändere jedoch nichts an der Tatsache, dass natürliche Unterschiede
nur über die symbolische Ordnung und das soziale Imaginäre für die Mitglieder einer
Gesellschaft eine Bedeutung gewinnen könnten:
79
So werden die seltenen Hermaphroditen in einigen Gesellschaften umgebracht oder verehrt, in anderen
durch chirurgische Eingriffe auf ein „natürliches“ Geschlecht reduziert. Der gesellschaftliche Umgang
mit solchen „Monstern“, die aus dem Klassifikationssystem herausfallen, stellt eine Herausforderung für
Gesellschaften dar (Giesen 2010: 143-162).
82
Alles, was auf diese oder jene Weise von der Gesellschaft aufgenommen oder wahrgenommen wird, muss
etwas bedeuten, muss mit einer Bedeutung beladen sein. Mehr noch, es wird stets im Vorgriff auf eine
mögliche Bedeutung aufgenommen; nur dank dieser Möglichkeit kann schließlich auch etwas als sinnlos,
insignifikant oder absurd betrachtet werden. Es liegt auf der Hand, dass das Absurde – auch und gerade
dann, wenn es nicht auflösbar ist – nur vor dem Hintergrund eines bedingungslosen Anspruchs auf
Bedeutung erscheinen kann. (Castoriadis 1987: 394).
Der Abgrund des Absurden und Sinnlosen tut sich uns stets vor dem Hintergrund des
Bedeutsamen und Sinnhaften auf. Hier rühren wir an die zweite Bedeutung des Realen als
einem Ereignis, das in ähnlicher Weise wie die Krise auf einer Verletzung von
Hintergrundannahmen beruht (vgl. 1.2.1). Im Ereignis zeigt sich das Reale als ein Riss im
symbolischen und imaginären Bedeutungsgewebe einer Gesellschaft.80 Das unvermittelte
Hereinbrechen des Realen als außerordentliches (oft auch: traumatisches) Erlebnis ist nicht
kommunizierbar.81 Sowohl die Anlehnung als auch das Ereignis hinterlassen ihre Spuren. In
der Spur ist nicht das Reale selbst, wohl aber seine Abwesenheit erfahrbar (Krämer 2007:
14f.). Das Reale zeigt sich in dem Schock, der mit einer hereinbrechenden Krise einhergeht,
wie auch in der materiellen Spur der Fotografie, welche die Existenz des Abwesenden
beglaubigt (2.1.4). Selbst die digitale Fotografie scheint sich noch diesen Gestus bewahrt zu
haben, wie der Umgang mit den Fotografien von Abu Ghraib zeigt.
Neben dem Symbolischen und dem Imaginären lässt sich auch das Reale als ein
Hintergrund des intentionalen Handelns verstehen, was nun am Beispiel des Schmerzes näher
erläutert werden soll. Die Unaussprechlichkeit des Schmerzes ist in der Literatur ein
weitverbreiteter Topos (hierzu Lethen 2006), und auch Folteropfer betonen in ihren Berichten,
dass sich die Erfahrung von extremen Schmerzen einer Versprachlichung widersetze (Améry
2002: 73f.; Scarry 1992). Dennoch gibt es so etwas wie die Aufarbeitung einer schmerzlichen
Erfahrung, eine Versprachlichung des Unaussprechlichen. Die Tatsache, dass sich die
Empfindung des Schmerzes in besonderer Weise der symbolischen Repräsentation sperrt,
liegt möglicherweise in ihrer mangelnden Intentionalität begründet.82 Bei Schmerzen scheint
80
Das Reale tritt einerseits als eisernes Reich der Notwendigkeit in Erscheinung, dem Spontaneität und
Freiheit entgegenstehen, andererseits ist es auch die Ausnahme oder Anomalie, welche die symbolische
Ordnung sprengt und den Schleier des imaginären Weltbildes für einen Moment zerreißen lässt.
81
Vgl. den Brief an Lord Chandos von Hugo von Hoffmannsthal oder aber auch Wittgensteins
Schlussbemerkungen zum Tractatus (1984/1921: 82-85). Gerade der Chandos-Brief zeigt, wie das
Unaussprechliche zum Faszinosum und Gegenstand literarischer Umschreibungen werden kann.
Unsagbarkeit ist ein paradoxes Phänomen, da sie benannt und ausgesprochen werden muss.
82
So argumentiert Colin McGinn, dass sich nicht sinnvoll zwischen einer Schmerzempfindung und ihrem
Schmerzobjekt unterscheiden lässt (1982: 1-16). Tim Crane hält dem entgegen, dass dies wohl möglich
sei (2007: 26-34). Allerdings zielt Crane damit auf einen erweiterten Intentionalitätsbegriff ab, der
Elemente dessen enthält, was in dieser Arbeit als Hintergrund der Intentionalität eingeführt wurde (1.2).
83
es sich weniger um einen intentionalen Zustand als vielmehr um eine Störung im Hintergrund
des Bewusstseins zu handeln, die intentionale Bewusstseinsinhalte zu verdrängen droht. Das
Reale des Schmerzes birgt nicht etwa einen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit, sondern
führt in seiner äußersten Steigerung zu einem „Weltverlust“ (Scarry 1992), der die
symbolische Ordnung zerbrechen und den Quell des Imaginären versiegen lässt. Als
außerordentliches Ereignis kann das Erleiden von Schmerzen aber auch bleibende Spuren
hinterlassen, ganz wie die äußere Gewalteinwirkung am Körper zu Wunden und Narbenführt.
Jean Améry, der als Widerstandskämpfer von den Nazis gefoltert wurde, spricht von einem
Verlust an „Weltvertrauen“ (2002: 62) durch das Erleiden von Gewalt: „Wer der Folter erlag,
kann nicht mehr heimisch werden in der Welt“ (2002: 85).Für die psychischen Folgeschäden
einer extremen Schmerzerfahrung oder eines vergleichbaren Schocks hat sich das griechische
Wort für Wunde, „Trauma“, eingebürgert. Das Trauma von Gefolterten ist oft weniger der
direkten Schmerzerfahrung geschuldet als dem Zusammenbruch von Selbst und Welt, der mit
der Folter einhergeht. Die personale Identität als unverzichtbarer Hintergrund des eigenen
Erlebens und Handelns (1.2.3) kann durch die Erfahrung von Schmerz und Erniedrigung
irreparabel beschädigt werden. Dieser Riss im individuellen Hintergrund des Erlebens und
Handelns kann sich als Vertrauensverlust, oder aber in Gefühlen von Scham und Schuld, die
das Folteropfer gegenüber sich selbst hegt, äußern.
1.3.5. Latenz und Ordnung – Kulturelle Traumata und symbolischer Diskurs
Damit intentionales Handeln möglich ist, muss der vorintentionale Hintergrund des Handelns
und Erlebensdem Handelnden verborgen bleiben. Soziale Ordnung ist nur möglich, wenn
sowohl die Innenwelt als auch die Außenwelt latent gehalten werden (Giesen 2004b). Die
Existenz der unerreichbaren Außenwelt wird durch indexikalische Gesten angedeutet,
während der Gebrauch von Symbolen auf eine heilige Welt des Inneren verweist, die in ihrer
Bedeutung niemals auszuloten ist. Das Reale wie das Imaginäre treten letztendlich als
unbestimmter Rest in Erscheinung, der durch symbolische Operationen zwar handhabbar,
jedoch nie zum Verschwinden gebracht werden kann. Das Reale muss latent gehalten werden,
weil es unaussprechlich und unerreichbar ist, dass Imaginäre, weil es unerschöpflich und
unhintergehbar ist. Das Verhältnis von symbolischer Ordnung und außerordentlichem
Einbruchlässt sich mit dem Phänomen des Traumas verdeutlichen, dass in den letzten Jahren
Alain Scarry (1992) argumentiert, dass der Schmerz der einzige psycho-somatische Zustand sei, der sich
nicht auf ein externes Objekt bezöge und daher auch keinen intentionalen Gehalt besitze.
84
zunehmend in den Blickpunkt der kultursoziologischen Forschung gerückt ist (unter anderem
Caruth 1996; Giesen 2004c; Giesen & Schneider 2004; Alexander et al. 2004; 2011). Hier ist
es zunächst hilfreich, einen „psychologischen“ Traumabegriff von dem Begriff des
„kulturellen Traumas“ zu unterscheiden. Das psychologische Trauma stellt eine pathologische
Störung des Verhaltens und Bewusstseins dar, die sowohl individuell als auch kollektiv
auftreten kann, während das kulturelle Trauma auf der Ebene des Diskurses und des sozialen
Imaginären zu verorten ist. Der Begriff des Traumas und die Begriffstrias des Imaginären,
Symbolischen und Realen erhellen sich wechselseitig. So verdeutlicht Castoriadis den
Unterschied zwischen dem Realen und dem Imaginären am Beispiel des Traumas: „Das
traumatische Ereignis ist real als Ereignis und imaginär als Trauma“ (1987: 231, Fn. 35). Ein
Ereignis ist jedoch niemals an sich traumatisch, sondern kann dies nur vor dem Hintergrund
einer symbolischen Ordnung werden. In den Worten von Castoriadis:
[Ein Ereignis] ist nur deshalb traumatisch, weil es vom Individuum ‚als solches erlebt‘ wurde, und das
heißt hier: weil das Individuum ihm eine Bedeutung verliehen hat, die nicht die ‚kanonische‘ Bedeutung
dieses Ereignisses ist oder sich jedenfalls nicht zwangsläufig aufdrängt“ (1987: 231).
Das traumatische Ereignis sprengt die Ordnung des Symbolischen, den Kanon, und nistet sich
dadurch im Imaginären ein. Es verdammt zur Sprachlosigkeit, weil die überlieferte Sprache
über keine adäquaten Kategorien der Sinnstiftung mehr verfügt. Solange das Trauma im
Imaginärem verbleibt, ist es latent. Erst mit dem Versuch seiner symbolischen Artikulation
kann sich das Trauma offen manifestieren und beobachtbar werden. Dieses Modell gilt nicht
nur für das psychologische Trauma, sondern es lässt sich auch auf den kulturellen
Traumabegriff übertragen.
Kulturelle Traumata treten in öffentlichen Diskursen zu Tage. Sie gehen in der Regel auf
kollektiv erlebte Ereignisse zurück, wenn auch die Realität des Traumas nur begrenzt
Rückschlüsse auf die Realität des Ereignisses zulässt.83 Nach dem traumatischen Ereignis
treten kulturelle Traumata oft in eine Latenzphase (vgl. Giesen 2004a: 30-37), in der sie nicht
offen im Diskurs artikuliert werden können. Allerdings hinterlässt das traumatische Ereignis
auch in diesen Fällen beobachtbare Spuren, die auf ein kulturelles Trauma schließen lassen,
wie z.B. Auslassungen, Fehlleistungen, diskursive Tabus oder kompensatorische Diskurse. Es
83
Es ist durchaus vorstellbar, dass es keine reale Entsprechung für ein imaginiertes traumatisches Ereignis
gibt – und das sowohl auf der psychologischen Ebene wie auch auf der Ebene des Diskurses. Dennoch ist
die immer wieder aufkommende Debatte zwischen realistischen und konstruktivistischen Positionen
unglücklich und irreführend. Die hier vorliegende Konzeption des Traumas als dem imaginären Widerhall
eines realen Ereignisses meidet diese Extreme und möchte damit auch politisierten und wissenschaftlich
unfruchtbaren Debatten aus dem Weg gehen. Erst die Annahme eines der symbolischen Artikulation
vorgängigen Traumas ermöglicht es, mit dem fruchtbaren Konzept der „Latenzphase“ zu operieren.
85
ist keinesfalls erforderlich, dass alle Mitglieder der Gruppe, die unter einem kulturellen
Trauma leidet, die traumatische Erfahrung des Ereignisses auch selbst durchgemacht haben.
Durch Erzählungen, aber gerade auch durch Unausgesprochenes, kann ein solches Trauma
von Generation zu Generation weitergegeben werden, wie beispielsweise das Trauma der
Sklaverei bei den Afroamerikanern (Eyerman 2004). Manifest wird das Trauma aber erst
durch seine symbolische Artikulation und öffentliche Aufarbeitung. Dennoch gilt, dass sich
das reale Grauen nur als Spur in den Diskurs und die symbolische Ordnung einschreiben
kann. Das erlebte Grauen ist nichtdarstellbar. Der Topos der Undarstellbarkeit wird im
Trauma-Diskurs gerne bedient (so beim Holocaust, 6.1.3), aber zugleich versucht man auch
immer wieder, das Trauma und das traumatisches Ereignis zur Darstellung zu bringen.
In der aktuellen Forschung zum kulturellem Trauma lassen sich zwei Typen des Traumas
unterscheiden: Das „Opfertrauma“ und das „Tätertrauma“. Der paradigmatische Fall eines
kulturellen Opfertraumas ist die mittlerweile globalisierte Erinnerung an den Holocaust
(Alexander 2002, 2009a), während für das komplementäre Tätertrauma der öffentliche
Diskurs im Nachkriegsdeutschland Pate steht (Giesen & Schneider 2004). Der Opferstatus ist
durch einen Verlust an persönlicher Autonomie und körperlicher Integrität geprägt, was
wiederum die Identität des Opfers bedroht, während im Tätertrauma die moralische Integrität
und damit das Selbstbild der Täters in Frage steht (Giesen 2004c). Dem lässt sich noch ein
dritter Typus, das „Trauma des Scheiterns“, hinzufügen, wo die moralische Integrität des
Traumatisierten intakt bleibt, dieser aber an seiner Fähigkeit, zu wirken, zweifelt.84 Ein
Paradebeispiel für ein kulturelles Trauma des Scheiterns ist das amerikanische
Vietnamtrauma, auf das im späteren Verlauf der Arbeit noch einmal einzugehen ist (6.2.2).
Die Vorfälle von Abu Ghraib und die Folgen ihrer Skandalisierung wurden von den
involvierten Häftlingen und einigen Tätern ohne Zweifel als traumatisierend wahrgenommen.
Dennoch würde man weit über das Ziel hinausschießen, wenn man Abu Ghraib als kulturelles
Trauma bezeichnen würde (10.5.2). Die Enthüllungen von Abu Ghraib haben allerdings zu
einen ernsthaften Krise des amerikanischen Selbstbildes geführt (8.2). Trotzdem bleibt der
Traumabegriff für den Fortgang dieser Arbeit von Bedeutung, da die Reminiszenzen an die
Traumata von Vietnam die Wahrnehmung von Abu Ghraib und dem Irakkrieg maßgeblich
beeinflusst haben.
84
Dieser dritte Traumatypus entspricht in weiten Teilen Giesens Konzeption des „tragischen Helden“ (vgl.
2004c), jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass der tragische Held in seiner psychischen
Integrität unversehrt bleibt, während das Trauma des Scheiterns eine Störung seiner inneren Beziehung
zur Welt zur Folge hat.
86
2. Elementare Formen kultureller Repräsentation
Menschen leben in Bildern und Erzählungen, die sie in ihrem Handeln performativ zur
Darstellung bringen. Damit sind auch schon die elementaren Formen der kulturellen
Repräsentation benannt, um die es im Folgenden gehen soll: Bilder, Erzählungen und
Performanzen. In der klassischen soziologischen Handlungstheorie, aber auch in neueren
Handlungserklärungen, die auf einen vorintentionalen Handlungshintergrund setzen (z.B.
Bourdieu 1999), wurde den kulturellen Gattungen des Bildes (2.1), der Erzählung (2.2) und
der Performanz (2.3) bisher nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zuteil. Wenn
überhaupt, wurden sie in der Soziologie vornehmlich als kulturelle Artefakte zum Gegenstand
gemacht und darüber ihre Bedeutung für den kulturellen Hintergrund des Erlebens und
Handelns vernachlässigt. Ikonische, narrative und performative Muster liegen dem
menschlichen Selbst- und Weltverständnis zu Grunde, weswegen ihnen auch bei der
Erklärung des Handelns eine ursächliche Rolle zugestanden werden sollte.
Die hier vorgeschlagene Triade kultureller Repräsentationen ist keineswegs zufällig und
erhebt zudem einen Anspruch auf Vollständigkeit, wenngleich auch andere Unterscheidungen
möglich gewesen wären (wie beispielsweise die Gegenüberstellung von „Bild“ und „Sprache“
bzw. „Text“). Die elementaren Formen der kulturellen Repräsentation liegen quer zu der
Typologie symbolischer Formen, wie sie von Ernst Cassirer herausgearbeitet wurde.85
Während sich die symbolischen Formen von Cassirer in den meisten Fällen den
verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen, wie der Wissenschaft, der Kunst und
dem Recht, zuordnen lassen, sind Bilder, Erzählungen und Performanzen an kein bestimmtes
soziales
System
gebunden,
sondern
entfalten
ihre
gesellschaftliche
Wirkung
grenzüberschreitend.86 Auch die Soziologie macht sich Bilder von der Gesellschaft und
bedient sich narrativer Muster, um soziale Prozesse und gesellschaftliche Entwicklungen zu
85
In den von Cassirer ausführlich behandelten Formen symbolischer Welterzeugung, in der „Sprache“ (2001),
dem „Mythos“ (2002a) und der „Wissenschaft“ (2002b), spielt jede dieser kulturellen Gattungen eine
wichtige Rolle. Im Medium der Sprache und der Kunst kommt sie in der Dreiteilung der literarischen
Gattungen (Lyrik, Epos und Drama) zum Ausdruck. Das „mythische Denken“ äußert sich nicht nur in
Erzählungen, sondern auch in der performativen Handlungsform des Rituals (Cassirer 1955: 27f.) und in den
bildlichen Darstellungen des Totemismus (Durkheim 2005/1912).
86
Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke hat in einer Kritik von Luhmanns Systemtheorie auf die
konstitutive Bedeutung von Narrativen hingewiesen (2004). Seine Schlussfolgerungen lassen sich auch auf
Bilder und Performanzen übertragen, die in ähnlicher Weise wie Narrative die Paradoxien sozialer Systeme
verdecken bzw. produktiv entfalten und so zur Systembildung beitragen.
87
erklären; nicht zuletzt ist auch sie auf gelungene Performanzen angewiesen, um öffentlich
wirksam zu werden.
Die ikonischen, narrativen und performativen Muster, die im kulturellen Hintergrund einer
Gesellschaft verankert sind (1.2-3), besitzen in den folgenden Überlegungen eine doppelte,
wenn nicht sogar dreifache Bedeutung. Die Begriffe „Bild“, „Erzählung“ und „Performanz“
sind allgemeiner Natur und zielen vor allem auf den alltäglichen Gebrauch der Gattungen ab.
Demgegenüber stehen „Ikonen“, „Mythen“ und „Rituale“ in einer Beziehung zum
„Außerordentlichen“ und „Außeralltäglichen“ (Giesen 2010: 56-66) und damit auch zur
kollektiven Identität einer Gruppe, wie dies beim „politischen Mythos“ von Cassirer (1955)
oder auch bei Durkheims Begriff des „Heiligen“ deutlich wird (2005/1912). Der exzeptionelle
Status von Ikonen, Mythen und Ritualen weist eine polare Struktur auf, da sie die kulturellen
Muster im vorintentionalen Hintergrund maßgeblich prägen, aber auch als außerordentliche
Bilder,
Erzählungen
und
Performanzen
in
Erscheinung
treten.
Als
kulturelle
Hintergrundmuster liegen ikonische, narrative und performative Strukturen der alltäglichen
Ordnung zu Grunde und halten so die potenzielle Zerbrechlichkeit der sozialen Ordnung
latent (Giesen 2004b). Nur in Krisenzeiten treten sie aus dem kulturellen Hintergrund der
Gesellschaft ans Licht der Öffentlichkeit. Ikonen, Mythen und Rituale sind außerordentliche
Manifestationen geteilter Emotionen und kollektiver Identität, die nur zu außeralltäglichen
Anlässen mobilisiert werden. Diese „Kultbilder“, „großen Erzählungen“ oder „Zeremonien“
sind Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses und des sozialen Imaginären einer
Gesellschaft. Von dem außerordentlichen Hintergrund der sozialen Wirklichkeit über den
„profanen“ Gebrauch der Gattungen bis zu ihrer „heiligen“ Verwendung fortschreitend, lassen
sich die bisher getroffenen Unterscheidungen im folgenden Schaubild festhalten:
Kultureller Hintergrund
Gewöhnliche Gattung
Außerordentliche Verwendung
Ikonische Muster
Bilder
Ikonen (als Kultbilder)
Narrative Muster
Erzählungen
Mythen (als große Erzählungen)
Performative Muster
Performanzen
Rituale (als Zeremonien)
Ikonen stellen nicht nur herausragende Bilder dar, sondern wirken als Teil des kulturellen
Hintergrundes und kollektiven Bildgedächtnisses auf die Produktion und Rezeption von
Bildern. In ähnlicher Weise werden neue Rituale altbekannten Ritualen nachempfunden oder
rituelle Versatzstücke in sozialen Performanzen verwendet. Auch die großen Erzählungen und
88
Mythen zeichnen die Struktur von alltäglichen Erzählungen und den so genannten „Mythen
des Alltags“ (Barthes 2010) vor. Ikonen, Mythen und Rituale stehen in vielfältigen
Beziehungen zueinander – quer zu der Unterscheidung zwischen den verschiedenen Formen
der Repräsentation. Totems und Ikonen spielen als Kultbilder eine wesentliche Rolle in
Ritualen (2.1.5). Die Symbiose von Ritualen und Mythen ist unbestritten, auch wenn es eine
lang anhaltende Debatte darüber gibt, ob nun dem Ritual oder dem Mythos eine Priorität
zugestanden werden sollte.87 Darüberhinaus kommen bei der Verbreitung von Bildern,
Erzählungen und Performanzen die bereits angesprochenen kulturellen Mechanismen der
Nachahmung und Resonanz zur Anwendung (1.2.5). Bilder, aber auch Erzählungen und
Performanzen können sich mimetisch auf Gegenstände beziehen und ihrerseits wieder zum
Gegenstand der Nachahmung werden. Variationen, die sich im Prozess der Nachahmung
einschleichen oder durch einen intentionalen Akt der Gegennachahmung bewusst
hervorgebracht werden, treiben die kulturelle Diversifizierung voran. Für den Erfolg einer
Performanz, eines Bildes oder einer Erzählung ist ihre jeweilige Resonanz im kulturellen
Hintergrund des Rezipienten von entscheidender Bedeutung. Aufgrund ihres mimetischen, auf
Ähnlichkeit beruhenden Charakters, kommt nicht nur Bildern, sondern auch Erzählungen und
Performanzen eine gewisse „Bildlichkeit“ zu, weswegen sie dem sozialen Imaginären
zugerechnet werden müssen (1.3.3). Die unscharfe Logik von Bildern, Erzählungen und
Performanzen ermöglicht damit die Zuweisung von Codewerten innerhalb der symbolischen
Ordnung der Gesellschaft (1.3.2).
87
Insbesondere die „Cambridge ritualists“ und in ihrem Gefolge der späte Cassirer (1955) gehen davon aus,
dass Rituale fundamentaler als Mythen sind. Durkheim hingegen betont, dass Vorstellungen und
Überzeugungen, insbesondere aber vorintentionale Klassifikationssysteme, der Ausführung von Ritualen
vorausgehen (2005/1912: 61f.). Die vorliegende Arbeit bleibt in dieser Frage unentschieden und geht
stattdessen von einer Priorität des vorintentionalen Hintergrundes – sei er nun ikonischer, narrativer oder
performativer Couleur – gegenüber den jeweiligen intentionalen Akten aus.
89
2.1. Bild und Ikone
We shall assume that what each man does is
based not on a direct and certain knowledge, but
on pictures made by himself or given to him.
Walter Lippmann, The World Outside and
the Pictures in Our Heads (1965: 17)
In den letzten zwanzig Jahren rückte das Phänomen des Bildes zunehmend in das Zentrum
sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschungen.88 Dies zog nicht nur eine quantitative
Zunahme der Forschungsliteratur über Bilder und Visualität nach sich, sondern führte auch zu
einem qualitativen Sinneswandel und Perspektivwechsel, der die Rede von einem „iconic
turn“ (Boehm 1994a; Maar & Burda 2004), einem „pictorial turn“ (Mitchell 1994a) oder
einem „imagic turn“ (Fellmann 1995, 1991) gerechtfertigt erscheinen lässt. Die neueren
wissenschaftlichen Arbeiten zum Bild werden einerseits von dem Bewusstsein getragen, dass
Bilder die Menschheit seit ihren Anfängen begleitet haben, andererseits reagieren sie aber
auch auf eine Zeitdiagnose, die oft – ein wenig alarmistisch und apokalyptisch – als
„Bilderflut“ bezeichnet wird. Diese Schwemme von Bildern setzt mit der Erfindung und
Popularisierung der Fotografie im 19. Jahrhundert ein und erfährt durch das Aufkommen
neuer visueller Medien im 20. Jahrhundert, vor allem Film und Fernsehen, einen erneuten
Schub. Mit den medialen Revolutionen des Internets und der Digitalisierung ist die
gesellschaftliche Produktion und Rezeption von Bildern noch einmal sprunghaft angestiegen
und besitzt heute eine nie da gewesene gesellschaftliche Virulenz. Diese „Bilderflut“ ist dabei
keineswegs auf die populäre Alltagskultur beschränkt, sondern zeigt sich auch in der Praxis
der Naturwissenschaften und der Medizin (vgl. Burri 2008b). Um dieser wachsenden
Bedeutung von Bildlichkeit in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen gerecht zu werden,
musste das Bild erst aus seiner traditionellen Domäne gelöst und in den Fokus
unterschiedlicher kultur- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen gerückt werden. Im
Anschluss an die Pionierarbeiten von Aby Warburg (2000) zeichnet sich in den letzten Jahren
die zunehmende Institutionalisierung einer interdisziplinär verfahrenden Bildwissenschaft ab
(vgl. Sachs-Hombach 2005; Belting 2007).
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Bild steht vor dem Dilemma, sich entweder
88
Einige der folgenden Überlegenden, insbesondere aus dem ersten (2.1.1) und dem letzten Abschnitt (2.1.5),
wurden bereits in einem Beitrag (Binder 2012) in dem von Jeffrey C. Alexander, Dominik Bartmanski und
Bernhard Giesen herausgegebenen Sammelband Iconic Power (2012) veröffentlicht.
90
auf ein wucherndes Bedeutungsfeld einzulassen, oder aber den Phänomenbereich der Bilder
durch mehr oder minder willkürliche Definitionen einzuengen. Zwischen den Elementen des
Bedeutungsfeldes „Bild“ besteht – frei nach Wittgenstein (1984/1953) – nur eine
„Familienähnlichkeit“. Sowohl eine visuell erfahrbare Darstellung samt ihrem materiellen
Träger (picture), beispielsweise ein Gemälde oder eine Fotografie, als auch die bildliche
Darstellung selbst (image), also das, was auf einem Gemälde oder einem Foto zu sehen ist,
kann im Deutschen „Bild“ genannt werden. Wir können darüberhinaus von den mentalen
Bildern der Vorstellung und Erinnerung oder gar von der „Bildhaftigkeit der Dinge“
(Waldenfels 1994) sprechen.89 Traditionell lässt sich der Bildbegriff – wie etwa in der
Definition des ikonischen Zeichens bei Charles S. Peirce (1998/1894) – über eine
Ähnlichkeitsbeziehung bestimmen. Dagegen spricht allerdings, dass Ähnlichkeit kein
Alleinstellungsmerkmal von Bildern ist, sondern in allen Formen des Vergleichs zu finden ist.
Alle Ähnlichkeitsbeziehungen unter den Bildbegriff zu stellen, würde diesen hoffnungslos
überdehnen und dem Phänomen des Bildes nicht gerecht werden. Sehr viel grundsätzlicher
setzt hingegen die neuere Bildwissenschaft an, deren Vertreter sich in weiten Teilen gegen
einen auf Ähnlichkeiten beruhenden semiotischen Bildbegriff und die sogenannte
„Abbildtheorie“ des Bildes aussprechen. Sie können sich dabei unter anderem auf neuere
Entwicklungen in den bildenden Künsten berufen. So setzt die nichtfigurative Kunst des
Modernismus, die auf visuellen Kontrasten statt auf Ähnlichkeiten beruht, auf ein „sehendes
Sehen“, das an die Stelle des herkömmlichen „wiedererkennenden Sehens“ tritt (Imdahl
2006). Die bildtheoretischen Konsequenzen dieser Beobachtung wurden von Gottfried Boehm
mit dem Begriff des iconic turn gezogen (2.1.1). Die Arbeiten von Horst Bredekamp (2010)
zeigen, dass auch vormoderne Bilder sich nicht auf ein einfaches Abbildverhältnis reduzieren
lassen, sondern als Manifestationen eines Bildaktes begriffen werden müssen.
Trotz der mit ihm verbundenen Schwierigkeiten scheint der Bildbegriff unverzichtbar für
ein soziologisches Verständnis unserer Gegenwartsgesellschaft zu sein. Aber auch für eine
kultursoziologische Handlungstheorie ist er von großem Interesse, da der kulturelle
Hintergrund des Handelns und Erlebens bei näherer Betrachtung viele bildhafte Züge
aufweist. Nicht nur das soziale Imaginäre, das sich durch diffuse Ähnlichkeitsbeziehungen im
Gegensatz zum Identitäts- und Differenzprinzip des Symbolischen auszeichnet (1.3.2-3),
89
Letzten Endes gehören auch lautmalerische Wörter oder sprachliche Metaphern als Sprachbilder zur
entfernten Verwandtschaft des Bildes. Selbst Wittgensteins Konzept der „Familienähnlichkeit“ besitzt einen
bildlichen Gehalt, der noch über seinen metaphorischen Ursprung hinausgeht, da zwischen den Mitgliedern
einer Familie eine bildhafte Ähnlichkeit herrscht.
91
sondern auch das symbolische System der Sprache bleibt auf Lautbilder und
Vorstellungsbilder angewiesen (1.3.1). In der Wiederholbarkeit von sprachlichen Worten liegt
ihre Bildhaftigkeit und damit auch ihre soziale Wirksamkeit beschlossen. Es deutet vieles
darauf hin, dass eine Theorie des Bildes nicht ohne Relevanz für die soziologische
Theoriebildung sein dürfte.90 Die Tatsache, dass der Bildbegriff in einer Arbeit über Abu
Ghraib als einer ikonische Wendung im „Krieg gegen den Terror“ eine zentrale Rolle spielt,
bedarf hingegen keiner langen Rechtfertigung. Mentale Bilder, öffentlichen Bilder und
kollektive Selbstbilder spielen bei der Analyse des Abu-Ghraib-Skandals eine entscheidende
Rolle. Die Bilder aus Abu Ghraib sind das Resultat von performativen Gewaltritualen und
Bildpraktiken, denen ihrerseits Vorbilder zu Grunde lagen. Die Fotografien rückten im Zuge
ihrer Veröffentlichung in das Zentrum eines Medienrituals und wurden in den
unterschiedlichen sozialen Kontexten verschiedenen Bildpraktiken unterworfen. So wurden
sie als Beweismittel vor Gericht verwendet (8.5.1), in Museen ausgestellt und dienten als
Vorbilder für politisch motivierte Graffitis, Poster und Kunstwerke (9.4). Bei dem wichtigsten
Dokumentarfilm zum Skandal, Standard Operating Procedure, standen die Bilder schließlich
Pate für das Nachstellen von Schlüsselszenen (10.2.3). Einige der Bilder von Abu Ghraib sind
als säkulare Ikonen in das kollektive Bildgedächtnis der Weltgesellschaft eingegangen, dass
nicht nur in digitalen Archiven, sondern auch in menschlichen Köpfen eine Existenz besitzt.
Im Folgenden soll das „Bild“ zunächst in seinem Verhältnis zu Texten (2.1.1) und Körpern
(2.1.2) bestimmt werden, bevor dann auf die Rolle von Bildern im Erleben und Handeln
eingegangen wird (2.1.3). Die Eigentümlichkeiten der Abu-Ghraib-Bilder machen
darüberhinaus eine nähere Beschäftigung mit dem fotografischen Bildmedium (2.1.4) und
dem Konzept der säkularen Ikone (2.1.5) erforderlich.
2.1.1. Bild und Text – Vom iconic turn zu einer Hermeneutik des Bildes
Die Philosophie des 20. Jahrhunderts zeichnete sich durch eine von Wittgenstein und
Heidegger ausgehende Hinwendung zum Phänomen der Sprache aus. Sprache wurde
zeitweilig nicht mehr als ein Gegenstand unter anderen gesehen, sondern trat an die Stelle des
Bewusstseins als Fundamentalbegriff der Philosophie, wofür der Philosoph Richard Rorty den
90
Ansätze zu einer soziologischen Bildtheorie finden sich in der Monographie von Roswitha Breckner (2010),
deren Schwerpunkt auf der Interpretation von Fotografien liegt, in Jürgen Raabs Visueller Wissenssoziologie
(2008), der sich in seinen materialen Analysen vor allem mit Heimvideos beschäftigt, und in den Arbeiten
von Regula Valera Burri, die einen praxistheoretischen Ansatz vertritt, der an medizinischen Bildpraktiken
exemplifiziert wird (2008b, 2008a).
92
programmatischen Begriff des linguistic turn prägte (1967). Dieser rief bald Kritiker auf den
Plan, nun ihrerseits turns auszurufen, um der wahrgenommenen Einseitigkeit der
sprachphilosophischen Wende Abhilfe zu schaffen. Es folgte ein cultural turn, der die
Fixierung auf die gesprochene Sprache zu Gunsten eines erweiterten Textbegriffes aufgab
(vor allem Derrida 2003), der performative turn, dem es um die performative Herstellung von
Wirklichkeit ging (vgl. 2.3), und schließlich der iconic turn, der in seinen unterschiedlichen
Spielarten das Phänomen des Bildes ins Zentrum der Überlegungen stellte. Der iconic turn
geht davon aus, dass sich Bilder einer sprachlichen Logik entziehen und – da sie durch nichts
anderes verstanden werden können – aus sich selbst verstanden werden müssen. Der Begriff
des iconic turn wurde von dem Kunsthistoriker Gottfried Boehm in einem von ihm
herausgegebenen Sammelband mit klassischen und neueren Texten zum Bildbegriff geprägt
(1994b). Der Band widmet sich der, wie wir gesehen haben, tückischen Frage: „Was ist ein
Bild?“. Boehm zufolge zeichnet sich das Bild gegenüber Sprache und Text durch eine „Logik
des Zeigens“ aus (1994a, 2007).91 Das Bild „zeigt“ sich selbst, aber zugleich zeigt ein Bild
auch etwas anderes, nämlich den Bildinhalt. Es ist sowohl ein präsentierendes wie auch ein
deiktisches Zeigen. Die Fähigkeit des Bildes zu repräsentieren gründet damit in der SelbstPräsentation des Bildes. Boehms Begriff der „ikonischen Differenz“92 verweist dabei auf den
inneren Abstand zwischen Form und Inhalt, der für das Bild als solches konstitutiv ist:
Sie [die ikonische Differenz, W.B.] markiert eine zugleich visuelle und logische Mächtigkeit, welche die
Eigenart des Bildes kennzeichnet, das der materiellen Kultur unaufhebbar zugehört, auf völlig
unverzichtbare Weise in Materie eingeschrieben ist, darin aber einen Sinn aufscheinen lässt, der zugleich
alles Faktische überbietet. (Boehm 1994a: 30)
Mit dieser Bestimmung knüpft Boehm an Gadamers Überlegungen zur „Seinsvalenz des
Bildes“ an (2010/1960: 139-149), denen zufolge das Bild durch einen „Zuwachs an Sein“
gekennzeichnet ist (2010/1960: 145). Dem Bild kommt dadurch eine eigene Wirklichkeit zu,
die nicht in einem einfachen, auf Ähnlichkeit beruhendem Abbildverhältnis aufgeht. Bei
Böhm besitzt der Begriff der ikonischen Differenz mehrere Bedeutungsebenen, die hier nur
kurz angerissen werden können. Als visueller und logischer Grundkontrast bezeichnet die
91
In einer ähnlichen Weise hat schon Susanne K. Langer zwischen „discursive forms“ und „presentational
forms“ des Symbolgebrauchs unterschieden (1951: 75-94) – eine Differenzierung, die Roswitha Breckner in
ihrer Sozialtheorie des Bildes übernimmt (2010: 44-53). In dieser Arbeit steht allerdings die Unterscheidung
zwischen den verschiedenen Formen der Repräsentation im Vordergrund, da Narrationen und Performanzen
weder rein präsentativ, noch rein diskursiv sind.
92
Boehms Begriff der „ikonischen Differenz“ geht auf Gadamers Konzept der „ästhetischen Unterscheidung“
zurück (2010/1960: 91-93), die für die Einheit eines Kunstwerks konstitutiv ist und sich ihrerseits auf die von
Heidegger konstatierte „ontologische Differenz“ zwischen „Sein“ und „Seiendem“ bezieht (1986/1927: 5-15;
§ 12-14).
93
ikonische Differenz zunächst die interne Unterscheidung zwischen Bild und Bildinhalt, die es
zuallererst ermöglicht, dass auf einer zweidimensionalen Leinwand räumliche Tiefe
dargestellt werden kann. Die Unterscheidung von „Bild“ und „Bildinhalt“ konstituiert die
Einheit und Eigenheit des Bildes, die es von seinem visuellen Hintergrund abhebt. In einer
ähnlichen Weise spricht Jean-Luc Nancy vom „Distinkten“ als dem Grund der Bilder (2006).
So wie das Heilige als begrenzter Bereich (templum) vom Profanen ausgenommen ist, ist das
Bild „von einem Grund abgehoben und aus seinem Grund herausgeschnitten“ (2006: 18). Die
„ikonische Differenz“ oder das „Distinkte“ des Bildes wird durch den Rahmen eines
Gemäldes versinnbildlicht, welcher das Bild zugleich eingrenzt und von seinem Hintergrund
abhebt.
Nach Boehm lässt sich die Bedeutung der ikonischen Differenz am Besten an der inneren
Widersprüchlichkeit des Illusionismus aufzeigen (1994a: 34f.) Die legendären Trauben des
Zeuxis sollen der Legende nach derart realistisch gemalt worden sein, dass die Tauben über
sie herfielen. Damit aber hört das Bild auf, ein Bild zu sein. Die Vollendung der
illusionistischen Malerei, das Höchstmaß an Ähnlichkeit zum Vorbild, geht mit einer
Aufhebung der ikonischen Differenz einher: „Der Maler ist idealiter ein Ikonoklast“ (Boehm
1994a: 35). Aber mit dem Verschwinden der internen Differenz von Bild und Inhalt bzw.
Repräsentation und Repräsentiertem kollabiert auch die externe Differenz zur Umgebung des
Bildes. Das vollendete Bild wird zu einer identischen Kopie, zu einem Klon des abgebildeten
Gegenstands, der von diesem ununterscheidbar ist (vgl. auch Jonas 1961).93 Das Konzept der
ikonischen Differenz geht damit über das semiotische Konzept des Bildes als einem auf
Ähnlichkeit beruhenden ikonischen Zeichen hinaus. Es macht darauf aufmerksam, dass die
bildliche Distinktheit und körperliche Präsenz des Bildes grundlegende Voraussetzungen
jeder nachahmenden Darstellung sind. Auch wenn sich gerade an der abstrakten Kunst der
Moderne zeigen lässt, dass Bilder nicht auf eine Ähnlichkeitsbeziehung angewiesen sind,
bleibt für die in dieser Arbeit zu diskutierenden Fotografien und Bilder die
Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Abbild und Vorbild von eminenter Wichtigkeit. Neben der
„Ikonik“ als Kunstlehre des „sehenden Sehens“ (Imdahl 2006) wird auch weiterhin die
Ikonographie, die dem „wiedererkennenden Sehen“ auf Basis von Ähnlichkeiten verpflichtet
ist, als Methode des Bild- und Motivvergleichs benötigt.
Die ikonische Differenz ist darüberhinaus auch als eine Chiffre für die Unübersetzbarkeit
93
W. J. T. Mitchell geht der Beziehung zwischen dem „Bild“ und dem „Klon“, insbesondere aber dem
Zusammenhang zwischen „Ikonophobie“ und „Klonphobie“ in einem seiner neueren Bücher nach (2011). Im
Unterscheid dazu geht Boehm davon aus, dass ein Klon gerade kein Bild mehr ist.
94
von Bildern in Sprache und Text zu verstehen. Das Bild zeigt und enthüllt etwas. Doch das,
was sich zeigt, ist, so Wittgenstein (1984/1921), „unaussprechlich“. Dennoch bringt uns die
wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Unaussprechlichen nur weiter, wenn wir darüber
sprechen und schreiben können. In dem Moment, wo wir auf das Ausdruckmittel der Sprache
verzichten, hören wir auf, Wissenschaftler zu sein und werden, um mit Wittgenstein zu
sprechen, zu „Mystikern“. Über das absolut Unaussprechliche lässt sich nur noch schweigen.
Entgegen der Absetzbewegung des iconic turns gegenüber Sprache und Text ist daran
festzuhalten, dass sich Bilder einer sprachlichen Beschreibung und Auslegung nicht
grundsätzlich entziehen – ohne dass sie freilich im strengen Sinne bruchlos „übersetzbar“
wären.94 Nicht nur Kunsthistoriker, sondern auch die Vertreter des iconic turn produzieren
Texte über Bilder. Sie praktizieren damit immer schon eine Ikonologie – eine Rede vom Bild
im wörtlichen Sinne.95
Die vorliegende Arbeit ist einem hermeneutischen Ansatz verpflichtet, der von der
ikonischen Differenz ausgeht, sich aber dennoch der sprachlichen Arbeit am Bild nicht
verweigert. Die Interpretation von Bildern kann diese nicht durch sprachlichen Text ersetzen.
Sie bedarf der Rückbindung an das Bild, da ihre Gültigkeit immer am Bild gezeigt werden
muss. Auch in der Analyse der Abu-Ghraib-Bilder wird Erwin Panofskys Ikonologie zur
Anwendung kommen (Panofsky 1955; 1964; vgl. 7.0.1). Dabei handelt es sich um ein
dreistufiges Verfahren, dass sich in den sozialwissenschaftlichen Bildinterpretationen der
letzten Jahre ausgesprochener Beliebtheit erfreut (Müller-Dohm 1997; Müller 2003;
Bohnsack 2009). Auf der ersten Stufe geht es um eine vorikonografische Beschreibung der
gegenständlichen Darstellung auf dem Bild. Wie Panofsky demonstriert hat, handelt es sich
schon hierbei um eine Interpretation, die ein Vorwissen um Techniken und Stile voraussetzt.
Die zweite Stufe stellt eine ikonographische Analyse dar, die zum klassischen
Instrumentarium
der
Kunstgeschichte
gehört.
Hier
geht
es
darum,
bild-
und
epochenübergreifende Motive zu identifizieren, wofür Kenntnisse in der Motivgeschichte
94
Schon Ricœur argumentiert im Rekurs auf Freuds Traumdeutung, dass nicht nur Sprache als ein Text gelesen
werden kann, sondern auch Handlungen, Träume und kulturelle Produkte aller Art (1973, 1974). Dieser
Ansatz von „Kultur als Text“ liegt auch Clifford Geertzs Studie des balinesischen Hahnenkampfes zu Grunde
(1987). Der deutsche Soziologie Ulrich Oevermann geht in seiner objektiven Hermeneutik ebenfalls von der
Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit aus (1986).
95
Während Boehm und andere in ihren Arbeiten die grundsätzliche Verschiedenheit von Bildern und Texten
betonen, geht Mitchell in seiner Iconology (1987) und in seiner Picture Theory (1994b) von den vielfältigen
Verflechtungen und Interdependenzen zwischen Bildern und Texten aus – wobei seine Überlegungen
weniger grundsätzlich als die von Boehm sind. Dies mag unter anderem daran liegen, dass Mitchells pictorial
turn in der Tradition der Cultural Studies steht (vgl. 2002).
95
erforderlich sind. Die dritte Stufe, die ikonologische Interpretation, ist die eigentliche
Neuerung Panofskys und für eine kultursoziologisch verfahrende Bildhermeneutik überaus
interessant. Die ikonologische Interpretation bedient sich einer synthetischen Intuition (1955:
38), um Bilder als Manifestationen der ihnen zu Grunde liegenden kulturellen Prinzipien zu
deuten (1955: 31). Als Korrektiv der ikonologischen Interpretation bestimmt Panofsky die
Kultur-
und
Geistesgeschichte
(1964:
95f.),
was
beim
Interpreten
umfassende
kulturgeschichtliche Kenntnisse voraussetzt. Die Ikonologie behandelt Bilder als kulturelle
Symptome (1955: 38f.), die auf einen kulturellen Hintergrund verweisen, der vor aller
Intentionalität des jeweiligen Bild- und Kunstschaffenden liegt. Wir können auch von einem
„Stil“ (Fellmann 1991: 175-203), einer „Weltanschauung“ (Dilthey 1981) oder gar einem
„Weltbild“ sprechen.96
Panofsky (1989) führt in einer seiner späteren Arbeiten den Begriff des „Habitus“ ein, der
dann von Bourdieu in seine Soziologie der Praxis übernommen wurde.97 So wie der
Handlungspraxis kulturelle Prinzipien zu Grunde liegen, reichen auch Bilder und Diskurse,
trotz der prinzipiellen Unterscheidung zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren, an einen
gemeinsamen kulturellen Hintergrund heran. Dies wird insbesondere in Foucaults
Interpretation von Las Meninas deutlich (2008): Am Gemälde von Velázquez lässt sich das
klassische Konzept der Repräsentation aufzeigen, welches als kulturelles Prinzip oder
episteme auch den zeitgenössischen Diskursen zu Grunde liegt. Der Begriff des kulturellen
Hintergrundes kann diese Homologie erklären, ohne die Distinktheit der Gattungen
aufzuheben. Der Bereich des Sagbaren und der Bereich des Sichtbaren sind beide durch den
kulturellen Hintergrund einer Gemeinschaft oder Epoche von innen begrenzt und miteinander
verschränkt.
2.1.2. Bild und Körper – Repräsentation und Verkörperung
Das Verhältnis zwischen Bild und Körper ist außerordentlich vielschichtig. Bilder können
nicht nur menschliche und nichtmenschliche Körper abbilden, sondern besitzen aufgrund ihrer
räumlichen Ausdehnung und zeitlichen Dauerhaftigkeit selbst einen Körper. Darüber hinaus
96
Wittgenstein verwendet den Begriff des „Weltbildes“ (neben dem des „Sprachspiels“) für den
vorintentionalen Hintergrund des Handelns und Erlebens: „Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich
von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es
ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.“ (1984: 139; §
194)
97
Pierre Bourdieu hat die Übersetzung dieses Buches ins Französische besorgt und auch ein Nachwort verfasst,
in welchem er den Habitusbegriff zum ersten Mal verwendet (vgl. Panofsky 1967).
96
ist der menschliche Körper ein Träger von so genannten „inneren“ oder „mentalen Bildern“.
Das Verhältnis von Bild und Körper in all seinen Facetten ist der Gegenstand einer von Hans
Belting (2006) begründeten Bild-Anthropologie.98 Im Folgenden soll zunächst der Bildkörper
diskutiert werden, bevor auf das Verhältnis des Bildes zum menschlichen Körper eingegangen
wird. Abschließend wird es um „innere Bilder im Licht des imagic turn“ (Fellmann 1995)
gehen.
Bilder im engeren Sinne lassen sich als materielle Repräsentationen von räumlicher
Ausdehnung und zeitlicher Dauerhaftigkeit bestimmen, die den visuellen Sinn ansprechen.
Gegenüber den anderen kulturellen Formen zeichnen sie sich Bilder durch eine Simultanität
der bildlichen Elemente aus (Giesen 2010: 63).99 Der Rahmen des Bildes integriert die
einzelnen Bildelemente in eine simultan erfassbare und sinnlich erfahrbare Totalität. Als
künstliches Artefakt oder Gebilde ist jedes Bild zugleich ein gesellschaftliches Produkt. Somit
spielen kulturelle Muster nicht nur bei der Rezeption, sondern auch schon bei der Produktion
von Bildern eine entscheidende Rolle. Als geprägte und beharrliche Form, die sich vor dem
Hintergrund wandelnder und wechselnder Kontexte behauptet, steht das Bild nicht nur in
einem Verhältnis zu anderen Körpern, sondern besitzt selbst einen Körper. Das Phänomen des
Bildkörpers wirft ein wenig Licht auf die englische Unterscheidung zwischen picture und
image, die im deutschen Bildbegriff verloren geht. Picture bezeichnet ein Bild samt seinem
materiellen Bildkörper, während image das ideelle Bild bezeichnet, das auf dem materiellen
Träger abgebildet ist oder eine rein mentale bzw. digitale Existenz besitzt. So heißen denn
auch die Fotografien aus Abu Ghraib im Amerikanischen images – zumindest solange sie nur
auf Bildschirmen existieren und nicht ausgedruckt werden. Die Gemälde aus der Abu-GhraibReihe des Malers Fernando Botero (9.4.2) müssen hingegen pictures genannt werden.
Insbesondere die Digitalfotografie hat zu einer Flut von images geführt, die auf elektronischen
Speichermedien ein nahezu körperloses Dasein führen. Zwar ist das image nicht an einen
bestimmten Körper gebunden, aber es braucht dennoch einen Körper, sei es ein Bildschirm
oder ein menschlicher Kopf, um in Erscheinung zu treten (vgl. Belting 2006).
98
Dem Verhältnis von „Bild“ und „Körper“ aus einer soziologischen Perspektive widmen sich in verschiedener
Weise auch Roswitha Breckner und Jürgen Raab. Während Breckner (2010: 145-177) von Goffmans
Rahmentheorie ausgehend zu Beltings Bildanthropologie übergeht, versucht Raab (2008: 111-133) dem
Körperbezug von Bildern im Rückgriff auf die Phänomenologie und philosophische Anthropologie
Rechnung zu tragen.
99
Im Gegensatz zu Bildern verfährt die Sprache und die Musik sequenziell, auch wenn die verklungenen Laute
mental präsent gehalten und in ihrem mutmaßlichen Fortgang vorweggenommen werden. In ähnlicher Weise
sind auch Narrative, Performanzen und Texte durch Linearität gekennzeichnet.
97
Die Rede von einem „Bildkörper“ ist letztendlich eine metaphorische Übertragung des
menschlichen Körpers auf das Bild. Dieses Verhältnis lässt sich allerdings auch umkehren.
Der menschliche Körper fungiert nicht nur selbst als Bildträger, wie die aus vielen Kulturen
bekannte Praxis der Tätowierung zeigt, sondern stellt selbst schon ein Bild dar:
Der Mensch ist so, wie er im Körper erscheint. Der Körper ist selbst ein Bild, noch bevor er in Bildern
nachgebildet wird. Die Abbildung ist nicht das, was sie zu sein behauptet, nämlich Reproduktion des
Körpers. Sie ist in Wahrheit Produktion eines Körperbilds, das schon in der Selbstdarstellung des Körpers
vorgegeben ist. (Belting 2006: 89)
Dieser Aspekt wird auch von Boehm aufgegriffen, der – in Analogie zur ikonischen Differenz
– eine „somatische Differenz“ postuliert, die den Körper als Bildmedium konstituiert (2010:
33). Die „somatische Artikulation“ zeigt sich in der Körperhaltung, aber auch der Gestik, der
Boehm eine Verwandtschaft mit dem Zeigen der Bilder attestiert, und nicht zuletzt in der
Mimik, die insbesondere für den Ausdruck von Emotionen eine große Bedeutung besitzt. Die
Bildhaftigkeit des menschlichen Körpers wird, im Falle der Maske, als „Bild am Körper“
überdeutlich (Belting 2006: 34-38), da die Maske die natürliche Ausdrucksfähigkeit des
menschlichen Gesichtes imitiert:
Das menschliche Gesicht gilt geradezu als Nukleus einer komplexen Form von Repräsentation: Es
repräsentiert etwas, die menschliche Individualität, was es andererseits selbst (auch) ist. Dem Gesicht
haftet ein Maskencharakter an, und doch ist es zugleich Urbild der in einem weiteren
Repräsentationsschritt das Gesicht repräsentierenden Maske. Es enthält die Potentialität des SichDarstellens und des Sich-Verstellens und ist doch immer zugleich der repräsentierte Gegenstand selbst.
(Seelmann 2004: 154f.)
Die Verwandtschaft von Gesicht und Maske zeigt, dass der menschliche Körper selbst schon
ein Bild ist, bevor er sich durch Masken, Statuen oder Portraits in ein Bild verwandelt. Das
Gesicht bietet sich in besonderer Weise für eine solche Nachahmung an, da es in
unvergleichlicher Weise die Personalität eines Menschen verkörpert.100 Aus diesem Grund
verliert man auch sprichwörtlich „sein Gesicht“, wenn man seine Ehre verliert oder seiner
Würde beraubt wird (3.2.1). Dies ist von besonderer Bedeutung für die Entwürdigungen in
Abu Ghraib, da die Gefangenen auf den Bildern durch die Verhüllung der Köpfe nicht nur
ihrer Sicht, sondern auch ihres Gesichts – sprich: ihrer Humanität und Individualität – beraubt
wurden (7.1-3). Aber auch der Körper in seiner Gesamtheit kann als bildlicher Ausdruck der
Person angesehen werden.101 Die Anfertigung von Bildern des menschlichen Körpers,
100
Es ist kein Zufall, dass sich das deutsche Wort „Person“ von dem lateinischen Ausdruck „Persona“ herleiten
lässt, der die in der Antike gebräuchlichen Theatermasken bezeichnet, was wiederum auf ein griechisches
Wort für Gesicht zurückgeht (vgl. Hobbes 1999/1651: 123f.).
101
In der Phänomenologie spricht man von der Bewusstseinsleistung der „Appräsentation“, die etwas
Abwesendes, wie etwa die Rückseite eines Gegenstandes, für das wahrnehmende Bewusstsein
98
insbesondere aber von toten Körpern, stand vermutlich am Anfang der bildschaffenden
Tätigkeit des Menschen (Belting 2006: 143-188).102 Da der Körper selbst schon als Bild
begriffen werden muss, liegt den Körperbildern einen doppeltes Abbildungsverhältnis zu
Grunde: „Wo immer Menschen im Bilde erscheinen, werden Körper dargestellt. Also haben
auch Bilder dieser Art einen metaphorischen Sinn: sie zeigen Körper, aber sie bedeuten
Menschen.“ (Belting 2006: 87, Hervorhebung im Original).103 Dies hat unter anderem zur
Folge, dass die Bilder von Abu Ghraib aus einer medienethischen Perspektive problematisch
sind, da die Fotografien die Entwürdigung der Opfer festhalten und damit in gewisser Weise
wiederholen (3.2.5).
„Natürlich ist der Mensch der Ort der Bilder“ heißt es bei Belting lapidar (2006: 57;
Hervorhebung im Original). Damit sind in erster Linie die inneren Bilder der Vorstellung, der
Erinnerung und des Traumes gemeint, die sich der menschlichen Einbildungskraft verdanken.
Während eine Vorstellung etwas Abwesendes vergegenwärtigt, stellt die Erinnerung eine
spezifische Form der Vorstellung, nämlich eine Vergegenwärtigung von etwas Vergangenem,
dar. Obwohl das Gedächtnis eine Leistung der Einbildungskraft ist, dürfen Erinnerungen – so
ungenau oder falsch sie auch sein mögen – keineswegs als Fiktionen oder gar Halluzinationen
aufgefasst werden, da sie sich intern durch einen Bezug auf das Reale ausweisen (vgl. Ricoeur
2004: 23-94). Auch die klarsten Vorstellungsbilder zeichnen sich durch eine Opazität und
Unschärfe aus, wie sie für äußere Bilder ungewöhnlich ist. Über die intentionalen Akte des
Vorstellens und Erinnerns hinausgehend zeigt der Philosoph Ferdinand Fellmann, dass den
basalen Prozessen des Bewusstseins, der Wahrnehmung und des Verhaltens mentale Bilder zu
Grunde liegen (1991), die in der hier verwendeten Terminologie dem vorintentionalen
Hintergrund zugerechnet werden müssen. Für Fellmann stellen Sinneseindrücke mentale
vergegenwärtigt. In der soziologischen Phänomenologie wird der Begriff auch verwendet, um zu erklären,
warum der menschliche Körper im sozialen Alltag als indexikalisches Anzeichen für ein psychischen
Innenleben gedeutet wird (Schütz & Luckmann 1984: 178-184).
102
Belting zufolge stellt die Überwindung des Todes durch die Abbildung von Toten den Ursinn und Ursprung
des Bildes überhaupt dar: „Der Tote ist immer schon ein Abwesender, der Tod eine unerträgliche
Abwesenheit, die man mit einem Bild füllen wollte um sie zu ertragen. Deshalb haben die Menschen ihre
Toten, die nirgendwo sind, an einen ausgewählten Ort (das Grab) gebannt und ihnen im Bild einen
unsterblichen Körper gegeben: einen symbolischen Körper, mit dem sie resozialisiert werden, während sich
ihr sterblicher Körper in Nichts auflöst. Auf diese Weise wird ein Bild, das einen Toten verkörpert, zum
Gegensinn jenes anderen Bildes, als welcher sich der Leichnam selber repräsentiert“ (2006: 144,
Hervorhebung im Original). Diese konservierende Funktion des Kultbildes wurde später von dem
fotografischen Bildmedium übernommen (2.1.4).
103
Aus diesem Grund würden sich die meisten Menschen schwer tun, das Foto einer geliebten Person zu
zerreißen oder gar deren (abgebildeten) Augen mit einer Nadel zu durchstechen.
99
Bilder dar, die „interne Relationssysteme“ bilden, „an denen Intentionalität ansetzen kann“
(1991: 134). In diesem Sinne können innere Bilder keinen intentionalen Gehalt repräsentieren,
sondern verkörpern ihn in einer nichtintentionalen Weise (1995: 34-38).
Wir haben gesehen, dass der Körper in dreifacher Hinsicht als Bildmedium fungieren kann.
Erstens handelt es sich bei Bildkörpern um materielle Träger von immateriellen Bildern. Auch
der menschliche Körper, oder besser: die menschliche Haut, kann in dieser Weise als
materieller Bildträger fungieren. Zweitens stellt der menschliche Körper ein Bildmedium
mimischer und gestischer Artikulation, einen leiblichen Ausdruck seiner immateriellen Person
dar. Dies trifft auch auf Abbildungen menschlicher Körper zu, die zwar Körper darstellen,
aber Menschen bedeuten. Drittens ist der menschliche Körper der materielle Träger von
mentalen Bildern – unter anderem des gesellschaftlichen Imaginären (1.3.3), das sich in
Institutionen und Artefakten objektiviert. Regula Valérie Burri macht deutlich, dass die
mentalen Bilder nicht nur einen integralen Bestandteil des Habitus darstellen, sondern auch
für die Produktion und Rezeption äußerer Bilder von großer Bedeutung sind. Sie hebt hervor,
dass kulturelle Sehtraditionen, ästhetische Vorstellungen oder eingeübte professionelle Blickroutinen in
der Herstellung und Wahrnehmung von Bildern eine wichtige Rolle spielen. Die visuellen Kategorien
sind als ästhetische Schemata in den Akteuren inkorporiert; sie stellen gewissermaßen einen visuellen
Habitus dar. Dieser visuelle Habitus, von dem die ‚inneren Bilder‘ ein Bestandteil sind, wirkt in der
Bildproduktion und -interpretation strukturierend. (Burri 2008a: 355)
Der
menschliche
Körper
kann
nur
aufgrund
seiner
Einbildungskraft,
seines
Erinnerungsvermögens und seines inneren Bildvorrats als Produzent und Rezipient von
Bildern fungieren. Innere und äußere Bilder sind miteinander verschränkt und stellen
Momente im mimetischen Kreislauf der Bilder dar.
2.1.3. Bilder des Selbst – Image und Identität
Es gibt keinen intentionalen Akt der Wahrnehmung, der nicht schon in einen vorintentionalen
Hintergrund eingebettet wäre. Nicht erst im symbolischen Ausdruck, sondern schon im
sinnlichen Eindruck tritt uns eine geformte Einheit entgegen. Unsere Wahrnehmung besitzt
eine gestaltende, eine bildende Kraft.104 Unser Handeln und Erleben findet vor einem
kulturellen Hintergrund statt, der von ikonischen Mustern und inneren Bildern durchzogen ist.
So hat die neuere Kognitionssoziologie darauf hingewiesen, dass unsere Wahrnehmung von
104
Cassirers Ausführungen zur symbolischen Prägnanz machen deutlich, dass die passive und rezeptive
Wahrnehmung auf die Aktivität und Spontaneität des Geistes angewiesen ist, der die empfangenen
Sinnesreize erst zu einem geschlossenen Ganzen organisiert (2002b: 218-233). Diese Einsicht lässt sich an
impressionistischen Bildern, wo Farbflecken zu einem Kornfeld mit Blumen werden, und an Kippbildern, die
abwechselnd eine junge oder eine alte Frau zeigen, veranschaulichen.
100
inneren
Bilder
durchsetzt
ist
(Zerubavel
1993;
1999:
23-34);
zeitgenössische
Phänomenologen wie Ferdinand Fellmann gehen davon aus, dass „Bilder die fundamentale
Schicht der Kognition ausmachen“ (1995: 22). Wie Bernhard Waldenfels zeigt, ist schon die
alltägliche Wahrnehmung von Dingen auf eine bildhafte Typisierung der Sinnesreize und
damit auf ein Bildgedächtnis angewiesen:
Ein Ding erscheint als Bild des anderen im Falle der Wiederholung, wo ‚dasselbe‘ an einem anderen Ort
zu einer anderen Zeit, in einem anderen Medium oder Zusammenhang, auftaucht. Ohne solche Vor- und
Nachgestalten, die wir aus der Gestalttheorie kennen, gäbe es kein Sehenlernen und Kennenlernen,
sondern nur ein Mosaik einmaliger Eindrücke. (1994: 238)
Der Mensch erschafft sich die Welt der diskreten Gegenstände nach seinem eigenen Bilde.105
Diese „Bildhaftigkeit der Dinge“ trifft nicht nur auf visuell wahrgenommene Gegenstände zu,
sondern lässt sich auch auf soziologische Tatbestände übertragen. Dies zeigt insbesondere der
von Goffman (1977) populär gemachte Begriff des „Rahmens“ (frame), der ein
soziologisches Analogon zum Bilderrahmen darstellt (vgl. Breckner 2010: 149-161). Die
Analogie zum Bild trägt, da die Rahmung einer sozialen Situation als eine bildhafte
Typisierung erfolgt. Die – streng genommen – einzigartige und unwiederholbare Situation
wird dadurch zu einer typischen Situation, in der typische Handlungsmodelle oder
performative Muster, so genannte „Skripte“, als Vorbilder aktiviert werden (2.3.3). Allerdings
werden nicht nur Objekte und Situationen mit Hilfe bildhafter Schemata typisiert, sondern
auch Personen, wie nicht zuletzt die soziale Relevanz von Stereotypen zeigt (vgl. Lippmann
1965: 53-100). Aus dem sozialen Verkehr entspringt auch das Bild, das der Einzelne von sich
selbst hat und gegenüber den Anderen pflegt:
Dem Individuum wird beigebracht, wahrnehmungsfähig zu sein, auf das Selbst bezogene Gefühle zu
besitzen, und ein Selbst, das durch Image ausgedrückt wird, Stolz, Ehre Würde, Besonnenheit, Takt und
ein bestimmtes Maß an Gelassenheit zu besitzen. (Goffman 1991a: 52)
Unter „Image“ versteht Goffman ein „in Termini sozial anerkannter Eigenschaften
umschriebenes Selbstbild“, dem ein positiver sozialer Wert zugesprochen wird (1991a: 10).
Allerdings handelt es sich bei diesem Begriff gerade nicht um ein rein innerliches Selbstbild,
sondern um ein Bild des eigenen Selbst in Relation zu möglichen Interaktionspartnern. Ein
Image ist somit keine individuelle Vorstellung, sondern eine kollektive Vorstellung – ein
Fremdbild, das von außen an das Selbst herangetragen wird. An das jeweilige Image knüpfen
sich bestimmte Verhaltenserwartungen, die sich in der Unterstellung von bestimmten
105
Der Philosoph Volker Gerhardt erblickt im Individuum, im menschlichen Selbst, das „Urbild des
Gegenstands“ (2000: 68f.). In ähnlicher Weise bezeichnet Fellmann das eigene Körperbild – für ihn die
elementarste Form der Selbst-und Welterfahrung – als „Original der inneren Bilder“ (1991: 62-67).
101
Verhaltensstrategien äußern (1991a: 11f.). Da es sich dabei nicht alleine um kognitive,
sondern auch um normative Erwartungshaltungen handelt (1.1.1), besitzt das Image eine
„normative Struktur“ (Dreitzel 1962). Der obligatorische Charakter des Image wird durch
Gefühle gestützt: Normkonformes Verhalten wird durch Stolz oder Ehrgefühl belohnt,
während die Beschädigung des Images durch Scham sanktioniert wird (Goffman 1991a: 1115). Entscheidend ist, dass nicht nur der Besitzer eines Images gegenüber diesem Gefühle
hegt, sondern auch die übrigen Interaktionspartner. Oft verletzt die Beschädigung eines
Images auch die Gefühle der Anderen, was Ausgleichshandlungen erforderlich machen kann.
Da der Schutz des eigenen Images und seine Reparatur für den reibungslosen Ablauf von
Interaktionen von großer Bedeutung ist, gibt es Techniken und Rituale der Imagepflege, die
von Goffman im Detail untersucht wurden (1991a: 10-53).
Der Begriff des Image lässt sich allerdings nicht nur auf einzelne Akteure, sondern auch
auf kollektive Akteure wie Organisationen und Nationen, ja sogar auf Nichtakteure wie
Berufsgruppen oder Marken anwenden (vgl. Kautt 2008: 9f.). In Abweichung von der
ursprünglichen Definition Goffmans lässt sich auch von einem „schlechten Image“ sprechen.
Abu Ghraib wurde für die Vereinigten Staaten zu einem Imageproblem, nicht nur, weil es das
von den Amerikaner favorisierte nationale Selbstbild eines „Champions der freien Welt“
beschädigte, sondern auch, weil es ein vor allem im Ausland verbreitetes negatives Image der
Vereinigten Staaten zu bestätigen schien (8.2). Von diesem auf das öffentliche Bild des Selbst
im sozialen Verkehr abzielenden Imagebegriff ist noch einmal das private Selbstbild eines
Individuums oder einer Gruppe zu unterscheiden.106 Man kann sich ein Image zulegen, das
den eigenen Vorstellungen über einen selbst widerspricht, oder aber angesichts eines
geschädigten Rufs und Gesichtsverlustes an dem eigenen Selbstbild festhalten. Auch dieses
private Selbstbild ist letztendlich ein soziales Produkt, das aber eine relative Autonomie
gegenüber den unmittelbaren Interaktionssituationen besitzt.
Von dem öffentlichem Image und dem privaten Selbstbild muss die „Identität“ eines
Akteurs unterschieden werden. Allerdings sind die Grenzen zwischen dem reflexiven
Selbstbild und der vorintentionalen Identität durchaus fließend. Identität, in dem hier
verstandenen Sinne, ist nicht verhandelbar, sondern stellt einen vorintentionalen Hintergrund
des Erlebens und Handelns dar, der nur durch Krisen erschüttert werden kann (Giesen 1999;
1.2.2). Allerdings bleiben sowohl das Image als auch die Identität auf äußere Bilder
106
Im Englischen bietet sich hierfür der Ausdruck „self-image“ an. In einem wenig bekannten Artikel von Ralf
Dahrendorf (1961) zeigt dieser, wie das nationale Selbstbild in der amerikanischen Soziologie in hohem
Maße von europäischen Soziologen geprägt wurde.
102
angewiesen. So verknüpft Lacan die Entstehung des Selbstbildes mit der Identifikation des
Kindes mit seinem Spiegelbild: „Das Menschenjunge erkennt auf einer Altersstufe von
kurzer, aber durchaus merklicher Dauer, während der es vom Schimpansenjungen an
motorischer Intelligenz übertroffen wird, im Spiegel bereits sein eigenes Bild als solches“
(1986: 63). Erst der Spiegel ermöglicht es dem Menschenjungen, den eigenen Körper als
Ganzes, als Einheit zu erblicken.107
Gerade der Fall von Images und Identität zeigt, dass affektiv besetzte Selbstbilder eine
Handlungsrelevanz besitzen. In ähnlicher Weise können Vorbilder zu einem Teil der Identität
von Akteuren werden und diese im Handeln anleiten. Nicht zuletzt aufgrund der
Verschränkung von inneren und äußeren Bildern lässt sich diese handlungsleitende Macht
auch auf images und pictures im engeren Sinne übertragen. So haben Christoph Wulf und
Jörg Zirfas darauf hingewiesen, dass Bilder nicht selten eine mimetische Kraft zukommt, die
den Betrachter zur Nachahmung auffordert: „Bilder haben Wirkungen auf das Handeln und
Verhalten von Menschen und wirken normierend auf die Gestaltung der sozialen und
kulturellen Praktiken“ (2005: 21). Bilder dienen beispielsweise als Vorbilder des eigenen
Handelns und bei der Gestaltung des eigenen Körpers.108
2.1.4. Fotografie als Bildmedium – Realismus als medialer Effekt
Mit der Erfindung der Daguerreotypie erfolgte der unaufhaltsame Aufstieg des Bildmediums
der Fotografie. Die Fotografie und der daraus hervorgegangene Film dominieren bis heute in
der öffentlichen Bilderlandschaft – und das nicht ohne Grund. Bei der Fotografie handelt es
sich um ein ganz besonderes Bildmedium, da sie – im Sinne von Peirce – sowohl als
ikonisches Zeichen, das sich durch seine Ähnlichkeit zum Referenten auszeichnet, als auch
als indexikalisches Zeichen, das auf eine kausale Beziehung zwischen Bild und Referenten
hindeutet, verstanden werden muss:
Photographs, especially instantaneous photographs, are very instructive, because we know that they are in
certain respects exactly like the objects they represent. But this resemblance is due to the photographs
having been produced under such circumstances that they were physically forced to correspond point by
point to nature. (Peirce 1998/1894: 5f.).
Im Falle der Fotografie scheint ein technischer Mechanismus die Übereinstimmung des Bildes
107
Diese Einheit des eigenen Körpers verbleibt für Lacan allerdings im Imaginären. Die Erfahrung mit dem
Spiegelbild zeigt nämlich eine Einheit, die für den realen Körper unerreichbar ist. Das Imaginäre erweist sich
damit nicht nur als Bedingung der Möglichkeit von Selbsterkenntnis, sondern zugleich auch als notwendiges
Verkennen des eigenen Selbst.
108
Auch Horst Bredekamp (2003) unterscheidet im Anschluss an Hobbes zwischen „marks“, so genannten
„Merkbildern“, und „signs“, von denen eine direkte Aufforderung zum Handeln ausgeht.
103
mit einer bildexternen Wirklichkeit zu garantieren. Die Fotografie verweist auf eine
„notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war“ (Barthes 1985a: 86), sie ist die
bleibende Spur eines real Dagewesenen (1.3.4.).109 Fotografien sind ikonisch und
indexikalisch, mimetisch und mechanisch zugleich. Die Ähnlichkeit des fotografischen Bildes
zu seinem Original wird durch die technische Indienstnahme von Naturgesetzen verbürgt.
Einem naiven Fotorealismus sollte man als Soziologe allerdings nicht huldigen. Einerseits
sind Fotografien immer perspektivisch, andererseits ist die Kunst der Fotomontage fast so alt
ist wie die Fotografie selbst. Die Unterstellung von Indexikalität ist vielmehr der Rhetorik des
fotografischen Bildes geschuldet (Boltanski 1983). Der mediale Realismus von Fotografien
macht die intentionale Täuschung von Betrachtern durch Fotomontagen erst möglich. Die
Fotografie überzeugt, so Roland Barthes,
[…] nicht durch historische Belege, sondern durch eine neue Art von Beweisen, die – obgleich es sich um
die Vergangenheit handelt – im gewissen Sinn experimentelle und nicht mehr nur logisch erbrachte sind:
Beweis im Sinne des heiligen Thomas, der den auferstandenen Christus berühren wollte. (1985a: 90)
Barthes hat die Beziehung des fotografischen Bildmediums als eine Verlängerung der Geste
des Zeigens gedeutet: „das da, genau das, dieses eine ist’s“ (1985a: 12, Hervorhebung im
Original). Der Referent einer Fotografie lässt sich schließlich nicht mehr von seiner
fotografischen Darstellung unterscheiden (Barthes 1985a: 13). Man kann in diesem
Zusammenhang auch von einer „Transparenz des fotografischen Bildmediums“ sprechen
(Sontag 1977). Leicht drängt sich der Eindruck auf, die Fotografie sei eine „Botschaft ohne
Code“ (Barthes 2005: 12-16). Richtig ist aber vielmehr, dass der Code der Fotografie auf eine
besonders perfide Weise operiert, da sie ihre Botschaft naturalisiert:
Photographs work by twinning denotative and connotative forces, by which the ability to depict the world
as ‘it is’ is matched with the capacity to couch what is being depicted in a symbolic frame that helps us
recognize the image as consonant with broader understandings of the world. (Zelizer 2005: 31)
Fotografien bilden die Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern rahmen sie in einer Weise, dass
sich die fotografierte Wirklichkeit in einen bestehenden kulturellen Hintergrund einfügt –
wobei Fotografien natürlich nicht die Fähigkeit einbüßen, uns zu schockieren, wenn sie
bestimmten Hintergrundannahmen zuwiderlaufen. Die Fotografien entstammen selbst einem
kulturellen Hintergrund, da sie sich aus einem inneren Bildvorrat speisen: „Es sind die
symbolischen Bilder der Imagination, die von weither gekommen sind, wenn sie in dieses
technische Medium einwandern“ (Belting 2006: 214). Es versteht sich von selbst, dass diese
109
Damit ist die Fotografie nicht alleine die Spur eines fotografischen Aktes, der sich in einer bloßen Referenz
auf reales erschöpft, wie Roswitha Breckner (2010: 237-263) im Anschluss im Anschluss an Philippe Dubois
(1998) argumentiert, sondern selbst als Spur eines Realen zu verstehen.
104
Imagination in der Regel sozialer Natur ist. So bemerkte schon Pierre Bourdieu, dass der Stil
eines Fotografen in hohem Maße sozial geprägt ist, ja, als Ausdruck eines kollektiven Habitus
verstanden werden muss:
Durch die Vermittlung des Ethos, die Verinnerlichung objektiver und allgemeiner Regelmäßigkeiten,
unterwirft die Gruppe diese Praxis der kollektiven Regel, so dass noch die unbedeutendste Fotografie
neben den expliziten Intentionen ihres Produzenten das System der Schemata des Denkens, der
Wahrnehmung und der Vorlieben zum Ausdruck bringt, die einer Gruppe gemeinsam sind. (Bourdieu
1983b: 17)
Fotografien dokumentieren damit nicht nur die Intentionalität des Fotografen, sondern immer
auch dessen vorintentionalen Hintergrund. Wie Gemälde (2.1.1), so lassen sich auch
Fotografien einer ikonologischen Analyse unterziehen, wodurch der kulturelle Hintergrund
ihrer Produzenten freigelegt werden kann. Weil es sich bei jeder Fotografie nicht nur um eine
Abbildung der Wirklichkeit, sondern immer auch um den Ausdruck einer Weltanschauung
handelt, ist eine ausführliche Interpretation der Fotografien von Abu Ghraib für eine
kultursoziologische Erklärung der Missbrauchsfälle von unschätzbarem Wert (7.1-4).
Allerdings ist für die soziale Bedeutung eines Bildes nicht allein der Fotograf als abbildender
Bildproduzent ausschlaggebend, denn auch das Bildsujet und der Bildrezipient müssen als
autonome Faktoren im Produktions- und Rezeptionsprozess berücksichtigt werden. Sowohl
die Produktion (Bohnsack 2009) wie auch die Rezeption von Fotografien (Michel 2006) sind
damit von kulturellen Mustern abhängig.
Es lohnt sich, auf den fotografierten Körper als „abgebildeten Bildproduzent“ (Bohnsack
2009) etwas näher einzugehen. Eine Person, die weiß, dass sie fotografiert werden soll,
beteiligt sich aktiv an der Bildproduktion. So bekennt Barthes: „Sobald ich nun das Objektiv
auf mich gerichtet fühle, ist alles anders: ich nehme eine ‚posierende‘ Haltung ein, schaffe mir
auf der Stelle einen anderen Körper, verwandle mich im voraus zum Bild“ (1985a: 18f.).
Nicht erst die Fotografie verwandelt den abgebildeten Körper in ein Bild; vielmehr ist es
zunächst der Körper selbst, der sich im Posieren für die Kamera zum Bild macht.110 Der Pose
als einer bewussten Selbstdarstellung entspricht der intendierte Ausdrucksstil von Bohnsack
(2009). Daneben lässt sich allerdings auch noch ein unintendierter Ausdruckstil – der
kulturelle Hintergrund oder Habitus – beobachten, welcher die Bemühungen des intendierten
Stiles konterkarieren und zunichte machen kann. Neben den abbildenden und den
110
Erst das „Klicken des Auslösers [...], welches das Leichentuch der POSE zerreißt“ (Barthes 1985a: 24),
weckt den Posierenden aus seiner Totenstarre. Barthes wendet die Idee der Pose sogar auf die
gegenständliche Fotografie an, ja erhebt sie sogar zum Prinzip der Fotografie überhaupt: „Ich kann es nicht
anders ausdrücken: Was die Natur der Fotografie begründet, ist die Pose“ (1985a: 88).
105
abgebildeten Bildproduzenten sind natürlich auch die Rezipienten – als antizipiertes Publikum
und unabhängige Deutungsinstanz – zu berücksichtigen. Die Täter von Abu Ghraib fertigten
die Fotografien zunächst einmal für den Gebrauch in der eigenen Gruppe an: Sie waren
zugleich Produzenten und Rezipienten der Bilder. Allerdings weitete sich der Kreis der
Rezipienten immer weiter aus: Die Bilder zirkulierten erst unter den Soldaten, bis die
Fotografien schließlich über Militär und Medien in die Weltöffentlichkeit gelangten (8.1). Es
versteht sich von selbst, dass die Bilder von jedem Publikum anders interpretiert wurden.
2.1.5. Säkulare Ikonen – Heilige Bilder und kultische Praxis
Patrick Maynard (1983) hat in einem bemerkenswertem Dialog über die Fotografie den
Begriff der „säkularen Ikone“ eingeführt. Ihm zufolge teilen Fotografien wesentliche
Charakteristika mit den religiösen Ikonen in der orthodoxen Kirche. Die folgenden
Überlegungen greifen diese Rede vom „secular icon“ auf, versuchen dem Begriff aber eine
spezifischere Fassung zu geben (vgl. auch Binder 2012). In der englischen Sprache steht das
Wort
„iconic”
nicht
nur
für
die
Visualität
materieller
Objekte
oder
für
die
Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem (Peirce 1998/1894), sondern
auch für die Eigenschaft von Gegenständen, Fokalobjekte eines Kultes zu sein – egal ob es
sich dabei um einen klassischen Text oder eine berühmte Melodie handelt.111 Aber auch im
Deutschen sprechen wir nicht nur von Gemälden als Ikonen, sondern beispielsweise auch von
Pop-Ikonen. Während in der englischen Debatte der Gebrauch des Wortes eher schillernd ist,
wird im deutschsprachigen bildwissenschaftlichen Diskurs der Begriff „ikonisch“ in erster
Linie dazu verwendet, um Visualität und Bildhaftigkeit gegenüber Sprache abzugrenzen
(2.1.1). Unter religiösen und säkularen Ikonen sollen in dieser Arbeit ausschließlich Bilder
verstanden werden, die zugleich Fokalobjekte eines Kultus sind. Es geht also um die
Schnittmenge zwischen einem auratischen und einem visuellen Begriff von Ikonizität. Im
Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, über welche Qualitäten ein Bild verfügen
muss, um zu einer Ikone werden zu können.
Ausgangspunkt ist die – kultursoziologisch eher triviale – Feststellung, dass der soziale
Gebrauch eines Bildes für seinen Status als Ikone entscheidend ist. Es ist der sogenannte
„Kultwert“ des Bildes im Gegensatz zu seinem „Ausstellungswert“ (vgl. Benjamin 2006:
360f.), der Ikonen vor anderen Bildern auszeichnet. Der kultische Gebrauch eines Bildes
111
So finden sich in einem jüngeren Sammelband zur „iconic power“ von Jeffrey C. Alexander, Dominik
Bartmanski und Bernhard Giesen (2012) auch Beiträge zu „ikonischen“ Weinen und Musikfestivals – eine
Verwendung des Begriffs „iconic“, die Giesen in seinem Nachwort scharf kritisiert (2012: 249).
106
verleiht diesem seine „Aura“. Entgegen der Entzauberungsthese von Walter Benjamin (2006),
die besagt, dass die mechanische Reproduktion von Kultgegenständen diese ihrer Aura
beraube, wird hier die These vertreten, dass es keinen inhärenten Widerspruch zwischen der
Fotografie als einem beliebig reproduzierbaren Bild und ihrem möglichen kultischen
Gebrauch gibt. Eine Ikone kann – gemäß der Ritualkonzeption des späten Durkheim
(2005/1912) – als ein bildliches Symbol verstanden werden, welches die Kultgemeinschaft
repräsentiert und kollektive Gefühle speichert. Über den kollektiven Kult grenzt sich nach
Durkheim das öffentliche und heilige Leben der Gesellschaft vom privaten und profanen
Leben ihrer einzelnen Mitglieder ab. Es lohnt sich, einmal näher auf die eigentümliche
Beziehung von Ritual und Bild einzugehen, in dem auch der Ursprung der modernen Kunst zu
suchen ist. Hans Belting (2004) hat in einer materialreichen Arbeit die These von Benjamin
untermauert, dass Bilder vor dem Zeitalter der Kunst überwiegend in kultischem Gebrauch
waren. Die Vorgeschichte des modernen Bildes verweist auf den religiösen Gebrauch von
Bildern als Ikone. Belting zufolge handelt es sich bei religiösen Ikonen um Gemälde, die als
Heiligendarstellungen
sowohl
Teil
einer
religiösen
Praxis
als
auch
Teil
einer
Erinnerungskultur waren:
Eine wichtige Erfahrung der Ikone bestand schließlich in ihrer kultischen Inszenierung. Man stellte sie an
den Festtagen auf, an denen man auch die Lesungen aus der Biographie hörte. Das Gedächtnisfest wartet
mit den Gedächtnisübungen der Texte auf und findet den Mittelpunkt im Gedächtnisbild. Indem man das
Bild ehrt, bezeugt man ihm eine Gedächtnisübung ritueller Art. Es war oft nur zugänglich, wenn es einen
offiziellen Anlass gab, es zu ehren. Man konnte es nicht als unverbindlich betrachten, sondern nur
akklamieren im Bekenntnis der Gemeinschaft nach einem vorgeschriebenen Programm und an einem
festgelegten Tag. Diese Praxis nennt man Kult. (Belting 2004: 24)
Hier wird deutlich, dass die Verehrung von Ikonen eine soziale Verbindlichkeit beanspruchte.
Aber nicht nur die mittelalterlichen Ikonen waren solche Kultbilder, sondern schon die
Totems archaischer Völker, in der die kollektive Imagination einer Gemeinschaft ihren
materiellen Ausdruck fand (Durkheim 2005/1912). Von religiösen Kulten im engeren Sinne
lassen sich säkulare Kulte unterscheiden, wie beispielsweise Durkheims „Kult des
Individuums“ (1986/1898) oder auch Formen des Patriotismus. Die Funktion von religiösen
Ikonen als Trägern eines kulturellen Gedächtnisses lässt sich hierbei auch auf säkulare Ikonen
übertragen. Wie wir sehen werden, kommt ikonischen Fotografien bei der Erinnerung an
historische Ereignisse eine große Rolle zu (6.1-2).
Benjamin (2006) vertrat in seinem Kunstwerkaufsatz die These, dass sich die mechanische
Reproduzierbarkeit von Objekten zu Lasten ihres Kultwertes auswirken würde. Dies trifft
aber nur begrenzt auf Kunstwerke und erst recht nicht auf andere soziale Artefakte zu. Die
fotomechanische Vervielfältigung von Gemälden trug vielmehr dazu bei, dass bestimmte
107
Gemälde zu Ikonen der Kunstgeschichte wurden. Auch die industrielle Massenfertigung von
Nationalflaggen oder Fan-T-Shirts tut deren Kultstatus keinen Abbruch. Ja, gerade auch
Fotografien, die beliebig vervielfältigt werden können, sogar Digitalfotografien, bei denen es
kein Original im strengen Sinne mehr gibt, können – wie nicht nur der Abu-Ghraib-Skandal
zeigt – zu säkularen Ikonen werden. Die Fotografien aus Abu Ghraib wurden zu Kultobjekten
eines Medienrituals. Sie wurden in den Massenmedien gezeigt, besprochen und in Erinnerung
gerufen. Darüberhinaus wurden sie in Museen ausgestellt und dienten als Vorbilder für
politische Kunst (9.4). Der Historiker Gerhardt Paul, der sich seit längerem mit ikonischen
Fotografien beschäftigt, führt in seinem Aufsatz über die „mushroom cloud“ mehrere
Kriterien für Ikonizität an:
Nur solche Bilder ragen als Medienikonen aus der alltäglichen Bilderflut heraus, die zusätzlich zu ihrer
inhaltlichen Bedeutung einige bildimmanente ikonische Qualitäten besitzen: eine prägnante optische
Qualität und Klischeehaftigkeit, die ein schnelles Wiedererkennen ermöglicht; eine affektive Qualität und
Offenheit, durch die sich ein Bild als Projektionsfläche kollektiver Identifikationen, Hoffnungen, Ängste
und Deutungen eignet, sowie eine herausragende ikonographische Qualität, die dem Bild durch seine
kompositionelle Struktur, durch einen Archetypus oder ein religiöses Klischee eine besondere Aura
verleiht und auf im Gedächtnis abgespeicherte Vor- und Urbilder verweist. (Paul 2006: 342f.)
Entscheidend
für
die
Ikonisierung
eines
Bildes
ist
zum
einen
die
kognitive
Wiedererkennbarkeit von Motiven und Vorbildern, zum anderen aber die affektive Besetzung
des Bildes. Eine Medienikone changiert darüberhinaus zwischen Prägnanz und Offenheit,
muss aber in ihrer Bedeutung dennoch generalisierbar bleiben. Am Ende der Inthronisierung
einer Ikone steht ihre Kanonisierung, durch die sie zu einem Teil des gesellschaftlichen
Bildvorrates wird. Paul (2006) unterscheidet zwischen vier Formen der Kanonisierung: der
„medialen Kanonisierung“, die sich durch ihre kontinuierliche Re-Inszenierung in
unterschiedlichen medialen Teilkulturen vollzieht, der „kulturellen Kanonisierung“ in Kunst
und Kultur, der „ökonomische Kanonisierung“ im Bereich der Alltagskultur sowie der
„politischen Kanonisierung“ innerhalb bestimmter Kampagnen. Alle vier Formen der
Kanonisierung finden sich auch bei den Abu-Ghraib-Bildern, die nicht nur in den Medien
gezeigt wurden, sondern auch in popkulturelle Bereiche der Alltagskultur eingeflossen sind
(10.3). Die kulturelle und politische Kanonisierung gingen dabei oft Hand in Hand (9.4).
Säkulare Ikonen dürfen aber nicht nur den Kriterien für ikonische Fotografien genügen,
sondern müssen das Heilige einer Gesellschaft verkörpern, ohne deswegen religiös zu sein.
Die Heiligkeit religiöser Ikonen basiert auf ihrer Ähnlichkeit zu Vorbildern, die ihre
Heiligkeit schon durch Wunder unter Beweis gestellt haben. In der Indexikalität eines Bildes
kann das Heilige auch als materielle Spur anwesend sein. Paradigmatisch ist hier das
sogenannte „Schweißtuch der Veronika“, das den Abdruck des Gesichtes von Christus tragen
108
soll. Die Ähnlichkeit des Abdrucks zum Original wird hier nicht durch den von Gott
inspirierten Künstler verbürgt, sondern durch das Naturgesetz der Kausalität – wie bei der
Fotografie. Und damit kommen wir zum ersten Kriterium von säkularen Ikonen, ihrer
„Indexikalität“. Die Tatsache, dass die Rhetorik des fotografischen Bildes der Indexikalität
von säkularen Ikonen zugute kommt, lässt Fotografien als besonders aussichtsreiche
Kandidaten für säkulare Ikonen erscheinen. In einem übertragenden Sinn können sich auch
Gemälde der Indexikalität bedienen. So verweist Picassos Gemälde Guernica – eine der
wenigen Ikonen des 20. Jahrhunderts, bei der es sich nicht um eine Fotografie handelt – auf
ein reales Ereignis, das zum Anlass für das Bild wurde. Obwohl der Bezug zu diesem Ereignis
nur über den Titel angezeigt wird und obwohl, ja gerade weil das Bild keine realistische
Darstellung des Ereignisses zu geben versucht, ist es dem Bild möglich, das „reale“ Grauen
des Krieges zu repräsentieren.
Das zweite Kriterium für Ikonizität von Bildern, die „Transzendenz“, zielt auf die
Generalisierbarkeit und kollektive Bedeutung von säkularen Ikonen ab. Säkulare Ikonen
verweisen nicht nur auf das Reale, sondern auch über sich hinaus, auf die soziale Gruppe als
Kultgemeinschaft. Transzendenz lässt sich nach Durkheim als die Überschreitung des
Individuums durch die soziale Gruppe deuten. Für den ikonischen Status des Schweißtuches
der Veronika war entscheidend, dass es nicht nur die Spur eines x-beliebigen Toten trug,
sondern eben die von Christus, einer positiven Verkörperung des Heiligen, der das
Christentum als imaginierte Gemeinschaft repräsentierte. Gemeinschaften können aber nicht
nur durch positive Symbole repräsentiert werden, es gibt auch die Möglichkeit einer
impliziten Repräsentation durch Negativsymbole. Bernhard Giesen (2005) zufolge kommt es
in der säkularisierte Moderne nicht zu einem umfassenden Transzendenzverlust, sondern zu
einer Umstellung von positiven auf negative Transzendenzen. Darstellungen von
Menschenrechtsverletzungen und das per se sinnlose Leiden der Opfer treten damit an die
Stelle des Göttlichen. Während sich das alte Religiöse in der Welt offenbarte, scheint die
Würde des Menschen und die moralische Ordnung moderner Gesellschaften nur in ihrer
Verletzung auf (3.2; 4.1). In diesem Sinne beschreibt Susan Sontag ihren ersten Kontakt mit
Bildern aus den Konzentrationslagern als „negative Epiphanie“ und „moderne Offenbarung“
(1978). Auch Guernica verweist auf eine menschliche Katastrophe, einen Zusammenbruch
des Sinns, wobei das Bildelement der elektrischen Lampe, so jedenfalls die Interpretation von
Carlo Ginzburg (1999), für jene negative Form des Heiligen steht, die Georges Bataille (1999)
als „verdorbene Sonne“ bezeichnet hat. Über diesen Bezug auf das Heilige erhalten säkulare
109
Ikonen eine normative Dimension. Sie stellen nicht nur etwas dar, sondern an den Betrachter
ergeht zugleich eine Handlungsaufforderung – beispielsweise unschuldiges Leiden in Zukunft
zu verhindern.112 Im Gegensatz zum Begriff der „Medienikone“ bei Paul (2006) verweist die
„säkulare Ikone“ noch auf ihre religiöse Erbschaft, wenn auch der moderne Kult des Opfers
an die Stelle des Kultes der Religion tritt. Dennoch wird nicht jede Darstellung menschlichen
Leids und unmenschlicher Erniedrigung zu einer säkularen Ikone. Es muss weitere Merkmale
geben, die den kultischen Gebrauch eines Bildes als säkulare Ikone nahelegen.
Die weiteren Kriterien versuchen der Offenheit und Mehrdeutigkeit von Bildern im
Allgemeinen und säkularen Ikonen im Besonderen Rechnung zu tragen. So unterscheidet
Burkard Michel (2006: 76-85) zwischen einer „fundamentalen Offenheit“, die allen Werken
und Bildern zu eigen ist, sowie einer „spezifischen Offenheit“, die erst durch Leerstellen im
Bild geschaffen wird. Darüberhinaus trifft er eine Unterscheidung zwischen der
„syntagmatischen Offenheit“, dem Spannungsverhältnis zwischen einzelnen Bildelementen,
und der „paradigmatischen Offenheit“, die auf der Mehrdeutigkeit von Bildelementen beruht
(2006: 85-92). Das dritte Kriterium der Ikonizität, das im folgenden „Ambiguität“ genannt
wird, entspricht damit der syntagmatischen Offenheit, die durch Leerstellen im Bild erzeugt
wird. Die Leerstelle im Bild fungiert als „ambigues Objekt“ im Sinne des russischen
Formalisten Shklovsky (1990/1925). Das ambigue Objekt stellt den Betrachter vor ein Rätsel,
es zwingt ihn zur Deutung, oft fordert es ihn dazu auf, eine Geschichte zu erzählen. Jede
Interpretation muss als Versuch angesehen werden, diese syntagmatische Offenheit zu
schließen.113 Säkulare Ikonen verschließen sich allerdings einer totalisierenden Interpretation
und bewahren sich so eine Restunbestimmtheit. Für sie gilt in besonderem Maße: „Gute
Bilder sind Rätsel, die nicht gelöst werden können“ (Giesen 2010: 63).
Das vierte und letzte Kriterium ist schließlich die „symbolische Überdeterminiertheit“ des
Bildes, die als paradigmatische Offenheit verstanden werden kann. So können bildliche
Elemente mehrere Konnotationen haben und unterschiedliche Assoziationen beim Betrachter
hervorrufen. Bildmotive können auf andere Bilder verweisen und dadurch das gesamte Bild
mit neuer Bedeutung aufladen. Auch Bilder sind auf einen kulturellen Text angewiesen, aus
dem sie zitieren, und in einen kulturellen Hintergrund eingebettet, vor dem sie sich abheben.
112
Im Anschluss an Horst Bredekamp (2003) können wir sagen, dass es sich bei Ikonen immer um signs
handelt, da sie – im Gegensatz zu marks – eine Handlungsrelevanz besitzen.
113
Ein schönes Beispiel hierfür ist Freuds Interpretation (1993) des Moses von Michelangelo. Die Stellung der
Glieder des Michelangelo stellt den Betrachter vor ein Rätsel, das Freud durch die Rekonstruktion eines
Handlungsablaufes zu lösen versucht. Vgl. hierzu die scharfe Beobachtung von Philip Smith (2008a: 178f.)
110
Den Status einer Ikone verdankt sich häufig dem Verweis auf andere Bilder, die selbst einen
ikonischen Status besitzen. Für moderne Ikonen wie Guernica oder die Bilder von Abu
Ghraib ist entscheidend, dass sie sich einer Schließung – sei es in syntagmatischer oder
paradigmatischer Hinsicht – widersetzen. Das Bild entzieht sich der Festlegung durch seinen
Betrachter und befeuert damit das Spiel der Einbildungskraft. Populäre Erzählungen und
wissenschaftliche Erklärungen können immer nur zu einer partiellen Schließung des
Bedeutungsspielraumes führen, was der Aura einer wahren Ikone keinen Abbruch tut.
Von Papst Gregor I. ist der Ausspruch überliefert, dass es sich bei Ikonen um „Texte für
Analphabeten“ handele – als solche wusste er sie durchaus zu schätzten, wenn er auch ihre
Verehrung als heilige Objekte mit einem Verbot belegte (Bevan 1979: 126). In einer
globalisierten Welt könnten säkulare Ikonen eine vergleichbare Funktion erfüllen, da sie einen
gemeinsamen Bezugspunkt transnationaler Diskurse darstellen. Dies darf aber nicht darüber
hinwegtäuschen, dass Bilder keineswegs eine universelle Sprache besitzen, sondern je nach
kulturellem Kontext anders aufgenommen werden. Säkulare Ikonen sind nicht nur geteilte
Referenzpunkte, sondern auch deutungsoffen. Bilder öffnen nicht nur Spielräume für die
soziale Imagination, sondern können zu einem Konfliktstoff innerhalb zivilgesellschaftlicher
Diskurse werden – man denke nur an den Streit um die Mohamed-Karikaturen im Jahr 2005.
Auch säkulare Ikonen bleiben prinzipiell deutungsoffen, allerdings hat sich hier schon ein
relativ stabiler Bedeutungskern herauskristallisiert.
2.2. Erzählung und Mythos
Gerade seine fehlende Realitätsbindung lässt das Erzählen zu einer Matrix der
schöpferischen Gestaltung von Wirklichkeit werden, die sich dann, zum Guten
oder zum Schlechten, in der sozialen Empirie niederschlägt.
Albrecht Koschorke, Wir oder sie114
Erzählungen und narrative Muster sind von fundamentaler Bedeutung für die menschliche
Existenz und Kultur. Nicht nur angesichts der großen Daseinsfragen – woher kommen wir,
wohin gehen wir, und wer sind wir eigentlich? – muss auf Erzählungen zurückgegriffen
114
„Wir oder sie. Wie Erzählungen Gruppenzugehörigkeit modellieren“, erschienen 2011 in einem Magazin des
Exzellenzclusters Kulturelle Grundlagen der Integration in Konstanz (S. 9-11, hier S. 9).
111
werden. Schon die bloße Verknüpfung einzelner Ereignisse zu einem Erlebens- oder
Handlungszusammenhang bleibt auf narrative Hintergrundstrukturen angewiesen. Laut Searle
ist es eine zentrale Aufgabe des Hintergrundes, der temporalen Abfolge von Ereignissen eine
narrative oder dramatische Gestalt zu geben (1995: 134f.). Selbst in den elaborierteren
Rational-Choice-Theorien hat sich mittlerweile die Einsicht durchgesetzt, dass derartige
Erzähl- und Handlungsmuster, sogenannte „Skripte“, als Modelle für die Handelnden dienen
und dabei kulturell variieren (vgl. Esser 2001; Kroneberg 2011).115 Neben diesen alltäglichen
narrativen Mustern, die festlegen, wie Situationen in der Regel ablaufen oder abzulaufen
haben, gibt es aber auch außerordentliche Erzählungen, die sich den existenziellen und
kosmischen Fragen stellen. Eine solche Erzählung wollen wir im folgenden „Mythos“ nennen.
Mythen sind die Meistererzählungen einer Kultur, die in außerordentlichen Zeiten,
beispielsweise während eines Wahlkampfs oder angesichts einer Krise, beschworen werden.
Darüberhinaus erstreckt sich der Einflussbereich von Mythen in die Tiefen des kulturellen
Hintergrundes, der auch alltägliche Erzählungen und Praktiken präfiguriert. So gibt es zwar
verschiedene Skripte für Liebesbeziehungen, aber auch die moderne Liebe ruht auf einem
mythischen Fundament, wie es unwahrscheinlicher nicht sein könnte: Das zwei Menschen
füreinander bestimmt sind.116 Zwar gibt es auch ein pragmatischeres Liebesverständnis wie
z.B. die Konzeption einer „Partnerschaft“ oder eines „Lebensabschnittsgefährten“, aber die
Dominanz der romantischen Liebe in der Populärkultur zeugt immer wieder von der
Übermacht des Mythos „wahre Liebe“.
Die Konkretheit und Anschaulichkeit von Erzählungen, ihre wahrnehmungssteuernde und
handlungsleitende Kraft, aber auch die Abstraktheit und Allgemeinheit narrativer Muster sind
gute Gründe, warum die Narration in dieser Arbeit nicht einem unspezifischen Textbegriff
zugeschlagen wird, sondern den ihr gebührenden Platz in der Triade kultureller
Repräsentationen erhält. Neben Bildern sind es bei Charles Taylor vor allem „Geschichten“
und „Legenden“ (2009: 296), die als Beispiele für das soziale Imaginäre dienen, das als
vorintentionaler Hintergrund des Handelns allen gesellschaftlichen Praktiken zu Grunde liegt.
115
Natürlich handelt es sich nicht bei jedem Handlungsskript um eine ausgewachsene Erzählung. Dennoch sollte
der innere Zusammenhang von Handlung und Erzählung nicht unterschlagen werden. Selbst das
unbedeutendste Routineskript kann in eine Erzählung überführt werden, insbesondere wenn die Routine in
ihrem Vollzug unterbrochen wird und Unerhörtes geschieht.
116
Eine seiner anschaulichsten Formen gewinnt dieser Mythos in Platons Symposion (189c-193e), wo der
Komödiendichter Aristophanes den künstlichen Mythos der Kugelmenschen vorträgt, die wegen ihrer
Auflehnung gegen die Götter in zwei Hälften geteilt wurden und seitdem ihre verlorene Hälfte
wiederzufinden versuchen.
112
Die Konzepte der Sprache und des Textes sind gegenüber Bildern und Narrativen zu
inhaltsarm und zu formalistisch, als dass sie sich für eine Theorie des Imaginären fruchtbar
machen ließen. Zwar können sie als Konzepte des Hintergrundes verwendet werden, sind
dann aber der symbolischen Ordnung zuzurechnen (2.1-2). Dabei bleiben Sprache wie auch
Texte immer auf imaginäre Bedeutungen angewiesen. Demgegenüber sind Bilder und
Erzählungen zum Kernbereich des Imaginären zu zählen. Eine konkrete Erzählung bietet ein
Grundgerüst, das von ihrem Rezipienten gefüllt werden muss: Kognitive Abschätzung der
Plausibilität der Handlungsstruktur, emotionale Einfühlung in die handelnden Figuren und
nicht zuletzt die evaluative Bewertung der Handlungen der Figuren. Diese mentalen Akte
verweisen auf einen Hintergrund von kulturellen Mustern, der selbst von narrativen
Strukturen durchzogen ist. Die Produktion wie auch die Rezeption einer Erzählung findet
immer vor einem vorintentionalen Hintergrund statt. Das Erzählen selbst lässt sich
darüberhinaus auch als der Vollzug einer performativen Handlung analysieren (2.3), die nicht
auf direkte Veränderung der physikalischen Umwelt, sondern auf Resonanz bei dem
Zuhörenden oder dem Leser abzielt. Im Anschluss an Aristoteles’ Poetik (2010) lassen sich
Erzählungen einerseits über ihren mimetischen Charakter, andererseits aber durch
Sequenzialität charakterisieren:
Wir haben festgestellt, dass die Tragödie die Nachahmung [mimesis] einer in sich geschlossenen und
ganzen Handlung ist, die eine bestimmte Größe hat; es gibt ja auch etwas Ganzes ohne nennenswerte
Größe. Ein Ganzes ist was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit
Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nachdem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder
entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar
notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was
sowohl selbst auf etwas anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als
auch etwas anderes nach sich zieht. (Aristoteles 2010: 25)
Die „Handlung“ bei Aristoteles ist nichts anderes als der narrative Kern des Dramas. Viele
seiner Beobachtungen treffen nicht nur auf dramatische Inszenierungen, sondern auf alle
Arten von Erzählungen zu. Wie bei herkömmlichen Bildern handelt es sich auch bei
Erzählungen um Nachahmungen, oder genauer: um Nachahmungen von Handlungen und
Personen. Aber im Gegensatz zu Bildern, die sich durch Simultanität auszeichnen, besitzen
Erzählungen einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, das heißt sie weisen eine sequenzielle
Ordnung auf.117 Im Anschluss an die Arbeiten von Northrop Frye sollen im Folgenden
narrative Strukturen entlang dieser beiden Achsen klassifiziert werden. Zum einen lassen sich
117
So auch Giesen (2010: 62f.). Performanzen können als Synthese von bildlichen und der narrativen Logiken
aufgefasst werden, da sie sich durch Mimesis, Simultaneität und Sequenzialität auszeichnen (2.3), während
Bildern und Erzählungen jeweils eines dieser Merkmale fehlt.
113
Narrative dahingehend unterscheiden, ob sie eine verzerrte oder idealisierte Nachahmung der
Wirklichkeit darstellen (2.2.1). Zum anderen lassen sich Narrative auch – je nachdem, ob sie
eine aufsteigende oder fallende Erzählstruktur besitzen – über ihre jeweilige sequenzielle
Struktur voneinander abgrenzen (2.2.2).
2.2.1. Theorie fiktionaler Modi – low mimesis und high mimesis
Wir haben gesehen, dass sich Erzählungen im Ausgang von Aristoteles als mimesis, als
Nachahmung einer Wirklichkeit von Handlungen und Personen verstehen lassen (vgl. auch
Auerbach 1946; Ricoeur 2007a: 87-135). In seiner Theory of Fictional Modes knüpft der
Literaturwissenschaftler Frye (2006a: 31-63) an eine bis dato vernachlässigte Beobachtung
von Aristoteles an: Während es in der Komödie vornehmlich um die „Nachahmung von
schlechteren Menschen“ geht, widmet sich das Epos und die Tragödie vorwiegend der
„Nachahmung guter Menschen“ (2010: 17). Eine Nachahmung kann also nicht nur mehr oder
weniger „realistischen“ Maßstäben entsprechen, sie kann auch die dargestellten Handlungen
oder Personen auf- und abwerten. Der fiktionale Modus des high mimesis zeichnet sich Frye
zufolge durch überlebensgroße Figuren und gewaltige Taten aus. Es handelt sich immer noch
um eine Nachahmung von Realem, allerdings in einer stark idealisierten Form. Als
Protagonisten treten in diesen Erzählungen vorzugsweise übermenschliche Helden, Halbgötter
oder gar Götter auf. Als Beispiele können viele Hollywood-Actionfilme oder mythische
Heldenerzählungen dienen. Aber nicht nur die Helden sind überlebensgroß gezeichnet,
sondern auch ihre Gegenspieler besitzen übermenschliche Kräfte. Der fiktionale Modus des
low mimesis, den Frye mit einer realistischen Nachahmung der Wirklichkeit gleichsetzt, hat es
mit Protagonisten und Antagonisten zu tun, die – eben wie normale Menschen – auch ihre
Schwächen und Mängel besitzen. Insbesondere in den Motiven der Akteure wird der Modus
der Darstellung offenbar. Während in den „low-mimesis”-Erzählungen die Charaktere von
niederen Motiven und Begierden, sogenannten „Wünschen erster Ordnung“, getrieben
werden, spielen in den „high-mimesis”-Genres moralische Überzeugungen und Werte als
„Wünsche zweiter Ordnung“ eine große Rolle (1.1.1). Die dämonischen Antagonisten der
high mimesis sind ebenfalls nicht aufgrund eines banalen Interessenkonflikts die Gegenspieler
des Helden, sondern weil sie das radikale Böse verkörpern, das heißt das Böse um seiner
selbst willen verfolgen.
Bei low und high mimesis handelt es sich um zwei Richtungen oder Pole auf ein und
demselben Kontinuum künstlerischer Darstellungsmöglichkeiten. Im Gegensatz zu Frye
(2006a: 31-63), der die low mimesis (zynischerweise) mit der realistischen Darstellung
114
identifiziert, soll in den folgenden Überlegungen die realistische Darstellung zwischen den
beiden Extremen, der low mimesis und der high mimesis, platziert werden. Dieses Kontinuum
an Darstellungsmöglichkeiten korreliert im Übrigen mit der Intensität und Kollektivität von
Emotionen, die an die Erzählung geknüpft werden. Die Protagonisten in „high mimesis“Narrativen, in Tragödien und Romanzen, erfreuen sich reger Anteilnahme und großer
Bewunderung, die nicht selten kollektiv verbindliche Züge annimmt. Demgegenüber bleibt
das Lachen über eine Komödie, einem typischen „low mimesis“-Genre, relativ unverbindlich.
Nicht nur Bilder, sondern auch Erzählungen und Erzählformen können so als kulturelle
Träger von Emotionen fungieren.
Fryes Theorie fiktionaler Modi wurde von Phillip Smith (2005) für die Analyse
öffentlicher Diskurse fruchtbar gemacht und zu einer kultursoziologischen Theorie der
Wahrnehmung und Rahmung von Ereignissen ausgearbeitet. Des Weiteren ergänzt er den
literaturwissenschaftlichen Ansatz um einen dynamischen Aspekt, mit dem sich
Veränderungen im Erzählmodus beschreiben lassen, wie sie in literarischen Werken nur
selten vorkommen, aber für öffentliche Diskurse geradezu typisch sind. Smith nennt die
Verschiebung einer Erzählung auf der Achse der mimetischen Darstellung hin zu einer
aufwertenden Darstellung eine „Inflationierung des Genres“ (genre inflation), während er im
umgekehrten Fall von einer „Deflationierung“ spricht (genre deflation). Darüberhinaus führt
Smith eine zusätzliche literarische Gattung ein, die das äußerste Maß an Inflationierung
bezeichnet: die „Apokalypse“. Das apokalyptische Genre zeichnet sich durch ein globales
Bedrohungsszenario und ein Höchstmaß an moralischer Polarisierung zwischen den
Protagonisten und den Antagonisten aus (Smith 2005: 24-27). Mit der Gefahr wächst aber
auch die Macht des rettenden Helden. Prinzipiell lässt sich die Unterscheidung in fiktionale
Modi auch auf ikonische (und performative) Formate anwenden, da mimetische und fiktionale
Aspekte in allen Formen der kulturellen Repräsentation eine wichtige Rolle spielen.118 Die
narrative Logik besitzt aber darüberhinaus noch das Merkmal der Sequenzialität, das sich nur
bedingt in die Simultanität unbewegter Bilder überführen lässt. Erst die Sequenzialität von
Erzählungen macht es möglich, aufsteigende Erzählstrukturen von absteigenden narrativen
Mustern zu unterscheiden.
118
Auch hier gibt es ein Kontinuum, das von der entstellend-abwertenden Karikatur oder einem unvorteilhaften
Schnappschuss über den Realismus eines illusionistischen Gemäldes oder einer gewöhnlichen Fotografie bis
hin zu dem idealisierten Porträt reicht, sei es nun ein vorteilhaftes Gemälde oder eine nachbearbeitete
Digitalfotografie.
115
2.2.2. Theorie literarischer Gattungen – Komödie, Romanze, Tragödie, Satire
In seiner Theory of Myths unterscheidet Frye zwischen vier literarischen Formen als
narrativen Grundmustern, die jeweils eine andere sequenzielle Struktur und emotionale
Färbung besitzen (2006a: 121-223). Frye ordnet diese vier Grundmuster zu einem Kreis an
und weist ihnen jeweils eine Jahreszeit zu. Dies macht insofern Sinn, als die jeweils
benachbarten Paare bestimmte narrative Elemente miteinander teilen. Während sich Komödie
und Satire durch den fiktionalen Modus der „low mimesis” auszeichnen, handelt es sich bei
der Tragödie und der Romanze um Erzählungen im Modus der „high mimesis”. Komödien
und Romanzen sind Erzählungen, die sich durch eine Klimax mit zumeist glücklichem
Ausgang auszeichnen, während Satiren und Tragödien eine absteigende Erzählstruktur
besitzen und ihre Helden bzw. Antihelden scheitern lassen.119
Am Anfang der Komödie stehen in der Regel keine besonders noblen Motive: „What
normally happens is that a young man wants a young woman, that his desire is resisted by
some opposition, usually paternal, and at the end of the play some twist in the plot enables the
hero to have his will“ (Frye 2006a: 151). In der Komödie geht es also um unmittelbare
körperliche Begierden, um profane Wünsche erster Ordnung, und nicht um ideelle Werte bzw.
Wünsche zweiter Ordnung (vgl. 1.1.1). Entscheidend für den Verlauf einer Komödie ist
weiterhin, dass der sogenannte „Held“ nicht in der Lage ist, die Erfüllungsbedingungen seiner
Wünsche durch sein eigenes Handeln intentional hervorzubringen. Das „happy end“ ergibt
sich stattdessen aus mehr oder minder undurchsichtigen Verwicklungen und Zufällen. Die
Komödie ist damit, so Frye, keine akteurszentrierte Gattung, sondern eignet sich besser für
die Darstellung gesellschaftlicher Zusammenhänge. In der Darstellung von Abu Ghraib wurde
die Form der Komödie allerdings selten bemüht – zu ernst war die Situation und zu
gravierend die internationalen Auswirkungen der Krise.120 Die Soldaten und ihre Anwälte
bemühten ein „realistisches“ Narrativ, demzufolge die Soldaten nur auf Befehl gehandelt
hätten und die Verantwortung bei ihren Vorgesetzten liege (4.5.1). Einerseits wurden den
Akteuren – gemäß dem „low-mimesis“-Modus – keine großen Handlungsmöglichkeiten
eingeräumt, andererseits wies dieses Narrativ auch tragische Züge auf, da hier die Soldaten
ohne eigenes Verschulden in Ungnade fielen. Da sich diese narrative Rahmung im
119
Zu absteigenden und aufsteigenden Erzählformen, bzw. Themes of Descent und Themes of Descent vgl. auch
Fryes Ausführungen in The Secular Script (2006b: 63-104).
120
Nur auf der äußersten nationalen Rechten wagt man es, die Missbrauchsfälle als Komödie zu erzählen: Die
Soldaten in Abu Ghraib hätten nun mal einen anstrengenden Job gehabt, sie wollten nur ein wenig Spaß
haben und haben einfach mal Dampf ablassen müssen (8.3.3).
116
öffentlichen Diskurs und auch in dem Gerichtsverfahren nicht durchsetzte, endete die
Geschichte für die beteiligten Soldaten nicht mit einem „happy end“ (8.5.1).
Die Romanze ist wohl die beliebteste narrative Erzählform in der Populärkultur. Dies
dürfte vor allem an ihrer engen Beziehung zur vorintentionalen Affektstruktur und zum
sozialen Imaginären liegen: „The romance is nearest of all literary forms to the wishfulfillment dream“ (Frye 2006a: 173). Diese imaginäre Wunscherfüllung ist nicht nur das
Geheimnis unzähliger Groschen- und Jugendromane, auch Hollywood hat seinen Ruf als
Traumfabrik überwiegend der Produktion von Romanzen zu verdanken. Auch die Serie 24
(2001-2010), die in dieser Arbeit als Symptom des kulturellen Wandels nach dem 11.
September 2001 gedeutet wird (6.4.3), fällt in das romantische Schema und lässt sich
entsprechend als 9/11-spezifisches „wish-fulfillment“ deuten (10.4.2). Wie jede Erzählung
besitzt auch die Romanze eine dreifache Struktur, die mit dem Aufbruch und der Reise des
Helden beginnt, in einem Kampf auf Leben und Tod mit den Mächten des Bösen gipfelt und
in aller Regel mit dem Triumph, der Heimkehr und der gesellschaftlichen Anerkennung des
Helden endet.121 Allerdings schließt Frye nicht aus, dass der Held auch in einer romantischen
Erzählung zu Tode kommen kann (2006a: 174). Damit stellt auch die Märtyrererzählung ein
Subtypus der Romanze dar. Die Romanze als literarische Gattung ist von zentraler Bedeutung
für das soziale Imaginäre, insbesondere für die Stiftung positiver Identitäten. In den
Vereinigten Staaten finden sich romantische Erzählmuster im American Dream des
wirtschaftlichen Erfolgs, des sprichwörtlichen Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär
bzw. „from rags to riches“ (vgl. Merton 1995b: 131-135; siehe auch 2.2.5), aber auch in den
Erzählungen über den zweiten Weltkrieg als „The Good War“ (siehe Terkel 1984, vgl. auch
6.1). Gerade das letzte Beispiel zeigt, dass auch kollektive Akteure als Protagonisten von
romantischen Erzählungen auftreten können. Die sogenannten „großen Erzählungen“ oder
grand récits (Lyotard) von der Aufklärung der Menschheit, der Modernisierung der
Gesellschaft oder des Kampfes der Arbeiterklasse besitzen eine romantische Struktur und
einen kollektiven Akteur als Protagonisten. Aufgrund ihrer Wichtigkeit für Fragen personaler
und kollektiver Identität spielen Romanzen in der medialen Berichterstattung und im
öffentlichen Diskurs eine große Rolle – insbesondere bei der Legitimation von Revolutionen
und Kriegen, die in liberalen Demokratien immer schwerer fällt. Demokratien sind im
Kriegsfall, wie Smith (2005) gezeigt hat, auf eine dramatische Zuspitzung durch
121
Vgl. hierzu auch die Theorie des Helden von Joseph Campbell (1999/1949), der die Reise des Helden noch in
weitere Abschnitte untergliedert.
117
apokalyptische Narrative angewiesen, da sie ihre eigenen Verluste öffentlich rechtfertigen
müssen.
Auch die Tragödie erfreut sich als Erzählform in gesellschaftlichen Diskursen einer großen
Beliebtheit. Im Gegensatz zur Romanze besitzt die tragische Erzählung eine fallende
Grundstruktur. Allerdings, und hier müssen wir über Frye und Smith hinausgehen, muss
zwischen der schuldlosen Verstrickung in der klassischen Tragödie und dem tragischen Fall
einer Verfehlung, dem Modell des Sündenfalls, unterschieden werden. Der Handlungsverlauf
einer Tragödie lässt sich folgendermaßen darstellen: Am Anfang wird der Protagonist als
Held aufgebaut, allerdings macht er sich – wissentlich oder unwissentlich – einer Übertretung
schuldig oder scheitert – selbst- oder auch fremdverschuldet – im entscheidenden Konflikt.
Am Ende der Tragödie steht die Katastrophe, die Wende ins Unglück. Bei einigen Formen der
Tragödie fällt dieser Umschlag bzw. die Peripetie als Höhepunkt der Handlung mit einem
Moment des Wiedererkennens zusammen (Aristoteles 2010: 35f.). Ein klassisches Beispiel
hierfür ist Sophokles König Ödipus, aber auch ein Narrativ des Abu-Ghraib-Skandals im
links-liberalen Diskurs der Vereinigten Staaten folgte diesem Muster, da einige Journalisten
und Intellektuelle in den Bildern ein (gleichwohl verzerrtes) Spiegelbild der Vereinigten
Staaten zu erkennen glaubten (8.2.1, 8.3.2). Im amerikanischen Mainstream und im
konservativen Diskurs dominierte nach dem Skandal ein anderes tragisches Narrativ: Das
schuldlose Amerika sei durch die Missetaten einiger Weniger in ungerechtfertigter Weise in
Mitleidenschaft gezogen worden (8.3.1). Während die tragischen Erzählungen der
Konservativen noch in der Nähe der Romanze angesiedelt sind, da hier die Nation die Gestalt
eines „tragisch gescheiterten Helden“ (Giesen 2004c) annimmt, steht bei den Liberalen das
Unvermögen des kollektiven Akteurs im Zentrum der Erzählung, die den anfänglichen
Helden zu einem Täter oder zu einem Untätigen werden lässt. Diese Variante der Tragödie
liegt in der Nähe zur Gattung der Satire.
Die Satire wird von Frye als die realistischste Gattung bezeichnet, da nur sie den
Ambiguitäten und Komplexitäten der menschlichen Existenz gerecht werde (2006a: 208). Sie
tritt oft als eine Parodie anderer literarischer Gattungen auf.122 Die satirische Erzählung nimmt
ihren Anfang mit desillusionierenden Protagonisten und einer Welt im desolaten Zustand der
„low norm“ (Frye 2006a: 211). Die Protagonisten scheitern in dieser unvollkommenen Welt,
allerdings verliert dieses Scheitern seinen tragischen Bezug zum Handeln der Akteure. In dem
122
In der Presse nimmt die Satire vor allem die bildliche Form von Karikaturen an, während sie im Fernsehen
vor allem im politischen Kabarett (zumindest in Deutschland), in Talkshows (z.B. Daily Show) und in
anderen popkulturellen Formaten (wie z.B. in der Serie South Park) gepflegt wird.
118
Diskurs zu Abu Ghraib schlägt sich die Satire unter anderem in der Rahmung der
Missbrauchsfälle als „animal house“ nieder (8.4.3). Die grotesken Bilder von Abu Ghraib
wirkten auf die Betrachter darüberhinaus wie eine unfreiwillige Parodie auf das romantische
Narrativ des „law-defying heroes“ und des „ticking-bomb torturers“ (7.2.4-5), was für den
Einfluss dieser Bilder auf die Folterdebatte von entscheidender Bedeutung war (7.5; 10.4.1).
Ähnlich wie in der Komödie spielen auch in der Satire die handelnden Personen eine nur
unwesentliche Rolle. Eine diesem Genre entsprechende wissenschaftliche Erklärung der AbuGhraib-Vorfälle wurde von dem Sozialpsychologen Philip Zimbardo vertreten, der auf die
situativen Faktoren in dem grotesken und desolaten Gefängnis hingewiesen hat (7.4.1; 8.3.2).
Allerdings stieß diese Erklärung in der Öffentlichkeit auf wenig Resonanz, da man an einer
individuellen Zurechnung der Schuld festhalten wollte. Stattdessen rekurrierte man wiederholt
auf die niederen Motive der Täter oder deren Sadismus als Ursache der Missbrauchsfälle.
Die vier von Frye eingeführten literarischen Gattungen, das dürfte ersichtlich geworden sein,
sind idealtypische Unterscheidungen und werden in dieser Arbeit auch als solche verwendet.
In konkreten Erzählungen existieren sie nur selten als Reinform. Ferner lassen sich diese vier
Grundformen, wie von Smith (2005: 26f.) vorgeschlagen, noch um das apokalyptische Genre
erweitern, auch wenn die Apokalypse streng genommen keine eigenständige Gattung, sondern
eine Radikalisierung der Romanze oder Tragödie darstellt.
2.2.3. Handeln und Geschichte als Erzählung – metasociology und metahistory
Es wurde bereits darauf hingewiesen (1.2.4), dass auch historische Erklärungen in den
Sozialwissenschaften auf Erzählungen und Erzählmuster zurückgreifen müssen. Bei
akteurszentrierten
Handlungserklärungen,
wo
es
darauf
ankommt,
eine
plausible
Konstellation von Akteuren, Motiven und Mechanismen zu formulieren, ist dies am
offensichtlichsten. An ihnen kann man aufzeigen, dass sich die Kategorien von Frye auch auf
soziologische Erzählungen anwenden lassen. So können materialistische bzw. utilitaristische
Handlungstheorien (1.1.3), die ausschließlich auf niedere Motive rekurrieren (Wünsche erster
Ordnung), von idealistischen bzw. normativistischen Handlungstheorien (1.1.4), die sich auf
den obligatorischen Gehalt von Normen und den motivierenden Charakter von Werten
berufen (Wünsche zweiter Ordnung), den jeweiligen fiktionalen Handlungsmodi zugeordnet
werden. Materialistische und utilitaristische Handlungserklärungen operieren in einem „low
mimesis“-Modus, den die Vertreter dieser Theorien (zynischerweise?) für realistisch halten,
während idealistische und normativistische Handlungstheorien auf der Realität des „highmimesis“-Modus beharren. Utilitaristische Theorien, die – wie Bernard Mandevilles
119
Bienenfabel (1968/1714) – öffentliche Vorteile durch private Laster in Aussicht stellen,
entsprechen der literarischen Gattung der Komödie, während Theorien, die vor allem auf die
negativen Folgen abstellen, in die Nähe der Satire rücken. Ähnliches gilt für idealistische
Handlungserklärungen: Aufgrund des Zwangscharakters von Normen besteht eine Affinität
zwischen tragischen Erzählungen und normativistischen Erklärungen, während die Erklärung
des Handelns durch Werte stärker auf romantische Narrative zurückgreift (es sei denn, es
kommt zu einem tragischen Wertekonflikt). Dieser Arbeit liegt die Überzeugung zu Grunde,
dass nur eine integrative Handlungstheorie, die sich das gesamte Repertoire von Motiven und
Narrativen – unter besonderer Berücksichtigung des kulturellen Hintergrundes – offen hält,
eine angemessene Handlungserklärung zu geben vermag.
Nicht
nur
Handlungserklärungen,
sondern
auch
die
großen
Erzählungen
der
Gesellschaftstheorie lassen sich als Narrative begreifen, denen die narrative Logik
literarischer Gattungen zu Grunde liegt. Die klassischen Theorien der Modernisierung und
Individualisierung folgen einem romantischen Fortschrittsdenken, das allerdings mittlerweile
– zumindest in seinen ungebrochenen Versionen – an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat.
Daneben gab es natürlich auch schon immer tragische Erzählungen, die einen unvermeidbaren
gesellschaftlichen Wandel konstatieren und dann auch kritisieren –gerne auch mit
kulturpessimistischem
oder
apokalyptischem
Gestus.
Man
denke
nur
an
die
Verfallsgeschichte der bürgerlichen Öffentlichkeit des jungen Habermas (1990), die an seine
positive Schilderung ihrer hoffnungsvollen Anfänge anschließt, oder aber an Webers
unentrinnbares „Gehäuse der Hörigkeit“ oder die von ihm konstatierte „Entzauberung der
Welt“ (1988). In den Gesellschaftstheorien der Gegenwart dominieren ausgewogenere, teils
gebrochene
Modernitätsnarrativen
(Stichwort:
reflexive
Modernisierung),
die
den
unantizipierten Nebenfolgen des Fortschritts Rechnung tragen – ohne darum in einen
soziologischen Fatalismus zu münden. Eine soziologische Reflexion auf die Erzählformen in
der Soziologie im Sinne der hier angerissenen metasociology hat bisher noch nicht
stattgefunden. Hier ist die Geschichtswissenschaft, für die der Zwang zur Narration im
besonderem Maße gilt, der Soziologie weit voraus.
Historisches Wissen und narrative Form sind unauflöslich miteinander verbunden. Der
Begriff der Geschichte umfasst, so Hegel, „das Geschehene nicht minder wie die
Geschichtserzählung“ (1999: 65). Dieser alten Einsicht folgend lassen sich natürlich auch die
Erzählungen der Geschichtswissenschaft einer narrativen Analyse unterziehen. Genau dies
versuchte der amerikanische Historiker Hayden White, der das literaturwissenschaftliche
120
Instrumentarium von Frye auf die Geschichte der Geschichtswissenschaften anzuwenden
versuchte. White (1973) hat mit seinem opus magnum Metahistory eine Analyse der
„historischen Imagination“ im 19. Jahrhundert vorgelegt, an die sich mit dem in dieser Arbeit
eingeführten
Begriff
des
„sozialen
Imaginären“
anschließen
lässt
(1.3.3).
Der
Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, so die These von White, liegen bestimmte
Narrative zu Grunde: bei Jules Michelet dominiere die romantische Geschichtserzählung,
Leopold von Ranke sehe Geschichte als Komödie, Alexis de Tocqueville als Tragödie und
Jacob Burkhardt als Satire. Seine detaillierten Ausführungen zu den einzelnen Autoren
brauchen uns hier nicht weiter zu interessieren. In unserem Zusammenhang sind vor allem
Whites abschließende Bemerkungen über den kollektiv geteilten Hintergrund der
Geschichtsschreibung von großem Interesse:
I maintain that the link between a given historian and his potential public is forged on the pretheoretical,
and specifically, linguistic level of consciousness. And this suggests that the prestige enjoyed by a given
historian or philosopher of history within a specific public is referable to the precritically provided
linguistic ground on which the prefiguration of the historical field is carried out. (White 1973: 429)
White operiert hier mit der Annahme eines vortheoretischen und vorintentionalen
Hintergrundes (1.2-3), den er – ein wenig unglücklich – als „linguistisch“ bezeichnet. Ihm
geht es allerdings weniger um eine biologische verankerte Universalgrammatik, sondern
vielmehr um die narrativen Hintergrundmuster, die ein Geschichtsschreiber mit seinem
Publikum teilt. Den Erfolg eines Historikers kann man im Anschluss an White dadurch
erklären, dass seine wissenschaftliche Erzählung als Performanz auf eine Resonanz im
kulturellen Hintergrund des Publikums stößt (1.2.5; 2.3.4). Nicht die angeführten Fakten sind
für den Erfolg einer Geschichtserzählung das Entscheidende – hier kann ohnehin nur ein
kleiner Teil des Publikums qualifiziert mitreden –, sondern der narrative Stil des Historikers,
der den Nerv seiner Zeit treffen muss.
2.2.4. Die doppelte Narratologie der Kultursoziologie
Alle historischen Erklärungen in den Sozial- und Kulturwissenschaften besitzen eine narrative
Struktur.123 Das zu Erklärende (Explanans) lässt sich als das Ende einer Geschichte begreifen,
die es wissenschaftlich zu rekonstruieren gilt. Die Erklärung (Explanandum) geht dabei von
historischen Randbedingungen aus, die selbst nicht mehr erklärt werden können und daher am
Anfang vorausgesetzt werden müssen. Anfang und Ende der wissenschaftlichen Erzählung
lassen sich dann durch kausale Mechanismen verknüpfen (1.2.4), die das zu erklärende
123
Zu den Pionieren einer narrativen Erklärung in den Geschichts- und Sozialwissenschaften gehören Alfred R.
Louch (1966), Walter B. Gallie (1968) und Arthur C. Danto (1985).
121
Phänomen als das (mehr oder minder) notwendige Resultat einer kontingenten
Ausgangsituation nachvollziehbar machen. Der Anfang einer historischen Erklärung ist
willkürlich und daher besonders begründungspflichtig, da prinzipiell immer weiter
zurückgegangen werden könnte.124 Auch die in der zweiten Hälfte dieser Arbeit
vorgenommene soziologische Erzählung der Geschichte des Abu-Ghraib-Skandals unterliegt
diesen narrativen Zwängen.125
Grundsätzlich sollten wissenschaftliche Erzählungen versuchen, ein möglichst realistisches
Bild von der geschichtlichen Wirklichkeit zu zeichnen. Wie wir bereits gesehen haben,
bevorzugen materialistische Erklärungen „low-mimesis“-Modelle des Handelns, während
idealistische Erklärungen einer „high-mimesis“-Darstellung von großen Individuen und Ideen
einen Vorzug einräumen. Eine kultursoziologische Handlungserklärung sollte nicht nur beide
Perspektiven integrieren, sondern darüber hinaus auch die kulturellen Hintergründe des
Handelns identifizieren und sie für eine Handlungserklärung nutzbar machen. Einen
wesentlichen Teil des vorintentionalen Hintergrundes von Akteuren kann wiederum als ein
Repertoire
von
narrativen
Mustern
beschrieben
werden.
Eine
kultursoziologische
Handlungserklärung zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht nur – wie ihre Konkurrenten –
wissenschaftliche Erzählformen bei der Erklärung des Handelns in Anschlag bringt, sondern
narrative Muster auch schon auf Seiten der Akteure verortet. In Anlehnung an Giddens’
Konzept der „doppelten Hermeneutik“ (1984) können wir von einer doppelten Narratologie
der Kultursoziologie sprechen. Eine kultursoziologische Erklärung ist gleicht der Geschichte
124
Eine literarische Reflexion auf dieses grundsätzliche Problem von Erzählungen findet sich in Lawrence
Sternes Tristram Shandy.
125
So hätte man den Skandal mit der Enthüllung am 28. April 2004 beginnen (8.1) und der Wiederwahl von
George W. Bush aufhören lassen können (8.5). Allerdings wäre dabei eine wichtige Ursache des Skandals,
nämlich die auf den Fotos dokumentierten Missbrauchsfälle (7.1-4), aber auch seine längerfristigen Folgen
unberücksichtigt geblieben (9.1-5; 10.2-4). Bei näherer Betrachtung erwies es sich als sinnvoll, den 11.
September 2001 und den Krieg gegen den Terror (6.4), dessen Ende die Wiederwahl von Obama markierte
(10.1), als Ausgangspunkt dieser Untersuchung zu nehmen, da der Krieg gegen den Terror nicht nur den
Kontext der Missbrauchsfälle darstellt, sondern auch eine ursächliche Bedeutung für die Vorfälle besitzt.
Allerdings erwies sich auch dieser Erzählrahmen schnell als zu eng, da darüber hinaus sowohl die
Vorgeschichte des Gefängnisses als auch der Golfkrieg von 1991 thematisiert werden musste (6.3) und ferner
auch die Folgen des Regierungswechsels zu Obama von großem Interesse waren (9.5). Letzten Endes erwies
es sich als sinnvoll, auch noch auf den Zweiten Weltkrieg (6.1) und den Vietnamkrieg (6.2) einzugehen, da
diese Kriege immer noch eine entscheidende Bedeutung für die Struktur der Diskurse und das soziale
Imaginäre der Vereinigten Staaten besitzen.
122
von Scheherazade,126 einer Erzählung, in der selbst wieder Erzählungen vorkommen. Jede
Soziologie, die einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, und darauf hat Luhmann
wiederholt hingewiesen (z.B. 1997: 16), muss selbst wieder in ihrem Gegenstand auftauchen.
Dies gilt auch für die Kultursoziologie, die soziologische Narrative reflexiv zum Gegenstand
ihrer Untersuchungen machen kann. Aufgrund ihrer doppelten Narratologie vermag es die
Kultursoziologie, einen unverzichtbaren Beitrag zur Selbstreflexivität des Faches zu leisten.
Wenden
wir
unser
Augenmerk
wieder
dem
narrativen
Handlungshintergrund
gesellschaftlicher und geschichtlicher Akteure zu, so ist zunächst einmal festzuhalten, dass
vor allem die erinnerte und erzählte Geschichte, das sogenannte „kollektive“ oder „historische
Gedächtnis“ (Halbwachs 1991; Giesen & Junge 2003), auf gegenwärtiges Handeln und
zeitgenössische Diskurse einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausübt. Dass aktuelles
Tagesgeschehen vor einem Hintergrund der kollektiven Erinnerung und narrativer Muster
rezipiert wird, wusste schon Karl Marx, der die Bemerkung von Hegel, dass sich Geschichte
wiederhole, aufgegriffen und erweitert hat: Geschichte wiederhole sich, „das eine Mal als
Tragödie, das andere Mal als Farce“. Er fährt fort:
Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter
selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die
Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben
damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade
in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem
Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen
Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskierte
sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789-1814 drapierte sich abwechselnd als römische
Republik und als römisches Kaisertum, und die Revolution von 1848 wusste nichts besseres zu tun, als
hier 1789, dort die revolutionäre Überlieferung von 1793-1795 zu parodieren. (Marx 1972/1852: 115)
Bemerkenswerterweise verweist Marx hier nicht auf die materiellen Gegebenheiten einer
historischen Situation, sondern auf ideelle Faktoren, die auf den Gang der Geschichte Einfluss
nehmen. Es ist nicht alleine die Intentionalität der geschichtlichen Akteure, sondern ihr
kollektives
Gedächtnis,
ihr
vorintentionaler
Hintergrund,
der
am
Prozess
des
Geschichtemachens beteiligt ist. Die performative Aneignung geschichtlicher Figuren durch
die handelnden Akteure kommt hier treffend zum Ausdruck (vgl. 2.3.4-5). Erfolgt dieser Griff
in die geschichtliche Mottenkiste nun bewusst oder unbewusst? Für Marx gilt offensichtlich
beides: Die Metapher des „Alps“ und die Rede vom „Gehirn“ legen einen unbewussten
Einfluss nahe, während die „Beschwörungen“ und „Maskierungen“ der Akteure auf bewusste
126
Scheherazade ist jene Schöne aus der Rahmenerzählung der Geschichten aus tausendundeiner Nacht, die
dem Sultan jede Nacht eine begonnene Geschichte forterzählen muss, um ihrem Tod zu entgehen ihr Leben
zu retten.
123
Rückgriffe hindeuten. Allerdings setzt auch eine intentionale Instrumentalisierung der
Geschichte deren vorintentionale Wirksamkeit voraus. Die geschichtlichen Akteure greifen
auf überlieferte und latente Muster zurück, die sie ihrerseits wieder bei ihrem Publikum
vorrausetzen müssen. Während Marx aus seinem revolutionären Gestus heraus dazu aufruft,
sich von den Gespenstern der Vergangenheit frei zu machen, geht die vorliegende Studie
davon aus, dass dies nicht ohne weiteres möglich ist. Es ist eine ganz und gar unrealistische
Annahme, dass das radikale soziale Imaginäre die Fesseln des aktuellen sozialen Imaginären
vollends abstreifen könne (1.3.3). Allerdings behält die empirische Beobachtung von Marx
bis heute ihre Gültigkeit. In der neueren Geschichte und in modernen Öffentlichkeiten sind
historische Anleihen ubiquitär – was sich nicht zuletzt am Diskurs über die Abu-GhraibBilder aufzeigen lässt.127
2.2.5. Mythos, Identität, Gesellschaft
Es gibt mehrere Verwendungsweisen des Wortes „Mythos“, auf die im Folgenden kurz
eingegangen werden soll. Das griechische Wort mythos bedeutet zunächst einmal einfach
„Erzählung“. Aristoteles (2010: 21f.) verwendet den Begriff des mythos, um damit den Plot
eines Dramas bzw. dessen narrativen Kern zu bezeichnen. Auch Northrop Frye legt diesen
Begriff des mythos als einem Plot seiner Theorie literarischer Gattungen zu Grunde
(weswegen er auch von mythoi im Plural spricht). Zweitens wird in der griechischen
Philosophie der mythos als eine überlieferte Erzählung von dem logos abgegrenzt, der für den
vernünftigen Gebrauch der Sprache in der Rede und Argumentation steht. Auf Basis dieser
Begriffsfassung konnte sich die Mythenkritik etablieren, die den Mythos als ungesichertes
Wissen entlarvte. Diese Mythenkritik schwingt auch noch in der heutigen Verwendung des
Wortes mit. Eine Erzählung wird gerne als „bloßer Mythos“ abgetan, wenn an ihrer Wahrheit
gezweifelt wird.128 Drittens wird der Begriff des „Mythos“ – darin der „Ikone“ ähnlich (2.1.5)
– zur Kennzeichnung eines auratischen Gegenstands bzw. einer auratischen Erzählung
angewendet. Ein Mythos ist demzufolge eine Verkörperung des „Außerordentlichen“ (Giesen
127
So wurde der 11. September vor dem Hintergrund von Pearl Harbor wahrgenommen (6.1.1+6.4.1); beide
Irakkriege wurden im symbolischen Rückgriff auf den amerikanischen Triumph im Zweiten Weltkriegs
begonnen (6.1); der Irakkrieg von 2003 entpuppte sich allerdings schon bald als ein „zweites Vietnam“ (6.2)
– inklusive des Abu-Ghraib-Skandals als unheimlichen Wiedergänger des My-Lai-Massakers (6.2.3).
128
Diese Verwendung des Mythenbegriffs findet sich nicht nur in der Umgangssprache, sondern – ähnlich dem
Begriff des symbolischen Handelns (z.B. bei Edelman 2005) – auch in der Wissenschaft, beispielsweise in
dem Gründungsartikel des Neoinstitutionalismus, der die formalen Strukturen von Organisationen als „myth
and ceremony“ entlarvt (Meyer & Rowan 1977).
124
2010: 61f.), eine kollektive Repräsentation im durkheimianischen Sinne. Als gesellschaftliche
Meistererzählung und kollektive Repräsentation kann der Mythos als Grundlage einer
sozialen Ordnung und als Vorbild für das Handeln der Mitglieder einer Gesellschaft
fungieren.129 Eine vierte Begriffsfassung, die von besonderem Interesse für die
Kultursoziologie ist, zielt auf die Narrativität des vorintentionalen Hintergrunds ab. Narrative
Muster sind als mythische Strukturen in den kulturellen Hintergrund des Erlebens und
Handelns eingelassen. So gesehen können Mythen nicht in einem herkömmlichen Sinne
„wahr“ oder „falsch“ sein, sondern bilden vielmehr einen Hintergrund, vor dem erst die
Unterscheidung zwischen „Wahrheit“ und „Falschheit“ möglich ist (vgl. Wittgenstein
1984/1953: 139; § 194). Auf diese „Unhintergehbarkeit“ und „Unvordenklichkeit“ des
Mythos hat insbesondere Bernhard Giesen hingewiesen:
Was der Mythos erzählt unterliegt noch nicht der Unterscheidung von Wahrheit und Täuschung. Er ist
selbst noch nicht Gegenstand von Wahrheitsfragen, sondern er legt erst den Rahmen fest, in dem
Wahrheitsfragen erst gestellt werden können. Der Mythos selbst ist kognitiv unüberwindlich.
Romantische oder apokalyptische Mythen zum Beispiel lassen sich nicht einfach mit dem Hinweis auf
Tatsachen in Frage stellen – sie präfigurieren die mögliche Erzählung dieser Tatsachen und denjenigen,
die dieser Erzählung keinen Glauben schenken können, gehören einfach nicht der entsprechenden
Mythengemeinschaft an. (Giesen 2010: 62)
Diese einer Kultur zu Grunde liegenden narrativen Strukturen lassen sich oft auf
gesellschaftliche Meistererzählungen zurückführen. Auch lässt sich den überlieferten Mythen
ein großer Einfluss auf das soziale Leben zuschreiben, da sie im kulturellen Hintergrund einer
Gesellschaft wirksam bleiben.130 Jan Assmann spricht von der „selbstbildformenden und
handlungsleitenden Bedeutung“ des Mythos als einer „Mythomotorik“ (2007: 281), womit
auch zugleich angezeigt wird, dass Mythen ihren Einfluss auf einer vorintentionalen Ebene
entfalten. Mit dem Wechsel von dem Mythos als Großerzählung zum Mythos als narrativem
Grundmuster vollziehen wir einen Wechsel, den Margaret Sommers als einen Wechsel von
„representational to ontological narrativity“ charakterisiert (1994: 613f.). „Ontologische
Narrativität“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Akteure in ihrem Erleben und Handeln
immer schon in narrative Muster und eine vorgängige Identität eingebettet sind.
Narrative Muster und biographische Erzählungen spielen bei der Konstitution und
129
Der Mythos „Marilyn Monroe“ verweist nicht nur auf einen Starkult, sondern übte auch einen Einfluss auf
das alltägliche Verständnis und die Ideale von Weiblichkeit aus. Zugleich liefert das Narrativ der
unglücklichen Schönen eine tragische Erzählung, die unterhält und Sinn stiftet.
130
Ulrich Oevermann (1995) hat beispielsweise die Bewährungsdynamik des Handelns und die Vorstellung
moderner Autonomie an den ersten Kapiteln der Genesis herausgearbeitet.
125
Konstruktion von Identität eine entscheidende Rolle.131 In dem Maße, wie sich narrative
Muster durch den kulturellen Hintergrund des Handelns ziehen, formen sie individuelle und
kollektive Selbstbilder (und die korrespondierenden Weltbilder). Implizite narrative Muster
strukturieren die kollektive Identität, die expliziten Selbstbeschreibungen von Gesellschaften
in Gründungsmythen oder historischen Erzählungen zu Grunde liegt. Jede literarische Gattung
im Sinne Fryes zeichnet sich durch spezifische Typen von Protagonisten aus (2.2.2), die
wiederum über unterschiedliche Identitätskonstruktionen verfügen. In ähnlicher Weise
unterscheidet Giesen zwischen „Helden“, „Tätern“ und „Opfern“ als Archetypen individueller
und kollektiver Identität (2004c; 2010: 67-87).
Heldenerzählungen sind für die Konstruktion von Identität besonders beliebt, da sie ein
positives Selbstbild vermitteln, was selbst auf die Figur des tragisch gescheiterten Helden
zutrifft. Heldenerzählungen müssen den „high-mimesis“-Gattungen der Romanze und der
Tragödie zugeordnet werden. Auch Täter und Opfer sind für diese Gattungen typisch, wobei
der Täter in erster Linie als Antagonist des Helden auftritt. In den klassischen
Heldenerzählungen sind die Opfer eher Nebenfiguren, die der Held zu retten hat. In den
klassischen Sagen ist dies oft eine Jungfrau in Bedrängnis, in der Fernsehserie 24 (2001-2010;
6.4.3; 10.3.2) sind es entführte Familienangehörige oder die Bevölkerung von Los Angelos,
die es vor der terroristischen Bedrohung zu schützen gilt. Allerdings können auch Täter und
Opfer selbst in die Rolle des Protagonisten schlüpfen und damit ein eigenes literarisches
Genre begründen. Eine Tätererzählung taucht oft in Form einer schuldhaften Tragödie auf,
während eine Opfererzählung eine unschuldige Verwicklung in tragische Umstände
impliziert. Die „low-mimesis“-Gattungen – Satire und Komödie – eignen sich weniger zur
Identitätsstiftung, da sie nur schwache Identitätsangebote zur Verfügung stellen. Die Figur des
tragisch gescheiterten Held – eine beliebte Identitätskonstruktion in Biographien, die einen
Niedergang zeichnen –, ja selbst negative Selbstbilder wie Täter und Opfer werden diesen
schwachen Identitätsofferten in aller Regel vorgezogen. Dies hat wohl damit zu tun, dass der
Fokus von Komödien und Satiren weniger auf den handelnden Akteuren, als auf den
gesellschaftlichen Zusammenhängen liegt (2.2.2).
Nationale Identitäten werden maßgeblich von gesellschaftlichen Meistererzählungen mit
konstruiert. Von großer Bedeutung sind vor allem die Erzählungen der offiziellen
131
Auf diesen Zusammenhang hat insbesondere Paul Ricoeur in seinen Arbeiten immer wieder hingewiesen
(2007a, 2007b, 2007c), aber auch Charles Taylor (1994) und Margaret Somers (1994).
126
Geschichtsschreibung, aber auch die Narrative, die in der Öffentlichkeit verhandelt werden.132
Dies soll im Folgenden kurz am Beispiel der kollektiven Identität der Vereinigten Staaten
illustriert werden, die natürlich auch für den öffentlichen Diskurs über Abu Ghraib wichtig ist.
Die überwältigende Mehrheit der amerikanischen Gesellschaft pflegt ein besonders
progressives und positives Selbstbild. Ein mythischer Kern dieses Selbstverständnisse liegt in
dem christlichen Imaginären, das die Vereinigten Staaten seit der Landung der Mayflower
begleitete, die natürlich selbst schon ein Teil des Mythos „christliches Amerika“ ist. Die
Frage, ob die Gründerväter der Vereinigten Staaten nun Aufklärer, Deisten und Bewunderer
der römischen Republik waren oder aber in erster Linie gottesfürchtige Christen, spaltet bis
heute den öffentlichen Diskurs in Amerika. Allerdings lässt sich kaum bestreiten, dass in der
amerikanischen Zivilreligion in hohem Maße auf biblische Narrative zurückgegriffen wird:
Die Amerikaner als auserwähltes Volk, die neue Welt als gelobtes Land und die Vereinigten
Staaten als neues Jerusalem sind nur einige Motive, die Bellah in seinen Studien über die
amerikanische Zivilreligion herausgearbeitet hat (1991b, 1992). Da verwundert es kaum, dass
selbst amerikanische Politiker wie Ronald Reagan von den Vereinigten Staaten als einer
„shining city upon a hill“, eine Anspielung auf eine Passage in der biblischen Apokalypse,
sprechen.
Dieses positive Selbstbild der Vereinigten Staaten und das daraus resultierende
Sendungsbewusstsein sind nicht nur wesentliche Voraussetzungen für die neueren
amerikanischen Kriegseinsätze, sondern stellen zugleich den Hintergrund, vor dem die Bilder
von Abu Ghraib als schockierend wahrgenommen wurden und so eine große Wirkung
entfalten konnten (8.1-2). Das relativ entspannte Verhältnis der Amerikaner zur Gewalt lässt
sich auf einen weiteren Mythos zurückführen, der das soziale Imaginäre der Vereinigten
Staaten bis heute prägt: der „frontier myth“ einer nationalen Erneuerung durch Gewalt
(Slotkin 1973). Der nachhaltige Einfluss des „frontier myth“ lässt sich nicht zuletzt in der
Rahmung des 11. Septembers 2001 und der anschließenden Fortsetzung der Erzählung im
Krieg gegen den Terror nachweisen (Faludi 2007).
Etwas anders gelagert ist der Mythos des so genannten „American dream“, in dem das
amerikanische Ethos des wirtschaftlichen Erfolgs in narrative Formen gegossen wird. Der
132
Im Nachkriegsdeutschland dauerte es Jahrzehnte, bis sich die Tätererzählung von den Gräueln des Zweiten
Weltkriegs durchsetzen konnte (Giesen 2004a). Und auch im jungen Staate Israel wollte die Vernichtung der
europäischen Juden zunächst gar nicht in die eigene Heldenerzählung von der Staatsgründung passen,
weswegen eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust und eine Anerkennung der überlebenden Opfer erst
nach einiger Zeit erfolgte.
127
„American dream“ ist ein gesellschaftsweit verbreiteter Mythos, der sich aber auf die Identität
des einzelnen Amerikaners und nicht auf die gemeinsame nationale Identität bezieht. Robert
K. Merton, der sich ebenfalls mit dem „American dream“ befasste, zeigt in seinem berühmten
Aufsatz zu Sozialstruktur und Anomie (1995b), dass mythische Strukturen so stark im
kulturellen Hintergrund verwurzelt sein können, dass an den entsprechenden kulturellen
Zielen von den Mitgliedern einer Gesellschaft sogar angesichts herber Enttäuschungen
festgehalten wird.133 Folgt man Max Weber (1988), so muss der „American dream“ auch vor
seinem christlichen Hintergrund, nämlich der protestantischen Erwerbsethik, gelesen werden,
wenn auch mittlerweile der religiöse Geist aus den kulturellen Formen entwichen ist. Die
narrative Form einer Selbstbewährung durch wirtschaftlichen Erfolg ist über ihren
ursprünglich religiösen Inhalt hinaus beständig und handlungsleitend. Es bleibt abzuwarten,
ob es der gegenwärtigen Wirtschaftskrise gelingt, mit diesem Ethos zu brechen.
2.3. Performanz und Ritual
All the world’s a stage,
And all the men and women merely players:
They have their exits and their entrance
Jaques de Bois134
In der soziologischen Terminologie hat das Vokabular des Theaters seine Spuren
hinterlassen.135 So hat sich der Ausdruck „Akteur“ für den Handelnden eingebürgert, während
bestimmte Erwartungen, die an Personen aufgrund ihrer sozialen Position geknüpft werden,
gerne als „Rollen“ bezeichnet werden. In den letzten Jahren rückte der Begriff der
„Performativität“, der zum einen auf Linguisten und Sprachphilosophen, zum anderen aber
133
Ein bemerkenswertes Ergebnis dieser Studie ist die Beobachtung, dass ein geteilter kultureller Hintergrund
die soziale Anomie einer Gesellschaft steigern kann. Das Ethos des wirtschaftlichen Erfolgs und der
Erfolgsdruck führen dazu, dass innovatives Handelns, das gegen die geltenden Normen einer Gesellschaft
verstößt, eine starke Verbreitung finden kann. Auch die amerikanischen Rapper, die mit Goldketten und
Sportwägen ein Loblied auf die Zuhälterei und den Drogenhandel singen, bezeugen darin noch den
amerikanischen Traum. Kulturelle Integration in Form eines geteilten kulturellen Hintergrundes ist damit
noch kein Garant für Integration auf der sozialen Ebene.
134
Eine Figur aus William Shakespeares As You Like It (2. Akt, 7. Szene).
135
Das folgende Kapitel erscheint – leicht abgewandelt und in französischer Sprache – in einer Ausgabe der
Cahiers de recherche sociologique zu dem Thema „théâtralité et société“ (voraussichtlich 2012).
128
auf die wissenschaftliche Aneignung der Welt des Theaters zurückgeht, in den Vordergrund
des Interesses. In vielen zeitgenössischen Handlungstheorien werden Performanzen wie
Rituale oder theatralische Darbietungen als „uneigentliche“ Formen des Handelns abgewertet
und, von einigen wichtigen Ausnahmen abgesehen, eher stiefmütterlich behandelt. So bemüht
sich beispielsweise Jürgen Habermas um eine Versprachlichung von Durkheims Ritualbegriff,
indem er die „bannende Kraft des Heiligen“ mit aufklärerischem Gestus in die bindende
„Kraft von kritisierbaren Geltungsansprüchen“ überführt (1997: 119). Seine ikonoklastischen
Bestrebungen entstellen das Ritual bis zur Unkenntlichkeit, indem sie es durch ein Konzept
des „verständigungsorientierten Handelns“ ersetzen, das einem „strategischen Handeln“ aus
Nutzenkalkülen gegenübergestellt wird. Zwar führt Habermas noch das „dramaturgische
Handeln“ als einen dritten Handlungstypus ein, trivialisiert aber zugleich dessen Bedeutung,
indem er seine ästhetisch-expressive Funktion lediglich dem künstlerischen Bereich zuweist
(1995: 135-141). Angesichts der Übermacht des strategischen und kommunikativen Handelns,
deren Dualität für Habermas die gesellschaftliche Totalität von System und Lebenswelt
konstituiert, bleibt das dramaturgisches Handeln vergleichsweise folgenlos. Im Folgenden
wird die These vertreten, dass dramaturgisches bzw. performatives Handeln unabdingbar für
ein Verständnis moderner Gesellschaften und liberaler Öffentlichkeiten ist. „Performativität“
ist kein überflüssiges Ornament des Handelns, sondern von existenzieller Bedeutung in
Fragen von Wahrheit und Unwahrheit, Krieg und Frieden, Leben und Tod.136 Den
„uneigentlichen“ Handlungsformen kommt eine gesellschaftliche Wirkmacht zu, die immer
noch von vielen Theoretikern unterschätzt wird.
2.3.1. Performativität – Wiederholung, Zitat, Wirksamkeit
Die folgende Bestimmung und Typologisierung des Performativen versteht sich als Beitrag zu
einer Klärung des Begriffs, dem unter anderem auch in dieser Arbeit eine große Bedeutung
zukommt. Zunächst sollen die zentralen linguistischen und philosophischen Ansätze zur
„Performanz“ diskutiert und im Anschluss daran eine Unterscheidung zwischen „rituellen“,
„theatralischen“ und „sozialen Performanzen“ entwickelt werden. Der Begriff der
„Performativität“ ist zu spezifizieren und dadurch von anderen Handlungsformen und
Handlungsaspekten abgrenzbar zu machen. Mit guten Argumenten ließe sich nämlich auch
die Position vertreten, dass alles Handeln als Vollzug einer Handlung immer schon
136
Dies zeigt nicht zuletzt die (missglückte) „Powell-Point-Präsentation“, mit welcher der damalige
amerikanische Staatssekretär vor dem Sicherheitsrat (vergeblich) eine Ermächtigung für den Irakkrieg 2003
erbat (vgl. 6.5).
129
„performativ“ sei. Für eine solche Begriffsfassung könnte die Verwendung von Performanz
bei Noam Chomsky Pate stehen (1972).137 Performanz bezeichnet hier die Selektion oder
Aktualisierung einer Sprechhandlung vor einem Horizont von Möglichkeiten, der durch die
Kompetenz des Sprechers gegeben ist. Ein solcher Ansatz lässt sich durchaus auf eine
allgemeine Handlungstheorie übertragen und auch kultursoziologisch fruchtbar machen,
beispielsweise im Sinne eines „culture as toolkit“ (Swidler 1986). In ähnlicher Weise
verwendet Ferdinand de Saussure (1967/1916) die Unterscheidung von „parole“ und
„langue“, wobei langue nicht auf die Kompetenz eines individuellen Sprechers verweist,
sondern den kulturellen Hintergrund einer Sprache absteckt. Eine Verwendung des Begriffes
„Performanz“, die nur auf die Selektion oder Aktualisierung einer Handlung aus einem
Möglichkeitshorizont abzielt, ist nicht nur die allgemeinste, sondern auch die leerste
Begriffsfassung.
Eine solche Verwendung des Begriffs hatte John Austin nicht im Sinn, als er sich in seiner
bahnbrechenden Studie How to Do Things with Words mit den sogenannten „performatives“
beschäftigte (1962). Über das triviale Faktum hinausgehend, dass alles Sprechen auch
Handeln sei, reserviert Austin die Bezeichnung „performativ“ nur für die Auszeichnung
solcher Sprechakte, die durch ihre bloße Äußerung soziale Tatsachen und Verpflichtungen
schaffen, wie beispielsweise Versprechen und Entschuldigungen. Um diese mysteriöse Macht
von Wörtern aufzuklären, führt Austin eine Unterscheidung zwischen verschiedenen
Aspekten des Sprachhandelns ein. Der „lokutionäre Akt“ bezeichnet den sachlichen Gehalt
einer Aussage, während der „perlokutionäre Akt“ für die die Sprecherabsicht (im Sinne des
intendierten Effekts auf die Zuhörer) steht. Die so genannten „performatives“ zeichnen sich
demgegenüber durch die Dominanz eines dritten Aktes aus. Der „illokutionäre“ Akt bindet
den Sprecher an eine durch den Sprechakt eingegangene Verpflichtung.138
Jaques Derrida ist beileibe nicht der Einzige, der Austins Sprechakttheorie einer Kritik
unterzogen hat. Dennoch soll hier näher auf seine Dekonstruktion der Sprechakttheorie
eingegangen werden (1999: 340-347), da sie einen Weg zu der hier vorgeschlagenen
Typologie weist. Ganz in der Tradition von Saussure stehend demonstriert Derrida, dass ein
137
Ein andere, aber auch recht allgemeine Verwendung des Begriffes findet sich bei Parsons und Shils, welche
die Zuschreibung von Eigenschaften aufgrund einer „performance“ von der Zuschreibung inhärenter
Eigenschaften unterscheiden (1962/1951b: 65).
138
Austins Sprechakttheorie und ihre Weiterentwicklung durch John Searle (1969) hat sich als außerordentlich
wirkungsmächtig erwiesen. Dies zeigt nicht zuletzt auch die „kommunikative Theorie des Handelns“, welche
die Unterscheidung zwischen illokutionärem und perlokutionärem Akt in die Opposition von
kommunikativem und strategischem Handeln übersetzt (Habermas 1995).
130
Sprechakt seine illokutionäre Kraft nie als singuläres Ereignis, sondern nur als Wiederholung
und Zitat vergangener Sprechakte vor dem Hintergrund eines gesellschaftlich geteilten
Wissens entfaltet. Die Bedeutung von „performatives“ ist immer schon kanonisiert, was sie in
die Nähe ritueller Performanzen rückt: „Der ‚Ritus’ ist keine Eventualität, sondern als
Iterierbarkeit ein strukturelles Merkmal jeden Zeichens (marque)“ (Derrida 1999: 343). Wir
werden sehen, dass auch klassische Rituale einen illokutionären Gehalt besitzen, der für ihre
soziale Wirksamkeit verantwortlich ist (3.3.2). Derrida legt überzeugend dar, dass
„performatives“ nur als Zitate eines kulturellen Textes funktionieren können. Davon zu
unterscheiden ist aber noch das unter anderem aus dem Theater bekannte „uneigentliche“
Zitieren, das sogenannte „Rezitieren“. Dieser uneigentliche Modus des Zitierens stellt Austin
vor unlösbare Probleme, weswegen er ihn explizit aus seiner Analyse von „performatives“
ausschließt:
Ich meine zum Beispiel Folgendes: eine performative Äußerung wird, wenn zum Beispiel von einem
Schauspieler auf der Bühne ausgesprochen, oder in ein Gedicht eingeführt, oder im Monolog gesprochen,
auf eine eigentümliche Weise hohl und nichtig. […] All dies schließen wir aus unseren Überlegungen aus.
Unsere performativen Äußerungen sollten, ob geglückt oder nicht, aufgefasst werden, als würden sie
unter gewöhnlichen Umständen hervorgebracht. (zitiert nach Derrida 1999: 308; im Original, Austin
1962: 22; Hervorhebung bei Derrida)
Der Bericht einer Entschuldigung oder die theatralische Darstellung eines Versprechens
stellen für Austin keine performativen Sprechakte dar. Beiden fehlt der illokutionäre Gehalt
und damit auch die soziale Wirksamkeit. Das Zitieren wird hier zum Parasiten des
eigentlichen Sprechens. Derrida zufolge verdeckt Austin mit seiner Auslassung die Tatsache,
dass die illokutionäre Kraft eines performativen Aktes nicht allein in seiner Äußerung liegen
kann, sondern darüber hinaus auch auf den Kontext des Aktes verweist. So lässt sich dem
bloßen Wortlaut einer Äußerung nicht entnehmen, ob es sich dabei um ein uneigentliches
Zitieren oder um einen genuinen performativen Sprechakt handelt. Allerdings lässt sich ein
Sprechakt auch nicht so einfach von seinem Kontext trennen, da dieser Kontext immer auch
durch den Akt selbst mit angezeigt werden muss, beispielsweise durch einen distanzierenden
Tonfall in der Stimme. Der uneigentlichen Verwendung von sprachlichen Ausdrücken im
Zitieren und Rezitieren entspricht die Fiktionalität theatralischer Performanzen. Die für das
Ritual konstitutiven Elemente – Wiederholung und Zitat – spielen auch hier eine Rolle,
allerdings in einer spezifischen Konfiguration, die zugleich eine Differenz zum Ritual
markiert. Die Fiktionalität eines Aktes hängt, wie auch der illokutionäre Gehalt, von seiner
Kontextualisierung ab, die immer prekär bleibt und somit auch scheitern kann. Eine letzte
Kritik von Derrida zielt auf die allen performativen Akten innewohnende Möglichkeit des
131
Scheiterns, der von Austin nicht in angemessener Weise Rechnung getragen wird. Die
sogenannten „felicity conditions“ dienen bei Austin vor allem dem Ausschluss des Scheiterns
– und nicht seiner systematischen Berücksichtigung. So kann ein Versprechen oder eine
Entschuldigung misslingen, wenn die Performanz den Adressaten nicht von der
Wahrhaftigkeit der Intention des Performers zu überzeugen vermag.139 Für Austin ist die
illokutionäre Kraft eines Ausdrucks von der Sprecherintention und nicht vom Verständnis der
Zuhörenden abhängig. Die soziale Wirksamkeit von Intentionen beruht aber auf den
Zuschreibungen anderer, und diese hängen wiederum von der Performanz des Sprechaktes ab.
Die Wahrhaftigkeit der Sprecherintention bleibt auf die performativ erzielte Glaubwürdigkeit
des Aktes angewiesen. Damit lässt sich die illokutionäre Kraft einer Äußerung nicht mehr von
ihrem perlokutionären Erfolg trennen.
Angesichts dieser unterschiedlichen Aspekte von Performativität erscheint eine feinere
Unterteilung des Oberbegriffs sinnvoll. Im Folgenden soll zwischen „rituellen“,
„theatralischen“
und
„sozialen
Performanzen“
unterschieden
werden.140
„Rituelle
Performanzen“ basieren auf formelhafter Wiederholung und stellen – wie performative
Sprechakte – soziale Wirklichkeit her (Giesen 2006b: 340f.). Bei einer „theatralischen
Performanz“ handelt es sich hingegen um die Aufführung oder Rezitation eines Textes, wobei
die Inszenierung unter dem Vorbehalt des „als ob“ (Vaihinger 1927) steht. „Soziale
Performanzen“ unterhalten ein eigentümlichen Verhältnis zu rituellen und theatralischen
Aufführungen. Eine gescheiterte soziale Performanz nimmt oft den künstlichen Charakter
einer durchschaubaren Inszenierung an, während eine geglückte soziale Performanz dem
Ritual ähnliche Wirkungen zeitigt (Alexander 2006b: 54f.). Alle drei Typen der Performanz
zeichnen sich durch eine spezifische Konfiguration von Wiederholung, Zitation und
Wirksamkeit aus. Nicht nur Rituale, sondern auch theatralische und soziale Performanzen
sind auf Wiederholung angewiesen, auch wenn bei ihnen in erster Linie die Differenz
zwischen dem aufgerufenen Kanon und dem performativen Ereignis zu tragen kommt.
Schlussendlich zeichnen sich auch Rituale und Theateraufführungen durch eine eigene soziale
Wirksamkeit aus – sofern sie nicht an ihren eigenen Maßstäben scheitern.
Bevor rituelle, theatralische und soziale Performanzen im Einzelnen diskutiert werden,
139
Auch Habermas führt – neben „Wahrheit“ und „Richtigkeit“ – die „Wahrhaftigkeit“ einer Aussage als einen
vorauszusetzenden Geltungsanspruch des kommunikativen Handelns ein – ohne allerdings seinerseits zu
berücksichtigen, dass diese Ansprüche nur performativ geltend gemacht werden können (1995: 435-452).
140
Eine ähnliche Unterscheidung zwischen „constitutive rituals“, „theatre“ und „moral drama“ wurde auch von
Bernhard Giesen vorgeschlagen (2006b: 338-357), dem diese Überlegungen viel verdanken.
132
lohnt es sich noch einmal kurz auf die Mechanismen der „Nachahmung“ und „Resonanz“
einzugehen (vgl. 1.2.5), die in einem engen Zusammenhang mit der begrifflichen Triade von
„Wiederholung“, „Zitat“ und „Wirksamkeit“ stehen. Dem Mechanismus der „Nachahmung“
kommt bei der Entstehung und Verbreitung von Mustern des performativen Handelns eine
bedeutende Aufgabe zu (Gebauer & Wulf 1998; Wulf 2005: 11-83). Dies bedeutet natürlich
nicht, dass performative Muster unverändert reproduziert werden, da sich Unterschiede zu den
vorangegangenen Performanzen automatisch einschleichen oder von den Akteuren sogar
intentional hervorgebracht werden. Abweichungen von überkommenen performativen
Mustern können entweder sanktioniert oder aber selbst wieder zum Gegenstand von Akten
der Nachahmung werden und sich zu kulturellen Mustern verfestigen. In bestimmten
Handlungskontexten wird die Abweichung von der Norm sogar zur sozialen Norm erhoben.
Das Gelingen sozialer Performanzen hängt von der Individualität und Authentizität der
Aufführung ab. Am kanonisierten Ritual der Eheschließung stört sich niemand, aber die
Liebeserklärung und der Heiratsantrag sollen originell und ehrlich sein, wie auch die Hochzeit
im Großen und Ganzen einzigartig und unvergesslich werden muss. Ähnlich verhält es sich
mit der Originalität theatralischer Performanzen, da sich nur die wenigsten Zuschauer
mehrmals die gleiche Inszenierung eines Theaterstückes anschauen würden. Der Erfolg einer
Performanz ist auf ihre Resonanz bei den anderen Akteuren oder einem Publikum angewiesen
und hängt damit entscheidend von der Beschaffenheit des jeweiligen kulturellen
Resonanzbodens ab.
2.3.2. Rituelle Performanz – Konformität und Transformation
Entwicklungsgeschichtlich stellt wohl das „Ritual“ die Keimzelle aller Performanzen dar – so
wie Durkheim in der Religion den Ursprung moderner Gesellschaftsordnungen gesehen hat
(2005/1912). Die Ritualisierung von Verhaltensweisen findet sich schon im Tierreich; Rituale
im eigentlichen Wortsinn gibt es aber erst in menschlichen Gesellschaften. Nicht nur das
okzidentale Drama geht auf Rituale des dionysischen Kultus zurück, sondern auch agonale
Wettbewerbe wie die olympischen Spiele dienten zunächst rituellen Zwecken. Ausgehend
vom Ritual haben sich sowohl das Theater als auch der Sport in unterschiedliche Richtungen
entwickelt, die ihre begriffliche Abgrenzung vom Ritual erforderlich machen. Während es
sich bei theatralischen Aufführungen um fiktionale Inszenierungen handelt, die eine Grenze
zwischen Publikum und Bühne ziehen, stellt das Ritual Solidarität zwischen den Partizipanten
her. In ähnlicher Weise lassen sich agonale Spiele von Ritualen unterscheiden, da sportliche
Wettkämpfe, ausgehend von gemeinsamen Startbedingungen und Chancengleichheit,
133
Differenzen zwischen den Parteien erzeugen, während bei gelungenen Ritualen die sozialen
Unterschiede zwischen den Teilnehmern in den Hintergrund treten (so Lévi-Strauss 1977:
47).
Aufgrund ihres Beitrags zur Herstellung von Solidarität haben Rituale auch in der
soziologischen Tradition ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erfahren. Nach Durkheim ist
die Religion bzw. das kollektive Bewusstsein einer Gesellschaft „ein solidarisches System von
Überzeugungen und Praktiken“ (2005/1912: 75, Hervorhebung im Original), das sich an der
Unterscheidung von „heilig“ und „profan“ orientiert. Rituale sind gemeinschaftliche
Praktiken, welche den Unterschied zwischen heilig und profan markieren, wobei das
„Heilige“ bei Durkheim letztendlich nur als ein Platzhalter, als ein leerer Signifikant für die
Transzendenz der Gesellschaft fungiert (2005/1912: 285-295). Wir werden sehen, dass
Rituale in der modernen Gesellschaft keineswegs vom Verschwinden bedroht sind, da ihnen
aufgrund ihrer formalen Eigenschaften eine unverzichtbare Stellung im Sozialen zukommt. Es
gibt zahlreiche Versuche, das Ritual nach formalen Kriterien zu definieren. Als
Ausgangspunkt unserer Überlegungen eignet sich Roy A. Rappaports Definition des Rituals
als einer „performance of more or less invariant sequences of formal acts and utterances not
entirely encoded by the performers“ (1999: 25). Diese Definition rückt die für rituelle
Praktiken charakteristische Wiederholung und die Kanonisierung rituellen Wissens in den
Vordergrund (so auch Tambiah 1985: 128, 131-137). Ablauf und Bedeutung eines Rituals
sind von vornherein festgelegt und der individuellen Deutung der Partizipanten weitestgehend
entzogen. Im rituellen Handlungsmodus wird zudem von der individuellen Intentionalität der
einzelnen Akteure abstrahiert (Humphrey & Laidlaw 2004). Alleine die Konformität der
Partizipanten mit den für das Ritual erforderlichen Regeln ist für das Gelingen einer rituellen
Performanz entscheidend. Da diese Konformität wiederum auf der Zuschreibung von
Beobachtern beruht, kann der mutmaßliche Erfolg eines Rituals auch noch nachträglich zum
Gegenstand einer Debatte werden. Der Anthropologe Stanley J. Tambiah versuchte
darüberhinaus, das Konzept der Performativität für die Analyse von Ritualen fruchtbar zu
machen:
Ritual action in its constitutive features is performative in these three senses: in the Austinian sense of
performative, wherein saying something is also doing something as a conventional act; in the quite
different sense of a staged performance that uses multiple media by which the participants experience the
event intensively; and in the sense of indexical values I derive this concept from Peirce being attached
to and inferred by actors during the performance. (1985: 128)
Erst die Berücksichtigung der Performativität eines Rituals wirft ein Licht auf seine sozialen
Effekte, seine sinnliche Erfahrbarkeit als szenische Aufführung und seine objektive
134
Bedeutung als kulturelles Symptom. Das Ritual hat – wie schon die alltäglichen Akte des
Versprechens und des Entschuldigens – einen illokutionären Gehalt, der es vom Theater
unterscheidet (Tambiah 1985: 134f.). Mit einem erfolgreich durchgeführten Ritual geht eine
Veränderung der sozialen Welt und oft auch eine persönliche Transformation der
Partizipierenden einher (vgl. Turner 2005). Ein Ritual erzielt diesen Realitätseffekt nicht
durch eine direkte physikalische Einflussnahme auf die Umwelt, sondern aufgrund von
formalen Eigenschaften und sozialen Konventionen (siehe auch Rappaport 1999: 46-50). Als
„staged performance“ oder szenische Aufführung ähnelt das Ritual wiederum dem Theater
(vgl. 1999: 37-46). Eine rituelle Performanz wird körperlich und sinnlich erlebt, was für ihre
Bedeutung und Wirkung keineswegs unwesentlich ist (Giesen 2006b: 342f.; vgl. Sullivan
1986). Zu guter Letzt kann ein Ritual als indexikalisches Zeichen oder kulturelles Symptom
gelesen werden, das auf gesellschaftlich geteilte Vorstellungen verweist, wie beispielsweise
der balinesische Hahnkampf als „metasocial commentary“ (Geertz 2006: 448).141 Im Ritual
und seiner Beziehung zum Heiligen spiegelt sich das soziale Imaginäre der Kultgemeinschaft
wieder. Kollektive Vorstellungen von „Reinheit“ und „Unreinheit“, „Männlichkeit“ und
„Weiblichkeit“ usw. finden in Ritualen nicht nur einen körperlichen Ausdruck, sondern
werden auch rituell verfestigt. Schon das einfache Interaktionsritual des Hutziehens besitzt
einen solchen, über seinen sozialen Sinn als Begrüßung hinausgehenden, dokumentarischen
Sinn (Panofsky 1964: 93).
Gerade anhand der transformativen Kraft ritueller Performanzen lässt sich aufzeigen, wie
die performativen Qualitäten eines Rituals an seine formalen Eigenschaften geknüpft sind.
Der Ausführung eines Rituals liegt eine besondere Form der Regel zu Grunde: Während es
sich bei sozialen Normen in erster Linie um regulative Regeln handelt, die in der Form
geteilter Verhaltenserwartungen ein bereits existierendes Verhalten regeln, legen die
konstitutiven Regeln eines Rituals fest, was überhaupt als Ritual zu gelten hat (zu dieser
Unterscheidung Rawls 1955; Searle 1995: 43-51). Die Vorschriften zur Durchführung eines
Rituals konstituieren dieses gleichzeitig, so wie Spielregeln ein Spiel konstituieren. Rituale
141
Catherine Bell (1992) zufolge kommt dem Ritual in nahezu allen Ritualtheorien die Aufgabe zu, die
Dichotomie von „Denken“ und „Handeln“ zu überwinden. Dennoch wird das Ritual klassischerweise, so
auch bei Durkheim, primär dem Bereich des Handelns zugeordnet, wodurch sich die Dichotomie von Denken
und Handeln reproduziert. Bell möchte diese Dichotomie in einem Begriff des Rituals als Praxis aufheben.
Bell vertritt einen monistischen Ansatz, welcher der Praxistheorie von Reckwitz nicht unähnlich ist (1.2.3).
Die vorliegende Arbeit geht stattdessen davon aus, dass sich die Unterscheidung zwischen Denken und
Handeln, Intentionalität und vorintentionalem Hintergrund, ritueller Praxis und dem sozialen Imaginären
soziologisch fruchtbar machen lässt.
135
gleichen dadurch in ihrer Struktur einem performativen Sprechakt, der qua Sprache soziale
Wirklichkeit hervorbringt (Giesen 2006b: 340f.). Allerdings ist eine scharfe Trennung
zwischen konstitutiven und regulativen Regeln nicht immer möglich.142
Gerade weil Rituale auf konstitutiven Regeln basieren, weisen sie ein Charakteristikum
auf, das man im Anschluss an Victor Turner und van Gennep als „Liminalität“ bezeichnen
kann.143 Mit der Anwendung der konstitutiven Regeln geht ein Schwellenübertritt einher, der
sich in der Transformation von Personen und Situationen äußert. In der liminalen Phase des
Rituals wird zudem die Geltung alltäglicher Normen außer Kraft gesetzt – ein Merkmal, das
Turner als „Antistruktur“ bezeichnet. Der antistrukturelle Kern eines Rituals zeigt sich unter
anderem darin, dass für die Dauer des Rituals die sozialen Differenzen zwischen den
Partizipanten, z.B. Kasten- oder Standesunterschiede, in den Hintergrund treten. Dadurch
bewirken Rituale ein außerordentliches Gefühl von Gemeinschaftlichkeit, communitas, dem
das alltäglichen Leben in den verschiedenen sozialen Rollen fremd bleiben muss (Turner
2005: 96f., 123-127). Gerade weil Rituale die Sozialstruktur zeitweise außer Kraft setzen,
können sie einen Beitrag zur Stabilisierung der sozialen Ordnung leisten – wenn es denn
gelingt, die kurzlebige communitas in gesellschaftliche Solidarität zu transformieren. Rituale
kommen in Gesellschaften beispielsweise als soziale Mechanismen der Krisenbewältigung
zur Anwendung, wie nicht nur der Regentanz der Hopi-Indianer (Merton 1995a: 62f.),
sondern auch die kollektive Trauerarbeit nach dem 11. Septembers 2001 zeigen (Tiryakian
2005). Mit dem Austritt aus der Schwellenphase und der Wiedereingliederung in die
Gesellschaft kann es zu dauerhaften Veränderungen im sozialen Status kommen,
beispielsweise bei Initiationen und Amtseinführungen (vgl. 3.3.2). Selbst in modernen
Gesellschaften wird bei einem wichtigen Statuswechsel auf rituelle Formen zurückgegriffen.
Sowohl die überpersönliche Geltung der Regeln als auch das seine Ausführung begleitende
Gemeinschaftsgefühl machen das Ritual zu einer genuin kollektiven Angelegenheit – auch da,
142
Ob die Bekreuzigung mit Weihwasser als Abglanz einer rituellen Waschung noch die purifizierende
Transformation eines Gläubigen bewirkt oder nur noch als soziale Norm die Eintrittsmodalitäten einer
katholischen Kirche für gläubige Katholiken regelt, hängt zunächst einmal von dem persönlichen Erleben des
Ritualteilnehmers, letzten Endes aber vor allem von der Rahmung durch die Kirche als einer sozial
verbindlichen Instanz ab.
143
Van Gennep untersuchte in seiner als klassisch geltenden Studie so genannte „Übergangsriten“ (1999), unter
anderem auch Initiationsrituale (3.3.2). Er stellte fest, dass sich Übergangsriten in drei Phasen unterteilen
lassen: Zunächst kommt die Phase der „Abtrennung von der Gemeinschaft“, dann die so genannte
„Schwellen-“oder „liminale“ Phase und schließlich die Phase der „Wiedereingliederung in die
Gemeinschaft“. Dieses Modell wurde von Turner auf alle Rituale und andere soziale Phänomene ausgeweitet
(2005).
136
wo es scheinbar individuell ausgeführt wird (z.B. beim einsamen Tischgebet). Was Rituale
von individuellen Gewohnheiten und idiosynkratrischen Neurosen unterscheidet, ist ihr
expliziter oder impliziter Bezug auf eine Kultgemeinschaft, die ihnen zu Grunde liegende
kollektive Intentionalität.
Für die soziologische Debatte war vor allem die Rezeption des Ritualbegriffs in Durkheims
religionssoziologischem Spätwerk ausschlaggebend (2005/1912). In der Mikrosoziologie
wurden darüber hinaus auch seine früheren Überlegungen zum Kult des Individuums
einflussreich (1986/1898). Erving Goffman zufolge äußert sich die Heiligkeit der Person in
der modernen Gesellschaft in Techniken der Imagepflege und Ritualen der Ehrerbietung
(1991a). Randall Collins (2004) hat im Anschluss an Goffman das Interaktionsritual zum
Grundbegriff einer Mikrosoziologie gemacht, in deren Rahmen sich nicht nur Menschen und
Gesellschaften,
sondern
auch
scheinbar
private
Akte
wie
das
Denken
als
„Interaktionsritualketten“ beschreiben lassen. In der Makrosoziologie kam Durkheims
Ritualbegriff vorwiegend in Arbeiten über die Massenmedien und Öffentlichkeit zur
Anwendung (einen Überblick findet sich bei Cottle 2006). Edward Shils Aufsätze über das
„heilige Zentrum“ moderner Gesellschaften und insbesondere seine zusammen mit Michael
Young durchgeführte Studie zur Krönung der englischen Queen waren hier wegweisend
(1975). Diese Beschäftigung mit makrosoziologischen Ritualen als integrativen Mechanismen
moderner Gesellschaften fand in den Arbeiten über Medienereignisse von Daniel Dayan und
Elihu Katz (1988, 1996) sowie in Jeffrey C. Alexanders Analysen des Watergate-Skandals
(1988b, 2003c) eine Fortsetzung. Alexander entwickelte seinen Ritualansatz zu einer Theorie
sozialer Performanz weiter (2004, 2006b, 2010), die – wie Collins’ Theorie der
Interaktionsritualketten – auf eine Verknüpfung mikrosozialer Handlungszusammenhänge
und makrosozialer Strukturen abzielt.
2.3.3. Theatralische Performanz – Fiktionalität und Reflexion
Nach heutigem Wissensstand ist das uns vertraute okzidentale Theater aus den Ritualen des
griechischen Dionysoskultes hervorgegangen (vgl. Barthes 2005: 69f.; Alexander 2006b: 4749). Im Gegensatz zum rituellen Handeln, das als performativer Akt soziale Wirklichkeit
hervorbringt und reproduziert, zeichnen sich theatralische Performanzen durch den Vorbehalt
des „als ob“ (Vaihinger 1927) aus. In dem Moment, wo eine Handlung als theatralische
Performanz gerahmt wird, wird die Handlung nicht mehr der Person des Darstellers, sondern
der dargestellten Figur zugerechnet. Die dargestellte Handlung ist fiktional, in demselben
Sinne wie eine erfundene Erzählung fiktional ist. Des Weiteren impliziert die theatralische
137
Performanz eine Unterscheidung zwischen den Aufführenden und dem Publikum. Im antiken
Theater war diese Grenze noch durchlässiger als im späteren bürgerlichen Theater.
Transformation ist zunächst kein notwendiges Ergebnis theatralischer Performanzen.
Theater muss nicht belehren, sondern kann auch einfach nur unterhalten. Und wenn denn eine
Transformation stattfinden soll, dann auf Seiten des Publikums und nicht bei den
Schauspielern. Die antike Dramentheorie des Aristoteles weist noch eine starke Nähe zum
Ritual auf, was sich unter anderem darin zeigt, dass die Tragödie den Zuschauer durch
Mitleiden von seinen eigenen Affekten reinigen soll (katharsis). Eine moralische Besserung
des Zuschauers hatte auch noch Friedrich Schiller im Sinn, als er „die Schaubühne als
moralische Anstalt“ in den aufklärerischen Dienst einer ästhetischen Erziehung des
Menschengeschlechts stellte (1992: 185-200). Die moderne Kunst, die sich ihrer Autonomie
zunehmend bewusst wurde, hat diese rituellen und pädagogischen Aufgaben von sich
gewiesen und neigt dazu, den transformativen Effekt dem Publikum anheim zustellen. Wenn
denn die moderne Kunst noch einen außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck hat, dann
vermutlich als Projektionsfläche und Reflexionsgegenstand. Dadurch, dass theatralische
Performanzen eine fiktionale Darstellung auf die Bühne bringen, ermöglichen sie dem
Publikum eine Reflexion über sich selbst. Seit Artaud (Artaud 1981) gab es jedoch immer
wieder avantgardistische Bestrebungen, das Theater dem Ritual anzunähern und die
Zuschauer stärker mit einzubinden.144
Wolfgang Iser hat darauf hingewiesen, dass „Fiktionalität“ als vermittelndes Prinzip
zwischen dem Realen und dem Imaginären begriffen werden muss (1991). Iser unterscheidet
zudem drei Aspekte der Fiktionalität, die er „Selektion“, „Kombination“ und „Selbstanzeige“
nennt. Dabei entspricht die Selektion der Nachahmung von bestimmten Handlungsmustern,
die außerhalb eines Textes (oder einer Aufführung) liegen, die Kombination der
Relationierung von Elementen innerhalb des Textes, während die Selbstanzeige dazu dient,
den Text als fiktional auszuweisen. Dass sich uneigentliche performative Akte nicht über den
Kontext identifizieren lassen (2.3.1), hat bereits Derrida gegenüber Austin moniert; und so
stellt auch Iser fest, dass sich die Fiktionalität eines Textes (oder einer Aufführung) niemals
alleine vom Kontext her erschließen lässt, sondern durch „Selbstanzeige“ ausgeflaggt werden
muss. Fiktionale Akte oder Texte geben „sich durch ein Signalrepertoire als fiktional zu
144
Die zeitgenössische performance art stellt ein Grenzfall der theatralischen Performanz dar. Hier geht es in
der Regel nicht mehr um die Aufführung eines Textes, sondern um die Herstellung von Körperlichkeit und
Ereignishaftigkeit, indem mit den Erwartungshaltungen des Publikums, dem vorintentionalem Hintergrund,
gebrochen wird (vgl. Giesen 2006a).
138
verstehen“ (Iser 1991: 35). Ungeachtet dieser Einklammerung der Seinsgeltung des Textes
oder der Performanz: Im Akt des Fingierens gewinnt das soziale Imaginäre durch Selektion
und Kombination eine eigene Realität.
Wie jede Form der Performanz setzt auch das Theater auf Körperlichkeit und Präsenz,
greift aber zugleich auf gesellschaftlich verbreitete Erzählmuster und Archetypen zurück.
Auch fiktionale Filme und Fernsehserien können als Formen theatralischer Performanz
verstanden werden, selbst wenn an die Stelle des unmittelbaren Erlebens der Aufführung die
Vermittlung durch ein Speicher- und Wiedergabemedium tritt. Fiktionale Performanzen und
Texte konstatieren weder Fakten, noch wird die Geltung etwaiger Normen behauptet.
Dennoch stellen fiktionale Gattungen auch immer eine Nachahmung von Realem dar. Auch
wenn die Figuren erfunden sind, können andere Elemente der Darstellung durchaus realistisch
sein (10.3.2). Angesicht einer fiktiven Folterszene können wir uns beispielsweise fragen, ob
Folter wirklich so funktioniert oder ob die Schreie des Gefolterten auch realistisch genug
waren. Selbst ein phantastisches Genre wie der Science Fiction kommt nicht ohne vertraute
Elemente aus. Obwohl die Seinsgeltung und die normative Richtigkeit des Dargestellten bei
theatralischen Performanzen in der Regel eingeklammert werden, geben sich gerade fiktive
Darstellungen in Film und Fernsehen gerne realitätsnah und werden auch nicht selten als ein
mehr oder minder akkurates Abbild der Wirklichkeit wahrgenommen. Deswegen können
theatralische Darbietungen leicht zum Gegenstand der Nachahmung, aber auch der
Medienkritik werden (10.3.2).
Die Vorstellung von der Welt als einer Bühne und von der Gesellschaft als einem Theater
findet sich nicht erst im Barock (theatrum mundi), sondern ist fast so alt wie das okzidentale
Theater selbst.145 Auch auf die Soziologie übte die Metapher des Theaters eine nachhaltige
Faszination aus, was nicht zuletzt die Karriere des soziologischen Rollenbegriffs zeigt. Für
Mead (1970) bleibt das „taking the role of each other“ keine bloße Metapher, sondern wird
zum grundlegenden Prinzip des Sozialen, das schon durch die kindliche Praxis des
Rollenspiels („play“) eingeübt wird. Auch Goffman (2006) versuchte schon früh, sich mit
Hilfe von theatralischen Kategorien wie „Bühne“, „Rolle“, „Skript“ und „Ensemble“ das
weite Feld sozialer Interaktionen zu erschließen. Die Fruchtbarkeit dieser Ansätze legt es
nahe, dem Theater nicht bloß einen metaphorischen und heuristischen Wert für die Soziologie
zuzusprechen, sondern bestärkt uns darüber hinaus auch in der Annahme, dass die
145
So sieht Platon in seinen Nomoi im Menschen eine Marionette der Götter (644d-645c) und weist die fremden
Tragödiendichter mit der Begründung ab, dass der wahrhafte Staat selbst ein Drama sei, das sich der
Nachahmung (mimesis) des schönsten und besten Lebens verschrieben habe (817a-d).
139
menschliche Kultur selbst dramatologisch verfasst ist (so Lipp 1984).
Diese Konjunktur des Theaters in der Soziologie ist möglicherweise der Vervielfältigung
von Handlungskontexten geschuldet. Die „Kreuzung der sozialen Kreise“ (Simmel
1992/1908: 456-511) und die „funktionale Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft“
(Luhmann 1997) führen dazu, dass Akteure nur noch spezifisch in Kontexte eingebunden
werden. Dies verleiht dem Rollenbegriff zunächst eine gesteigerte Plausibilität. Goffman hat
darüberhinaus gezeigt, dass auch das eigene Selbst auf Selbstdarstellung (3.2.1) und
Rollenspiel angewiesen bleibt:
Eine richtig inszenierte und gespielte Szene veranlasst das Publikum, der dargestellten Rolle ein Selbst
zuzuschreiben, aber dieses zugeschriebene Selbst ist ein Produkt einer erfolgreichen Szene, und nicht ihre
Ursache. (Goffman 2006: 231)
Die individuelle „Person“ wird damit, etymologisch korrekt, selbst zur theatralischen Maske.
Es gibt auch kein Publikum mehr, das nicht selbst wieder auf einer Bühne stehen würden.
Dies wird insbesondere am Konzept der „Hinterbühne“ („backstage“) deutlich, auf der eben
auch ein – gleichwohl anderes – Stück aufgeführt wird. Dennoch stößt die Betrachtung der
Welt als Bühne auch schnell an ihre Grenzen. So ist die Frage nach der Fiktionalität einer
Performanz in den meisten Zusammenhängen, vor allem dort, wo es um rollenkonformes
Verhalten geht, schlichtweg unbedeutend. Hauptsache, es wird den Erwartungen gemäß
gehandelt. Allerdings gibt es auch Performanzen, die danach trachten, ihre Künstlichkeit zu
verbergen – manchmal auch vor dem Darsteller selbst (2.3.4). Eine Ausnahme hiervon ist die
theatralische Qualität, die im Phänomen der Rollendistanz zu Tage tritt. Hier wird die eigene
Inszenierung als solche ausdrücklich kenntlich gemacht und ironisiert.
Während rituelle Performanzen communitas bzw. Gemeinschaft erzeugen, schaffen
theatralische Performanzen durch ihre Trennung von Darstellern und Publikum einen
öffentlichen Raum (4.2). Dem Handlungstypus der theatralischen Performanz entspricht ein
Modell höfischer oder repräsentativer Öffentlichkeit, wie es von Habermas – unter anderem
im Rekurs auf Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre – im Strukturwandel der Öffentlichkeit
diskutiert wird (1990: 58-69).146 Mit der bürgerlichen Öffentlichkeit tritt eine künstliche
Natürlichkeit, die den Handlungstypus der sozialen Performanz favorisiert, an die Stelle der
kultivierten Künstlichkeit des Hofes, wie sie Geertz am Beispiel des balinesischen
Theaterstaates schildert (1980; vgl. auch Giesen 2011). Bei Habermas kippt die heroische
146
Es ist instruktiv, dass der junge Wilhelm, dem der Zugang zur repräsentativen Öffentlichkeit des Adels
aufgrund seiner bürgerlichen Herkunft verwehrt bleibt, in der Welt des Theaters Anerkennung sucht. Erst die
bürgerliche Öffentlichkeit (4.2.2) hebt die prinzipielle Trennung zwischen Darstellern und Publikum auf –
wenn auch nicht im Bereich der Kunst.
140
Erzählung von den hoffnungsvollen Anfängen der bürgerlichen Öffentlichkeit schließlich
unter dem Eindruck einer verzerrenden Kulturindustrie und massenmedial hergestellten
Öffentlichkeit in eine Verfallsgeschichte um. In der vorliegenden Arbeit wird die Vorstellung
einer naturwüchsigen bürgerlichen Öffentlichkeit allerdings zurückgewiesen. Vielmehr ist
davon auszugehen, dass Natürlichkeit und Konsens immer künstlich – und das heißt
performativ – hergestellt werden müssen, was aber für die Mitglieder einer Gesellschaft
natürlich latent bleiben kann.
2.3.4. Soziale Performanz – Authentizität und Resonanz
Unsere zeitgenössischen Gesellschaften zeichnen sich durch eine Vervielfältigung kultureller
Hintergründe
und
einen
Zwang
zur
Individualisierung
aus.
Es
entstehen
Handlungsspielräume, die nicht (nur) mit standardisierten Ritualen gefüllt werden dürfen oder
können. Der Prozess der Vergesellschaftung und Ausdifferenzierung von Rollen führt
außerdem zu einem gesteigerten Bedürfnis nach Gemeinschaft und „Authentizität“. Gerade in
der politischen Öffentlichkeit, z.B. in der Reaktion auf Katastrophen und Krisen, darf nicht
der Eindruck erweckt werden, dass hier ein Ritual des Bedauerns bloß formelhaft wiederholt
oder gar eine Rolle gespielt würde (Giesen 2006b: 354-357). Moderne Rollenstruktur und
postmodernes Rollenspiel führen gleichermaßen zu einem Unbehagen an der Moderne, das
sich in der Suche nach Authentizität niederschlägt (Berger 1970: 473-504; Plessner 2002; C.
Taylor 2007). Dies zeigen nicht nur die vielfältigen Szenen und Subkulturen, sondern auch
das Phänomen des religiösen Fundamentalismus. Die postmoderne Beliebigkeit befeuert diese
Sehnsucht nach Authentizität, deren zeitweilige Erfüllung ein dritter Typus der Performanz,
die „soziale Performanz“, verspricht.
Der Übergang vom Ritual zum Theater vollzog sich in der griechischen Antike nicht ohne
einen aufschlussreichen performativen Zwischenschritt. Der Dithyrambus ist eine individuelle
lyrische Improvisation, die als Teil des klassischen Dionysoskultes im Wechsel mit der
übrigen Kultgemeinschaft als Chor aufgeführt wurde. Ihm lässt sich ein Strukturmodell von
sozialer Performanz und moderner Öffentlichkeit entnehmen. Zum einen konnte die lyrische
Performanz mehr oder weniger gut gelingen, zum anderen ging hier der dramatischen
Spaltung von Darsteller und Publikum das Wechselspiel von Performer und partizipierendem
Publikum voraus. In der politischen Öffentlichkeit ersetzen die Massenmedien und der
Journalismus den Chor, indem sie einen Dialog zwischen Performern und Publikum durch
geeignete Genres und Techniken inszenieren (z.B. durch Kommentare, Leserbriefe und
Interviews). An die Stelle des theatralischen Publikums tritt ein mehr oder weniger
141
partizipierendes Publikum, dessen Mitglieder – im Prinzip – jederzeit auch selbst als
Performer auftreten können. Auch politische Akteure, insbesondere in den Vereinigten
Staaten, bedienen sich ähnlicher Techniken, indem sie sich im Bürgergespräch auf der Straße
inszenieren oder bei Auftritten mit einer repräsentativen Auswahl der Wählerschaft umgeben.
Angesichts der gegenwärtigen digitalen Revolution in der Öffentlichkeit, der steigenden
Bedeutung von sozialen Netzwerken und Internetvideos, ist davon auszugehen, dass die
Bedeutung von sozialen Performanzen in den kommenden Jahren noch weiter steigen wird.
Das hier verwendete Konzept der „social performance“ entstammt der kulturellen
Pragmatik von Jeffrey C. Alexander (2006b).147 Während sich die linguistische Pragmatik mit
den Wirkungen von Sprechakten auf Hörer beschäftigt, geht es Alexander um den Erfolg
sozialer Performanzen in Abhängigkeit vom jeweiligen kulturellen Hintergrund des
Publikums. Alexander entwickelt dieses Konzept in Anlehnung an und in Abgrenzung zu
Durkheims Ritualbegriff. Während in einfachen Gesellschaften ein geteiltes kanonisches
Wissen und ein einheitlicher kultureller Hintergrund vorausgesetzt werden darf, wird diese
Annahme bei modernen Gesellschaften fragwürdig.148 Eine soziale Performanz muss mit dem
kulturellen Horizont des Publikums verschmelzen, wenn sie gelingen und damit die Funktion
eines Rituals erfüllen will. Dies ist nur möglich, wenn die individuelle Performanz auf einen
geeigneten kulturellen Resonanzboden von „background representations“ fällt. So kann der
Erfolg öffentlicher Kommunikation als ein Ergebnis kontingenter Performanzen verstanden
werden. Während Konformität die Vorrausetzung eines gelungenen Rituals darstellt, geht es
bei sozialen Performanzen in erster Linie um „Authentizität“ (vgl. Giesen 2006b: 350-357).
Nicht nur der Anspruch auf Wahrhaftigkeit muss performativ zur Geltung gebracht werden,
sondern auch kognitive und normative Geltungsansprüche.149
Soziale Performanzen zitieren, gerade auch in der Welt der Politik, aus dem Kanon
147
In Ermanglung einer besseren Alternative soll auch in der vorliegenden Arbeit der Begriff der „sozialen
Performanz“ verwendet werden, was aber nicht bedeutet, dass die anderen Typen performativen Handelns
nicht sozial wären. Akte der sozialen Performanz beschränken sich zudem nicht auf das Politische, auch
wenn in dieser Arbeit vor allem politische Performanzen im Vordergrund stehen, sondern sind in allen
Bereichen des sozialen Lebens und des Alltagshandelns zu finden.
148
Alexanders Gegenüberstellung eines einheitlichen („fused“) kulturellen Hintergrundes bei einfachen
Gesellschaften und einem fragmentierten („defused“) kulturellen Hintergrundes in modernen Gesellschaften
muss jedoch mit Vorsicht behandelt werden. Weder sind einfache Gesellschaften in einem strengen Sinne
„einheitlich“, noch wäre eine Verschmelzung („fusion“) ganz ohne kulturelle Gemeinsamkeiten möglich.
149
Man erinnere sich nur an das Schicksal des orientalischen Sternenforschers aus dem Antoine de SaintExuperys Der kleine Prinz. Seiner Entdeckung wurde erst Aufmerksamkeit und Glauben geschenkt, nachdem
er sein Auftreten den westlichen akademischen Gepflogenheiten angepasst hatte.
142
kultureller und popkultureller Diskurse, um ihr Publikum für sich einzunehmen. So zitierte
Charles de Gaulle bei seinem Besuch von Quebec im Jahr 1967 – an Bord eines Schiffes den
St. Lorenzstrom aufwärts – den französischen Entdecker Jaques Cartier. George W. Bush
hingegen übernahm am 1. Mai 2003 anlässlich einer Rede zur offiziellen Beendigung des
Kampfeinsatzes im Irak eine Rolle von Tom Cruise und setzte sich mit seinem „Top Gun“Auftritt auf dem Flugzeugträger Abraham Lincoln als erster Krieger des Staates in Szene
(6.5.1). Und auch Willy Brandts Kniefall im Warschauer Ghetto konnte seine Wirkung nur als
imitatio christi entfalten (vgl. Rauer 2006: 276; Schneider 2006). In der einschlägigen
Literatur wird das Konzept der Performanz auch zur Beschreibung terroristischer Anschläge
verwendet, da sie für ein Publikum inszeniert werden (Giesen 2010: 212) und auf eine
Schockwirkung abzielen (Alexander 2004). Ironischerweise wurden für den Terroranschlag
auf das World Trade Center nicht nur Requisiten der westlichen Zivilisation (z.B. Flugzeuge
einheimischer Airlines) verwendet; vielmehr fanden auch die Terrorakte selbst ihre Vorbilder
in der westlichen Kultur, nämlich in den populärkulturellen Zerstörungsphantasien von Fight
Club bis Independence Day (6.4). Geoffrey Hartman eröffnet noch einen weiteren Zugang zu
den performativen Qualitäten des Terrorismus, wenn er den modernen Fundamentalismus als
„quest for authenticity“ bezeichnet (2002: 233). So gesehen richtet sich die Botschaft des
Terroraktes nicht nur an das Publikum, sondern auch an den Performer selbst, der sich mit
dem Opfer des eigenen Lebens der Authentizität seines Glaubens performativ versichert.
Fundamentalistisch motivierter Terrorismus hat möglicherweise mehr mit der performativen
Herstellung von Authentizität zu tun, als mit konkreten politischen Forderungen oder einem
diffusen Widerstand gegen „den Imperialismus“. Gewalt als Überschreitung scheint sich in
besonderer Weise für die performative Herstellung von Authentizität zu eignen (3.1.4).
Dank der modernen Massenmedien kann performatives Handeln einzelner Menschen
gesellschaftsweite Auswirkungen haben – wie nicht zuletzt das Phänomen des Terrorismus
zeigt. Soziale Performanzen, deren Botschaft über die Kanäle der Massenmedien Verbreitung
findet, fungieren als Mikro-Makro-Links (vgl. Alexander et al. 1987), welche die Dichotomie
zwischen der Handlungsebene und den gesellschaftlichen Strukturen aufheben. So versuchen
Politiker durch authentische Performanzen jenes Charisma zu erzeugen, das – jenseits von
Traditionalismus und Rationalität – die Wahlentscheidung bei dem stetig wachsendem Anteil
von Wechselwählern mit beeinflusst. Einzelne performative Akte können somit zum Auslöser
gesellschaftlicher Entwicklungen werden – wenn sie auf Resonanz in der Gesellschaft stoßen.
143
2.3.5. Soziale Dramen und Bühnendramen – Ein mimetisch-performativer Kreislauf
Im Folgenden soll noch kurz auf zwei komplexe soziale Prozesse eingegangen werden, die
sich aus elementareren Formen performativen Handelns zusammensetzen. An ihnen lässt sich
der mimetische Kreislauf von Performanzen (und Narrativen) bzw. die performative
Reproduktion kultureller Muster besonders gut demonstrieren. Die Rede ist von „sozialen
Dramen“ und „Bühnendramen“, mit denen sich vor allem der Anthropologe Victor Turner
und der Theaterwissenschaftler Richard Schechner auseinandergesetzt haben. Ein soziales
Drama hat im Gegensatz zum Ritual (und zur klassischen Tragödie) einen offenen Ausgang.
Es lässt sich in vier aufeinanderfolgende Akte unterteilen (Turner 2009: 108-112). Der
„Bruch“ (breach) stellt einen öffentlichen Normverstoß dar, der zur „Krise“ (crisis) und damit
zum Konflikt zwischen verschiedenen Parteien führt. „Bewältigung“ (redress) ist die dritte
Phase, in der versucht wird, die gesellschaftliche Krise einzudämmen. Der letzte Akt des
sozialen Dramas hat zwei mögliche Ausgänge, „Integration“ (reintegration) oder
„Anerkennung der Spaltung“ (recognition of the schism). Soziale Dramen entstehen
vorzugsweise in Krisenzeiten oder bei latenten Spannungen, welche durch die öffentliche
Dramatisierung erst manifest werden. Ohne die latenten Konflikte der Dritten Republik wäre
die Dreyfus-Affäre niemals über einen Spionagefall hinausgekommen. In jedem Akt des
sozialen Dramas spielen rituelle und soziale Performanzen eine wichtige Rolle. So kann der
Bruch dramatisch inszeniert werden, wie bei der Boston Tea Party, oder durch einen
performativen Akt der Enthüllung öffentlich gemacht werden, wie dies Zola mit seinem
„J’accuse“ gelang. Die Austragung von Konflikten in der Krise wird von den Repräsentanten
der zerstrittenen Parteien vorzugweise mit sozialen Performanzen bestritten. Für die
Bewältigung der Krise bieten sich hingegen Rituale an, da sie soziale Differenzen
überbrücken und Gemeinschaftlichkeit herstellen können. Die ritualisierte Amtsübergabe des
amerikanischen Präsidenten, welche das entzweiende Drama des Wahlkampfes zu einem
glimpflichen Ende bringt, ist ein Beispiel für einen solchen Bewältigungsmechanismus (Wulf
2005: 153-163). Die rituelle Opferung eines Sündenbocks, der außerhalb der streitenden
Parteien steht und damit die Spaltung der Gemeinschaft überwinden kann, ist eine weitere,
geradezu klassische Möglichkeit, die nicht nur vormodernen Gesellschaften zur Verfügung
steht
(vgl.
Girard
2006;
8.5.1;
9.5.2;
10.1.3).
Auch
die
Einleitung
des
Amtsenthebungsverfahrens gegen den amerikanischen Präsidenten Nixon und seinem darauf
folgenden Rücktritt, der seiner Partei den Weg für einen Neuanfang ebnete, legt einen
ähnlichen Mechanismus offen, der schließlich die Bewältigung der Watergate-Affäre
144
herbeiführte. Es muss ein symbolischer Ausschluss des Beschuldigten aus der Gemeinschaft
erfolgen, wenn der Konflikt beigelegt und die soziale Krise überwunden werden soll. Hierfür
eignen sich auch rechtliche Mechanismen, da das Recht – dem Sündenbock nicht unähnlich –
außerhalb der streitenden Parteien steht. Wie aber nicht zuletzt die Dreyfus-Affäre gezeigt
hat, kann ein solcher Versuch der rechtlichen Bewältigung durchaus fehlschlagen, wenn er
nicht in der ganzen Gesellschaft auf Resonanz und Akzeptanz stößt. Integration oder
Anerkennung der Spaltung? Die Antwort auf diese Frage ist das Ergebnis kontingenter, aber
folgenreicher Performanzen.
Richard Schechner hat darauf hingewiesen, dass theatralische Performanzen bzw.
„Bühnendramen“ Anleihen bei sozialen Dramen machen, die wiederum auf Skripte und
Hintergrundrepräsentationen von fiktionalen Texten und Aufführungen zurückgreifen. Soziale
und theatralische Performanzen sind also durch Akte der produktiven Nachahmung (mimesis)
aufeinander bezogen. Eine Bestätigung dieser These findet Turner in einem sozialen Drama
seiner Zeit: der Watergate-Affäre. Der Skandal um Präsident Nixon, dessen Ablauf von
Turner als „bühnenreif“ bezeichnet wird, „folgte implizit einem Drehbuch, das sich an
theatralischen und fiktionalen Modellen orientierte“ (2009: 117; vgl. auch 5.2.3). Nach
Abschluss des sozialen Dramas wurde Watergate selbst zu einem Gegenstand der
Nachahmung für theatralische Performanzen auf der Bühne und im Fernsehen. Damit schließt
sich der mimetische Kreislauf der Kultur, der nicht etwa in eine statische Konzeption von
Gesellschaft mündet, sondern sozialen Wandel vorantreibt.
Die hier vorgeschlagene Typologisierung performativen Handels erhebt einen Anspruch
auf
sachliche
Angemessenheit
und
empirische
Anwendbarkeit,
aber
nicht
auf
Alternativlosigkeit. So könnte man auch das freie, „ludische Spiel“ wie auch den sportlichen,
„agonalen Wettkampf“ als eigenständige Kategorien einführen. Diesen Formen fehlt
allerdings die Notwendigkeit einer szenischen Aufführung, wie sie selbst im Falle eines
einfachen Rituals gegeben ist.150 Im Übrigen ist die hier vorgeschlagene Einteilung in rituelle,
theatralische und soziale Performanzen idealtypischer Natur. Die empirischen Übergänge sind
fließend, wie nicht zuletzt die Annäherung des modernen Theaters an das Ritual gezeigt hat.
Folgende Tabelle fasst noch einmal die wichtigsten Charakteristika bündig zusammen:
150
Der in der Anthropologie verbreitete Begriff der „cultural performance“ unterliegt diesem Einwand zwar
nicht (Singer 1959; MacAloon 1984), verzichtet aber auf eine systematische Entfaltung der bedeutenden
Differenzen innerhalb der Kategorie des performativen Handelns.
145
Performatives
Rituelle
Theatralische
Handeln
Performanz
Performanz
Gelingensbedingung
Konformität
Fiktionalität
Soziale Effekte
Solidarität
und Unterhaltung
Transformation
Soziale
(Nicht-) Gemeinschaft
Differenzierung
Partizipierender
Soziale Performanz
Authentizität
Resonanz und Verschmelzung
und Reflexion
Schauspieler / Performer / partizipierende
Publikum
Öffentlichkeit
Mit fortschreitender Ausdifferenzierung der Gesellschaft kommt es zu einer Diversifizierung
performativer Akte, die unterschiedliche Funktionen im sozialen Leben wahrnehmen. Theater
und soziale Performanz lösen das Ritual nicht ab, sondern ergänzen es. Rituell erzeugte
Verbindlichkeiten bleiben zentral für die Koordination sozialer Interaktionen, die Gründung
von Institutionen und die Beilegung gesellschaftlicher Konflikte. Theatralische Performanzen
schaffen eine fiktive Gegenwelt, die sowohl der Unterhaltung als auch der Reflexion, vor
allem aber der Nachahmung dient. Im sozialen Leben zeigt die von einem Akteur zur Schau
gestellte Theatralität an, dass man nicht in seiner sozialen Rolle aufgeht, und vermag so einen
Beitrag zum Schutz der Persönlichkeit zu leisten. Soziale Performanzen erweisen sich in dem
Maße als unverzichtbar, wie sich Individualisierung und Authentizität als gesellschaftliche
Werte durchsetzen, traditionelle Verbindlichkeiten und die kulturelle Homogenität einer
Gesellschaft verschwinden und die Öffentlichkeit zur zentralen Vermittlungsinstanz des
gesellschaftlichen Lebens wird. Die kulturelle Einheit der unterschiedlichen Performanzen
wird zum einen durch wechselseitige Bezüge, zum anderen aber durch das geteilte Imaginäre
gestiftet.
Die in diesem Kapitel diskutierten Formen kultureller Repräsentation gehören in den
methodologischen Werkzeugkasten eines jeden Kultursoziologen. Innerhalb des theoretischen
Rahmens, der in dieser Arbeit aufgespannt wird, besteht ihre wichtigste Funktion darin, die
Zuweisung von Codewerten innerhalb einer symbolischen Ordnung zu regeln (1.3.3). Letzten
Endes sind es eben nicht formale Regeln, die wahre von falschen Aussagen und moralische
von unmoralischen Handlungen unterscheiden, sondern die Evidenz der Bilder, die
Plausibilität von Erzählungen und die Authentizität von Performanzen. So konnten
beispielsweise die Bilder von Abu Ghraib aufgrund ihrer Beschaffenheit als fotografischer
Beweis der Missbrauchsfälle dienen und zugleich die moralische Verurteilung der Täter
nahelegen (7.5). Eine analytische Trennung zwischen diesen kulturellen Grundformen ist
146
sinnvoll, allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass Bilder, Erzählungen und
Performanzen aufs Engste miteinander verwoben sind: Bilder können Geschichten erzählen
und Performanzen einfangen; Erzählungen berichten von Performanzen und müssen auf
bildliche Vorstellungen (wie z.B. Heldenfiguren) zurückgreifen; Performanzen besitzen
immer auch bildliche und narrative Aspekte und orientieren sich zudem oft an ikonischen und
mythischen Vorbildern. In den Tiefen des sozialen Imaginären verschwimmen die Grenzen
zwischen den einzelnen Formen zu einem „Magma“ der Bedeutung (Castoriadis 1987; 1.3.3)
– dem „Stoff“, aus dem Kultur ist. Die elementaren Formen kultureller Repräsentation sind –
so lässt sich die allgemeine These dieses Kapitels zusammenfassen – von zentraler Bedeutung
für das Handeln und Erleben von menschlichen Akteuren. Der hier gewählte Zugang ist
einerseits der Unermesslichkeit der Phänomene und der wissenschaftlichen Literatur über sie,
andererseits aber der Problemstellung dieser Arbeit geschuldet. Es wären auch andere
Zugänge möglich gewesen. Eines dürfte allerdings klar geworden sein: Die Soziologie im
Allgemeinen und die Kultursoziologie im Besonderen kann von einer Auseinandersetzung mit
ihren Nachbarwissenschaften, der Kunstgeschichte und den Bildwissenschaften, der
Narratologie
und
den
Literaturwissenschaften,
Theaterwissenschaften, nur profitieren.
147
der
Anthropologie
und
den
3. Phänomene der Macht, Anerkennung und Unterwerfung
Die hier diskutierten Begriffe der „Macht“ und der „Gewalt“ (3.1), der „Ehre“ und der
„Würde“ (3.2) sowie der „Erniedrigung“ und der „Folter“ (3.3) sind nicht nur
wissenschaftliche Konzepte, die der Bestimmung von sozialen Phänomenen dienen, sondern
auch gesellschaftlich umkämpfte Begriffe, wertende Kategorien, mit denen gesellschaftliche
Konflikte ausgetragen werden. Was als Gewalt gilt und was nicht, ist nicht nur umstritten,
sondern auch gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen.151 Dies gilt auch für Ehre,
Entwürdigung oder Folter: So versuchten Anzeigenkampagnen der Bundesregierung die
sogenannten „Ehrenmorde“ als unehrenhaft (und nicht nur als unmoralisch und ungesetzlich)
darzustellen; in Folterdiskursen wird verhandelt, ob Terroristen bzw. Entführer in
Ausnahmefällen gefoltert werden dürfen oder welche Verhörtechniken überhaupt als Folter zu
gelten haben (6.4.2; 10.4). Eine konstruktivistische Analyse, die der diskursiven Konstruktion
dieser Begriffe nachgeht, ist für die Soziologie zweifelsohne von großem Nutzen. Sie kann
am empirischen Material aufzeigen, wie diese Begriffe in unterschiedlichen sozialen
Kontexten verwendet werden und welchen historischen Bedeutungswandel sie erfahren. Diese
konstruktivistische Perspektive sollte allerdings nicht an die Stelle einer Auseinandersetzung
mit den Phänomenen selbst treten, sondern diese ergänzen. Im Folgenden soll es in erster
Linie um die Phänomene der Macht, der Anerkennung und der Unterwerfung gehen, weniger
um die diskursive Besetzung der Begriffe. Macht und Gewalt, Ehre und Würde, Erniedrigung
und Folter sind, so die hier vertretene These, mehr als nur „leere Signifikanten“ in
öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen; sie fungieren zugleich als soziale
Mechanismen, die in Gesellschaften bestimmte Funktionen erfüllen können.
151
Man führe sich nur einmal den Wandel von der körperlichen Züchtigung zur Gewalt gegen Kinder bzw.
Kindesmisshandlung vor Augen. Was vor fünfzig Jahren noch Normalität war, sorgt heute für Empörung.
148
3.1. Macht und Gewalt
Man muss aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben
[…]. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches.
Michel Foucault, Überwachen und Strafen (2003: 250)
Macht und Gewalt können zu Recht als zentrale Mechanismen des Sozialen gelten. Während
die ubiquitären Phänomene der Macht bis in den letzten Winkel der Gesellschaft zu dringen
scheinen, handelt es sich bei Gewalt um ein „außerordentliches Phänomen“ (Giesen 2010:
126-142), das jedoch als Möglichkeit immer präsent ist und deswegen im Alltag latent
gehalten werden muss (Popitz 2004: 50). Macht und Gewalt lassen sich aber auch aufeinander
beziehen: So kann die Anwendung von Gewalt zu einer dauerhaften Machtbeziehung
ausgebaut werden, während Macht nicht selten auf die Drohung körperlicher Gewalt
zurückgreift. Im Folgenden sollen Macht und Gewalt als Phänomene verstanden werden, die
letztendlich auf der Intentionalität eines Akteurs oder ihrer Zuschreibung beruhen.152 So kann
schon die bloße Zuschreibung von Macht zu Effekten führen, die von dem vermeintlichen
„Machthaber“ nicht beabsichtigt wurden. Solche Effekte sollten allerdings der Kategorie des
„Einflusses“ zugeschlagen werden, die ohne den Begriff der Intentionalität auskommt (3.1.2).
Die nachgewiesene Wirksamkeit eines Akteurs oder eines anderen Objekts auf das Erleben
und Handeln anderer Akteure reicht schon aus, um von einer „Beeinflussung“ sprechen zu
können. Für Gewalt ist hingegen „Körperlichkeit“ und „Außerordentlichkeit“ kennzeichnend
(3.1.3). Damit gehen besondere Qualitäten der Gewalterfahrung einher (3.1.4), die für ein
Verständnis der Gewaltrituale von Abu Ghraib von großer Bedeutung sind. Abschließend ist
dann noch auf technische, rituelle und performative Aspekte des Gewalthandelns einzugehen
(3.1.5), die für ein angemessenes Verständnis der Gewaltform der Folter notwendig sind
(3.3.4).
Sowohl die Einflussnahme als auch der Einsatz von Machtmitteln impliziert eine
Kausalität oder Wirkmächtigkeit, die allerdings nicht nach einem physikalistischen Modell
der Verursachung gedacht werden darf. Eine Ausnahme bildet hier vielleicht das Phänomen
der Gewalt, deren unmittelbare Wirkung sich physikalisch und körperlich manifestiert.
Allerdings bleibt auch die soziale Wirksamkeit von Gewalt auf ihre kommunikativen und
kulturellen Effekte angewiesen. Weil die Phänomene des Machtgebrauchs und der
152
Natürlich kommen auch korporative oder kollektive Akteure als Träger von Macht und Gewalt in Frage –
man denke nur an das Gewaltmonopol des Staates und die Macht der Öffentlichkeit.
149
Einflussnahme auch als kausale Mechanismen aufgefasst werden können (1.2.4), kommt
ihnen in sozialwissenschaftlichen Erklärungen eine wichtige Rolle zu. Dies zeigt sich auch am
Fall Abu Ghraib. So besaß der amerikanischen Senator John McCain aufgrund seiner Position
und seiner Biografie eine spezifische Form von autoritativer Macht, die er im Gefolge des
Abu Ghraib-Skandals zur Durchsetzung des McCain-Amendments anwenden konnte (9.2).
3.1.1. Gesichter der Macht
Der Begriff der „Macht“ wird in kultur- und sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen sehr
unterschiedlich verwendet. In dieser Arbeit soll ein akteurszentrierter Machtbegriff in
Anschlag gebracht werden, der an die eingangs skizierten Überlegungen zur Intentionalität
und zum kulturellen Hintergrund des Handelns anknüpft. Zunächst einmal muss zwischen der
Macht als einem Vermögen von Akteuren und ihrer konkreten Ausübung als einem
intentionalen Akt unterschieden werden. Macht kann als ein Vermögen (potentia) begriffen
werden, mit Hilfe des eigenen Handelns absichtlich bestimmte Veränderungen in der Welt
herbeiführen zu können (ganz im Sinne von Searles „mind-to-world fit“, vgl. 1.1.1). Ein
Vermögen kann wiederum als eine Hintergrundfähigkeit eines Akteurs verstanden werden,
die eine vorintentionale Voraussetzung des intentionalen Aktes der Machtausübung darstellt.
Die konkrete Ausübung von Macht (actualitas) ist hingegen eine Handlung, die eine
Veränderung in der Welt intentional herbeiführen oder verhindern möchte. Während ein
Vermögen einen Horizont von Handlungsmöglichkeiten festlegt, stellt die Ausübung von
Macht die Selektion und erfolgreiche Durchführung einer Handlungsoption dar. Macht als
Vermögen kann sowohl individuellen als auch kollektiven Akteuren zugeschrieben werden,
wie auch die konkrete Ausübung von Macht individuell oder kollektiv ausgeübt werden kann.
Aus der Außenperspektive lässt sich Macht natürlich auch Akteuren zuschreiben, die keine
entsprechende Disposition besitzen. Akteure können sich dies zu Nutze machen, indem sie ihr
Gegenüber über die ihnen zur Verfügung stehenden Machtoptionen täuschen.
Macht als individuelles oder kollektives Handlungsvermögen kann weiterhin von Formen
der Macht unterschieden werden, die nur in einer sozialen Beziehung zum Tragen kommen:
Macht im Sinne eines „Macht über jemanden haben“. Eine Besonderheit von sozialen
Machtbeziehungen, auf die noch später in der Diskussion der instrumentellen Macht bei
Popitz einzugehen ist, besteht darin, dass diese nie vollständig einseitig sein können. Die
Ausübung von Macht über andere impliziert auch immer eine Gegenmacht des Anderen, der
sich der Einflussnahme wiedersetzen kann. Gerade weil Macht nicht auf kommunikativem
Konsens oder Interessengleichheiten beruht, bietet sie reichlich Stoff für Konflikte. In
150
Konflikten verschieben und stabilisieren sich Machtverhältnisse. Gewalt vernichtet hingegen
die
Komplexität
von
Machtbeziehungen
und
negiert
andere
Möglichkeiten
der
Konfliktlösung. Gewalt kann in ihrer Eindeutigkeit als Antithese zu einem sozialen Konflikt
und damit auch zur Macht verstanden werden (vgl. Wieviorka 2006).
Bemerkenswert ist, dass es der faktischen Ausübung von Macht selten bedarf, um einen
Einfluss auf das Handeln anderer Menschen auszuüben. Allein schon dadurch, dass Akteure
einem anderen Akteur eine bestimmte Handlungsmacht zuschreiben, wird deren Verhalten
beeinflussbar. Drohmacht, unter anderem die Androhung von Gewalt, wirkt zunächst
unabhängig von der intentionalen Einlösung dieser Drohung. Muss eine Drohung erst
wahrgemacht werden, bedeutet dies, dass der Einsatz von Drohmacht fehlgeschlagen ist. Dies
bedeutet nicht zuletzt, dass der Performativität (2.3) für die effektive Ausübung von Macht
eine große Bedeutung zukommt. Man kann versuchen, seine Macht sichtbar werden zu lassen,
ohne zu konkreten Machtaktionen zu greifen. Truppenaufmärsche inszenieren in
theatralischer Weise eine militärische Macht, die in Friedenszeiten nicht zum Einsatz kommt.
Atomwaffentests auf entlegenen Atollen dienen nicht in erster Linie Testzwecken, sondern
sollen das eigene Vermögen der totalen Vernichtung potenzieller Feinde demonstrieren.
Zwischen der Macht als einem Vermögen und dem intentionalen Akt der Machtausübung
liegt ein Kontinuum, das von der bloßen Zuschreibung von Macht über ihre performative
Inszenierung bis hin zur Fakten schaffenden Aktionsmacht reicht. Der amerikanische Abwurf
der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki lässt sich einerseits als Gewaltakt verstehen,
der die Zerstörung zweier japanischer Städte und den Verlust unzähliger Menschenleben zur
Folge hatte, andererseits lässt sich dieser Akt auch als die Demonstration einer militärischen
Kapazität auffassen, die sich an das japanische Volk, aber auch an Dritte wendete (6.1.2).
Phänomene der Macht changieren zwischen der Potenzialität möglicher Handlungen und den
faktisch ausgeführten Handlungen samt ihren Konsequenzen. Wir können zwischen
versteckten, sichtbaren und performativ zur Schau gestellten (oder verheimlichten)
Handlungskapazitäten sowie der konkreten Machtausübung unterscheiden: 153
153
Diese unterschiedlichen Formen der Macht lassen sich am Gebrauch einer Schusswaffe verdeutlichen. Eine
im Verborgenen getragene Waffe stellt ein Vermögen dar, von dieser gegebenenfalls Gebrauch machen zu
können (gesetzt den Fall, der Träger kann damit umgehen, ebenfalls eine Hintergrundfertigkeit). Dieses
Vermögen wird nicht sozial wirksam, solange das Tragen der Waffe für andere Akteure nicht erkennbar ist.
Erst wenn eine verborgene Waffe, beispielsweise durch Ausbuchtungen in der Kleidung, für Außenstehende
erkennbar ist, wird das bis dato verborgene Machtpotenzial nach außen hin sichtbar. Falls eine Waffe offen
getragen wird, gewinnt die Zurschaustellung von Macht bereits eine performative Qualität. Davon zu
unterscheiden ist der tatsächliche Gebrauch der Schusswaffe, die Aktualisierung einer Macht, die etwaige
Potenzialitäten zum Verstummen bringt. Natürlich kann auch hier dem Gewaltakt wieder eine vorranging
151
Versteckte Macht
Sichtbare Macht
Performanz von Macht
Vermögen
Machtausübung
Handlung
Handlungsreserve
Zuschreibung
Instrumentelle Macht,
Datensetzende Macht,
für Ego
durch Alter
Autorität (Popitz)
Aktionsmacht (Popitz)
Verborgene
Offene
Überschuss an
Aktualisierung von
Potenzialität
Potenzialität
Potenzialität
Potenzialität
Eine weitere Differenzierung des Machtbegriff soll nun im Rückgriff auf die einschlägigen
Arbeiten von Heinrich Popitz (2004) erfolgen, der vier Formen der Macht unterscheidet:
„Aktionsmacht“, „instrumentelle Macht“, „autoritative Macht“ sowie die „Macht des
Datensetzens“, des technischen Handelns. Alle diese Formen von Macht sind auf Akteure
zurechenbar. Aktionsmacht wie auch die Macht des „Datensetzens“ zeichnen sich dadurch
aus, dass sie das Vermögen eines Akteurs (und dessen Realisierung) bezeichnen, mit seinem
Handeln einseitig Effekte in der Außenwelt hervorzurufen. Sie unterscheiden sich dadurch
voneinander, dass die sogenannte datensetzende Macht sich gegenüber unbelebten Körper
behauptet, während die Aktionsmacht auf lebende Körper und Akteure wirkt. Die wohl
wichtigste Form der Aktionsmacht ist Gewalt, welche die Verletzbarkeit von lebenden
Körpern nutzt. Andere Formen der Aktionsmacht sind für Popitz das Verhängen von
Sanktionen und das Verteilen von Belohnungen jedweder Art dar.154
Was diese einseitigen Formen des Machtgebrauchs auszeichnet, ist die Tatsache, dass es
zwischen der potenziellen Handlungsmacht und der aktualisierten Handlungsmacht keine
Spielräume gibt, die sozial wirksam werden können. Entweder man wendet Gewalt an oder
unterlässt dies – tertium non datur. Im Gegensatz zur datensetzenden Macht und zur
Aktionsmacht sind instrumentelle Macht und Autorität immer in soziale Beziehungen
eingebettet. Für sie gilt ein relationaler Machtbegriff, wie er insbesondere von Max Weber
performative Funktion zukommen, die auf noch nicht realisierte Handlungsmöglichkeiten verweist (z.B. die
Erschießung einer Geisel durch die Entführer, um Entschlossenheit zu demonstrieren). Der performative
Charakter von Macht eröffnet unzählige Möglichkeiten für Täuschungsmanöver, Bluffs und dem Spiel mit
den Erwartungen anderer Akteure: So kann eine Attrappe statt einer echten Waffe getragen werden; eine
echte Waffe kann ungeladen oder mit Platzpatronen geladen sein; auch bei einem Warnschuss überwiegt
noch der performative oder kommunikative Aspekt, nämlich den potenziellen Gebrauch der Waffe zur
Verletzung eines anderen Menschen zu demonstrieren.
154
Beispielsweise können monetäre Zahlungen eingestellt oder veranlasst werden, aber auch moralische
Achtung zuerkannt oder entzogen werden. Die sogenannte „Macht der Moral“ und damit auch die „Macht
der Öffentlichkeit“ beruht im Wesentlichen auf der Zuteilung von moralischer Achtung (4.1.1).
152
stark gemacht wurde. Dieser grenzt Macht von vornherein auf soziale Beziehungen ein:
„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch
gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (2002/1921-22:
28). An diese Überlegungen knüpft Popitz mit seinen Konzepten der instrumentellen und der
autoritativen Macht an. Instrumentelle Macht bedient sich äußerer Sanktionen und
Belohnungen (Popitz spricht von „Drohungen“ und „Versprechungen“), um die Handlungen
anderer Akteure zu beeinflussen, während sich autoritative Macht die innere Motivation von
Akteuren, das Bedürfnis nach Anerkennung und das „Gefühl der Obligation“ (vgl. Durkheim
1996: 124-129), zu Nutze macht.
Popitz (2004: 79-103) zufolge ist instrumentelle Macht durch eine „doppelte Unsicherheit“
gekennzeichnet: Einerseits bleibt es unsicher, ob der machtausübende Akteur seine Drohung
überhaupt wahr macht oder sein Versprechen einzulösen gedenkt, andererseits ist es
ungewiss, ob sich das Ziel der Beeinflussung von seinen Drohungen abschrecken oder durch
seine Versprechungen ködern lässt. Während es sich bei dem Verhängen von Sanktionen und
dem Erfüllen von Versprechen selbst um Manifestationen der Aktionsmacht handelt, derer
sich der Betroffene nicht erwehren kann, schafft instrumentelle Macht eine Situation der
doppelten Kontingenz, die beiden Akteuren verschiedene Handlungsmöglichkeiten eröffnet.
Dies hat den paradoxen Effekt, dass jede Ausübung instrumenteller Macht seinem Gegenüber
eine Gegenmacht einräumt. Für die instrumentelle Macht gilt: keine Macht für niemand. Es
besteht immer die Möglichkeit, sich dem Willen von Ego nicht zu beugen, seine Drohungen
zu ignorieren und seine Versprechungen auszuschlagen.155 Auf eine solche Weigerung von
Seiten Alters kann Ego seinerseits nun mit Sanktionen reagieren – muss dies aber nicht tun.
Auf beiden Seiten gibt es darüberhinaus die Möglichkeit der Täuschung und des Verrats: Ego
kann mit Sanktionen drohen oder Belohnungen locken, die außerhalb seiner Aktionsmacht
liegen oder auf deren Einlösung er aus anderen Gründen verzichten will; ebenso kann Alter
seine Kooperation auch nur vortäuschen.156 Entsprechend wichtig ist die Glaubwürdigkeit
einer Drohung bzw. die Authentizität eines Versprechens, die nur performativ kommuniziert
155
So kann sich das Folteropfer zwar der Folter nicht erwehren, aber es kann nicht dazu gezwungen werden,
seine Informationen preiszugeben. Die Figur des Märtyrers führt uns, so Popitz, die „Unvollkommenheit aller
Macht“ vor Augen (2004: 58-60; vgl. hierzu 10.3.3).
156
So kann das Folteropfer dem Folterknecht falsche Informationen geben – entweder, um ihn zu täuschen, oder
auch nur, um die Folter zu beenden. Das letztere Motiv ist vor allem dann wichtig, wenn das Opfer die
gesuchte Information gar nicht besitzt, der Folterer ihm dies aber nicht glaubt.
153
werden kann (2.3.4).157
Nicht in allen Fällen muss eine Drohung auch explizit ausgesprochen werden, um wirksam
zu sein. So spricht beispielsweise John Searle (2010: 155-160) von einer „Background
power“, die Akteure zur Befolgung sogenannter „Background norms“ anhält, die zu ihrem
normativen Handlungshintergrund gehören. Ein gutes Beispiel einer solchen anonymisierten
Drohmacht ist die sogenannte „Isolationsdrohung“, mit der die öffentliche Meinung
abweichende Privatmeinungen sanktioniert und dadurch soziale Kontrolle ausübt (4.3.4). Hier
stößt ein intentionaler Begriff der Macht an gewisse Grenzen, weil die anonymisierte
Drohmacht zwar zur Verwirklichung ihrer Drohungen auf individuelle Akteure angewiesen
ist, aber im Prinzip jedermann die entsprechenden Sanktionen verhängen kann. Die
anonymisierte Drohmacht ist nicht an die individuelle Intentionalität einzelner Akteure
gebunden, sondern bezieht sich auf die kollektive Intentionalität einer Gruppe. Die
entsprechenden Sanktionen werden im Namen aller Gruppenmitglieder verhängt.
Besonders raffiniert ist die Macht der Autorität, die nicht auf Sanktionen und
Belohnungen, sondern auf Identifikation mit der Autorität und dem Wunsch nach
Anerkennung basiert (vgl. Popitz 2004: 104-159). Diese Form der Macht ist auf einer
vorintentionalen Ebene wirksam, da sie an das Selbstbild und die Identität des Akteurs
appelliert. Im Gegensatz zur instrumentellen Macht, welche die Präferenzen des Gegenübers
als feste Variablen behandelt, äußert sich die Ausübung von autoritativer Macht darin, dass
sich Akteure in ihren Einstellungen und Werten an dem Machthaber orientieren. Autoritative
Macht unterläuft die Willensbarriere des Anderen von Innen. Eine ähnliche Unterscheidung
findet sich auch in der – etwas anders gelagerten – Theorie der Macht von Steven Lukes
(2005).158 Dieser unterscheidet zwischen drei Dimensionen der Macht, nämlich der Macht,
eine Entscheidung treffen zu können (1), der Macht, den Spielraum von Entscheidungen
festlegen zu können (2), und der Macht, die Präferenzen des Entscheidenden formen zu
können (3). Die autoritative Macht von Popitz entspricht der dritten Machtdimension von
Lukes, während die Aktionsmacht der ersten und die instrumentelle Macht der zweiten
Dimension zuzurechnen ist. Allerdings lässt sich Lukes zweite Machtform nicht auf das
Aufzwingen von Handlungsalternativen reduzieren, sondern stellt zugleich einen verdeckten
157
Im Fall Daschner reichte schon eine glaubwürdige Androhung von Folter, um Magnus Gaefgen, den
Entführer von Jakob von Metzler, zu einem umfassende Geständnis zu bewegen.
158
Sie lässt sich eigentlich nur in ihrem Bezug zu den Herrschaftsdebatten der sechziger Jahre verstehen. Nach
dreißig Jahren stellt Lukes im Rückblick fest, dass er damals das eigentliche Phänomen der Macht verfehlte
habe, da er sich im Wesentlichen mit Herrschaft beschäftigt habe (2005: 109f.).
154
Eingriff in den Handlungshintergrund dar, da jedes Set von Alternativen andere
Möglichkeiten ausblendet. Durch eine verdeckte Einflussnahme auf den kognitiven
Handlungshintergrund
von
Akteuren
(1.2.1)
lassen
sich
deren
Entscheidungen
vorstrukturieren. In ähnlicher Weise strebt die dritte Dimension der Macht bzw. die
autoritative Macht bei Popitz eine Veränderung des evaluativen Handlungshintergrundes
(1.2.2), der Präferenzen, der Werte und der Identität der Akteure, an. Der kulturelle
Hintergrund ist ein wichtiges Medium der Macht, da über den vorintentionalen Hintergrund
die Dispositionen der Wahrnehmung und das Handeln verändert werden können.159 Als
Beispiel hierfür kann der Gebrauch des Ticking-Bomb-Szenarios nach dem 11. September
2001 dienen (6.4.3). Das Ticking-Bomb-Narrativ führte dazu, dass die Folter eines Terroristen
nicht nur auf einmal als mögliche Handlungsoption unter anderen wahrgenommen wurde,
sondern zugleich auch als die moralisch gebotene Handlungsoption erschien.
Robert S. Nye hat für den Bereich der internationalen Beziehungen eine Unterscheidung
zwischen „military power“, „economic power“ und „soft power“ vorgeschlagen (2011).
Militärische Macht setzt auf organisierte Gewalt, die sowohl unmittelbar als Aktionsmacht
wie auch als instrumentelle Drohmacht verwendet werden kann. Hingegen bezeichnet
ökonomische Macht das Vermögen, wirtschaftliche Sanktionen und Belohnungen verteilen
und zur Anwendung bringen zu können. „Soft power“ bezieht sich schließlich auf „weiche“
Faktoren wie moralische Ächtung und kulturellen Einfluss.160 Diese drei Formen von Macht
schließen sich nicht etwa aus, sondern können sich sogar wechselseitig verstärken. Dass
ökonomische Macht der militärischen Schlagkraft zuträglich ist und militärische Macht dafür
genutzt werden kann, die eigene Wirtschaft (z.B. die Versorgung mit Rohstoffen) zu
verbessern, leuchtet unmittelbar ein. Sowohl militärische Macht als auch ökonomischer
Erfolg können darüberhinaus zu weltweiter Bewunderung und damit zur Stärkung der „soft
power“ führen. Dies gelingt allerdings nicht immer, wie der Irakkrieg von 2003 gezeigt hat:
The efficiency of the initial American military invasion of Iraq in 2003 may have created admiration in
the eyes of some Iraqis and others, but that soft power was undercut by the subsequent inefficiency of the
occupation and the scenes of mistreatment of prisoners. (Nye 2011: 86)
Weder der Afghanistankrieg noch der Irakkrieg, so Nye, hätten sich rein mit militärischen und
159
Vgl. hierzu die Überlegungen von Searle zur „Background power“ (2010: 155-159), die sich allerdings auf
den Konformitätsdruck des Sozialen und die Sanktionierung abweichenden Verhaltens beschränken.
160
Das Konzept der „soft power“ wendet sich gegen die sogenannte „Realistische Schule“ der internationalen
Beziehungen, die die ersten beiden Formen der Macht verabsolutiert. Den Anhängern dieser Schule wirft
Nye vor, unrealistisch zu sein, weil sie die Bedeutung der „soft power“ auf dem internationalen Parkett
vernachlässige.
155
ökonomischen Mitteln gewinnen lassen. In diesem Zusammenhang verweist Nye immer
wieder auf den Abu-Ghraib-Skandal (vor allem 2011: 106), der zu einem Verlust an „soft
power“ geführt habe. Das nationale Image ist ein wesentlicher Machtfaktor, der, wie diese
Arbeit zeigt (8.2), durch Abu Ghraib beschädigt wurde. Militärische Macht und ökonomische
Macht sind auf eine positive Rahmung durch Narrative angewiesen (2.2), um der „soft power“
zuträglich zu sein. Ohne ein „gutes Image“ wirkt militärische Macht schnell tyrannisch und
ökonomische Macht leicht ausbeuterisch. Ohne ein Konzept von „soft power“ bekommt man
die öffentliche Macht der Moral und die Wirksamkeit von Kultur nicht einmal in den Blick.161
Die sogenannten „asymmetrischen Konflikte“ oder „neuen Kriege“ (Münkler 2002), wie
beispielsweise in Vietnam (6.2), in Afghanistan und im Irak (6.5), werden nicht durch
militärische Überlegenheit gewonnen: Selbstmordattentate können gewaltige Schäden
anrichten, sind aber kaum zu verhindern, während Aufständische mit herkömmlichen Mitteln
der Kriegsführung nur schwer unter Kontrolle zu bringen sind. Damit wird „soft power“ zu
einer kriegsentscheidenden Machtressource, da nur sie den „war over hearts and minds“ zu
gewinnen vermag.
3.1.2. Die Macht der Bilder? – Einfluss als soziologische Kategorie
Bisher wurde ein akteurszentrierter und relationaler Zugang zum Phänomen der Macht
diskutiert. Es gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten, eine solche Perspektive auf Macht zu
erweitern. Bei der ersten Option geht es darum, die Akteurszentriertheit des Ansatzes
aufzugeben und den Aspekt der Relationalität zu radikalisieren. Unter diesen Prämissen wird
Macht zu einer dezentralen Kraft und Struktur, die nicht mehr den einzelnen Akteuren
zurechenbar ist. So geht Foucault in seinen frühen Schriften (2008) von einem
vorintentionalen und dezentralisierten Machtbegriff aus, der nicht den einzelnen Akteuren,
sondern gesellschaftlichen Diskursen zugeschrieben werden muss. Die zweite Möglichkeit
besteht darin, den Begriff des Akteurs, gemäß einem erweiterten Symmetrieprinzip (Latour
1995), auf Entitäten auszuweiten, die nicht zu einem intentionalen Handeln in dem hier
verwendeten Sinne fähig sind (1.1). Damit bliebe der Machtbegriff nicht mehr nur auf
menschlichen Akteuren beschränkt, sondern ließe sich auch auf sogenannte „Aktanten“ – dies
können natürliche Objekte, aber auch technische und kulturelle Artefakte sein – übertragen.
161
So haben Thomas Risse und sein Forscherteam gezeigt, dass bei der Implementierung von Menschenrechten
nicht nur harte Faktoren (z.B. die Verhängung von wirtschaftlichen Sanktionen), sondern auch weiche
Faktoren, wie etwa die moralische Ächtung von Menschenrechtsverletzungen, eine zentrale Rolle spielen
(1999; Risse et al. 2002).
156
Folgt man diesem Ansatz, so muss beispielsweise auch der Waffe in der Hand einer Person
eine eigenständige Wirkmacht im Handlungsvollzug zugeschrieben werden.
Auch wenn beide Verschiebungen zunächst unterschiedliche Akzente setzen, gehen sie in
poststrukturalistischen Diskursen oft Hand in Hand. Eine Dezentrierung von Macht sowie
eine stärkere Berücksichtigung von Artefakten als Trägern der Macht findet sich
beispielsweise in den Überlegungen des späten Foucault zur Disziplinarmacht und zum
Panoptismus (2003). Die moderne Disziplinarmacht wird hier nicht mehr nur als ein Geflecht
von Diskursen konzeptualisiert, sondern äußert sich darüberhinaus auch im räumlichen
Arrangement von Körpern, Artefakten und Gebäuden sowie in einer zeitlichen
Reglementierung von Bewegungs- und Tagesabläufen. Eine Machtkonzeption, die unbelebten
Artefakten eine eigenständige Handlungsmacht zuschreibt, mag auf den ersten Blick abwegig
und als theoretische Spielerei erscheinen. Dennoch erfreut sie sich in zeitgenössischen
bildwissenschaftlichen Diskursen einer erstaunlichen Beliebtheit, beispielsweise wenn von
der „Macht der Bilder“ die Rede ist (Maar & Burda 2004; Boehm & Balke 2008). Dahinter
verbirgt sich oft nicht mehr als die Annahme, dass Bilder auf Akteure wirken – was immer
dies im Einzelfall heißen mag.162 Der 11. September 2001 hat uns diese „Macht“ der Bilder
eindrücklich vor Augen geführt – auch wenn in diesem Fall von einer intentionalen
Bildproduktion durch die Terroristen ausgegangen werden muss (6.4).
Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass eine radikale Dezentrierung und
Symmetrisierung des Machtbegriffs zwar nicht jeglicher theoretischer Plausibilität entbehrt,
sich aber für die Erklärung empirischer Phänomene als denkbar ungeeignet erweist. Sie läuft
nämlich Gefahr, die Komplexität sozialer Phänomene zu verwischen, statt sie auf Akteure,
kausale Mechanismen und kulturelle Muster herunterzubrechen. Eine Überdehnung des
Machtbegriffs lässt die Macht von handelnden Akteuren aus dem Blickfeld geraten.
Allerdings muss dem Faktum Rechnung getragen werden, dass sich die „Macht“ der Bilder
gegenüber den Absichten ihrer Produzenten verselbstständigt. Am besten illustrieren dies
wohl die Fotografien von Abu Ghraib (7.1-3), die eine Dynamik entfesselten, die so von ihren
Urhebern nicht vorausgesehen und sicherlich auch nicht gewünscht worden war. Allerdings
können Akteure versuchen, diese „Eigenmacht“ der Bilder zu antizipieren. So entschied sich
Präsident Obama gegen die Veröffentlichung weiterer Abu-Ghraib-Bilder – aus Furcht vor
den möglichen Folgen (10.5.3). Ein weiteres Beispiel ist die „Macht“, die Picassos Guernica
162
Allerdings gibt es auch Bildtheoretiker wie W.J.T. Mitchell (2008: 347-411) und Horst Bredekamp (2010),
die den Bildern ein eigenes Leben, eine Eigenaktivität als Akteure unterstellen.
157
im Vorfeld von Colin Powells Rede vor dem UN-Sicherheitsrat von der amerikanischen
Regierung zugesprochen wurde (6.5). Man fürchtete sich davor, dass die Antikriegsikone die
Rede des amerikanischen Staatssekretärs, der um eine Resolution für einen Krieg gegen den
Irak warb, in ein schlechtes Licht rücken könnte. Das bedeutet aber nicht, dass dem Bild nun
selbst eine Handlungsmacht zugeschrieben werden müsste. Die Rede von der „Macht der
Bilder“ ist vielmehr so zu verstehen, dass Bilder einen Einfluss auf das Handeln und Erleben
von Menschen haben können. Akteuren, die die Macht der Bilder zu nutzen verstehen,
verleiht dies natürlich Macht über das Handeln anderer Menschen. In derselben Weise ist die
Tötungsmacht einer Waffe dieser nicht inhärent, sondern liegt in ihrem Gebrauch durch einen
Akteur.163
Die „Macht der Bilder“ ist wohl am besten als eine metaphorische Redeweise zu verstehen,
die eine wichtige Einsicht zum Ausdruck bringt: Bilder können das Handeln von Menschen
beeinflussen, wenn sie auf Resonanz im kulturellen Hintergrund stoßen. Es ist sinnvoll,
zwischen einem akteurszentrierten Begriff von Macht und akteursunabhängigen Konzepten
wie „Effekt“ oder „Einfluss“ zu unterscheiden. Die Kategorie des Einflusses kommt ohne
Intentionalität aus. Ein Schriftsteller kann ein einflussreiches Werk veröffentlichen, ohne dies
jemals geplant zu haben. Bilder, Narrative und Performanzen können einen Einfluss auf den
vorintentionalen Hintergrund und damit auch auf das intentionale Handeln von Akteuren
haben. Damit bleibt natürlich nicht ausgeschlossen, dass Bildern oder anderen Artefakten aus
der Perspektive von Akteuren eine eigenständige Handlungsmächtigkeit zugeschrieben wird,
wie dies beispielsweise bei religiösen Ikonen der Fall ist, die durch Wundheilungen von sich
reden machen (2.1.5). Die Soziologie sollte jedoch diese beiden Beschreibungsebenen
auseinanderhalten und sich nicht an einer Mystifizierung von Artefakten beteiligen. Dafür
sind die theoretischen und empirischen Gewinne einer solchen Dezentrierung menschlicher
Akteure, beispielsweise in der Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2007), zu dürftig geblieben.
Eine solche begriffliche Konkretisierung empfiehlt sich auch für den Gewaltbegriff, da die
Rede von „struktureller Gewalt“ (Galtung 1975), „symbolischer Gewalt“ (Bourdieu 2005)
oder „systemischer Gewalt“ (Han 2011) das Kernphänomen aus dem Blick zu verlieren droht.
163
Akteure können auf diese Wirkung der Bilder spekulieren oder diese kalkulieren, was sie zu einem probaten
Mittel für Machtkämpfe werden lässt. Wie Waffen oder andere Werkzeuge können Bilder von Akteuren
eingesetzt werden, um bestimmte Effekte zu erzielen. So verwenden beispielsweise
Menschenrechtsorganisationen Fotografien, um Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und die
Durchsetzung der Menschenrechte zu erzwingen (McLagan 2006; Gregory 2006).
158
3.1.3. Gewalt als Aktionsmacht und Grenzfall des Sozialen
Gewalt stellt ein Grenzfall des Sozialen dar. Sie kommt zwar zwischen Menschen zur
Anwendung, abstrahiert aber zugleich von deren Subjektivität. Wer zur Gewalt greift, schert
sich nicht um die Subjektivität seiner Gegner und Opfer, sondern reduziert sie im Gewaltakt
auf die bloße Dinglichkeit ihres Körpers. Nur elaborierte und oft auch besonders grausame
Formen von Gewalt, wie etwa die Folter (3.3.4), zielen auch auf die Subjektivität ihres
Opfers. Gewalt bewegt sich in einem Zwischenbereich von Körperlichkeit und
Kommunikation, Naturzustand und sozialer Ordnung (Giesen 2010: 126-142). Geht man, wie
Weber, von einem relationalen Machtbegriff aus, so tritt Gewalt als ein Grenzfall von Macht
in Erscheinung. Als eine Form des physischen Zwangs dokumentiert der Griff zur Gewalt die
Ohnmacht des Gewalttäters. Dies trifft, um auf eine Typologie von Reemtsma (2008: 108116) zurückzugreifen, in erster Linie auf die „lozierende Gewalt“, die einen Körper
fortschaffen oder festhalten will, und auf die „raptive Gewalt“, die sich eines Körpers (meist
zu sexuellen Zwecken) bemächtigen will, zu.164 Laut Reemtsma besitzen sowohl die
lozierende als auch die raptive Gewalt soziale Komplemente, die auf einem zwangslosen
Konsens beruhen (2008: 137-140). Bei Reemtsma gibt es allerdings noch einen dritten Typus,
die „autotelische Gewalt“ (2008: 116-124), die kein anderes Ziel verfolgt, als den Körper des
Anderen zu verletzen oder gar zu zerstören – Gewalt als Selbstzweck.165 Folglich besitzt sie
keine sozialen Komplemente. Ein autotelisches Moment, das sich verselbstständigen und
sogar überhandnehmen kann, wohnt aber jedem Gewaltakt inne. Popitz spricht in diesem
Zusammenhang von einer „Entgrenzung des menschlichen Gewaltverhältnisses“ (2004: 48;
Hervorhebung im Original), die er als Folge der anthropologischen Konstitution des
Menschen, nämlich seiner Instinktentbundenheit und seiner ausufernden Imagination, deutet.
Legt man den Machtbegriff von Popitz zu Grunde, lässt sich Gewalt als „schiere
Aktionsmacht“, jemandem „etwas anzutun“, bestimmen (2004: 43). Der Gewalttäter ist darauf
aus, anderen Akteuren einen körperlichen Schaden zuzufügen oder über deren Körper nach
164
So die Terminologie von Jan Philipp Reemtsma (2008), der zwischen drei spezifischen Formen des
Körperbezugs von Gewalt unterscheidet. Seine Differenzierung von Gewalttypen ist innovativ, da sie von
den Intentionen der Akteure zu abstrahieren versucht und alleine den Körperbezug zum
Klassifikationsmerkmal erhebt. Allerdings schleichen sich bei Reemtsma auch intentionalistische Deutungen
ein, indem beispielsweise „lozierende Gewalt“ mit „zweckrationaler Gewalt“ identifiziert wird oder aber
raptive Gewalt mit der sexuell motivierten Bemächtigung des anderen Körpers.
165
Die „Sinnlosigkeit“ der Gewalt bei Amokläufen oder die scheinbar wahllosen Schlägereien zwischen
Hooligans, aber letztlich auch die gewaltsamen Erniedrigungen in Abu Ghraib sind hierfür treffende
Beispiele. Vgl. hierzu den Beitrag von Bernhard Giesen, Marco Gerster, Kim-Claude Meyer und dem
Verfasser, der in Kürze in dem Sammelband Schwellenwesen der Gewalt erscheinen wird.
159
Belieben verfügen zu können. Als Aktionsmacht ist Gewalt zunächst einmal die
Verwirklichung einer Handlungsmöglichkeit neben anderen Handlungsoptionen. Der Griff
zur Gewalt ist als Möglichkeit immer präsent, auch wenn diese Möglichkeit im Alltag latent
gehalten werden muss. Aktionsmacht im Allgemeinen und Gewalt im Besonderen interessiert
sich nicht für das Handeln anderer Akteure (Popitz 2004: 47). Gerade Gewalt erlaubt es
einem, sich vom Handeln anderer, nicht zuletzt mithilfe technischer Hilfsmittel, unabhängig
zu machen. Natürlich kann die Androhung von Gewalt auch als instrumentelle Macht
verwendet werden (3.1.5). Folter als Verhörtechnik droht beispielsweise mit der Fortsetzung
und Intensivierung von Gewalt, um den Gefolterten zu Aussagen zu zwingen (3.3.4.).
Gewalt zielt auf den Körper eines Anderen, um dessen körperliche und psychische
Integrität zu verletzen. Während sich die „datensetzende“ Macht bei Popitz über die
Widerständigkeit der Welt hinwegsetzt, findet die Gewalt im Widerstreben des Anderen ihren
Gegenhalt. Auch hier tritt der ambivalente Charakter von Gewalt deutlich zu Tage: Gewalt
kann es nur gegenüber Akteuren geben, zu denen auch eine soziale Beziehung möglich wäre,
stellt aber selbst keine soziale Beziehung dar.166 Ferner kann sie sowohl in der symmetrischen
Konstellation eines Kampfes, als auch in asymmetrischen Konstellationen, die nur Täter und
Opfer kennen, auftreten. Selbst bei anfänglich symmetrischen Gewaltkonstellationen ist eine
fortschreitende Asymmetrisierung im Gewaltverhältnis selbst angelegt. Es geht darum, den
Gegner kampfunfähig zu machen und so eine Asymmetrie von Täter und Opfer herzustellen.
Gewalt stellt ein außerordentliches Phänomen dar – sowohl als ein Erlebnis wie auch als
ein Ereignis. Es ist kein Zufall, dass Bernhard Giesen in einem Text über die performative
Herstellung von Ereignishaftigkeit auf das Beispiel der Gewalt zurückgreift:
In many religious narratives the extraordinariness of the epiphanic moment is marked by violence – God
asks Abraham to sacrifice Isaac, Christ is tortured and crucified to redeem his people, Saint Paul is hit by
a divine stroke, etc. The importance of violence for a moment of epiphany results not only from its
unexpectedness in ordinary life, but also from its location in the boundary zone between common social
life and the outlands – it represents the ultimate exception from rules of everyday life, it is the event as
such. The exceptional nature of violence conveys a sense of utmost veracity and authenticity, it is
grounded in a realm beyond volatile communication, fragile conventions, and faked pretensions: it has an
absolute presence. (Giesen 2006b: 336f.)
Die von Giesen konstatierte Ereignishaftigkeit der Gewalt findet sich auch in den Arbeiten
von Wolfgang Sofsky: „Sie [die Gewalt, W.B.] komprimiert die Zeit zur Jetztzeit ohne
166
Nach dieser Begriffsfassung kann es keine Gewalt gegen leblose Gegenstände geben: „Einem Salat kann man
keine Gewalt antun – er widerstrebt nicht“ (Giesen 2010: 129).
160
Horizont, zum Augenblick außerhalb der Zeit“ (1997: 120).167 Als Ereignis ist Gewalt eine
Unterbrechung und Verzerrung im alltäglichen Fluss der Zeit, was für die Außerordentlichkeit
des Gewalterlebens konstitutiv ist.168 Giesen geht allerdings über den von Sofsky
konstatierten Ereignischarakter von Gewalt hinaus, indem er auf die räumliche Randlage von
Gewaltakten, ihren körperlichen Bezug und ihren sozialen Ausnahmecharakter hinweist. Das
Phänomen der Gewalt weist eine verblüffende Ähnlichkeit zu den liminalen Phänomenen auf,
die Victor Turner in seinen Untersuchungen zum Ritual entdeckt hat (2.3.2). Im Folgenden
soll daher Turners Begriff der „Liminalität“ auf das Feld der Gewaltphänomene ausgeweitet
und seine Konsequenzen für das Gewalterleben aufgezeigt werden.
Für liminale Phänomene ist einerseits die Außerordentlichkeit vor dem Hintergrund einer
alltäglichen sozialen Ordnung, die sogenannte „Antistruktur“, andererseits aber die
emotionale Stiftung von Gemeinschaftlichkeit, die „Communitas“, kennzeichnend. Das
antistrukturelle Moment wird als sakral erfahren, da es sich von der profanen Alltagsrealität
der Akteure unterscheidet. Wie das Sakrale, so kann auch die Gewalt als heilig oder
dämonisch, als abstoßendes „Tremendum“ oder anziehendes „Faszinosum“ erlebt werden.169
Auch wenn sich Turner vor allem mit den positiven Seiten der Liminalität beschäftigt hat,
finden sich bei ihm auch Spuren einer Auseinandersetzung mit der negativen Seite der
Liminalität.170 So weist er in einer späteren Arbeit drauf hin, dass Liminalität nicht nur in der
kollektiven Ekstase einer sozialen Gruppe, sondern auch in „Anomie, Entfremdung, Angst“
und „in den von existentialistischen Schriftstellern bevorzugten ‚Extremsituationen‘ wie
Folter, Mord, Krieg, Selbstmord, Krankenhaustragödien, Hinrichtungen usw. zum Ausdruck“
komme (2009: 72f.). Dieser anomische Aspekt von Liminalität, die Kehrseite der positiven
Außerordentlichkeit, tritt auch in den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib deutlich zu Tage
167
Walter Benjamin (2007/1940) verwendet den Begriff der „Jetztzeit“, um jenen messianischen Augenblick zu
bezeichnen, der durch den revolutionären Akt aus dem Kontinuum der Zeit herausgesprengt wird. Erst
dadurch wird der „wirkliche“ Ausnahmezustand gegenüber dem „normalisierten“ Ausnahmezustand, der zur
Regel geworden ist, sichtbar.
168
Die Eigenzeitlichkeit der Gewalt äußert sich für Sofsky in der Spontanität des Gewaltausbruchs, „die
Plötzlichkeit, der Augenblick, der die Kontinuität der Zeitlinie durchbricht“ (1997: 120), der in dem abrupten
Ende der Gewalt seine Entsprechung findet, aber auch in der „Eigenzeit“ spezifischer Gewaltformen:
Während sich Kampf und Jagd durch eine Beschleunigung des Gewalterlebens auszeichnen, kommt es bei
Marter und Folter zu einer quälenden Verlangsamung des Erlebens (1997: 113).
169
Zum Heiligen als Doppelgestalt von „mysterium tremendum“ und „faszinans“ vgl. Rudolf Otto (1987/1917),
die im Übrigen der von Émile Durkheim beobachteten Ambivalenz des Heiligen entspricht (1996: 85f.); zur
„Gewalt als Faszinosum“ vgl. den Aufsatz von Hans-Georg Soeffner (2004).
170
Zum Begriff der „negativen Liminalität“ vgl. die Arbeit von Andreas Kraft (2006).
161
(7.4). Wie die Antistruktur im Allgemeinen, so muss auch Gewalt in Gesellschaften
strukturell eingehegt und institutionalisiert werden – und sei es, indem sie an die Peripherie
der Gesellschaft verbannt wird. Der gewalttätige Ausnahmezustand lässt sich genauso wenig
auf Dauer stellen, wie sich der Anblick des Göttlichen auf Dauer ertragen lässt.
Als antistrukturelles Phänomen kann Gewalt – wie das Ritual bei Turner (2005) – sowohl
ordnungsauflösend als auch ordnungssetzend sein. Sie kann der Aufrechterhaltung der
alltäglichen Ordnung dienen, aber diese auch radikal in Frage stellen. Einerseits schafft sie
Tatsachen, wo vorher keine waren: Gewalt vollzieht eine Trennung zwischen Freunden und
Feinden, Tätern und Opfern, Lebenden und Toten. Zugleich ist sie „entsetzlich“, weil in ihr
die Kontingenz der gesetzten Ordnung hervorbricht. Gewaltsame Ereignisse können aber auch
Funken der Kreativität erzeugen, die zu institutionellen Umwälzungen oder Revolutionen
führen können.171 Die Antistruktur der Gewalt entbehrt nicht jeglicher Ordnung, sondern
unterliegt ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Gewalt neigt zur Verselbstständigung, sie
entwickelt eine eigentümliche Dynamik, die sich der intentionalen Kontrolle der Akteure
entzieht. Dieser antistrukturelle Kern erweist sich dann als psychologisches und
organisatorisches Problem, wenn Gewalt für bestimmte Ziele und Zwecke eingesetzt werden
soll – wie beispielsweise im Krieg. Die Disziplinierung derjenigen, die kollektive Gewalt
ausüben, war immer schon ein wichtiges Anliegen, da die Auflösung der Ordnung im
Gewaltexzess auch die Effektivität des Einsatzes von Gewalt mindert. Außerdem kann
enthemmte und entsetzliche Gewalt als Verstoß gegen eine moralische Ordnung
wahrgenommen werden – ganz gleich, ob es sich dabei um den Ehrenkodex unter Kriegern
oder Hooligans oder um die universellen Prinzipien der Menschenwürde handelt. Mit der
Dauerbeobachtung durch die Weltöffentlichkeit nehmen die unerwünschten Folgen von
Gewaltexzessen zu, wie nicht zuletzt der Abu-Ghraib-Skandal demonstriert. Entgrenzte
Gewalt ist entsetzlich, weil sie unser moralisches Hintergrundverständnis angreift.
3.1.4. Die Gewalterfahrung als souveräne Überschreitung und Flow-Erlebnis
In der sozialen Ordnung des Alltags hat Gewaltfreiheit den Rang einer moralischen Norm
(4.1.1). Während die Vertreter einer „schwarzen Anthropologie“ der Gewalt das Gewaltverbot
171
Man denke nur an die Selbstverbrennung des Tunesiers Mohamed Bouazizi, die als gewalttätige
Initialzündung für den sogenannten „Arabischen Frühling“ fungierte (wenn auch hier die mediale
Verstärkung, insbesondere durch soziale Netzwerke im Internet, in Rechnung gestellt werden müssen). Auch
die Gewaltrituale von Abu Ghraib, so die These dieser Arbeit, haben durch die Massenmedien und die
Öffentlichkeit zu institutionellen und kulturellen Veränderungen geführt (Kapitel 9 und 10).
162
für eine unwahrscheinliche und zerbrechliche zivilisatorische Errungenschaft halten (Sofsky
1996; Hobbes 1999/1651), argumentieren Vertreter einer „weißen Anthropologie“ gerade
umgekehrt: Gewalt sei unwahrscheinlich, weil sie dem biologisch verankerten Bedürfnis von
Menschen nach Interaktion und Reziprozität widerstrebe (Collins 2008). In einem
wesentlichen Punkt, auf den es hier ankommt, stimmen beide Strömungen jedoch überein:
Gewalt ist ein außerordentliches Ereignis und eine Überschreitung der sozialen Ordnung.
Da Gewalt weithin als Überschreitung einer Norm angesehen wird, hat sich die legitime
Anwendung von Gewalt als Ausnahme dieser allgemeinen Regel zu rechtfertigen. Der Körper
der Anderen – zumindest unter sozial Gleichgestellten – gilt als Tabu. Während in früheren
Gesellschaften körperliche Übergriffe von Männern gegenüber Frauen, Erwachsenen
gegenüber Kindern, Adligen gegenüber Leibeigenen als legitim erachtet wurden, zeichnet
sich die moralische Ordnung der modernen Gesellschaft durch eine Universalisierung des
Rechts auf körperliche Unversehrtheit aus (4.1.4). Zahlreiche Ausnahmen (wie etwa das
Töten im Krieg) bestätigen auch hier nur die Gültigkeit der Regel.172 Im Gegensatz zur bloßen
Übertretung einer Norm, die auch unabsichtlich erfolgen kann, muss eine Überschreitung im
Bewusstsein der Grenze erfolgen. Sie ist eine intentionale Regelverletzung, die einen
Präzedenzfall schafft, ohne die Regel außer Kraft zu setzen – eine Ausnahme, die noch nicht
institutionalisiert und eingehegt ist. Gerade aus der Normverletzung zieht die Überschreitung
ihre symbolische Energie. Wie der Souverän und das Politische bei Carl Schmitt (1996,
2002), so steht auch die Gewalt außerhalb der sozialen Ordnung. Es ist wohl kein Zufall, dass
Bataille (1978, 1986) das Erleben von Gewalt aus einer Täterperspektive mit dem Begriff der
„Souveränität“ charakterisiert hat. Im Gewaltakt erfährt sich der Täter als außerhalb der
Ordnung stehendes und, da über Tod und Leben entscheidendes, souveränes Subjekt. Bei
Bataille ist Souveränität nicht nur auf das unmittelbare Erleben des Täters bezogen, sondern
drückt auch sein „Streben nach Rang“ (Bataille 1978: 48), nach sozialem Status und Ehre aus.
Gewalt stellt dabei nicht nur eine Überschreitung alltäglicher Normen, sondern auch eine
Transgression körperlichen Grenzen dar. In den intensiven Erfahrungen von Körperlichkeit
innerhalb bestimmter Akte der Gewalt – aber etwa auch der Erotik – wird die Grenze des
individuellen Körpers durchlässig, die Diskontinuität der Existenz löst sich auf zu Gunsten
172
Die Ausnahmen lassen sich in sozialer, zeitlicher und sachlicher Hinsicht spezifizieren. Polizisten und
Soldaten haben erweiterte Gewaltbefugnisse, Kriege und die sogenannten „moral holidays“ (Collins 2008)
ermöglichen zeitlich begrenzte, gewaltsame Überschreitungen, wobei auch hier in den meisten Fällen nur
bestimmte Gewaltformen zulässig sind. In Subkulturen und Szenen gibt es Formen ritualisierter Gewalt,
beispielsweise Schlägereien zwischen Hooligans oder aggressive Rempeleien auf Rockkonzerten.
163
der Kontinuität des Lebens (Bataille 1986). Dieser Erfahrung der Kontinuität oder auch
Heterogenität, von der Bataille in Bezug auf Sexualität und Gewalt spricht, weist eine starke
Ähnlichkeit zum Begriff der Communitas von Turner auf, ist jedoch nicht von vornherein auf
ein kollektives Erleben ausgelegt. In der aktiven Gewaltausübung wird der eigene Körper und
dessen Wirkmächtigkeit erfahren; im Schmerz und der Ohnmacht des Erleidens von Gewalt
hingegen die Passivität des Gefangenseins im eigenen Körper und die Auflösung der Welt.
Sowohl das Erleiden als auch die Ausübung von Gewalt sind zutiefst emotionale Erfahrungen
(Giesen 2010: 126-142). Die Täter erleben Gewalt oft als eine Steigerung ihrer Subjektivität
im souveränen Akt der Überschreitung körperlicher und sozialer Grenzen, wofür es gerade in
der Forschung zu jugendlichen Gewalttätern zahlreiche Belege gibt (vgl. Sutterlüty 2002: 41101). Der „Selbstdivinisierung“ (Giesen 2010: 132f.) des Täters entspricht das „Gefühl
schlechthinniger Abhängigkeit“173 auf Seiten des Opfers. Gerade der Erfahrung von Schmerz
wird gerne eine besondere Realität und Authentizität zugesprochen (1.3.4). Wie die
Liminalität des Rituals (2.3.2), so suspendiert auch die gemeinschaftlich begangene Gewalttat
alle
sozialen
Unterschiede,
die
für
das
alltägliche
Leben
kennzeichnend
sind.
Gemeinschaftliche Gewalt kann so zu einer kollektiven Efferveszenz oder Communitas
führen, die Solidarität zwischen den Tätern stiftet (Giesen 2010: 134-136; vgl. auch Zdun &
Strasser 2009).174
Wer Gewalt ausübt oder als Opfer erfährt, findet sich leicht in ihre Logik verstrickt. Die
Unmittelbarkeit und Körperlichkeit der Gewalterfahrung und die aus ihr resultierenden
Handlungszwänge lassen keine distanzierte Selbstbeziehung zu. Dies gilt auch für das
rauschhafte Gewalterleben von Tätern, das sich als „flow-Erlebnis“ (Csikszentmihalyi 1985)
charakterisieren lässt. Turner zufolge zeichnet sich das Flow-Erlebnis durch die
Verschmelzung von Bewusstsein und Handeln, die Bündelung der Aufmerksamkeit sowie
durch einen Ichverlust aus (Turner 2009: 89f.). Hinzu kommt, dass der Handelnde die volle
Kontrolle über seine Handlungen und Umwelt besitzt, seine Handlung eine klare
Rückmeldung aus der Umwelt erhält und keine äußeren Ziele oder Belohnungen benötigt
(Turner 2009: 91f.). Alle diese Merkmale treffen auch auf den rauschhaften Vollzug von
Gewalt zu, in dem der Täter seine eigene Wirkmächtigkeit erfährt. Diese eigentümliche
Dynamik des Gewaltvollzugs führt dazu, dass Gewaltakte „allererst die Motive erzeugen, die
173
Das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ ist für Friedrich Schleiermacher (1984: 3-6) das religiöse
Gefühl schlechthin.
174
Auch das Leiden der Opfer tilgt alle sozialen Unterschiede. Man wäre fast versucht, von einer „negativen
Communitas“ zu sprechen, wenn nicht das Leiden die einzelnen Opfer voneinander isolieren würde.
164
sie tragen und begleiten“ (Sofsky 2002: 24). Diese Dynamik der Gewalt engt allerdings auch
die Aufmerksamkeit des Gewalttäters und seinen Handlungspielraum ein.
In den bisherigen Überlegungen wurde von der sogenannten „Ursachenforschung“ zur
Gewalt bewusst Abstand genommen, da sie dazu neigt, den Blick auf den Kern der Sache zu
verstellen. Dies heißt nicht, dass individuellen Motiven (z.B. starke Emotionen), situativen
Faktoren (z.B. Anomie) oder strukturellen Variablen (z.B. junge Männer) keine Bedeutung
bei
der Erklärung von
Gewaltakten
zukäme.
Im
Rahmen
des
hier verfolgten
kultursoziologischen Ansatzes soll allerdings noch einmal die Bedeutung des emotionalen
Hintergrundes und des sozialen Imaginären für die Erfahrung, Anwendung und Legitimierung
von Gewalt in das Blickfeld gerückt werden. So hat Michel Wieviorka auf die Bedeutung des
emotionalen Klimas und des kulturellen Hintergrundes für die Erklärung von Gewaltakten
hingewiesen.
Man kann die Register der Angst und das der Kultur insofern zusammenbringen, als in bestimmten Fällen die
Mobilisierung der Akteure zu Formen extremer Gewalt sich auf die Aktivierung historischer Ängste stützt,
die im kollektiven Gedächtnis verankert sind und zu einem integralen Bestandteil des nationalen Imaginären
geworden sind. (Wieviorka 2006: 171)
Insbesondere bei Genoziden, aber auch bei Gräueltaten im Krieg, ist es oft der Fall, dass die
Opfer
als
bedrohliche
Parasiten
oder
als
„Untermenschen“
gesehen
und
auch
dementsprechend behandelt werden.175 Die Gewaltanwendung gegenüber Menschen „zweiter
Klasse“ kann sehr schnell als legitim empfunden werden. Aber auch in der Populärkultur
werden legitime Kontexte für die Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens geschaffen.176 Die
kollektive Erinnerung an Gewaltakte und Gräueltaten kann ebenfalls zum Bestandteil eines
sozialen Imaginären werden (6.1-2) – was sowohl bellizistisch als auch pazifistisch
instrumentalisiert werden kann. Auch im Falle der Gewalt
gehen symbolische
Klassifikationssysteme und soziale Imaginationen dem intentionalen Handeln der Akteure
voraus.
175
Nicht nur in Nazideutschland wurden Juden als „Parasiten“ und „Schädlinge“ im „Volkskörper“ angesehen,
auch die radikalen Hutu bezeichneten die Tutsis als „Inyenzi“, d.h. Heuschrecken.
176
Man nehme einmal die amerikanische Fernsehserie Dexter (2006-), deren gleichnamiger Protagonist ein
zwanghafter Serienmörder ist. Dexter kanalisiert seinen Drang, zu töten, indem er andere Mörder jagt, die es
geschafft haben, dem Justizsystem ungestraft zu entkommen. Seine Opfer werden in der Serie als krankhafte
Monstren dargestellt. Den Vorgang des Tötens, der im Übrigen hochgradig ritualisiert ist, und die
anschließende Entsorgung der Leiche nennt Dexter „taking out the garbage“ („den Müll raustragen“).
165
3.1.5. Technische, rituelle und performative Aspekte der Gewalt
Gewalt ist aufgrund ihres transgressiven und entgrenzenden Charakters schwer zu
kontrollieren. Ihre Einbettung in soziale Kontexte und ihre gesellschaftliche Organisation ist
daher unabdingbar. Es geht nicht alleine darum, das Übergreifen von Gewalt in den Alltag zu
verhindern, sondern auch um die Wiederholbarkeit von Gewalt und die Steigerung ihrer
Effektivität. Liminale Gewalt wird in Gesellschaften einer technischen Standardisierung und
rituellen Einbettung unterworfen. Techniken und Rituale sind stabile Handlungsmuster,
sogenannte „Ereignisse zweiter Ordnung“, die auf der Wiederholbarkeit eines ursprünglichen
Ereignisses – hier dem Ereignis der „nackten“ Gewalt – basieren (vgl. Giesen 2006b: 338f.;
Binder 2010b: 77-83). Während sich Techniken an dem Modell der teleologischen
Handlungsintentionalität orientieren (1.1.3), entzieht sich die Durchführung von Ritualen
einem individualistischen und intentionalistischen Handlungsverständnis (2.3.2). Techniken
steigern die Effektivität des Einsatzes von Gewalt, während sich Rituale die Liminalität von
Gewalt zu Nutze machen, um die soziale Identität von Individuen zu transformieren und
gemeinschaftliche Solidarität zu stiften (2.3.2; 3.3.2-4). Eine strikte Trennung von Technik
und Ritual ist natürlich unmöglich. Trotzdem macht es Sinn, im Anschluss an Edmund R.
Leach zwischen technischen und rituellen Aspekten einer Handlung zu unterscheiden:
From this point of view technique and ritual, profane and sacred, do not denote types of action but aspects of
almost any kind of action. Technique has economic material consequences which are measurable and
predictable; ritual on the other hand is a symbolic statement, which ‘says’ something about the individuals
involved in the action. (Leach 1970: 13)
Übertragen auf das Phänomen der Gewalt bedeutet dies, dass zwischen den intendierten,
materiellen Effekten eines Gewaltaktes und seiner symbolischen Funktion eine analytische
Unterscheidung getroffen werden kann, ohne dass eine eindeutige Zuordnung möglich
wäre.177 Technisches bzw. instrumentelles Gewalthandeln bedeutet, dass Gewalt als probates
Mittel für einen „höheren“ Zweck eingesetzt wird – und sich darüber legitimiert. Die
technischen Aspekte der Gewalt treten in Kampfsportarten und bei kriegerischen
Auseinandersetzungen deutlich zu Tage. Ein anderes Beispiel ist der Einsatz von Folter als
Verhörtechnik (3.3.4).
An die Stelle von Mittel und Zweck tritt bei Ritualen die Unterscheidung zwischen dem
„Profanen“ und dem „Heiligen“ (2.3.2). Rituelle Gewalt knüpft damit an die binären Codes
der symbolischen Ordnung an, die ihren Ursprung in der religiösen Leitunterscheidung
177
Reemtsma unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen „instrumenteller“ und „existentieller Gewalt“
(2008: 106).
166
besitzen (1.2.2). Im Ritual entfaltet Gewalt eine transformative Kraft, die den profanen Leib
des Opfertieres in eine heilige Gabe verwandelt oder den geschlagenen Initianden zu einem
echten Mann werden lässt. Rituelle Aspekte von Gewalt spielen aber auch außerhalb von
Ritualen im engeren Sinne eine große Rolle. Aufgrund ihrer ordnungsstiftenden und
strukturierenden Funktion kann Gewalt in unübersichtlichen Situationen als sozialer
Klassifikationsmechanismus dienen. Wer Opfer von Gewalt wird, kann in den Augen von
Gewalttätern automatisch zum Feind werden, wie unter anderem Harald Welzer in seinen
historischen Studien über Täterschaft gezeigt hat (2005; vgl. 6.2.3). Zusätzlich zu dem
materiellen Effekt, der darin besteht, dass jeder Getötete nun einmal ein Toter ist, findet durch
den Akt des Tötens eine symbolische Transformation der Getöteten in Feinde statt. „Töten als
Definition“ ist jedoch für Welzer nur eine Seite der ordnungstiftenden Gewalt, die andere
Seite besteht in der „Erzeugung von Kohärenz, von innerer Zusammengehörigkeit auf Seiten
der Täter, die sich in der Tötungsarbeit als Wir-Gruppe definieren“ (2005: 265). Für eine
Gruppe von Tätern – und um eine solche Gruppe handelte es sich auch in Abu Ghraib – wirkt
die kollektive Ausübung von Gewalt „vergemeinschaftend“ (Giesen 2010: 134-136). Die
außerordentliche Communitas der Gewalterfahrung stiftet ein Band zwischen den Tätern, das
die sozialen Unterschiede zwischen ihnen – auf Kosten der Opfer – in den Hintergrund treten
lässt. Gerade bei kollektiver Gewalt treten die rituellen und kommunikativen Aspekte des
Phänomens überdeutlich zu Tage (so auch Collins 1974: 240f.). Damit dürfte klar sein, dass
die Anwendung von Gewalt auch symbolische und soziale Effekte zeitigt, die über ein
verkürztes instrumentelles Verständnis von Gewalt hinausgehen.
Von den rituellen Aspekten der Gewalt soll nun zu anderen performativen Merkmalen
übergegangen werden, die ebenfalls von Bedeutung für den Gewaltbegriff sind. Im Gegensatz
zu den undurchsichtigen und oft auch unsichtbaren Phänomenen der Macht ist körperliche
Gewalt sichtbar und hinterlässt ihre Spuren. „Personale Gewalt zeigt sich“, wie Galtung
einmal bemerkte (1975: 16).178 Die Sichtbarkeit von körperlicher Gewalt ermöglicht nicht nur
die Dokumentation von Gewaltakten, sondern lädt auch zur Theatralisierung und
Dramatisierung ein. Zeitgenössische Autoren wie Sofsky (1996), Reemtsma (2008) und
Giesen (2010: 126-142) haben darauf hingewiesen, dass neben der Rolle des Täters und des
178
Dies hat zur Folge, dass die Anwendung von Gewalt in einer Situation einerseits schwer zu verbergen ist,
andererseits aber auch auf Fotografien und Filmen festgehalten werden kann. In Deutschland kann keine
größere Demo stattfinden, ohne dass Demonstranten und Polizisten mit Kameras bewaffnet die Gegenseite
filmen, um etwaige gewalttätige Übergriffe zu dokumentieren und diese vor Gericht oder vor der
Öffentlichkeit nutzen zu können.
167
Opfers auch das „Publikum“, das mit Gewalt konfrontiert wird, zu berücksichtigen ist. Gewalt
als Spektakel ist ein Faszinosum, das eine ambivalente Schaulust auf Seiten des Publikums
befriedigt. Es lassen sich unterschiedliche Situationen und Konfigurationen zwischen der
Gewalttat und dem Publikum unterscheiden. So differenziert Sofsky zwischen der Situation in
einer Arena, wo der Einzelne mit der erregten Menge verschmilzt und von kollektiven
Emotionen ergriffen wird, und der Position des unbeteiligten und distanzierten Perspektive
des Zuschauers in den Massenmedien. Der unüberbrückbare Abgrund zwischen der Gewalttat
und dem heimischen Zuschauer am Fernseher entlastet letzteren von der Pflicht, eingreifen zu
müssen – so jedenfalls die These von Sofsky (1996: 108). Diese Aussage muss allerdings
relativiert werden, da gerade Fernseh- oder Presseberichte über Gräueltaten einen
Umschwung in der öffentlichen Meinung herbeiführen und sogar eine militärische
Interventionen legitimieren können (6.3.3). Gerade die Distanz zum Geschehen kann eine
moralische Klarheit schaffen, die sich wiederum in eine eindeutige Handlungsanweisung
ummünzen lässt. Auch die öffentliche Reaktion auf die Fotografien aus Abu Ghraib spricht
gegen eine solche „Desensibilisierungsthese“ (8.2). In diesem Fall empörten sich gerade jene,
die nicht zu den unmittelbaren Zeugen der Missbrauchsfälle gehörten. Dies trifft nicht nur auf
die amerikanische Öffentlichkeit, sondern auch auf den „whistle-blower“ von Abu Ghraib zu,
der ebenfalls nur die Fotos der Missbrauchsfälle kannte (8.1.1).
Während in den Gewaltritualen der liminale Kern von Gewalt zu Tage tritt, lenkt die
Performanz von Gewalt den Blick auf deren liminoide Aspekte. Der Begriff des „Liminoiden“
(hierzu Turner 2009) kann im Kontext von Gewalt in dreifacher Weise verwendet werden:
Erstens für die Darstellung von Gewalt in den sogenannten „Mußegattungen einer
Gesellschaft“, zweitens für die spielerische Inszenierung von Gewalt, drittens aber für die
„verspielte Grausamkeit“, wie sie für asymmetrische Konstellationen von Gewalt
charakteristisch ist. Im Folgenden soll noch einmal kurz auf diese einzelnen Aspekte
eingegangen werden.
Die theatralische und fiktionale Darstellung von Gewalt setzt an die Stelle der liminalen
Gewalt eine liminoide Repräsentation von Gewalt, die vor allem der Unterhaltung dient. In
fiktionalen Medien wird Gewalt gerne als ein dramaturgisches Mittel verwendet, das den
Konflikt zwischen Protagonisten und Antagonisten in einem Kampf – oft auf Leben und Tod
– gipfeln lässt. Fiktionale Formate können dabei mehr oder weniger „realistisch“ sein. Ob
eine Darstellung als „realistisch“ gilt, hängt von ihren medialen Effekten und ihrer Konsonanz
mit den entsprechenden Hintergrundmustern ab. Eine „realistische“ Darstellung von Gewalt
168
kann zur Verfestigung von bestimmten Gewaltbildern und -narrativen beitragen. So führte die
Serie 24 (2001-2010) mit ihren Folterszenen zu einer Popularisierung des Ticking-BombSzenarios, das eine Rechtfertigung für Folter in Extremsituationen lieferte (6.4.3; 10.3.2).
Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt aus.
Einerseits wird sie moralisch geächtet und in bestimmte Arenen verbannt, andererseits ist ihre
liminoide Darstellung in der Populärkultur omnipräsent. Zu der Figur des Helden in
zahlreichen Genres gehört nun einmal die obligatorische Prügelei mit dem Bösewicht. Trotz
ihrer moralischen Ambivalenz – oder gerade wegen dieser – bleibt Gewalt ein „Faszinosum“
(Soeffner 2004) .
Neben der fiktionalen Darstellung von Gewalt lassen sich auch Wett- und Schaukämpfe als
liminoide Spielformen der Gewalt beschreiben. Wettkämpfe sind agonaler Natur, während bei
Schaukämpfen der ludische und theatralische Aspekt dominiert. In Wettkämpfen treten zwei
gleiche Kontrahenten in einem Kampf um Sieg oder Niederlage an, der strengen Regeln
unterliegt. Bei Schaukämpfen handelt es sich um theatralische Performanzen (2.3.3), die oft
auch artistischer Natur sind, obgleich in bestimmten Formen des Schaukampfes, wie in dem
von Roland Barthes beschriebenen (französischen) Wrestling (2010: 15-28), die Akteure
durch eine authentische Performanz die Künstlichkeit ihrer Gewaltinszenierung zu verbergen
suchen. Bei Wettkämpfen wie auch bei Schaukämpfen handelt es sich allerdings um
Grenzfälle von Gewalt, da die Verletzung des Anderen nicht mehr als solche intendiert wird.
Im Wettkampf entstehen Verletzungen nur als Nebenfolge des Kampfes um den Sieg,
während in Schaukämpfen die Verletzungen nur vorgetäuscht werden.
Der Begriff der „Liminoidität“ lässt sich nicht nur auf die fiktionale Darstellung oder
theatralische Inszenierung von Gewalt anwenden, sondern kann auch zur Charakterisierung
der Grausamkeit bestimmter Gewaltakte verwendet werden. Im Kampf von Mann gegen
Mann nimmt die Gewalt ihren Anfang in einer symmetrischen Ausgangslage. Die Logik der
Gewalt kann jedoch über das Verhältnis von Überlegenem und Unterlegenem in eine radikale
Asymmetrie von Täter und Opfer kippen. Ist diese radikale Asymmetrie erst einmal
hergestellt, können an die Stelle der „nackten“ oder „instrumentellen“ Gewalt auch
elaboriertere Codes der Grausamkeit treten. Hier spielt der Gewalttäter mit dem Opfer wie
eine Katze mit einer gefangenen Maus (vgl. Canetti 2006: 333f.). Der Täter hat freie Hand
und kann über den Körper des Opfers nach Belieben verfügen. Allerdings lässt sich die
schiere Grausamkeit spielerischer Gewalt nicht mehr moralisch rechtfertigen (vgl. Binder
2009: 198-207). In der modernen moralischen Ordnung, zumindest unter Liberalen, ist
169
„Grausamkeit“ ein Negativbegriff par excellence. Gewalt lässt sich legitimieren, Grausamkeit
niemals (4.1.4). Grausamkeit kann es allerdings nur innerhalb sozialer Beziehungen geben.
Während für den einfachen Gewaltbegriff noch der reine Körperbezug ausreichend ist,
impliziert Grausamkeit eine gewisse Einfühlung des Täters in das Opfer, dessen psychische
Integrität auf dem Spiel steht.179 Weder sind alle Formen der Gewalt grausam, noch müssen
alle Spielarten der Grausamkeit zwangsläufig gewaltsam sein. So lassen sich etwa auch
Demütigungen als Akte der Grausamkeit verstehen (3.2.4, 3.3.3).
3.2. Ehre und Würde
Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als
Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben
ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.
Immanuel Kant, Grundlegung zu einer
Metaphysik der Sitten (2010: 72)
Was über allen Preis erhaben und ohne Äquivalent ist, das kann im Anschluss an die
Religionssoziologie von Durkheim (2005/1912) als „heilig“ bezeichnet werden. Was einen
Preis hat, tauschbar und somit auch ersetzbar ist, kann getrost dem Bereich des „Profanen“
zugeschlagen werden. Die Soziologie hat schon früh erkannt, dass dem Individuum in der
moralischen Ordnung der modernen Gesellschaft eine Sonderstellung gebührt, ja, dass der
Einzelne als sakrales Objekt eines gesellschaftlichen Kultes verstanden werden kann
(Durkheim 1986/1898; vgl. auch Joas 2011; 4.1.4). Allerdings tat sich die Soziologie, vom
frühen Luhmann (1986/1965: 53-83) einmal abgesehen, mit dem Begriff der „Würde“ bisher
schwer und überließ ihn in der Regel den Philosophen. Die Rede von der „Würde des
Menschen“ genießt gegenüber abstrakten Konzepten wie der „Sakralität der Person“ (Joas
2011) den Vorzug, dass sie eine leibliche, expressive und performative Dimension besitzt. Im
Folgenden wird versucht, sich dem Begriff der Würde aus einer soziologischen Perspektive zu
nähern. Dabei ist der moderne Begriff der Würde zunächst von dem vormodernen Konzept
179
Beide Subjekte können aber durchaus identisch sein: Grausam kann man auch gegenüber sich selbst sein.
Randall Collins (1974) unterscheidet in seinem Aufsatz „drei Gesichter der Grausamkeit“, nämlich „offene
Brutalität“, „bürokratische Kälte“ und „asketische Selbstzucht“. Was alle diese Phänomene verbindet, ist ihre
zerstörerische Wirkung auf das Selbstverhältnis. So zielt grausame Gewalt nicht nur auf die physische,
sondern auch auf die psychische Integrität des Opfers.
170
der „Ehre“ abzugrenzen (3.2.1), bevor im Anschluss an Arbeiten von Friedrich Schiller und
Niklas Luhmann der Grundstein für ein expressives und performatives Verständnis von
Würde gelegt werden soll (3.2.2). Sodann sollen einige Position aus dem zeitgenössischen
philosophischen Diskurs zur Würde diskutiert und auf ihren soziologischen Gehalt abgeklopft
werden (3.2.3-5). Am Ende dieses Kapitels steht ein Begriff von Würde, der sowohl der
expressiven Dimension als auch der askriptiven Qualität der Menschenwürde Rechnung trägt.
Nur auf diese Weise kann man der symbolischen Dimension von entwürdigenden Gesten
gerecht werden und darüberhinaus auch verständlich machen, wie die performativen Akte von
Abu Ghraib die Würde ihrer Opfer verletzten konnten.
Die leibliche und expressive Verfasstheit der Menschenwürde wird im folgenden Distichon
von Friedrich Schiller über die Würde des Menschen besonders deutlich: „Nichts mehr davon,
ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen, / Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde
von selbst“. Die Erkenntnis des Guten und des Bösen sowie die Scham angesichts der eigenen
Nacktheit markieren in der Bibel die Vertreibung aus dem Paradies und damit den Beginn der
menschlichen Kultur – gleichwohl diese zunächst wenig mehr als ein Feigenblatt war. Der
Mensch kennt seitdem nicht nur das Verbot und die Möglichkeit seiner Übertretung, sondern
weiß sich auch beobachtet – sei es von einer göttlichen Instanz, von seinen Mitmenschen oder
seinem Gewissen als internalisiertem, „generalisiertem Anderen“ (Mead 1970). Unser
Selbstbild und unsere Selbstachtung hängen wesentlich davon ab, wie wir glauben, von
anderen wahrgenommen zu werden. Unsere eigene Identität ist auf die Spiegelung und
Anerkennung durch Andere angewiesen (Cooley 1998). Ebenfalls auf die Genesis geht die
Vorstellung zurück, dass der Mensch nach dem Abbild Gottes geschaffen worden sei und ihm
aufgrund seiner Gottesebenbildlichkeit eine herausgehobene Stellung in der Schöpfung und
eine ihm eigene Würde zukomme. Schillers Distichon gegen die „falsche“ Würde des
Menschen fordert die Abschaffung unwürdiger Verhältnisse. Die Blöße, die es hier zu
bedecken gilt, bezieht sich hier zunächst auf einen grundlegenden Mangel an Wohnraum,
Nahrung, und, wie sich noch hinzufügen ließe, an Kleidung. Den Häftlingen in Abu Ghraib
konnten, und dies war eine gesetzlich legitimierte Standardprozedur, die Kleider vorenthalten
werden (7.3). Der Begriff der Blöße verweist aber auch, und darum soll es im Folgenden
gehen, auf das Verhältnis von leiblicher Darstellung und Menschenwürde. Bevor jedoch eine
eingehendere Beschäftigung mit dem Würdebegriff erfolgt, ist dieser vom Begriff der „Ehre“,
der ebenfalls in der Rezeption der Abu-Ghraib-Bilder eine Rolle spielt, abzugrenzen.
171
3.2.1. Ehre und Würde
Ehre und Würde sind Formen sozialer Wertschätzung und gesellschaftlicher Anerkennung,
die auf das Fremd- und Selbstbild eines Menschen bezogen sind (2.1.3). Während der
altehrwürdige Begriff der Ehre noch an bestimmte soziale Rollen gebunden ist, stellt die
neuere Semantik der Würde eine Universalisierung und Individualisierung der Anerkennung
dar. Zur Ehre gehört ein Image, das ein Akteur in Ausübung einer bestimmten Rolle (z.B.
Ehemann) oder als Angehöriger eines bestimmten Standes (z.B. Soldat), zugeschrieben
bekommt.180 Ehre bezieht sich auf den sozialen Status, den eine Person innehat. Die
Zuweisung von Ehre ist an einen Komplex von normativen Regeln, an einen „Ehrenkodex“,
geknüpft, bei deren Nichtbeachtung der Verlust des Images und damit auch der Ehre droht.
Allerdings können auch Handlungen von anderen Akteuren dazu führen, dass eine Person ihre
Ehre verliert. Man kann sich selbst unehrenhaft verhalten, aber auch durch andere entehrt
werden. Auf den ersten Blick scheint für die Würde das Gleiche zu gelten: Man kann sich
würdelos betragen, aber auch von anderen entwürdigt werden.181 Sowohl Ehre als auch
Würde unterhalten enge Beziehung zur Scham. Wer seiner Ehre oder seiner Würde verlustig
geht, verliert sein Gesicht. Die emotionale Reaktion auf einen solchen Gesichtsverlust ist das
Gefühl der Scham. In einem wesentlichen Punkt unterscheiden sich allerdings Ehre und
Würde. Wer seine Ehre verliert, bleibt dauerhaft mit einem Makel behaftet. Mag er sich
schämen oder auch nicht, in den Augen der Gemeinschaft hat er Schande auf sich geladen. In
traditionalen Gesellschaften stehen dem Entehrten unterschiedliche soziale Mechanismen zur
Rückgewinnung seiner Ehre zur Verfügung. So konnte etwa der betrogene Ehemann den
Liebhaber seiner Frau zu einem Duell herausfordern; die verlorene Ehre einer jungen Frau,
die „vorzeitig“ ihre Jungfräulichkeit verloren hatte, ließ sich durch Heirat wiederherstellen.182
In früheren Gesellschaften war Ehre ein kostbares Gut, das auch durch das Recht geschützt
wurde, während heutzutage die Würde und die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen eine
180
Die Tatsache, dass sich Ehre nicht auf die Person als ganzes Individuum, sondern nur auf bestimmte soziale
Aspekte bezieht, bedeutet nicht, dass sie als partikulares Selbstbild nicht auch totalisierende Wirkungen
zeitigen kann. So gehört unter anderem der (fakultativ altruistische) Selbstmord zu den klassischen
Bewältigungsstrategien des Ehrverlustes (vgl. Durkheim 2006: 247-250).
181
Der Verlust von Würde durch das eigene Handeln lässt sich allerdings nicht ohne Weiteres auf die
Menschenwürde übertragen, die laut Grundgesetz als unantastbar gilt (3.2.3). Die Würde des Menschen kann
zwar von Anderen mit Füßen getreten, einem aber nicht entzogen oder freiwillig aufgegeben werden.
182
Auch Mord kann als Mechanismus der Wiederherstellung von Ehre fungieren; man denke nur an die
sogenannten „Ehrenmorde“. Es fällt auf, dass Gewalt ein verbreiteter Mechanismus der Wiederherstellung
von Ehre darstellt.
172
weitaus wichtigere Stellung einnehmen (Berger 1970; Kalupner 2006; vgl. 4.1.4).183 Während
sich Vorstellungen von Ehre langsam aus dem vorherrschenden Imaginären zurückziehen,
floriert die Rede von der Würde des Einzelnen, insbesondere aber von der Menschenwürde.
Eine besondere Rolle spielt das Konzept der Ehre aber auch heute noch in militärischen
Kreisen. Albrecht Koschorke zufolge stiftet das Konzept der Ehre eine Verbindung „zwischen
militärischer Gewaltanwendung und zivilem Gewaltverbot“ (2007: 181). Die Ehre des
Kriegers stellt somit einen sozialen Mechanismus dar, welcher der drohenden Eskalation von
Gewalt (3.1.3) Einhalt gebieten soll. Die soldatische Ehre gebietet den Schutz von Zivilisten
und Wehrlosen, während sie selbst mit der Ehre des Feindes wächst (Braudy 2003: 53f.).
Insofern ist es auch verständlich, dass die Demütigung der Gefangenen von Abu Ghraib im
amerikanischen Diskurs als Entehrung der Soldaten und als eine Gefährdung der Ehre der
Armee angesehen wurde. Ein weiterer Bereich, in dem Konzepte der Ehre nach wie vor
florieren, sind Subkulturen, wie sie beispielsweise in amerikanischen Ghettos mit ihrem Code
of the Street (Anderson 2000) anzutreffen sind.184
3.2.2. Würde als Ausdrucksphänomen und performative Leistung
Während sich die Ehre auf den sozialen Status eines Akteurs bezieht, der in erster Linie durch
konventionelle Zeichen (Uniform, Kranz etc.) symbolisiert wird, steht der Begriff der Würde
in einem engen Zusammenhang mit dem Körper als einem Bild- und Ausdrucksmedium
(2.1.2). So kann etwa eine Dame würdevoll daher schreiten, dies aber nicht in ehrenvoller
Weise tun. Eine erste Annäherung an den Begriff der Würde als einem Ausdrucksphänomen
soll nun in Auseinandersetzung mit dem Würdebegriff bei Schiller und Luhmann erfolgen.
In seiner Schrift über Anmut und Würde versucht Friedrich Schiller (1962) den
kantianischen Dualismus von „Neigung“ und „Pflicht“ bzw. „Sinnlichkeit“ und „Geistigkeit“
zu überwinden, indem er aufzeigt, wie das Geistige im Sinnlichen erfahrbar werden kann.
Dabei fungiert der menschliche Körper als ein Bildmedium, das etwas zeigt, das ansonsten
keiner Darstellung fähig wäre: die menschliche Person und ihre Identität. Während die Anmut
183
Das Konzept der „Ehre“ scheint aus heutiger Sicht hoffnungslos veraltet zu sein. Als der ehrenwerte Helmut
Kohl sich während des CDU-Spendenskandals unter Berufung auf sein „Ehrenwort“ weigerte, Auskunft über
die Herkunft der anonymen Spenden zu geben, stieß er dabei in der deutschen Öffentlichkeit auf wenig
Verständnis.
184
Hier muss man sich den „respect“ allerdings immer wieder performativ verdienen, beispielsweise durch ein
selbstsicheres Auftreten, aber auch durch die Androhung und Anwendung von Gewalt. Die amerikanische
Ghettokultur ist, nicht zuletzt dank ihrer Proliferation durch den HipHop, mittlerweile auch in Europa
angekommen und erfreut sich wachsender Beliebtheit.
173
als ein Ausdruck der Harmonie von Sinnlichem und Geistigem bestimmt wird, die in der
anmutigen Bewegung die moralische Gesinnung im Einklang mit den Trieben zum Ausdruck
bringt, steht der Begriff der Würde für die sichtbare Herrschaft des Geistigen über das
Sinnliche.185 Schiller definiert die Würde als Ausdruck einer moralischen Kraft:
„Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde ist ihr
Ausdruck in der Erscheinung“ (1962: 475). Ein anmutiger Leib ist ganz er selbst, während ein
würdevolles Betragen die Selbstbeherrschung eines Individuums zum Ausdruck bringt.
Würde ist damit ein Ausdruck von Aktionsmacht und moralischer Autorität (3.1.1). Für den
Begriff der Würde ist die Differenz zwischen Darstellung und Dargestelltem konstitutiv:
Streng genommen ist die moralische Kraft im Menschen keiner Darstellung fähig, da das Übersinnliche
nie versinnlicht werden kann. Aber mittelbar kann sie durch sinnliche Zeichen dem Verstande vorgestellt
werden, wie bei der Würde der menschlichen Bildung wirklich der Fall ist. (Schiller 1962: 475)
Während die Anmut als eingefleischte Tugend keines Selbstbildes bedarf, ist für die Würde
die Spannung zwischen dem Selbstbild und seinem körperlichen Erscheinungsbild zentral.
Über die Würde verleiht sich die geistige Person einen körperlichen Ausdruck. So interessant
Schillers Überlegungen zum Würdebegriff auch sind, sie verfehlen, was wir heute als
„Menschwürde“ bezeichnen würden. Die Zuschreibung von Würde ist bei Schiller von der
performativen Leistung des Einzelnen und ihrer Anerkennung durch andere abhängig. Jeder
Kontrollverlust kann einen Verlust an Würde nach sich ziehen. Die Rede von der Würde des
Menschen bedeutet, dass jeder Mensch eine Würde besitzt und deswegen ein Anrecht auf ein
gewisses Maß an Achtung besitzt – unabhängig von seinem Handeln.
Niklas Luhmann hat in einer bemerkenswerten Frühschrift über Grundrechte als Institution
(1986/1965) das deutsche Grundgesetz einer soziologischen Analyse unterzogen – mit dem
Ansinnen,
den
verfassungsrechtlichen
Dogmatismus
um
ein
Verständnis
der
gesellschaftlichen Funktionen von Grundrechten zu erweitern. Im Zentrum seiner
Überlegungen zu den Grundrechten der Würde (§ 1) und der Freiheit (§ 2), die stark von
Goffman (2006) geprägt sind, steht das Problem der „Selbstdarstellung“ (Luhmann
1986/1965: 53-83). Luhmann zufolge kommt es in der modernen Gesellschaft zu einer
Individualisierung der Selbstdarstellung und somit zur Herausbildung von individuellen
Persönlichkeiten, die für sich Würde und Freiheit in Anspruch nehmen und auch zum
Ausdruck bringen müssen. Diese Selbstdarstellung bedeutet keine zeitweilige Übernahme
185
Bei Schiller ist die Unterscheidung von „Anmut“ und „Würde“ zudem noch geschlechtlich codiert. Den
Frauen wird „Natürlichkeit“ und „Anmut“ nachgesagt, während den Männern „moralische Stärke“ und
„Würde“ zugeschrieben wird.
174
einer sozialen Rolle, sondern die Herstellung eines personalen Selbsts im sozialen Verkehr.186
Würde und Freiheit bezeichnen in diesem Zusammenhang die „Grundbedingungen des
Gelingens der Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Persönlichkeit“ (1986/1965:
61). Während es sich bei Würde um die innere Bedingung des Gelingens der
Selbstdarstellung handelt, stellt Freiheit deren äußere Bedingung dar. Luhmann zufolge
bedeutet das Freiheitsrecht des Grundgesetzes die „Freiheit von sozial manifesten
Außenursachen“, welche „die persönliche Zurechnung des Handelns einschränken und damit
die Selbstdarstellung der Person, die soziale Konstitution einer individuellen Persönlichkeit
behindern“ (1986/1965: 66). Das individuelle Freiheitsrecht beinhaltet „Freiheit von
offensichtlichem Zwang“, worunter auch Gewalt zu zählen ist, aber darüberhinaus auch die
„Freiheit von genau durchgezeichneten sozialen Erwartungen“ (1986/1965: 66), da
routinemäßiges und normgemäßes Handeln nicht dem Handelnden, sondern der Situation
zugerechnet wird und somit keinen Raum für die Selbstdarstellung lässt. Als innere
Bedingung des Gelingens von Selbstdarstellungen muss die Würde des Einzelnen, die auf sein
Selbstbild bezogen ist, ebenfalls unter den Schutz des Grundgesetzes gestellt werden:
Würde muss konstituiert werden. Sie ist das Ergebnis schwieriger, auf generelle Systeminteressen der
Persönlichkeit bezogener, teils bewusster, teils unbewusster Darstellungsleistungen und in gleichem
Maße Ergebnis ständiger sozialer Kooperation, die ebenfalls bewusst oder unbewusst, latent oder
durchschauend – niemals aber in Form offener Kommunikation, weil das ein Darstellungsfehler wäre –
praktiziert werden kann. Sie ist eines der empfindlichsten Güter, weil sie so stark generalisiert ist, dass
alle Einzelheiten den ganzen Menschen betreffen. Eine einzige Entgleisung, eine einzige Indiskretion
kann sie radikal zerstören. Sie ist also alles andere als „unantastbar“. Gerade wegen ihrer Exponiertheit ist
sie einer der wichtigsten Schutzgegenstände unserer Verfassung. (Luhmann 1986/1965: 68f.)
Luhmann begreift hier Würde als das Ergebnis von Darstellungsleistungen, als einen Effekt
von habitualisierten Akten und sozialen Performanzen. Fast unbemerkt vollzieht sich eine
Begriffsverschiebung von der Würde des Menschen als der Bedingung einer gelungenen
Selbstdarstellung hin zur Würde als dem Produkt einer gelungenen Selbstdarstellung: „Ohne
Erfolg in der Selbstdarstellung, ohne Würde, kann er seine Persönlichkeit nicht benutzen“
(1986/1965: 69). Damit verfehlt Luhmann aber – ähnlich wie Schiller – das eigentliche
Charakteristikum der Menschenwürde, nämlich dass sie allen Menschen gleichermaßen
zugeschrieben werden muss – auch unabhängig von ihren jeweiligen performativen
186
„Der Mensch wird die Persönlichkeit als welche er sich darstellt“ und „gewinnt seine Individualität als
Persönlichkeit nur im sozialen Verkehr“ (Luhmann 1986/1965: 60, 61f.). Eine ähnliche Formulierung findet
sich bereits bei Goffman: „Eine richtig inszenierte und gespielte Szene veranlasst das Publikum, der
dargestellten Rolle ein Selbst zuzuschreiben, aber dieses zugeschriebene Selbst ist ein Produkt einer
erfolgreichen Szene, und nicht ihre Ursache“ (2006: 231).
175
Leistungen. Man muss nicht unbedingt eine essentialistische Konzeption von Menschenwürde
vertreten, wenn man an der Würde des Menschen als einer notwendigen, aber nicht
hinreichenden Bedingung für erfolgreiche Selbstdarstellungen festhalten möchte. Im
Anschluss an Luhmann könnte es sich als sinnvoll erweisen, zwischen der notwendigen
Würde des Menschen als Bedingung einer erfolgreichen Selbstdarstellung und der
kontingenten Würde als dem Ergebnis einer erfolgreichen Selbstdarstellung unterscheiden.
3.2.3. Menschenwürde als Repräsentation und Bedingung von Selbstachtung
In einem Teil der neueren philosophischen Debatte zur Menschenwürde wird Würde – wie
schon bei Schiller – immer noch als Ausdrucksphänomen aufgefasst. Allerdings gehen die
Meinungen darüber auseinander, ob Menschenwürde im Anschluss an Luhmann als
kontingente Darstellungsleistung begriffen werden kann, oder ob an einem Konzept der
Menschenwürde festgehalten werden sollte, das Würde als ein dem Individuum inhärentes
und damit unveräußerliches Phänomen versteht. Luhmann hat zu Recht auf den
Zusammenhang zwischen Würde als einer Darstellungsleistung und der Menschenwürde als
einem Grundrecht hingewiesen, wobei seine eigene Lösung, Würde als kontingente
Darstellungsleistung zu begreifen, mit der Dogmatik des Grundgesetzes und unseren
moralischen Intuitionen schwer zu vereinbaren ist. Der Philosoph Anton Leist, der die
Argumentation von Luhmann aufgreift und radikalisiert, lehnt die Unterscheidung zwischen
kontingenter Würde und inhärenter Menschenwürde ab, da sie auf metaphysischen Prämissen
beruhe. Stattdessen schlägt er im Rückgriff auf Heidegger (1986/1927) vor, Menschenwürde
als „Bewusstsein des eigenen Lebens angesichts von existentialen Notwendigkeiten“ (Leist
2005: 606; Hervorhebung im Original) zu begreifen. Auch bei Leist bedarf die
Menschenwürde eines symbolischen Ausdrucks: Würde wird so zum Gegenstand von
Ritualen und Bestandteil einer öffentlichen Praxis.187 Mit Blick auf die Missbrauchsfälle von
Abu Ghraib konstatiert Leist, dass die Praxis der Folter nur dann eine Verletzung der
Menschenwürde darstellt, „wenn die Folter ein Verächtlichmachen der Gefolterten einbezieht,
indem sie gezwungen werden, ihrer eigenen Ausdruckssymbolik untreu zu werden“ (2005:
608). Trotz der interessanten soziologischen Implikationen dieses Ansatzes lässt sich die
Verengung des Würdebegriffs auf die Ausdruckssymbolik von Menschen mit existenziellem
Bewusstsein nur schwer mit der moralischen Ordnung moderner Gesellschaften vereinbaren,
187
Eine Konsequenz dieser Argumentation – die von Leist durchaus beabsichtigt ist – ergibt sich für die
Bioethik-Debatte: Leist spricht allen Entitäten, die sich nicht an Symbolisierungspraxen beteiligen können
(z.B. Embryonen), jegliche Würde ab (2005: 609).
176
in deren Schlüsseldokumenten von einer angeborenen und unverlierbaren Würde des
Menschen die Rede ist.188 Letztendlich bleibt also auch Leist, der Würde ebenfalls als
Darstellungsleistung konzeptualisiert, einer unzureichenden Theorie der Menschenwürde
verhaftet.
Kurt Seelman (2004) hat die Konzeption der Menschenwürde als Darstellungsleistung als
widersinnig kritisiert, da sie mit unserem überlieferten Begriff der Menschenwürde
unvereinbar
sei.
Stattdessen
schlägt
er
vor,
Menschenwürde
als
spezifische
Repräsentationsform zu begreifen. Er unterscheidet drei Aspekte, an denen sich die
Bedeutung von Repräsentation für die Menschenwürde aufzeigen lässt. Erstens kann
Menschenwürde als notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingung einer Übereinstimmung
von innerem Selbstbild und äußerer Selbstdarstellung definiert werden. Wie auch der Begriff
der Freiheit impliziert der Begriff der Menschenwürde einen Schutz vor einem äußeren
Zwang, der dem Einzelnen keine andere Wahl ließe, als seinem Selbstbild zuwiderzuhandeln.
Zweitens unterliegt aber auch die Privatheit des Einzelnen dem Schutz der Menschenwürde.
Damit ist gemeint, dass der Einzelne nicht vor einem Publikum in einer Weise bloßgestellt
werden darf, die sein Selbstbild in Frage stellt.189 Der dritte von Seelman behandelte Aspekt
bezieht sich auf die unwillkürliche Repräsentation der Würde des Menschen durch den
Körper des Einzelnen. Er argumentiert, dass der menschliche Körper vor jeder intentionalen
Selbstdarstellung eines Akteurs immer schon eine Repräsentation seiner Menschlichkeit und
Individualität sei. In der Tat: Wie kein anderer Teil des Körpers repräsentiert das Gesicht, das
menschliche Antlitz, das Individuum (vgl. Seelmann 2004: 154f.), weswegen es auch kaum
verwundert, dass der Begriff der „Person“ von dem griechischen Ausdruck für „Gesicht“
stammt (vgl. 2.1.2). Es ist kein Zufall, dass auf den meisten Bildern von Abu Ghraib die
Köpfe der Opfer verhüllt waren (7.1-3). Die Verhüllung des Gesichtes erleichtert die spätere
Entwürdigung des Feindes, da sie ihn seines menschlichen Antlitzes beraubt, aber sie kann
auch schon für sich genommen eine Entwürdigung darstellen. Allerdings kann die
Unkenntlichmachung eines Gesichtes in den Medien, gerade weil sie die Individualität der
188
Leists Unterscheidung zwischen einem „bewusstem“ und einem „selbstvergessenen Leben“, die sich an
Heideggers Unterscheidung zwischen der „Eigentlichkeit“ und der „Uneigentlichkeit des Daseins“ orientiert,
läuft Gefahr, die Würde des Menschen auf eine Geistesaristokratie einzuschränken, die sich durch ihre
existenziale Leistung definiert und legitimiert.
189
So stand die Nacktheit der Gefangenen von Abu Ghraib nicht notwendig in einem Widerspruch zu ihrem
eigenen Selbstbild. Die Nacktheit der Gefangenen wurde erst durch das anwesende Publikum, zu dem auch
weibliche Soldaten gehörten, zu einer Würdeverletzung.
177
betreffenden Person auslöschen, auch dem Schutz der Privatsphäre dienen.190
Seelmann definiert die Menschenwürde als Repräsentation eines Selbstbildes – als
Selbstdarstellung und Körperbild. Wird die Menschenwürde verletzt, so ist es dem Opfer
nicht mehr möglich, die Übereinstimmung mit seinem Selbstbild zu wahren. Allerdings geht
Seelman nicht der Frage nach, welchen Status dieses Selbstbild besitzt. Prinzipiell stehen
einem nämlich zwei Wege offen: Entweder man macht die Verletzung der Menschenwürde
von dem subjektiven Empfinden und dem idiosynkratischen Selbstbild des Opfers abhängig,
oder man sucht nach „objektiven“ Kriterien der Entwürdigung.191 Eine Auseinandersetzung
mit diesem Problem findet sich in einem Beitrag von Peter Schaber (2004), der – obgleich
verhalten – für die erste Option plädiert. Im Folgenden soll die These vertreten werden, dass
nur der zweite Weg gangbar ist: „Objektive Kriterien“, bei denen es sich – soziologisch
gesprochen – natürlich immer um gesellschaftliche Konventionen handelt, sind unverzichtbar,
will man die Würde des Menschen in der modernen Gesellschaft verstehen.
Schaber zufolge geht mit der Idee der Menschenwürde ein moralischer Anspruch einher,
der „verletzt wird, wenn eine Person erniedrigt wird“ (2004: 124). Eine Erniedrigung liege
genau dann vor, „wenn eine Person in einer Weise behandelt wird, die es ihr nicht länger
erlaubt sich selbst zu achten“ (2004: 125). Die fehlende Selbstachtung entspricht hier der
Verletzung des eigenen Selbstbildes. Diese unmittelbar einleuchtende Definition erweist sich
bei näherem Hinsehen als tückisch. Schaber stellt in diesem Zusammenhang die zwei
wichtigen und richtigen Fragen: Gibt „es einen objektiven Maßstab für Selbstachtung“, oder
kann man Selbstachtung „einfach als einen subjektiven psychischen Zustand auffassen“
(2004: 124)? Liegt überhaupt eine Erniedrigung vor, wenn das Opfer sich seine
„Selbstachtung bewahrt“ (2004: 126)? Schaber enthält sich bei der ersten Frage, optiert
190
Ironischerweise war die Unkenntlichkeit der Gesichter der Opfer für die Enthüllung des Skandals und die
Rezeption der Bilder von großem Vorteil: Die Anonymität der einzelnen Opfer legte nicht nur eine
symbolische Generalisierung des Opferstatus nahe, sondern schützte auch die Persönlichkeitsrechte der Opfer
bei der weltweiten Dissemination der Bilder.
191
Es geht um folgende Fragen: Stellt jede Verletzung eines subjektiven Selbstbildes eine Verletzung der
Menschenwürde dar? Und ist jede Verletzung der Menschenwürde von einer Verletzung des subjektiven
Selbstbildes des Betroffenen begleitet? Sollte man für den Fall, dass sich jemand für besonders intelligent
hält, aber nur leere Phrasen drischt, auf eine kritische Bemerkung verzichten, nur um dessen Selbstbild zu
schützen? Ist es etwa unproblematisch, wenn ein dementer Patient von Pflegekräften oder ein Kind von
seinen Eltern in einem verkoteten Zustand zurückgelassen wird, da es hier keine Anzeichen dafür gab, dass
das jeweilige Selbstbild verletzt wurde? Einen ähnlichen Fall gab es auch in Abu Ghraib, als die Wärter einen
psychisch-kranken Gefangenen fotografierten, der sich mit Kot beschmierte hatte. Wurde die Würde des
Gefangenen schon dadurch verletzt, dass man ihn an einem solchen Verhalten nicht hinderte? Wurde seine
Würde erst verletzt, als man Fotos von ihm machte? Oder liegt überhaupt keine Würdeverletzung vor?
178
allerdings bei der zweiten dafür, dass in Fällen, wo sich das Opfer seine Selbstachtung
bewahren kann, keine Erniedrigung vorliegt. Sowohl die Enthaltung bei der ersten als auch
die Antwort auf die zweite Frage sind hier kritikwürdig. Schabers subjektive Lösung für das
Paradox der Erniedrigung führt zu dem fragwürdigen Ergebnis, dass ein Folterer sich nicht
der Verletzung der Menschenwürde schuldig macht, wenn sein Opfer standhaft bleibt und
seine Selbstachtung bewahren kann. Noch problematischer ist diese Lösung, wenn wir uns die
Erniedrigung von Menschen vor Augen führen, die an Demenz oder einer anderen
psychischen Erkrankung leiden, und möglicherweise nicht einmal die objektive Situation der
Erniedrigung als solche erkennen. Von den Unzulänglichkeiten dieser Lösung einmal
abgesehen, muss man zwischen beiden Fragen einen Zusammenhang konstatieren. Wer die
subjektive Achtung des Einzelnen zum Maßstab von Verletzungen der Menschenwürde
erhebt, kann auf objektive Kriterien verzichten. Wer an der Notwendigkeit von objektiven
Bedingungen von Erniedrigung festhält, braucht sich nicht mit den Problemen einer
subjektiven Antwort auf die zweite Frage zu befassen.
Aus einer philosophischen Perspektive hat der Verweis auf die subjektive Selbstachtung
den Vorteil der Unhintergehbarkeit,192 während ein Katalog an objektiven Kriterien nach
weiteren Begründungen verlangt. Die Soziologie, die nicht denselben Begründungszwängen
wie die Philosophie unterliegt, hat hier mehr Möglichkeiten. Soziologen können beobachten,
wie die Zuschreibung von Menschenwürde und die Anerkennung ihrer Verletzung in
Gesellschaften erfolgt und von den Akteuren gehandhabt wird. Man braucht nicht erst
empirische Untersuchungen anzustrengen, um zu merken, dass es – gesellschaftlich gesehen –
wenig Sinn macht, den Begriff der Menschenwürde an die subjektiven Empfindlichkeiten und
idiosynkratischen Selbstbilder von Individuen zu knüpfen. Würdeverletzungen müssen sozial
konditioniert und limitiert werden, da sich ansonsten jeder darauf berufen könnte. Dafür
benötigt man einen Katalog an „objektiven Kriterien“ bzw. sozialen Normen, die festlegen,
wann ein Akt als Verletzung der Menschenwürde gilt. Dieser „Katalog“ ist als Teil der
moralischen Ordnung einer Gesellschaft weder restlos bestimmt, noch kann er jemals
Anspruch auf Vollständigkeit erheben (4.1.3-5). Er funktioniert nur, weil er in ein soziales
Imaginäres, in diesem Fall in ein allgemeines Menschenbild, eingebettet ist. Nur vor dem
kulturellen Hintergrund eines allgemeinen Menschenbildes, das natürlich historischen
Veränderungen unterworfen ist, lässt sich entscheiden, ob auch wirklich eine Verletzung der
192
Für die neuzeitliche Bewusstseinsphilosophie ist die Sphäre der Subjektivität unhintergehbar. Auch bei
Descartes ist die Existenz des Bewusstseins selbstevident und muss deswegen als Fundament sicherer
Erkenntnis herhalten.
179
Menschenwürde vorliegt. Nicht jedes Selbstbild ist per se schützenswert, und ein Mangel an
Selbstachtung kann auch pathologische Ursachen haben. Dies wurde von Avishai Margalit
(1997) in aller Klarheit gesehen, weswegen wir uns in den folgenden beiden Abschnitten
etwas ausführlicher mit seiner Konzeption von Würde beschäftigen wollen.
3.2.4. Würde, Demütigung und Entwürdigung
Die Würde des Menschen ist ein integraler Bestandteil der moralischen Ordnung und des
sozialen Imaginären liberaler Gesellschaften (4.1.4). Die Würde des Einzelnen, wie wir sie
heute verstehen, kann als historisches Produkt eines „Kampfes um Anerkennung“ (Honneth
1992) begriffen werden, in dem versucht wird, ein Mindestmaß an sozialer Wertschätzung auf
alle Mitglieder der Gesellschaft auszuweiten und beständig zu steigern. Diese Kämpfe
entzünden sich meist an konkreten Erfahrungen der Entwürdigung. So wie die soziale
Ordnung einer Gesellschaft nur in Krisenzeiten sichtbar wird, zeigt sich auch die
Menschenwürde erst dann, wenn sie mit Füßen getreten wird, eben in Situationen der
Entwürdigung.
Das
gleiche scheint auch
für die philosophischen Diskurse zur
Menschenwürde zu gelten, deren Teilnehmer es sichtlich schwerfällt, das Phänomen der
Menschenwürde einer positiven Bestimmung zu unterziehen. Nahezu alle Autoren versuchen,
den leeren Signifikanten der Menschenwürde im Rückgriff auf mögliche oder konkrete
Situationen der Entwürdigung und Erniedrigung zu bestimmen. Im Diskurs der
Menschenwürde fungieren diese Situationen als konstitutives Außen, das konkret und
vielgestaltig ist, während der leere Signifikant der Menschenwürde die Einheit des Diskurses
stiftet (1.3.2). Diese Position, in der man davon ausgeht, dass die Menschenwürde nur über
ihre Verletzung bestimmt werden kann, wird wohl am entschiedensten von Avishai Margalit
(1997) in seiner Politik der Würde vertreten:
Unter Demütigung verstehen wir alle Verhaltensformen und Verhältnisse, die einer Person einen
rationalen Grund geben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen. So verstanden, stellt Demütigung
weniger eine psychologische als vielmehr eine normative Kategorie dar. Einerseits impliziert der
normative Bedeutungsgehalt von Demütigungen nicht, dass jede Person, die einen berechtigten Grund
hat, sich gedemütigt zu fühlen, sich auch tatsächlich gedemütigt fühlt. Andererseits folgt aus dem
psychologischen Sinn des Begriffs, dass jede Person, die sich gedemütigt fühlt, auch tatsächlich einen
berechtigten Grund für dieses Gefühl hätte. (Margalit 1997: 23)
Wie Peter Schaber (2004), so greift auch Margalit auf die Selbstachtung des Einzelnen als
einem Maßstab für Verletzungen der Menschenwürde zurück. Im Gegensatz zu Schaber
distanziert er sich allerdings entschieden von einer subjektiven Lesart, wie wir sie im
vorangegangenen Abschnitt kennengelernt haben. Die Klausel vom „rationalen Grund“
erlaubt es Margalit, Demütigung als ein objektiv-normatives Phänomen zu begreifen, das sich
180
nicht auf die subjektiv-mentale Zustände des Gedemütigten reduzieren lässt. Wer unter einem
Verlust an Selbstachtung leidet, ohne dass ihm das Handeln seiner Mitmenschen dafür einen
allgemein anerkannten Grund gegeben hat, bewahrt seine Menschenwürde. Wer sich
hingegen seine Selbstachtung in einer Situation bewahrt, in der er allen Grund hätte, seine
Selbstachtung zu verlieren, dessen Menschenwürde wird mit Füßen getreten. Man muss es
Margalit hoch anrechnen, dass er auf die irreduzible normative Komponente im Begriff der
Würde aufmerksam gemacht hat. Allerdings muss aus einer soziologischen Perspektive
geltend gemacht werden, dass die „Rationalität“ des Grundes und die „Normativität“ der
Würdeverletzung wiederum auf den kulturellen Hintergrund und die moralische Ordnung
einer Gesellschaft verweisen.
Margalit zufolge kann es Demütigung nur innerhalb einer sozialen Beziehung geben. Die
Tatsache der Demütigung ist dabei nicht nur unabhängig von dem Gefühl des Opfers, sondern
auch von der Absicht des Täters: „Nur Menschen können demütigen, auch wenn die
zugefügte Demütigung nicht unbedingt in ihrer Absicht liegen muss“ (1997: 24). Akte der
Demütigung müsse nicht immer intentional erfolgen, sondern können, so Margalit, ebenso aus
gesellschaftlichen Verhältnissen resultieren, die Menschen in eine demütigende Lage bringen
– wie beispielsweise die von Marx bedauerte Entmenschlichung des Proletariats durch den
Kapitalismus. Auch wenn eine Entkoppelung der „objektiven“ Demütigung von den mentalen
Zuständen der involvierten Personen folgerichtig und plausibel ist,193 droht bei Margalit an
diesem Punkt die von ihm zu Recht konstatierte Tatsache, dass Demütigung eine soziale
Beziehung voraussetze, in Vergessenheit zu geraten. Nicht gesellschaftliche Verhältnisse,
sondern nur die Menschen selbst können einander demütigen. Dies wird unter anderem daran
deutlich, dass Würde von Margalit ebenfalls als Ausdrucksphänomen, „als Verkörperung oder
Abbild der Selbstachtung“ begriffen wird (1997: 73). Gerade wegen ihrer Äußerlichkeit
kommt der Würde eine Objektivität zu, die einer rein innerlichen Selbstachtung fehlt. So wird
in unserem Grundgesetz die Würde des Menschen geschützt, aber gerade nicht dessen
Selbstachtung, die psychischen Schwankungen und persönlichen Idiosynkrasien unterliegt.
Auch wenn das Selbstbild und die Selbstachtung des Einzelnen seiner Würde vorauszugehen
scheinen, kehrt sich dieser Vorrang im Sozialen um. Dementsprechend handelt es sich auch
bei demütigenden Gesten um expressive und performative Akte, deren Urheber nur eine
Person sein kann.
193
Man stelle sich einmal vor, dass jemand mit einem Schwulenwitz einen anwesenden Homosexuellen
demütigt, ohne dass er wüsste, dass ein Homosexueller anwesend ist. Wir würden in diesem Fall auch ohne
die ausdrückliche Intention, einen Anwesenden zu demütigen, von einer Demütigung sprechen.
181
Margalit unterscheidet drei Möglichkeiten, die Würde des Menschen zu begründen: Die
positive Begründung, welche nach objektiven Eigenschaften sucht, die die Würde des
Menschen rechtfertigen sollen; die skeptische Variante, die Begründungen für unmöglich hält
und auf die konkrete Würdigungspraxis verweist; schließlich die negative Begründung, die
alleine zu rechtfertigen versucht, warum man Menschen nicht demütigen darf. Gemäß dem
allgemeinen Trend in modernen Gesellschaften, positive Transzendenzen durch negative
Transzendenzen zu ersetzen (Giesen 2005), favorisiert er eine negative Begründung der
Menschenwürde. Ihm zufolge sind Demütigungen moralisch unvertretbar, weil sie grausam
sind. Grausamkeit fungiert bei Margalit als nicht weiter begründbarer Letztbegriff, als
summum malum, da für ihn „Grausamkeit vermeidendes Verhalten moralisches Verhalten
schlechthin ist“ (1997: 113).
Dem Begriff der Menschenwürde liegt ein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis
zwischen den einzelnen Individuen zu Grunde. Margalit zufolge muss auch die Demütigung
als ein widersprüchliches und parasitäres Anerkennungsverhältnis beschrieben werden, da
jede „Demütigung die Menschlichkeit des Gedemütigten erfordert“ (1997: 137). Damit wohnt
der Praxis der Demütigung eine Instabilität und Ambivalenz inne, die von unbeteiligten
Beobachtern gegen die Demütigenden gewendet werden kann. Gerade die Ikone des AbuGhraib-Skandals zeigt, dass in der Erniedrigung des Einzelnen seine Würde als Mensch
sichtbar werden kann (7.1.3). Der Schutz der Würde des Menschen ist von äußerster
Wichtigkeit, weil der Einzelne in seinem Selbstbild – und dies wussten schon Hegel, Cooley
und Mead – immer auf die Anerkennung durch Andere angewiesen bleibt: „Das aber
bedeutet, dass sich selbst eine Person mit Selbstachtung von der Meinung anderer nicht frei
machen kann“ (Margalit 1997: 154). Damit hört auch die Demütigung durch einen anderen
Menschen auf, etwas bloß Äußerliches zu sein, sondern wird zu etwas, das unser Selbstbild
im Innersten berühren und verletzten kann. Eine einmal erlittene Demütigung kann die eigene
Identität und das Vertrauen zu anderen Menschen beschädigen und gar zu einem psychischen
Trauma führen. Margalit verwendet den Begriff der Demütigung nur in Zusammenhang mit
der Verletzung der Würde des Menschen. In dieser Arbeit soll der Begriff der „Demütigung“
allerdings inhaltlich weiter gefasst werden (3.3.3), während der Begriff der „Entwürdigung“
für Verletzungen der Menschenwürde im engeren Sinne verwendet werden wird.
3.2.5. Menschen als „Menschen sehen“ – Bildanthropologische Implikationen
Das subjektive Gefühl der Missachtung ist weder eine hinreichende noch eine notwendige
Bedingung für das Vorliegen einer Verletzung der Menschenwürde. Ob eine Entwürdigung
182
vorliegt, kann nur im Verweis auf die objektiven Bedingungen der sozialen Situation,
innerhalb welcher ein Akt der Missachtung stattgefunden hat, entschieden werden. Dies hat
zur Folge, dass die Entscheidung, ob eine Entwürdigung vorliegt, weder beim
Entwürdigenden noch beim Entwürdigten, sondern beim Publikum liegt. Da Würde ein
Ausdrucksphänomen ist, sind auch entwürdigende Gesten für Außenstehende sichtbar und
verständlich. Dies macht es erst möglich, dass über entwürdigende Situationen vor dem
Hintergrund des jeweiligen Moralverständnisses geurteilt werden kann. Diese Sichtbarkeit der
Entwürdigung hat aber auch zur Folge, dass sich derartige Akte (wie auch Gewalt) auf
Bildern dokumentieren lassen – oder aber mit Hilfe von Bildern vollzogen werden können.
Ein gutes Beispiel hierfür gibt Ralf Stoecker (2003) in einem Artikel, der sich die
Überlegungen von Margalit zu eigen macht und eine Fotografie analysiert, die die
Erniedrigung von Juden während des Dritten Reiches zeigt. Man sieht auf dem Foto, wie
ältere jüdische Bürger auf dem Fußweg knien, um mit Zahnbürsten den Boden zu schrubben,
während sich ihre nichtjüdischen Mitbürger über sie lustig machen. Die Entwürdigung, die
durch das Anfertigen eines Bildes festgehalten, ja vielleicht sogar potenziert wurde, ist für den
heutigen Betrachter auf den ersten Blick zu erkennen – ohne dass wir die Täter und Opfer von
damals befragen müssten. Das gleiche gilt auch für die Fotografien aus Abu Ghraib (7.1-3),
die unmittelbar als Entwürdigungen zu erkennen sind. Angesichts dieser Bedeutung der
Sichtbarkeit von Entwürdigungen erscheint es lohnend, noch einmal kurz auf die
bildanthropologischen Implikationen der Menschenwürde einzugehen.
Margalit definiert Würde an einer Stelle als „Ausdruck der Achtung, die Menschen
aufgrund ihres Menschseins sich selbst entgegen bringen“ (1997: 72). Die moralische
Forderung, die mit der Würde des Menschen einhergeht, lässt sich auf die tautologisch
anmutende Formel bringen, dass man „Menschen als Menschen behandeln“ solle. Dabei
handelt es sich allerdings nicht um eine Tautologie im logischen Sinne, da es sehr wohl auch
möglich ist, einen Menschen unmenschlich zu behandeln. Margalit hat darauf aufmerksam
gemacht, dass diese moralische Forderung voraussetzt, in einem menschlichen Körper eine
menschliche Person erkennen zu können:
Ein menschliches Wesen als Menschen wahrzunehmen bedeutet, so heißt es bei Wittgenstein, den Körper
als Bild der menschlichen Seele zu betrachten. [...] Wir sehen Menschen als Menschen, wenn wir ihre
Mimik und Gestik interpretieren. (Margalit 1997: 119f.)
Entscheidend für die Wahrnehmung eines Menschen als Menschen ist die „somatische
Differenz“ (Boehm 2010: 33), die den menschlichen Körper als ein Bildmedium und als
Ausdruck eines autonomen Selbsts konstituiert (vgl. 2.1.2). Blind gegenüber Menschen ist
183
dann derjenige, der Menschen „ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer körperlichen,
nicht ihrer psychischen Erscheinung“ (Margalit 1997: 121) betrachtet. Von diesen
Überlegungen zum Körper als dem Bild des Menschen ausgehend fragt Margalit, ob es etwas
grundlegend anderes sei, „ob man ein Bild oder einen menschlichen Körper unter dem Aspekt
der Menschlichkeit betrachtet“ (1997: 123):
Was für einen Sinn hat es überhaupt, das Menschliche zu sehen, wenn diese Wahrnehmungsweise
beispielsweise auch auf leblose Leinwände und nicht ausschließlich auf Menschen angewandt werden
kann? [...] Es ist etwas völlig anderes, das Menschliche einer dargestellten Figur zu sehen, die auf eine
Person außerhalb des Bildes verweist, als das Menschliche einer internen Figur des Bildes
wahrzunehmen. Nimmt das Bild auf eine externe Person Bezug, kann es als Ausdruck der Seele und
gleichzeitig als Fortsetzung der Körpersprache der betreffenden Person betrachtet werden. (Margalit
1997: 123)
Margalit unterscheidet zwischen „interner Darstellung“ und „externer Referenz“ – eine
Unterscheidung, die im Übrigen auch für die Fiktionalität von Narrativen und Performanzen
von Bedeutung ist (vgl. vor allem 2.3.3). Eine Figur kann innerhalb eines Bildes, einer
Erzählung oder eines Theaterstückes eine Rolle spielen, aber sie kann zugleich auch eine reale
Person vertreten. Entscheidend für die Abbildung von Entwürdigungen ist der Verweis des
abgebildeten Körpers auf den Körper einer existierenden (oder einer einstmals existierenden)
Person – ganz im Sinne der Referenz, wie sie am Beispiel der säkularen Ikonen
herausgearbeitet wurde (2.1.5). Fotografische Darstellungen sind hervorragend dafür
geeignet, um Entwürdigungen zu dokumentieren oder zu beglaubigen, da die Indexikalität des
fotographischen Mediums eine externe Referenz zu verbürgen scheint (2.1.4). Allerdings
kann schon die ikonische Referenz in Zeichnungen oder Gemälden ausreichen, um einen
Bezug zu einer realen Person herzustellen, wie nicht zuletzt die Wandgemälde und
Kunstwerke zu Abu Ghraib zeigen (9.4).
Die bildliche Darstellung entwürdigender Szenen ist allerdings nicht auf die Abbildung
realer Entwürdigungen beschränkt, denn auch der Bildakt selbst kann für sich genommen
schon ein Akt der Entwürdigung sein (vgl. Bredekamp 2010: 197-230). Die Grenzen
zwischen fiktiver Darstellung und realistischer Abbildung können allerdings auch
verschwimmen, was in den Dokumentationen zu Abu Ghraib ersichtlich wird (10.2). So
wurden zwar viele Szenen mit Schauspielern nachgestellt, verweisen aber nichtsdestotrotz auf
reale Geschehnisse. Die Fotografien von Abu Ghraib sind in dieser Hinsicht eindeutiger, da
die auf ihnen abgebildeten Körper unmittelbar als fotografische Fortsetzungen der realen
Körper der Gefangenen und Soldaten gedeutet werden müssen. Ein interessanter, etwas
anders gelagerter Fall sind wiederum die englischen Skandalbilder, bei denen es sich, da hier
die externe Referenz nach ihrer Entlarvung als Fälschungen kollabierte (8.4.2), nicht um
184
Dokumentationen entwürdigender Situationen handelt. Die Entwürdigung auf diesen Bildern
wurde zu einer theatralischen Performanz von Schauspielern degradiert, die, da sie nur noch
eine bildinterne Bedeutung besaß, keine realen Personen mehr in ihrer Würde verletzen
konnte. Die bildliche Darstellung von Entwürdigungen gewinnt ihre Bedeutung letztendlich
nur in ihrem sozialen Kontext und vor dem kulturellen Hintergrund eines Beobachters. Die
unmittelbare Sichtbarkeit von Verletzungen der Menschenwürde ruht auf Voraussetzungen,
die selbst unsichtbar sind.
3.3. Erniedrigung und Folter
Die Wächter trieben ihren Spott mit Jesus. Sie schlugen ihn, verhüllten ihm
das Gesicht und fragten ihn: Du bis doch ein Prophet! Sag uns: Wer hat dich
geschlagen? Und noch mit vielen anderen Lästerungen verhöhnten sie ihn.
Lukas 22, 63-65
Die folgenden Abschnitte widmen sich einerseits dem allgemeinen Phänomen der „rituellen
Erniedrigung“, das unter anderem auch die bereits erwähnten Akte der Entwürdigung umfasst,
andererseits aber dem Gewaltphänomen der „Folter“, das ebenfalls eine Form der
Erniedrigung darstellt. Es soll die These vertreten werden, dass es genau drei Typen ritueller
Erniedrigung gibt, die sich jeweils durch eine spezifische Konfiguration von Individuum und
Gruppe auszeichnen. Der erste Typus ist die Erniedrigung aus Demut: Das demütige
Individuum unterwirft sich seiner Gruppe aus freien Stücken und darf im Gegenzug mit einer
Statuserhöhung rechnen (3.3.1). Der zweite Typus, Erniedrigung in der Initiation, markiert
den mehr oder minder freiwilligen Übertritt eines Außenstehenden in eine Gruppe (3.3.2).
Wer sich hier erniedrigt und dadurch die Autorität der Gruppe bezeugt, wird in die Gruppe
aufgenommen und erfährt hierdurch ebenfalls eine Statuserhöhung. Der dritte und letzte
Typus, die rituelle Demütigung, wird in den seltensten Fällen freiwillig auf sich genommen,
sondern richtet sich vornehmlich gegen Außenseiter, deren symbolischer Ausschluss den
inneren Zusammenhalt der Gruppe stärken soll (3.3.3). Im Anschluss soll die These erhärtet
werden, dass es sich bei Folter niemals nur um einen rein physischen oder instrumentellen
Gewaltakt handelt, sondern immer auch um einen symbolischen Akt der Demütigung (3.3.4).
Es ist unter anderem dieser demütigende und entwürdigende Aspekt der Folter, der zu ihrer
Ächtung im Zuge der Aufklärung geführt hat (3.3.5). Alle diese Formen der Erniedrigung
185
spielen nicht nur im empirischen Teil dieser Arbeit, sondern auch in vielen Bereichen der
Gesellschaft eine wichtige Rolle.
Möchte man die soziale Funktion von rituellen Formen der Erniedrigung verstehen,
empfiehlt sich eine Auseinandersetzung mit Victor Turners Arbeiten zum Ritual (2005).
Turners Begriff der „Liminalität“ steht bekanntlich für einen Übergang zwischen
gesellschaftlichen Strukturen, der sich selbst durch „Antistruktur“ auszeichnet (2.3.2; 3.1.3).
Die liminale Phase eines Rituals hebt die sozialen Unterschiede zwischen den Mitgliedern
einer Gruppe auf, was sich in einem Gefühl von Gemeinschaftlichkeit oder Communitas
äußert. Symptomatisch sind hierfür die Feste einer Gesellschaft, aber wir können auch
negative Ereignisse wie die gemeinschaftliche Trauer angesichts einer Katastrophe oder die
kollektive Empörung in einem Skandal (5.3.3) dazu zählen. In allen diesen Fällen verliert das
rein individuelle Erleben gegenüber dem gemeinschaftlichen bzw. kollektiven Erleben für die
Dauer der liminalen Phase an Bedeutung. Allerdings fügen sich bei Weitem nicht alle
Beispiele von Turner in dieses Schema: In den Amtseinsetzungsriten der Ndembu (2005: 97101) oder in den achsenzeitlichen Religionen (2005: 185-189), aber auch in den klassischen
Übergangsriten (van Gennep 1999) steht nicht die Gruppe als undifferenzierte Einheit im
Vordergrund, sondern ihr Verhältnis zu einzelnen Individuen. Dort finden wir „Rituale der
Statusumkehrung“ (Turner 2005: 159-193), die nicht alleine das Gemeinschaftsgefühl der
Gruppe stärken, sondern auch den sozialen Status einzelner Individuen verändern. Dabei
handelt es sich in aller Regel um temporäre Erniedrigungen, die eine dauerhafte
Statuserhöhung des Erniedrigten zur Folge haben.
Rituale der Erniedrigung markieren einerseits den Statuswechsel von Individuen,
andererseits stellen sie soziale Mechanismen dar, durch welche sich die Gruppe gegenüber
dem Einzelnen behauptet. Hinter allen Ritualen der Erniedrigung steht damit, so eine weitere
These, die hier plausibilisiert werden soll, letztendlich die Autorität der sozialen Gruppe, die
von Dieter Claessens treffend als „kleiner Leviathan“ (1993: 88) bezeichnet wurde. Hinter
allen drei Formen der Erniedrigung steht nämlich die schiere Tötbarkeit des Einzelnen durch
die Gruppe, die Möglichkeit äußerster Gewalt.194 In Ritualen der Erniedrigung verbleibt der
„Tod“ des Individuums allerdings im Bereich des Symbolischen, was seine „Auferstehung“
als Repräsentant oder Mitglied der Gruppe erst ermöglicht. In den Phänomenen der rituellen
194
Man denke an die Feststellung von Hobbes (1999/1651: 94), dass die vereinte Macht der Schwachen selbst
für den Stärksten eine Bedrohung darstellt.
186
Erniedrigung tritt die von Durkheim (2005/1912) konstatierte „Transzendenz der Gruppe“
bzw. Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen deutlich zu Tage.
Die hier vorgeschlagene Typologie ritueller Formen der Erniedrigung erhebt einen
Anspruch auf Vollständigkeit, weil sie alle möglichen Beziehungen zwischen Individuum und
Gruppe ausschöpft. Erstens geht es um das Verhältnis des Gruppenmitglieds zur Gruppe
(„Demut“), zweitens um den Außenstehenden, der in die Gruppe aufgenommen wird
(„Initiation“), und drittens um den Außenseiter, der aus der Gruppe ausgeschlossen wird
(„Demütigung“). Allerdings gibt es auch Phänomene der Erniedrigung, die von diesem
Grundschema abweichen: Performanzen der Demut müssen sich nicht immer an eine bereits
existierende Gruppe richten, sondern können diese auch zuallererst ins Leben rufen;
Initiationen und Demütigungen lassen sich oft auch als Mechanismen der Statuserhöhung
bzw. Statussenkung innerhalb einer Gruppe beschreiben; schließlich können auch Feinde
gedemütigt werden, die – zumindest auf den ersten Blick – kein Teil der eigenen Gruppe sind.
Allerdings bleibt die Struktur dieser drei Typen auch in diesen Fällen identisch.
Allen Formen der rituellen Erniedrigung wird in der modernen Gesellschaft allerdings
zunehmend mit Skepsis begegnet. Dies liegt in erster Linie an ihrer spezifischen moralischen
Ordnung, die den Individuen eine immer größere Bedeutung beimisst (4.1.4). Die
„Sakralisierung des Individuums“ (Durkheim 1986/1898; vgl. auch Joas 2011) und der
Verlust einer allgemein-verbindlichen „positiven Transzendenz“ (Giesen 2005) haben zur
Folge, dass extreme Formen der Erniedrigung nicht mehr gerechtfertigt werden können. Im
Krieg darf der Gegner zwar getötet, aber der feindliche Soldat in Gefangenschaft keiner
entwürdigenden Behandlung unterzogen werden. Initiationsrituale, in denen sich Initianten
freiwillig erniedrigen, wirken in der heutigen Öffentlichkeit barbarisch und müssen deshalb
im Geheimen gepflegt werden. Aber nicht nur gegenüber erniedrigenden Initiationen oder
dem demütigenden Ausschluss werden heutzutage Vorbehalte laut. Zunehmend steht auch die
demütigende Aufopferung für unpersönliche Ziele unter Ideologieverdacht. Allerdings darf
dabei nicht vergessen werden, dass subtilere Formen der rituellen Erniedrigung auch heute
noch den Statuswechsel von Personen begleiten und in unserem Alltag allgegenwärtig sind.
3.3.1. Demut als rituelle Erniedrigung
Wenn sich Mitglieder oder Repräsentanten einer Gruppe erniedrigen, indem sie sich der
Autorität der Gruppe unterordnen, so zeigen sie Demut. Es ist sinnvoll, zwischen rituellen und
sozialen Performanzen von Demut zu unterscheiden, wobei auch hier die Übergänge fließend
sind. Rituale der Demut verlangen nichts weiter als Konformität mit einem Handlungsskript
187
(2.3.2); eine soziale Performanz von Demut (2.3.4) muss hingegen zumindest den Anschein
eines freiwillig vollzogenen Aktes erwecken, um auf Erfolg hoffen zu können. Entsteht der
Eindruck, dass ein Politiker zum Rücktritt gezwungen wurde, kann er dies nur noch
schwerlich als einen Akt der Demut verkaufen. Ist die Performanz von Demut erfolgreich, so
wird dies dem Demütigen von Seiten der Gruppe als eine Aufopferung seiner Individualität
und Person hoch angerechnet. Im Gegensatz zu den alltäglichen Ritualen der Ehrerbietung
(Goffman 1991b: 54-105), welche die soziale Ordnung affirmieren, handelt es sich bei
Demutsbezeugungen um außeralltägliche Performanzen, die die soziale Ordnung zeitweise
außer Kraft setzen. Sie zeichnen sich durch jenen antistrukturellen Kern aus, den Turner als
„Statusumkehrung“ beschreibt (2005: 159-193). Wer sich selbst öffentlich erniedrigt, der
stellt seine Person hinter den Interessen der Gruppe zurück und kann sich so als Repräsentant
des Kollektivs inszenieren.
Performative Akte der Demut schöpfen aus dem sozialen Imaginären einer Gesellschaft. In
christlich geprägten Gesellschaften gilt Jesus als paradigmatisches und unübersteigbares
Selbstopfer, das allerdings in Sokrates einen heidnischen Vorläufer hat (Därmann 2011: 3945). Die Selbsterniedrigung des christlichen Gottes, der in menschlicher Gestalt auf die Welt
kam, um sich für die Menschheit zu opfern, ist ein starkes Symbol, an dem sich viele
christliche Märtyrer und Ordensgründer orientieren.195 Der Opfertod Jesu zeugt darüberhinaus
von der engen Beziehung zwischen Erniedrigung und Gewalt. Den Tod freiwillig auf sich zu
nehmen, ist der äußerste Akt der Demut. Der Tod darf allerdings nicht individuell-egoistisch
motiviert sein, sondern muss im Dienst kollektiv anerkannter Ziele und Normen stehen. Vor
seinem Tod hat Jesus jedoch auch „harmlosere“ Lektionen in Demut erteilt, indem er
beispielsweise seinen Jüngern die Füße wusch.196 Auch wenn Demut im Christentum ohne
Zweifel einen besonderen Stellenwert besitzt, finden sich vergleichbare Mythen und Praktiken
auch in anderen Kulturen. So hat Turner darauf hingewiesen, dass sich viele religiöse
Bewegungen auf die freiwillige Erniedrigung von Religionsführern mit hohem sozialen Status
zurückführen lassen: „Buddha, der hl. Franziskus, Tolstoj und Gandhi sind Beispiele für
strukturell superiore oder wohlhabende religiöse Führer, die die Werte der Demut und der
195
Auch das selbstauferlegte Martyrium von politisch oder religiös motivierten Terroristen greift auf die
Rhetorik der Demut und Selbstaufopferung zurück (vgl. Deupmann 2010).
196
Diese religiöse Praxis findet auch heute noch Nachahmer. So wäscht auch der Papst jedes Jahr anlässlich des
Osterfestes die Füße von zwölf einfachen Priestern. Eine einmalige Aktion hingegen stellte der Auftritt des
damaligen Präsidenten der Humboldt-Universität dar – ein evangelischer Theologe, der 2006 während der
„Langen Nacht der Wissenschaften“ in Berlin den Besuchern die Füße in einer Plastikwanne wusch.
188
Communitas gepredigt haben“ (2005: 186). Gerade für die Entstehung der achsenzeitlichen
Religionen scheinen Akte der Demut eine konstitutive Bedeutung gehabt zu haben.197 Die
demütige Unterwerfung des Einzelnen unter eine transzendente Ordnung zeigt, dass Akte der
Demut nicht auf eine Unterordnung unter eine faktisch existierende Gruppe angewiesen sind,
sondern sich auch auf ein transzendentes Gesetz berufen können, dem eine imaginierte
Gemeinschaft entspricht. Die Stiftung einer Religion stellt somit eine „self-fulfilling
prophecy“ (Merton) dar, die eine imaginierte Gruppe in eine reale Glaubensgemeinschaft
transformiert.
Natürlich existieren Rituale der Demut auch in Kulturen, die sich nicht durch einen
achsenzeitlichen Bruch auszeichnen. Allerdings sind sie hier auf konkrete Gruppen und nicht
auf transzendente Prinzipien bezogen. Der von Durkheim diskutierte „fakultativ altruistische
Selbstmord“ (2006: 242-256), der in vielen Gesellschaften verbreitet ist, kann ebenfalls als
ein Akt der Demut verstanden werden. Eine weniger gewalttätige Form der rituellen
Erniedrigung, die ebenfalls als Demutsbezeugung gelesen werden muss, beschreibt Turner am
Beispiel von afrikanischen Amtseinführungsritualen, unter anderem bei den Ndembu (2005:
97-101) und in Gabun (2005: 162-164), die mit rituellen Beschimpfungen des künftigen
Königs einhergehen. Ähnliche performative Muster – wenngleich in abgeschwächter Form –
findet man auch bei Inaugurationen in westlichen Gesellschaften. So musste sich Queen
Elizabeth bei ihrer Krönung mit einem Amtseid dem transzendenten Gesetz der Gruppe
symbolisch unterwerfen (Shils & Young 1975: 140-142).198 In der politischen Öffentlichkeit
spielen Demutsbezeugungen auch heute noch eine große Rolle. Wird in einem Skandal die
Verfehlung einer hochgestellten Persönlichkeit aufgedeckt, kann sich diese demütig zeigen
und dadurch ihren Anspruch auf eine Repräsentation des Kollektives erneuern. Sie kann in
einem Akt der Demut von ihren Funktionen zurücktreten, die Schuld auf sich nehmen und
somit eine etwaige symbolische Ansteckung von Institutionen verhindern. Im äußersten Fall
bedeutet dies, dass der schuldlose Repräsentant die Verfehlungen der Gruppe auf sich nimmt.
In westlichen Gesellschaften nehmen derartige Akte der Demut oft christomimetische
197
Erst nachdem Jesus gelitten hatte und am Kreuz für die Sünden der Menschheit gestorben war, wurde er zum
Christus, zum Erlöser der Menschheit. Sokrates unterwarf sich demütig dem Gesetz seiner Heimatstadt,
indem er sich seinem ungerechten Todesurteil nicht entzog – und demonstrierte damit die Überlegenheit der
philosophischen Lebensform. Buddha ging zwar nicht in den Tod, aber sein Ausstieg aus der
Kastengesellschaft stellt dennoch einen – ebenfalls folgenreichen – Akt der Demut dar.
198
Der Amtseid lässt sich möglicherweise als eine Versprachlichung der Gruppengewalt gegenüber dem
Individuum begreifen; in ähnlicher Weise trat der Eid vor Gericht als eine „tortura spiritualis“ an die Stelle
der Folter (Weitin 2008: 9f.).
189
Züge an. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist der Kniefall von Willy Brandt, dessen
performative Qualität und nachträgliche Narrativierung von Christoph Schneider (2006)
detailliert herausgearbeitet wurde. Indem sich der ehemalige Exilant und deutsche
Bundeskanzler Brandt während seines Besuchs im Warschauer Ghetto gegenüber den Opfern
der deutschen Gewaltherrschaft performativ erniedrigte und so die kollektive Schuld der
Deutschen anerkannte, läutete er eine neue Phase in der Aufarbeitung des Holocausts ein.
Brandts performativer Kniefalls erzielte seine Wirksamkeit vor einem christlichen
Hintergrundverständnis, das seinen Ausdruck im neuen Testament findet: „Der Größte von
euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber
erniedrigt wird erhöht werden“ (Lukas 18, 14; zitiert nach Schneider 2006: 207;
Hervorhebung von demselben). In der Performanz von Demut liegt allerdings auch eine
Gefahr, auf die schon Nietzsche aufmerksam machte: „Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht
werden“ (zitiert nach Schneider 2006: 207; Hervorhebung von demselben). Der Erfolg einer
sozialen Performanz hängt von ihrer Authentizität ab (2.3.4), was im Falle von Demut heißt,
dass auf keinen Fall der Eindruck entstehen darf, dass der sich selbst Erniedrigende eigentlich
erhöht werden will. Eine erfolgreiche Performanz von Demut muss nicht nur freiwillig,
sondern auch selbstlos erfolgen. Viele deutsche Zeitgenossen haben den Kniefall Brandts als
Anmaßung empfunden, während er im Ausland auf positive Resonanz stieß. Brandt kam zu
Gute, dass er an den kollektiven Verbrechen des Dritten Reiches selbst nicht beteiligt und
damit unschuldig war, was seiner Performanz eine kollektive Bedeutung verlieh. Indem sich
Brandt als Unschuldiger zur Schuld der Deutschen bekannte, wertete er, so Schneider,
letztlich seine Gemeinschaft auf: „Der sich in Demut selbst erniedrigende Repräsentant des
Kollektivs erhöht letzthin die von ihm repräsentierte Gemeinschaft“ (2006: 205f.). Die
selbstlose Deutung des Kniefalls setzte sich schließlich auch im deutschen Diskurs durch.
Von dem Erfolg von Demutsbezeugungen hängt heute nicht mehr nur die Karriere von
Politikern, sondern auch das Image ganzer Nationen ab. In der politischen Öffentlichkeit
spielt die performative Inszenierung von Demut – wenn man einmal von der ritualisierten
Erniedrigung anlässlich von Amtseinsetzungen absieht – vor allem in zwei Formen eine
wichtige Rolle: Einer zunehmender Beliebtheit erfreuen sich öffentliche Entschuldigungen
(Cunningham 1999; Gibney et al. 2008), die sowohl persönlich als auch im Namen des
Kollektivs
erfolgen
können.
Diese
Beliebtheit
190
ist
möglicherweise
der
relativen
Unverbindlichkeit solcher Akte geschuldet.199 Demgegenüber ist ein Rücktritt – zumindest für
den Amtsinhaber – mit gravierenden Konsequenzen verbunden. Aber gerade weil die
persönlichen Kosten eines Rücktritts immens sein können, eignet er sich hervorragend, um
Demut gegenüber dem Kollektiv zu zeigen. Auch im Abu-Ghraib-Skandal wurden Politiker
zur Demut, zu öffentlichen Entschuldigungen und zum Rücktritt aufgefordert (8.2.2-3). Der
Fall Abu Ghraib zeigt aber auch, dass eine rituelle Erniedrigung den Betroffenen oft schwer
fällt. Gerade deswegen können Rituale und Performanzen der Demut – richtig eingesetzt –
einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung sozialer Krisen und kultureller Traumata leisten.
3.3.2. Initiation als rituelle Erniedrigung
Initiationen sind rituelle Performanzen, die den Übertritt und die Aufnahme eines
Individuums in eine Gruppe begleiten. Ferner handelt es sich dabei um klassische
Übergangriten, die sich in drei Phasen unterteilen lassen (vgl. van Gennep 1999): In der
„Trennungsphase“
wird
aus
dem
Außenstehenden
ein
Anwärter
für
die
Gruppenmitgliedschaft; in der „Schwellenphase“ wird der Initiant seiner alten Identität
beraubt; in der „Wiedereingliederungsphase“ wird dem Individuum als einem Mitglied der
Gruppe schließlich eine neue soziale Identität zugewiesen. Am Beispiel von Initiationsritualen
wird die transformative Kraft, die allen Ritualen zu eigen ist (2.3.2), besonders deutlich: Der
Initiant erleidet einen symbolischen Tod, dem eine Wiederauferstehung als Gruppenmitglied
folgt. Die liminale Phase eines Initiationsrituals zeichnet sich durch eine vorübergehende
Statusminderung aus, die als rituelle Erniedrigung beschrieben werden kann. Dass die
Initiation eines Mitglieds in vielen Fällen mit seiner rituellen Erniedrigung einhergeht, sollte
nicht überraschen: Voraussetzung der Mitgliedschaft in einer Gruppe ist, dass sich das neue
Mitglied den Regeln der Gruppe unterwirft. Diese Unterwerfung unter die Autorität der
Gruppe wird durch die rituelle Erniedrigung symbolisiert. Initiationsrituale ermöglichen eine
scharfe Unterscheidung zwischen Mitgliedern und den Nichtmitgliedern einer Gruppe;
zugleich sichern sie der Gruppe eine Exklusivität, da die negative Schwelle der Erniedrigung,
die der Initiant übertreten muss, ein symbolisches Opfer darstellt. Die Initiation, der sich jedes
Mitglied der Gruppe einmal unterwerfen muss, ist geradezu prädestiniert dazu, als ein
Emblem der Gruppenmitgliedschaft zu fungieren. Initiationsrituale und Rituale der Demut
machen sich beide den Mechanismus der Erniedrigung zu Nutze, um die Unterordnung des
199
Die anfängliche Zurückhaltung des amerikanischen Präsidenten Bush und seines Verteidigungsministers
Rumsfeld, sich für die Missbrauchsfälle in Abu Ghraib zu entschuldigen, legt jedoch nahe, dass auch
öffentliche Entschuldigungen mit „Kosten“ verbunden sind, die die politischen Akteure scheuen (8.2.2).
191
Individuums unter die Gemeinschaft zu symbolisieren. Auch in Initiationsritualen tritt der
enge Zusammenhang von ritueller Erniedrigung und Gewalt deutlich zu Tage. So kommt in
vielen Initiationsritualen dem Schmerz eine liminale und transformative Bedeutung zu
(Morinis 1985). Hinter der Erniedrigung und den Schmerzen des Initiationsrituals verbirgt
sich letztlich die symbolische Tötung des Einzelnen durch die Gruppe. Das durch
Erniedrigung und Schmerz geläuterte Individuum wird anschließend als Mitglied der Gruppe
wiedergeboren.
Statuswechsel und Initiationen gibt es in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft.200 Die
rituelle Erniedrigung ist allerdings in Gruppen und Institutionen, die einen totalisierenden
Anspruch auf ihre Mitglieder erheben, z.B. in Burschenschaften und Geheimgesellschaften,
aber auch in der Armee, besonders stark ausgeprägt. Erniedrigende Initationsrituale geraten
heute schnell in den Verdacht, die Würde des Einzelnen zu verletzen, weswegen sie vor allem
an den Rändern der Gesellschaft zu finden sind. Geraten sie an das Licht der Öffentlichkeit,
können sie als moralische Verfehlungen skandalisiert werden – selbst wenn die Initiation auf
Freiwilligkeit beruhte. Im Jahr 2007 erregte in Deutschland ein Skandal um die
Erstlingshundeführertaufen an der Polizeischule Herzogau die Gemüter. Die angehenden
Hundeführer wurden einem erniedrigenden Initiationsritual unterzogen, das in der deutschen
Presse mit den Bildern aus Abu Ghraib verglichen wurde (vgl. 7.3.3): Die Initianten wurden
wie Hunde an der Leine geführt, mussten Trockenfutter essen und eine gelbe Flüssigkeit aus
einem Hundenapf trinken, von der in einem anonymen Schreiben behauptet wurde, dass es
sich dabei um Urin gehandelt habe; weibliche Hundeführer mussten sich darüberhinaus einem
Striptease unterziehen und sollen auch sexuell gedemütigt worden sein; bei alledem wurden
die Initianten fotografiert. Aber es geht auch anders herum: So verglich Rush Limbaugh die
Missbrauchsfälle von Abu Ghraib mit den Erniedrigungsritualen der Geheimgesellschaft Skull
and Bones an der Yale University, zu deren Mitgliedern sowohl der damalige Präsident Bush
als auch sein Herausforderer Kerry gehörten (8.3.3).201
200
Auch die Promotion kann als eine Initiation in die „scientific community“ beschrieben werden, die in der
Thesenprüfung oder der Verteidigung der Dissertation ihren Abschluss findet. Die Statusminderung des
Doktoranden ist zunächst einmal ökonomischer Natur – zumindest im Vergleich zu Gleichaltrigen in anderen
Tätigkeitsbereichen. Die Benotung der Promotion, wie sie zumindest in Deutschland noch üblich ist, lässt
sich durchaus als eine temporäre Erniedrigung begreifen: Der Promovierende wird ein letztes Mal als Student
benotet, bevor er als vollwertiges Mitglied der „scientific community“ anerkannt wird.
201
Allerdings sind erniedrigende Initiationsrituale nicht nur in der Polizei, der Armee oder in Universitäten zu
finden. Selbst der Abschluss einer Ausbildung als Krankenschwester kann in einem deutschen Krankenhaus
mit einem symbolischen Erniedrigungsritual einhergehen: Die angehende Krankenschwester muss aus einem
192
Initiationsrituale können die Erniedrigung so weit treiben, dass sie vor dem Hintergrund der
moralischen Ordnung liberaler Gesellschaften als entwürdigend wahrgenommen werden
(4.1.4). In der szenischen Choreographie lassen sich Initiationsrituale, wie die Vergleiche mit
den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib zeigen, oft nicht von intentionalen Demütigungen
unterscheiden. In der kulturwissenschaftlichen Literatur zu Abu Ghraib findet sich daher
immer wieder die irreführende These, dass es sich bei den Missbrauchsfällen um eine
Initiation der Gefangenen in die amerikanische Kultur gehandelt habe (7.4.2-3). Übersehen
wird dabei allerdings, dass der Mechanismus der Erniedrigung in Initiationen und
Demütigungen
eine
grundverschiedene
Funktion
erfüllt.
Die
vorübergehende
Statusminderung während der Initiation stellt eine liminale Gleichheit zwischen den
Partizipanden her, da sich alle Mitglieder der Gruppe diesem Ritual einmal unterwerfen
mussten. Die daraus resultierende Communitas-Erfahrung trägt zur Solidarität innerhalb der
Gruppe bei. Demütigungen hingegen basieren auf dem Ausschluss von Außenseitern, denen
die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe verwehrt wird.
3.3.3. Demütigung als rituelle Erniedrigung
Im Gegensatz zu Performanzen der Demut und zu Initiationsritualen richten sich rituelle
Demütigungen vor allem gegen Außenseiter oder gegen die Angehörigen einer Fremdgruppe.
Kommen sie einmal gegenüber Mitgliedern der eigenen Gruppe zur Anwendung, so haben sie
eine permanente Statusminderung oder gar den Ausschluss aus einer Gruppe zur Folge. Die
Logik der Demütigung hat Harold Garfinkel (1956) in einem kleinen Aufsatz über
„degradation ceremonies“ beschrieben. So muss eine öffentliche Degradierung in den Augen
der Gruppe als legitim erscheinen, ansonsten ist die Performanz zum Scheitern verurteilt.
Garfinkel
betont
außerdem
die
Außerordentlichkeit
und
Liminalität
eines
Degradierungszeremoniells: „Both event and perpetrator must be removed from the realm of
their everyday character and be made to stand as ‘out of the ordinary’” (1956: 422). Das
Opfer einer Degradierungszeremonie, von Garfinkel „perpetrator“ genannt, wird aus der
Gruppe herausgelöst und mit der negativen Seite des moralischen Codes assoziiert. Ist die
Performanz erfolgreich, folgt eine totale Zerstörung und Transformation der sozialen Identität
des Degradierten, die sich auch rückwirkend zeigen kann: „What he is now is what, ‘after all,’
he was all along“ (1956: 422). Degradierungszeremonien unterscheiden sich von
Gefäß, das zur Aufbewahrung und Verdünnung von Fäkalien verwendet wird, einen bräunlichen Cocktail
trinken.
193
alltäglicheren Formen der Bestrafung, da sie nicht in erster Linie der Sanktionierung von
Handlungen, sondern dem symbolischen Ausschluss einer ganzen Person dienen.
Im Folgenden wird es weniger um die rituelle Degradierung von Gruppenmitgliedern,
sondern vor allem um die Demütigung und Entwürdigung von Außenseitern gehen.202 Von
einer Entwürdigung kann man dann sprechen, wenn die Demütigung so weit geht, dass sie die
Würde der betreffenden Person verletzt (3.2.4). Eine Demütigung kann aber auch die Ehre
einer Person angreifen (3.2.1). In der Antike demütigte man den besiegten Feind, indem man
ihn unter ein Joch zwang, was einerseits seine Unterwerfung unter die siegreiche Gruppe
symbolisierte, andererseits aber auch seine Ehre als Krieger in Frage stellte. Ein anderes
Beispiel für einen demütigenden Ritus ist die öffentliche Degradierung von Alfred Dreyfus
(vgl. Begley 2009: 30f.), der nach seiner (ungerechten) Verurteilung unehrenhaft aus der
Armee entlassen wurde. Auch in heutigen Armeen werden Soldaten, wenn sie sich schwerer
Vergehen schuldig machen, unehrenhaft entlassen oder aber degradiert – wie beispielsweise
die Täter von Abu Ghraib (8.5.1). Unehrenhafte Entlassungen stellen als spezifische Form der
Demütigung eine außerordentliche Form der Bestrafung dar, die sich nicht alleine auf die
ökonomische Versorgung der Betroffenen auswirkt, sondern auch auf ihre soziale Ehre.
Darüberhinaus gibt es auch Formen ritueller Demütigung im sozialen Alltag. Das
sogenannte „Mobbing“ ist eine Praxis der Demütigung, die Solidarität zwischen den Tätern
auf Kosten des Opfers produziert. In ähnlicher Weise funktioniert das von Collins
beschriebene „bullying“ (2008: 156-189), das auch gewalttätige Züge annehmen kann.203 Im
Gegensatz zu Initiationsritualen, die auf der Autorität der Gruppe basieren und von den
Initianten freiwillig auf sich genommen werden, sind rituelle Demütigungen auf sozialen
Zwang und letzten Endes auf die Androhung physischer Gewalt angewiesen. Der kollektiven
Demütigung folgt keine Aufnahme des Gedemütigten in die Gruppe, sondern dessen radikale
Ausschließung. Die Gruppe der Demütigenden wertet sich auf seine Kosten auf und sichert
202
Harold Garfinkel (1956: 424) argumentiert, dass das Monopol öffentlicher Degradierungen in modernen
Gesellschaften bei den rechtlichen Institutionen liege. Dies ist allerdings nur dann richtig, wenn man sich auf
öffentliche Zeremonien im engeren Sinne beschränkt. Darüberhinaus lässt sich die Logik der Degradierung
aber auch auf die ritualisierte Demütigung von Amtsträgern in liberalen Öffentlichkeiten (z.B. durch
Berichterstattung oder Satire) und in kleineren Gruppen (z.B. Mobbing) übertragen.
203
Collins zufolge gedeiht diese Praxis, für die es leider keine adäquate deutsche Übersetzung gibt (vielleicht:
„jemanden fertigmachen“), vor allem in totalen Institutionen wie Gefängnissen und Internaten – aber auch in
ganz normalen Schulklassen. Interessanterweise handelt es sich um dieselben gesellschaftlichen Bereiche, in
denen auch erniedrigende Initiationspraktiken zu finden sind. Rituelle Erniedrigung, so lässt sich allgemein
formulieren, scheint überall dort eine Rolle zu spielen, wo die Macht der Gruppe das einzelne Individuum
überwältigt.
194
sich durch den symbolischen Ausschluss ihren Zusammenhalt.
Demütigungen können Angehörigen von Fremdgruppen und Außenseitern sogar den
Status des Menschseins absprechen, was einer Entwürdigung der Opfer gleichkommt. Die
Gruppe ist hier alles, ihre Opfer nichts. In letzter Konsequenz führt die Entmenschlichung und
Entwürdigung zur Figur des „homo sacer“ (Agamben 2007/1995), der sich durch schiere
Tötbarkeit auszeichnet und der Gewalt der Gruppe unterworfen ist. Ein Beispiel für
Entmenschlichung sind auch die demütigenden Performanzen von Abu Ghraib, wo auf
Gefangenen wie auf Tieren geritten wurde oder diese an einer Hundeleine gehalten wurden
(vgl. Boogs 2008; siehe auch 7.3.3). Die Entmenschlichung des Feindes im Krieg ist keine
Seltenheit und geht oft mit seiner verbalen Erniedrigung einher: Im Vietnamkrieg gaben die
Amerikaner ihren Feinden den abfälligen Namen „gooks“, in Afghanistan und im Irak
nannten sie sie „hajis“ – wobei zwischen dem „eigentlichen Feind“ und der zivilen
Bevölkerung selten unterschieden wurde.204 Die soziale Imagination des Anderen ist nicht
alleine für Gewaltakte im engeren Sinne von Bedeutung (3.1.4), sondern auch für die
symbolische „Gewalt“ ritueller Demütigungen. Lange vor dem Völkermord an den
europäischen Juden wurden diese im Dritten Reich einer systematischen Demütigung
ausgesetzt. Die gesetzliche Verpflichtung, einen Davidstern zu tragen, die Kennzeichnung
jüdischer Geschäfte und andere alltägliche Demütigungen dienten der Ausgrenzung der
jüdischen Bevölkerung aus der Gruppe des „deutschen Volkes“.205
3.3.4. Folter als Verhörtechnik und rituelle Demütigung
Der Begriff der „Folter“ ist alles andere als unumstritten, wie nicht zuletzt die jüngere
Folterdebatte und der Diskurs zu Abu Ghraib gezeigt hat. In der Regel wird dem politischen
Gegner vorgeworfen, sich der Folter als eines unzulässigen Mittels zu bedienen, während man
die eigene Verhörtechnik lieber als „verschärfte Vernehmung“ bzw. „harsh interrogation“
bezeichnet (6.4.2). Einen ersten Ansatz zur Bestimmung des Phänomens bietet die UNFolterkonvention, die Folter einerseits über die Intensität des Gewaltaktes, andererseits über
seine kollektive Intentionalität definiert: Folter sei eine Handlung, „die einer Person
vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen“ zufügt, die aber zugleich „von
204
Bob Herbert legt in einem Artikel zu Abu Ghraib nahe, dass diese erniedrigenden Bezeichnungen die
Misshandlung von Menschen erleichterten, vgl. „‘Gooks’ to ‘Hajis’“, The New York Times, 21. Mai 2004.
205
Ein eindrückliches Beispiel einer ritualisierten Demütigung bzw. Entwürdigung von jüdischen Mitbürgern im
Dritten Reich liefert die bereits diskutierte Fotografie (Stoecker 2003), die jüdische Bürger beim Putzen der
Straße mit Zahnbürsten zeigt (3.2.5).
195
einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft
handelnden Person“ verursacht bzw. veranlasst wurde oder mit dessen „ausdrücklichem oder
stillschweigendem Einverständnis“ geschah (UN 2004/1984: 123; Hervorhebung W.B.).
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass selbst diese allgemein anerkannte Definition von Folter
unscharf ist: Wann werden körperliche und seelische Schmerzen so groß, dass sie die Rede
von Folter rechtfertigen? Diese Unschärfe ist allerdings nicht unbedingt ein Mangel der
vorliegenden
Definition.
Soziale
Normen
sind
immer
unterbestimmt
und
interpretationsbedürftig und daher auf die Einbettung in einen kulturellen Hintergrund
angewiesen (1.1.4; 1.2). Bemerkenswert ist weiterhin, dass die jeweilige Motivation des
Gewaltaktes, also ob Folter nun zur „Strafe“, zum Erzwingen eines Geständnisses bzw. einer
Aussage oder aber aufgrund „irgendeiner Art von Diskriminierung“ eingesetzt wird (UN
2004/1984: 123), in der vorliegenden Definition keine Rolle spielt. Die in dem Dokument
aufgelisteten Motive dienen lediglich der Illustration des Phänomens. Schließlich wird der
Begriff der Folter aber auf Gewaltakte eingeengt, die im öffentlichen bzw. staatlichen Auftrag
oder aber mit staatlicher Duldung geschehen. Entscheidend ist somit nicht der intentionale
Gehalt der Folter, beispielsweise ein bestimmtes Motiv, sondern der kollektive Modus der
Intentionalität (1.1.2), der die Praxis der Folter an den Staat zurückbindet (4.2.3). Folter ist
damit immer schon staatliche Folter.
In der Geschichte der Menschheit wurde schon immer gefoltert – wenngleich die Motive
der Folter, ihre soziale Imagination und ihre gesellschaftliche Funktion einem historischen
Wandel unterliegen (vgl. Peters 1991).206 Betrachtet man Folter unter instrumentellen
Gesichtspunkten, so wird deutlich, dass sie als Mittel für eine Vielzahl von Zwecken
eingesetzt wurde. So kam sie unter anderem als Körperstrafe zur Anwendung: Die sogenannte
„Marter“ war eine elaborierte Straftechnik, die dem Delinquenten das ihm gebührende
Quantum Schmerz zufügte.207 Daneben diente Folter auch als Verhörtechnik, beispielsweise
als ein Mittel der Produktion von Wahrheit in juristischen Prozessen: So wurden
beispielsweise im antiken Griechenland im Zuge gerichtlicher Verfahren „unschuldige“
Sklaven gefoltert, um ihren Zeugenaussagen die Gültigkeit eines Beweises zu verleihen
206
Die folgenden Ausführungen zur Folter gehen in wesentlichen Teilen auf eigene Überlegungen zurück, die in
englischer Sprache publiziert wurden und sich einerseits mit dem historischen Wandel und sozialen
Imaginären der Folter (Binder 2010c), andererseits aber mit der rituellen Dynamik des Folterns als
Performanz und Demütigung (Binder 2010b) beschäftigen.
207
Eine Beschreibung und Analyse dieser Praxis inklusive einer eindringlichen Schilderung der öffentlichen
Hinrichtung des (erfolglosen) Königsmörders Damien findet sich in Michel Foucaults Überwachen und
Strafen (2003: 9-92).
196
(DuBois 1991: 65f.); im europäischen Mittelalter war es hingegen rechtsgültig, dem
Beschuldigten mit Hilfe von Folter ein Geständnis abzupressen, aufgrund dessen er dann
verurteilt werden konnte (vgl. Langbein 2006). Wenn heute in liberalen Demokratien über die
Zulässigkeit von Folter diskutiert wird, so ist damit weder die Folter als Körperstrafe gemeint,
welche gegen das liberale Recht auf körperliche Unversehrtheit verstößt (4.1.4), noch die
Anwendung von Folter in rechtlichen Verfahren, die sich nicht mit dem modernen
Rechtverständnis vereinbaren lässt. Moderne Folter ist kein Mittel der Rechtsvollstreckung
und Rechtsfindung, sondern in erster Linie eine Verhörtechnik, die der Beschaffung wichtiger
Informationen dienen soll, die in der Kriegsführung und Aufstandsbekämpfung zum Einsatz
kommen oder aber Unschuldigen das Leben retten können (vgl. Rejali 2007).
Folter gilt weithin als instrumenteller Gewaltakt und als Verhörtechnik – sicherlich nicht
ganz zu Unrecht. Allerdings wird man dem Phänomen der Folter wie auch den übrigen
Erscheinungsformen von Gewalt nicht gerecht, wenn man sie auf ihre instrumentelle
Dimension reduziert (3.1.5). Im Folgendem soll die These vertreten werden, dass es sich bei
Folter nicht primär um eine Verhörtechnik handelt, sondern sie in erster Linie eine rituelle
Demütigung und Entwürdigung darstellt. Gegen die Vorstellung von Folter als einer
Verhörtechnik lässt sich anführen, dass die Rede von einer „Technik“ eine Beherrschbarkeit
impliziert, die in der Anwendung von Folter so nicht gegeben ist. Vor allem zwei Probleme
drängen sich bei der Betrachtung von Folter als Verhörtechnik auf: Einerseits nutzt sich das
Drohmittel der Gewalt, das in Verhören zum Einsatz kommt, durch seinen Gebrauch ab,
andererseits lassen sich keine „internen“ Kriterien für den Erfolg oder Misserfolg eines
Verhörs angeben. Zunächst zu dem ersten Problem: Das Repertoire der Gewalt, mit dem der
Verhörte zum Reden gebracht werden soll, ist begrenzt. Ist das Opfer nicht geständig, lässt
sich die Folter nur noch wiederholen und intensivieren. Allerdings stumpft sein
Schmerzempfinden bei jeder Behandlung weiter ab. Hierauf kann der Folterer seinerseits mit
einer weiteren Intensivierung des Schmerzes antworten, die allerdings das Problem weiter
verschärft. Während technische Probleme in der Regel durch Aufspüren der Ursachen und
Verfeinerung der Instrumente gelöst werden, trifft dies auf die Folter nur begrenzt zu.208 Trotz
208
Vielversprechender scheint ein performativer Zugang zur Verhörsituation zu sein. Verbreitet ist vor allem das
Zusammenspiel eines scheinbar wohlwollenden Befragers (dem sogenannten „good cop“) und seines
sadistischen Counterparts (dem „bad cop“), die abwechselnd mit positiven und negativen Sanktionen
operieren. Der Erfolg des Verhörs hängt dann unter anderem davon ab, inwieweit es jedem der Beteiligten
gelingt, glaubwürdig seine Rolle zu vertreten (2.3.4). Skripte geben den groben Ablauf des Verhörs vor,
lassen aber Raum für Improvisationen. Ein solches performatives Verständnis von Folter geht über die
197
einer zunehmenden Verwissenschaftlichung der Folterpraxis im 20. Jahrhundert gibt es einen
allgemeinen Konsens unter Wissenschaftlern, dass die Aussagekraft unter Folter gewonnener
Informationen in hohem Grade zweifelhaft ist. Damit wären wir beim zweiten Problem
angelangt: Selbst wenn der Gefolterte gesprächig ist, lässt sich der Wahrheitsgehalt seiner
Aussage schwerlich nachprüfen – Wahrheitsserum und Lügendetektor blieben Illusionen.
Weil es – abgesehen von der „Intuition“ des Folterers – keine Kriterien des Erfolgs oder
Misserfolgs gibt, muss jede unter Zwang abgepresste Information noch einmal extern
überprüft werden. Dies ist allerdings schon lange bekannt: Bereits in der Rhetorik von
Aristoteles ist zu lesen (1. Buch, XV), dass Menschen unter Folter alles Mögliche sagen.
Angesichts der Mängel, die eine Konzeption von Folter als Verhörtechnik aufweist,
erscheint eine Betrachtung der Folter unter rituellen und performativen Aspekten lohnend.
Elaine Scarry (1992) zufolge ist die Gewinnung von Informationen nur ein vorgeschobenes
Motiv, das der Rechtfertigung der Folter dient, nicht aber ihr „tatsächliches“.209 Aus einer
soziologischen Perspektive bietet es sich an, zwischen der vorgeschobenen, „manifesten
Funktion“ der Folter und ihren „latenten Funktionen“ zu unterscheiden (vgl. Merton 1995a).
Randall Collins argumentiert, dass es sich bei Folter primär um ein Ritual der Unterwerfung
und einen Mechanismus der sozialen Stratifizierung handele (1974: 422). Ein Blick in die
Geschichte gibt ihm Recht: Folter kam fast ausschließlich gegenüber den statusniedrigen
Mitgliedern einer Gesellschaft oder gegenüber Fremden zum Einsatz (vgl. Peters 1991: 33107). Im antiken Griechenland war Folter den Sklaven vorbehalten, heute sind es vor allem
Ausländer und nicht die eigenen Bürger, die der Folter unterworfen werden (Einolf 2007). Die
rituelle Demütigung der Folter zieht soziale Grenzen und reproduziert die jeweilige
gesellschaftliche Ordnung; sie schafft ein konstitutives Außen, das die symbolische Ordnung
einer Gesellschaft stabilisiert. Neben dieser rituellen Funktion lässt sich der Folter aber auch
eine theatralische Dimension zuschreiben. So heißt es bei Sofsky: „Der Folterkeller ist kein
Ort der Vernehmung und Ermittlung, er ist ein Schauplatz absoluter Gewalt“ (1996: 88).
Scarry zufolge ist die Rede vom „Schauplatz“ symptomatisch für die Struktur der Folter:
Es ist kein Zufall, wenn der Raum, in dem die Brutalitäten stattfinden, von den Folterern auf den
Philippinen „das Atelier“, in Südvietnam „das Kino“ und in Chile „die blaue Bühne“ genannt wurde. Die
Vorstellung einer technischen Kontrolle der Verhörsituation durch Schmerzintensivierung hinaus, kann
allerdings genauswenig den Erfolg des Verhörs garantieren.
209
Auch bei Wolfgang Sofsky heißt es: „Die Tortur ist kein Werkzeug des Verhörs. Wer sie mit instrumenteller
Gewalt gleichsetzt, wiederholt nur die Rechtfertigung der Täter“ (1996: 88).
198
Folter, die auf solchen wiederholten Akten der Schaustellung aufbaut, deren einziger Zweck es ist, eine
phantastische Illusion von Macht herzustellen, ist ein groteskes Kompensationstheater. (Scarry 1992: 44)
Im Folterkeller manifestiert sich die absolute Gewalt des Folterers – und damit der totale
Machtanspruch des Staates, in dessen Auftrag der Folterer handelt. Zugleich dokumentiert
sich in der Folter aber auch die Ohnmacht des Staates – denn Gewalt fängt da an, wo Macht
aufhört (3.1). In der Folter wird, so Scarry (1992), eine „fiktive“ Macht des Staates in Szene
gesetzt, indem sie den Schmerz des Gefolterten objektiviert und in „Insignien der Macht“
transformiert. Die Agenten des Staates, die Folterknechte, müssen ihr Metier im Geheimen
ausüben und pflegen dabei nicht selten ein Elitenbewusstsein (vgl. Huggins et al. 2002), das
gewisse Parallelen zum „folternden Helden“ in der amerikanische Populärkultur nach 9/11
aufweist (6.4.3). Obwohl Folter in der modernen Gesellschaft im Geheimen stattfinden muss,
ist ihre Existenz in der Regel ein offenes Geheimnis, was unter anderem die Bekanntheit des
Gefangenenlagers in Guantanamo Bay zeigt (vgl. Binder et al. 2011: 239-245). Staatliche
Folter besitzt trotz ihrer Geheimhaltung auch eine kommunikative Funktion: Sie kann
gegenüber einem Publikum politische Entschlossenheit signalisieren, aber sie kann auch
Furcht und Schrecken verbreiten.
Folter ist immer in ein soziales Imaginäres eingebettet, das dieser Praxis ihren spezifischen
Sinn verleiht. So hat Page Du Bois (1991) gezeigt, dass die antike Folterpraxis in
Griechenland nur im Kontext der griechischen Konzeption Wahrheit verständlich ist; ein
vergleichbarer Zusammenhang lässt sich auch für die katholische Beichte und die
mittelalterliche Folter konstatieren (Binder 2010c: 221). Diese Einbettung in ein geteiltes
Imaginäres ist auch der Tatsache geschuldet, dass sich die rituelle Demütigung der Folter
auch in anderen Formen der Erniedrigung widerspiegelt. So hat Lisa Silverman (2001: 111130) gezeigt, dass während der Blütezeit der Folter in Toulouse (1600-1788) auch
Selbstgeißelungen mit religiösen Hintergrund sehr verbreitet waren. Diese Praktiken der
Selbstgeißelung wurden als Akte religiöser Demut interpretiert, mit dem sich der Mensch in
seiner Nichtigkeit dem Willen Gottes – dem durkheimianischen Platzhalter des Kollektivs –
unterwarf. In dem Maße, wie allerdings die unaufgebbare Würde des Menschen in das
moderne Imaginäre Einzug hält, beginnt auch die Legitimität der Folter zu bröckeln.
3.3.5. Die Abschaffung der Folter und die Würde des Menschen
Die Praxis der Folter – darüber besteht heute weitestgehend Konsens – lässt sich nur schwer
mit der Würde des Menschen in Einklang bringen. Die Anwendung von Folter zerstört die
Selbstachtung der gefolterten Individuen, die vor Schmerzen brüllen und sich einkoten, die
199
dazu gezwungen werden, ihr Innerstes preiszugeben oder geliebte Personen zu verraten oder
zu verleumden, und deren Selbst in der Folter letztlich aufs Spiel gesetzt wird. Diesem
erniedrigenden Charakter der Folter war man sich auch schon in der Antike und im Mittelalter
bewusst, wo freie Bürger bzw. Adelige von der Folter ausgenommen waren. Die durch die
Folter erlittene Demütigung war mit der Ehre der höheren Stände schlichtweg unvereinbar.
Erst im Zuge der Umstellung der gesellschaftlichen Semantik von Ehre auf Würde (3.2.1)
kam es zu einer Universalisierung des Folterverbotes, zur Tabuisierung der Folter in der
modernen Gesellschaft. Aber lässt sich die Abschaffung der Folter wirklich auf den Siegeszug
der Idee der Menschenwürde zurückführen, oder gab es dafür auch andere Gründe?
Zunächst ist zu konstatieren, dass der umfassenden Ächtung der Folter eine Ausweitung
der Folterpraxis vorrausging. Dafür war in Europa vor allem ein christliches Imaginäres
verantwortlich, das im Zuge des 12. Jahrhundert dem Schmerz eine spirituelle und reinigende
Bedeutung verlieh. Dieser kulturelle Wandel äußerte sich unter anderem in der „Geburt des
Fegefeuers“ (Le Goff 1984) und in der steigenden Beliebtheit von Heiligen- und
Märtyrerlegenden (vgl. Binder 2010c: 220f.). Lisa Silverman konnte für das frühneuzeitliche
Frankreich zeigen, dass die Verbreitung und Akzeptanz der Folter ebenfalls mit einer
„valorization of pain“ (2001: 111-130), einer Wertschätzung bzw. Adelung des Schmerzes,
einherging. Diese speiste sich aus einer egalitaristischen, schmerzbetonten Imagination des
Christentums, das sich unter anderem auch in der religiösen Praxis der Selbstgeißelung
niederschlug. Nicht nur dem Schmerz der freiwilligen Selbstgeißelung wurde eine spirituelle,
reinigende Funktion zuschrieben, sondern auch der Praxis der Folter. Die Zerstörung des
Selbst im Schmerz hatte hier als eine Initiation in das Reich Gottes eine positive Bedeutung.
Erst die Umwertung des Schmerzes im medizinischen Diskurs, so Silverman (2001: 133-152),
führte dazu, dass die Folter ihre spirituelle Funktion verlor.
Andere Erklärungen verweisen auf institutionelle Veränderungen, wobei auch diese
letztlich auf einen Wandel des kulturellen Hintergrundes verweisen. John Langbein (2006) hat
darauf hingewiesen, dass erst die Einführung der freien Beweisführung und des indirekten
Beweises den rechtlichen Boden für eine Abschaffung der Folter bereitet habe, da die
Rechtsprechung bis dato in vielen Fällen auf ein Geständnis des Beschuldigten angewiesen
gewesen sei. So überzeugend diese Erklärung auch sein mag, sie bleibt dennoch
unvollständig. Einerseits bleibt erklärungsbedürftig, warum es zu einem Wandel des
Rechtsverständnisses kam, andererseits erklärt die Tatsache, dass fortan funktionale
Äquivalente zur Folter zur Verfügung standen, noch lange nicht deren Verschwinden. Michel
200
Foucault argumentiert in Überwachen und Strafen (2003), dass an die Stelle der Ausübung
von herrschaftlicher Souveränität, die sich auch in Praktiken der Marter und Folter
manifestierte, eine Disziplinarmacht getreten sei, die in den pädagogischen Diskursen der
Aufklärung ihren Anfang genommen habe. Hans Joas (2008) hat darauf hingewiesen, dass
Foucaults These den Wertewandel vernachlässigt, der mit der Aufklärung einsetzte. Die
Abschaffung der Folter verdankte sich damit auch der Entstehung einer modernen
moralischen Ordnung, die der körperlichen Unversehrtheit und der Würde des Menschen
einen höheren Stellenwert einräumte (4.1.4).
In Deutschland – genauer: in Preußen – vollzog sich die Abschaffung der Folter im 18.
Jahrhundert während der Amtszeit von Friedrich II. (Schmoeckel 2000; Weitin 2007).
Mathias Schmoeckel zufolge wurde das preußische Folterverbot „zum Ausdruck einer
Rechtauffassung mehrerer Jahrhunderte“ und „zum Symbol der Grundlagen einer politischen
Ordnung“ (2000: 585). Allerdings wurde die Abschaffung der Folter zunächst geheim
gehalten (Weitin 2007: 280f.). So konnte Folter noch als Drohmacht genutzt werden, auch
wenn die Drohung nicht mehr durch eine entsprechende Aktionsmacht gedeckt war. Erst als
es öffentlich gemacht wurde, konnte das Folterverbot seinen Symbolwert erlangen. In
ähnlicher Weise muss aber auch der (semi-)öffentlichen Aufweichung des Folterverbotes im
Krieg gegen den Terror eine symbolische Funktion zugesprochen werden (6.4.2-3). Die
Abschaffung der Folter – wie auch ihre zeitweilige Rehabilitierung – stellte nicht das
Ergebnis eines rationalen Diskurses dar, sondern verdankt sich einem Wandel des sozialen
Imaginären:
Der Kampf gegen die Folter war ein großer historischer Kampf gegenläufiger Imaginationen. Es waren
keine rationalen Argumente, die zur Abschaffung der Folter im europäischen Strafprozess führten, wenn
man unter „rationalen Argumenten“ solche versteht, die vor allem das Zweifelhafte, mangelnd
Sachdienliche erforderter Geständnisse betonten, und sich gegen irgendwelche Borniertheiten
durchgesetzt hätten, die an deren Verlässlichkeit geglaubt hätten. [...] Betrachtet man die Geschichte der
Folter und ihrer Abschaffung, ist nicht jene, sondern diese die Ausnahme und das Explanandum.
(Reemtsma 2005: 80f.)
Nicht die Untauglichkeit der Folter als Verhörmethode war Reemtsma zufolge für deren
Abschaffung ausschlaggebend, sondern die Ausweitung von Bürgerrechten auf alle
Individuen – die Idee der Menschenrechte. Es war eine Veränderung im sozialen Imaginären,
eine Sakralisierung des Individuums, das vor dem Staat geschützt werden musste (4.1.4), die
zur Abschaffung der Folter führte:
Die immer weiter ausgestaltete Idee einer Machtbeschränkung der Staatsmacht und der wachsende
Abscheu vor Grausamkeit wirken zusammen; sie gehören zu der kulturellen Umbildung, die wir mit dem
abgenutzten Ausdruck der Weg in die Moderne bezeichnen. Der Kampf gegen die Folter ist der Ort an
dem sich speziell diese beiden Momente synergetisch verbinden. Die Idee des Rechtsstaates ist ohne diese
201
Verbindung historisch nicht zu denken. Die Idee der Menschenrechte nicht als intellektuelle
Anspruchskonstruktion für die Durchsetzung nationenspezifischer Bürgerrechte, sondern als
Ausweitungsanspruch der avancierten Bürgerrechte zu einem Weltbürgerrecht ist die Folge daraus.
(Reemtsma 2005: 87, Hervorhebung im Original)
Diente die Erklärung der Menschenrechte im Zuge der französischen Revolution noch in
erster Linie der Selbstkonstitution des französischen Volkes als einem politischen Demos
(vgl. Gauchet 1991), wandelte sich die Deutung der Menschenrechte in den folgenden 150
Jahren – hin zu einem stärkeren Schutz der Individuen vor der Übermacht des Staates (4.1.4).
So wurde in Frankreich im Zuge der Dreyfus-Affäre die Liga der Menschenrechte gegründet,
zu deren Gründungsmitgliedern auch Émile Durkheim zählt. Die Idee einer unveräußerlichen
Würde des Menschen und die Ächtung von Grausamkeit (3.2) führte dazu, dass Folter
zunehmend als Entwürdigung und Entweihung des innersten Heiligtums eines Menschen
wahrgenommen wurde. Wie Reemtsma in seiner Geschichtsdeutung betont, handele es sich
bei der Abschaffung der Folter um einen historischen Prozess, der prinzipiell umkehrbar sei.
Die Folterdebatte nach dem 11. September 2001 ist ein treffendes Beispiel einer solchen
Veränderung im sozialen Imaginären (6.4.3), die sich allerdings nach dem Abu-GhraibSkandal wieder ein Stück weit normalisierte (10.4).
202
4. Moral und Öffentlichkeit
Seit ihren Anfängen gehört die Moral zum Kerngeschäft der Soziologie, wenn auch die
Annahme einer moralischen Integration der Gesellschaft in den letzten Jahren zunehmend
Kritik auf sich gezogen hat (z.B. Luhmann 1997: 1043; 2008). Diese Kritik ist in zweierlei
Hinsicht berechtigt. Einerseits problematisiert die Diversifizierung der Moral in
verschiedenen gesellschaftlichen Milieus die Rede von der einen Moral der Gesellschaft.
Andererseits steht die Moral aufgrund der funktionalen Differenzierung in Konkurrenz zu
anderen
Wertorientierungen
wie
dem
Streben
nach
ökonomischem
Profit,
nach
wissenschaftlicher Wahrheit oder aber politischer Macht. Dem ersten Einwand lässt sich
entgegenhalten, dass es in allen Gesellschaften auch eine öffentliche Moral gibt, die eine
gesellschaftsweite Geltung und Wirksamkeit beansprucht. In dieser Arbeit wird es in erster
Linie um diese öffentliche Moral gehen, die in zivilgesellschaftlichen Diskursen zum
Ausdruck kommt (4.3). Dem zweiten Einwand soll hier im Rückgriff auf den Soziologen
Karl-Otto Hondrich Rechnung getragen werden, der die Moral als „Supermacht der
demokratischen Gesellschaft“ bezeichnet hat (2002: 161).
Hondrich zufolge stellt die Moral kein eigenständiges Subsystem der Gesellschaft dar, weil
sie selbst das Prinzip der funktionalen Differenzierung steuert.210 Die Macht des Geldes und
der Politik, wie Hondrich am Beispiel von Skandalen zeigt, findet ihre Schranken in der
öffentlichen Moral.211 Ob Dienstleistungen wie die Bereitstellung von Trinkwasser privatisiert
werden sollten, ist zunächst keine rein wirtschaftliche Entscheidung (gleichwohl sich nur
dann Investoren finden, wenn das Angebot lukrativ ist), sondern eine politische Entscheidung,
die sich allerdings öffentlich – und das bedeutet in diesem Zusammenhang: moralisch –
rechtfertigen muss. Zwar müssen nicht immer moralische Kriterien in der Debatte
ausschlaggebend sein, aber selbst die Einstufung eines Problems als moralisch irrelevant
erfolgt immer schon vor einem moralischen Hintergrund. Zumindest für den Kernbereich der
210
In ähnlicher Weise hat sich Niklas Luhmann (1986/1965) in einem frühen Werk – Grundrechte als
Institution – mit den verfassungsrechtlichen und sozialen Vorrausetzungen der funktionalen Differenzierung
beschäftigt – ohne allerdings deren moralischem Fundament angemessen Rechnung getragen zu haben.
211
Ein anderes Beispiel für die moralische Kontrolle der Verwendung von Geld ist die Ächtung von Prostitution
– und das sowohl auf der Angebots- wie auch auf der Nachfrageseite. Die öffentliche Moral schreibt in vielen
Ländern vor, dass Sexualität nur in Intimbeziehungen und ohne monetäre Vermittlung stattzufinden habe. So
ist die Praxis der Prostitution vielerorts verboten, in Schweden machen sich sogar nur die männlichen Freier
strafbar. Ähnliche rechtliche Restriktionen, die auf moralischen Vorstellungen beruhen, gibt es im Handel
mit Organen.
203
Moral gilt immer noch, was Talcott Parsons und Edward Shils vor einem halben Jahrhundert
gesagt haben:
Moral value standards are the most comprehensive integrative standard for assessing and regulating the
entire system of action under consideration, whether it be a personality or a society or a subsystem of
either. They are the “court of last appeal” in any large-scale integrative problem within the system.
(Parsons & Shils 1962/1951b: 73f.)
Für die Imagination von Gesellschaften als moralische Gemeinschaften ist in erster Linie die
öffentliche Moral zuständig. Erst in der Sphäre der Öffentlichkeit (4.2) kann sich über die
kollektive Reaktion auf skandalöse Moralverletzungen eine gemeinsame moralische Ordnung
bilden. In dieser Arbeit wird es vorwiegend um die öffentliche Moral gehen, auch wenn
gruppenspezifische Moralvorstellungen bei den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib sicherlich
handlungsleitend waren (7.4). Die Macht der öffentlichen Moral kann Politiker zu
öffentlichen Entschuldigungen oder zum Rücktritt zwingen (8.2.2-3), sie kann Unternehmen
zum Einlenken bewegen (z.B. Brent Spar) oder zu Gesetzesänderungen führen (z.B. § 218).
Moral legt zwar nicht fest, was als wissenschaftliche Wahrheit zu gelten hat, sie setzt aber
dem Forscherdrang moralische Grenzen.
Erst die Öffentlichkeit verleiht der Moral eine gesellschaftumspannende Bedeutung. Nach
Habermas handelt es sich bei der Öffentlichkeit um einen offenen, aber zugleich strukturierten
Raum für Kommunikation. Öffentliche Macht ist immer kommunikativ erzeugte Macht. Der
Begriff der Öffentlichkeit umfasst eine Bandbreite von Bedeutungen, die alle für die Analyse
des empirischen Datenmaterials eine Rolle spielen. Die öffentlichen Straßen von New York,
Bagdad oder Teheran, auf denen politische Aktivisten und Propagandisten die Bilder von Abu
Ghraib bearbeiteten und verbreiteten (9.4.1), funktionieren nach einer anderen Logik als die
mediale Öffentlichkeit, in der die Fotografien erstmals gezeigt worden waren (8.1.2). Die
erste Form von Öffentlichkeit ist auf körperliche Anwesenheit angewiesen (4.2.1), während
die mediale Öffentlichkeit an keinen konkreten Ort gebunden ist (4.2.2). Desweiteren lässt
sich zwischen einem individuellen Begriff von Öffentlichkeit, der auf freie Zugänglichkeit
abstellt (4.2.1), und einem kollektiven Begriff von Öffentlichkeit, der auf die Interessen und
Werte eines Kollektivs abzielt (4.2.3-4), unterscheiden. Schließlich kann „Öffentlichkeit“
auch in einem „emphatischen Sinn“ verwendet werden, insofern eine „deliberative
Öffentlichkeit“ gewisse Rationalitätskriterien erfüllt, die von außen an sie herangetragen
werden. Von einer solchen Verwendungsweise soll in dieser Arbeit aber ausdrücklich
abgesehen werden (4.3.1). „Öffentlichkeit“ wird ausschließlich in einem deskriptiven Sinn
verwendet, wobei natürlich den normativen Gehalten von öffentlichen Diskursen als einem
Teil des Untersuchungsgegenstandes Rechnung getragen werden muss. Und damit wären wir
204
wieder bei der Verbindung von Moral und Öffentlichkeit. Im Folgenden wird die These
vertreten, dass politische Öffentlichkeiten als zivilgesellschaftliche Diskurse verstanden
werden können, die sich in erster Linie an dem binären Code einer öffentlichen Moral
orientieren (4.3.2), aber auch von sekundären Codes und politischen Programmen strukturiert
werden (4.3.5).
4.1. Moral
Wir wollen die Moral nicht aus der Wissenschaft ableiten, sondern
die Wissenschaft der Moral betreiben, was etwas ganz anderes ist.
Émile Durkheim, Vorwort zur ersten Auflage
der Arbeitsteilung (2004/1893: 76)
Als die Soziologie im Begriff stand, sich als wissenschaftliche Disziplin herauszubilden, galt
die wissenschaftliche Erforschung der Moral als ihre vornehmste Aufgabe. Davon zeugen
Webers enzyklopädisches Interesse an der Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Simmels
frühe Arbeiten zur Moralwissenschaft, die auch heute noch von soziologischem Interesse sein
sollten (4.1.3), und natürlich Durkheims Auseinandersetzung mit der Moral, die sich durch
sein gesamtes Werk zieht und in einem (leider unvollendet gebliebenen) opus magnum mit
dem Titel „Die Moral“ kulminieren sollte. Diesen Faden wollen die folgenden Überlegungen
aufgreifen. Zunächst erfolgt eine nähere Bestimmung des Begriffs des „Moralischen“ durch
eine Abgrenzung von moralischen Normen gegenüber anderen sozialen Normen (4.1.1).
In den letzten Jahren steht „Moral“ – zumindest was die soziologische Theoriebildung
angeht – nicht besonders hoch im Kurs. Während der wohl wichtigste Soziologe des 20.
Jahrhunderts, Talcott Parsons, der Moral noch eine integrative Funktion für Gesellschaften
zugesprochen hatte, forderte sein Epigone Niklas Luhmann, dass „die Vorstellung einer
moralischen Integration der Gesellschaft“ (1997: 1043) aufgegeben werden solle.212 Die ein
oder andere Zeitdiagnose scheint dieser Skepsis gegenüber der Moral Recht zu geben: In der
212
Die soziologische Systemtheorie à la Luhmann attestiert der Moral nicht nur eine geringe gesellschaftliche
Relevanz, sondern kultiviert darüberhinaus eine gewisse Moralfeindlichkeit (1997: 1035-1046; 2008), die
einer unvoreingenommen Erforschung des Phänomens abträglich ist. Aber auch in den Rational-ChoiceTheorien und den kultursoziologischen Praxistheorien kommt die Normativität des Handelns entschieden zu
kurz, was dazu führt, dass auch die Moralität des Sozialen ausgeblendet wird.
205
Postmoderne löse sich die universelle Moral in eine prekäre Ethik der Toleranz und in eine
Vielzahl von individuellen und partikularen Moralvorstellungen auf (Bauman 2009).
Mitschuld an der Misere der Moralsoziologie trägt die sogenannte „kritische Soziologie“, die
unter der Federführung von Jürgen Habermas an der Universalität moralischer Normen
festhält, ohne sie einer nüchternen, wissenschaftlichen Analyse unterziehen zu wollen.213
Die folgenden Überlegungen knüpfen an die klassische Tradition der Soziologie an, für die
Moral noch der „Kitt“ der Gesellschaft und ein Motor der gesellschaftlichen Entwicklung
war.214 Allerdings darf die moralische Ordnung moderner Gesellschaften nicht als Ergebnis
einer linearen gesellschaftlichen Evolution begriffen werden, sondern ist als Resultat
kontingenter Ereignisse und gesellschaftlicher Diskurse aufzufassen. Die im Folgenden
vertretene These, dass Moral als symbolische Ordnung durch Unvollständigkeit und
Ambivalenz gekennzeichnet ist (4.1.3-5), rückt die Veränderbarkeit moralischer Ordnungen
in den Vordergrund. In dieser Arbeit geht es vor allem um die Erschütterungen und
Verwerfungen in der „moralischen Landschaft“ (Taylor 1994), die Ereignisse wie der 11.
September 2001 (6.4.3) oder auch der Abu-Ghraib-Skandal (10.4) ausgelöst haben.
4.1.1. Soziale und moralische Normen
Eingangs haben wir den Begriff der „sozialen Norm“ in Anlehnung an Luhmann als eine
„kontrafaktisch stabilisierten Erwartungshaltung“ eingeführt (vgl. 1.1.1). Was das individuelle
Bewusstsein angeht, so lässt sich zunächst sagen, dass Normen in der Vorstellung der Akteure
bzw. in der reziproken Unterstellung von Akteuren existieren. Die normative Rahmung des
Handelns erfolgt nur in den wenigsten Fällen intentional, da sie immer schon in einen
213
Habermas’ Unterscheidung zwischen einer für alle verpflichtenden Moral und einer partikularistischen Ethik,
die auf die Konzeptionen der „Moralität“ bei Kant und der „Sittlichkeit“ bei Hegel zurückgeht, ist in
soziologischer Hinsicht überaus fragwürdig. Während die Moralität, der Göttin Athene gleich, der
Denkerstirn in voller Rüstung, als ein aus Vernunftprinzipien deduziertes notwendiges System entspringt, ist
die Sittlichkeit mit dem Makel des Konkreten, Empirischen und historisch Kontingenten behaftet. Für
Habermas (1991) entspringt die universelle Moral dem rationalen und herrschaftsfreien Diskurs, der in
normativen Geltungsfragen als oberste Instanz gilt. Der Hiatus zwischen Sein und Sollen wird hier durch die
Parallelisierung von normativen und kognitiven Geltungsansprüchen zum Verschwinden gebracht. Eine
Kultursoziologie muss der historischen Kontingenz von kognitiven Wahrheitsansprüchen und normativen
Geltungsansprüchen Rechnung tragen. Sie sollte sich stärker an Hegels empirischer Konzeption der
Sittlichkeit, als an Kants oder Habermas’ moralischem Universalismus orientieren.
214
Natürlich unterschlägt diese Zuspitzung, dass es auch in den letzten Jahren einflussreiche Beiträge zur
Soziologie der Moral gab. Zu nennen sind insbesondere die Arbeiten zu Regimen der Rechtfertigung von Luc
Boltanski und Laurent Thévenot (2007), Axel Honneths Analyse der moralischen Grammatik sozialer
Konflikte (1992) sowie Philip Smiths und Jeffrey Alexanders Studien zum moralischen Gehalt von
öffentlichen Diskursen (z.B. 1994; vgl. 4.3.2).
206
vorintentionalen Hintergrund des Handelns eingebettet ist (1.2.2). Dies bedeutet auch, dass
Normen in der Regel nur durch ihre Übertretung sichtbar werden (vgl. 1.2.1). In diesen Fällen
zeigt sich, dass Normen nicht nur als Gegenstände der kognitiven Erfassung der Situation,
sondern immer von Emotionen begleitet werden, was sich in Durkheims „Gefühl der
Obligation“ (1996: 124-129), aber auch in der Empörung angesichts einer Normverletzung
äußert (5.3.3). Eine soziale Norm entsteht im Zusammenspiel von kognitiven, emotionalen
und evaluativen Komponenten.
Genauer betrachtet erweist sich die soziale Norm als ein paradoxes Phänomen: Sie ist auf
die Enttäuschung ihrer Erwartung angewiesen, also auf Normverstöße, weil ihr normativer
Gehalt nur im Beibehalten der Erwartung angesichts ihrer Enttäuschung aufscheint. Anders
gesagt: Würde niemand hin und wieder gegen eine Norm verstoßen, wären wir nicht in der
Lage, sie von bloßen Gewohnheiten zu unterscheiden; traditionales und normatives Handeln
fielen in eins. Normen sind aber mehr als deskriptiv erfassbare Regelmäßigkeiten des
Handelns, da sie auch als präskriptive Handlungsmodelle fungieren. Aus diesem Grund muss
ihnen auch eine kausale Wirksamkeit zugesprochen werden. Des Weiteren müssen Normen
latent bleiben, um für sich eine fraglose Geltung beanspruchen zu können. Latenz und soziale
Ordnung bedingen sich wechselseitig; die Lebenswelt teilt sich in die öffentliche Welt einer
verbindlichen normativen Ordnung und eine absurde Unterwelt der ausgeschlossenen, aber
latent gehaltenen Möglichkeiten (Giesen 2004b). Diese Herstellung von Latenz, so Giesen
(2004b: 76) mit Blick auf Parsons, sei eine „Leistung von Kultur“. Damit Normen effektiv
soziales Handeln regeln können, müssen sie weitestgehend latent bleiben. Die Thematisierung
einer Norm birgt Gefahren, da sie zugleich ihre Kontingenz und Austauschbarkeit sichtbar
macht. Von Zeit zu Zeit muss es aber dennoch zu manifesten Normverstößen und zur
Thematisierung der Norm kommen, da diese ansonsten vollends aus dem kulturellen
Hintergrund verschwinden würde. Nichtsdestotrotz erschüttert jede Verletzung einer Norm
das Vertrauen in die Geltung dieser Norm. Aus diesem Grund muss auf Übertretungen der
Norm mit Emotionen und Sanktionen reagiert werden.
Normen gibt es in allen gesellschaftlichen Teilbereichen. Sie regeln das korrekte Ausfüllen
von Formularen, den Ablauf religiöser Zeremonien und die Durchführung von
Forschungsvorhaben. Es erschließt sich nicht auf den ersten Blick, wie sich moralische
Normen von anderen sozialen Normen abgrenzen lassen, auch wenn diese Grenzziehung im
alltäglichen Leben ständig stattfindet. Im Folgenden soll ein Vorschlag von Richard Münch
aufgegriffen werden, der „moralische Achtung als ein Medium der Kommunikation“ begreift,
207
das prinzipiell „eine globale Reichweite“ besitzt (Münch 1995: 214). Münch zufolge operiert
moralische Kommunikation mit den Codewerten Achtung/Missachtung. Damit lassen sich
moralische Normen über die Art und Weise der zu erwartenden Sanktion spezifizieren.
Moralisch wird eine soziale Norm erst dann, wenn ihre Befolgung mit moralischer Achtung
belohnt oder ein Verstoß gegen sie mit moralischer Ächtung sanktioniert wird.215 War
moralische Achtung in vormodernen Gesellschaften noch stärker an gesellschaftliche
Positionen geknüpft, beispielsweise über den Begriff der Ehre (3.2.1), so dominieren heute
zwei komplementäre Modi der Achtungsvergabe. Einerseits wird dem Einzelnen eine
moralische Würde qua seines Status als Mensch zugeschrieben (3.2), andererseits muss sich
jeder Einzelne seine moralische Achtung durch moralische Leistungen erwerben.216 Beide
Modi der Achtungsvergabe verdeutlicht Münch mit einer erhellenden ökonomischen
Metapher: Einerseits gebe es ein „moralisches Grundeinkommen“, die Würde des Menschen,
andererseits könne das „moralische Eigenkapital“ durch einen moralischen Zuverdienst
aufgebessert werden (1995: 225). Eine solche Zuschreibung von moralischer Achtung bzw.
Missachtung als einer individuellen Leistung setzt natürlich Intentionalität, Autonomie und
Verantwortlichkeit bei den Akteuren voraus. Im Gegensatz zu anderen Formen der
Beurteilung von Personen und Handlungen scheint sich moralische Achtung auf die ganze
Person, nicht nur auf seine jeweilige soziale Rolle zu beziehen. Wir neigen dazu, in einem
amoralisch handelnden Individuum ein Monster zu sehen und es symbolisch aus der
Gemeinschaft
zu
exkludieren.
Ein
anderweitiges
Versagen
in
gesellschaftlichen
Rollenzusammenhängen hat keine vergleichbaren Konsequenzen zur Folge.
215
Beim Anfertigen von Seminararbeiten oder wissenschaftlichen Arbeiten gibt es Regeln, beispielsweise zur
Frage, wie bestimmte Methoden anzuwenden sind oder in welcher Form die Darstellung zu erfolgen hat
(Zitierweise etc.). Eine Übertretung dieser wissenschaftlichen Normen ist noch keine moralische Verfehlung.
Ein Plagiat oder gefälschte Daten hingegen schon. An den Plagiatsfällen in der deutschen Politik im Jahr
2011 lässt sich dieser Unterschied gut verdeutlichen. Die Beschuldigten verteidigten sich in der Regel damit,
dass sie die Anschuldigungen als bloße „wissenschaftliche Mängel“ rahmten, wobei in den meisten Fällen
ein begründeter Verdacht auf eine mutwillige Täuschung vorlag. Als intentionaler Täuschungsversuch
bekommt eine wissenschaftliche Verfehlung aber eine moralische Qualität. Gerade die quantitative
Forschung in den Natur- und Sozialwissenschaften ist gegenüber Datenmanipulationen extrem empfindlich,
weswegen dieser Kernbereich der Wissenschaft moralisch geschützt werden muss.
216
Im Anschluss and Parsons und Shils können wir von einer Polarisierung von „ascription“ und „achievement“
sprechen (1962/1951a: 82f.). Die moralische Ordnung moderner Gesellschaft, die Durkheim als „Kult des
Individuums“ beschrieben hat (2004/1893: 218-228; 1986/1898), lässt askriptive Merkmale, sofern sie nicht
dem Menschen als Gattung zugesprochen werden, zunehmend als moralisch irrelevant erscheinen. Neben der
Heiligkeit des Individuums in seiner Allgemeinheit, die sich in den unveräußerlichen Menschenrechten
niederschlägt, zählt ansonsten nur noch die individuelle Leistung des Einzelnen bei der Zuschreibung von
moralischen Qualitäten.
208
Analog zu der binären Codierung der moralischen Kommunikation lässt sich Moral als
symbolische Ordnung begreifen, die sich an der Differenz des (moralisch) Guten und
Schlechten bzw. „Bösen“ orientiert (4.1.3) – eine Modifikation der durkheimianischen
Differenz zwischen dem „Heiligen“ und dem „Profanen“ bzw. „Unheiligen“ (2005/1912).217
Moralische Normen fungieren als Konditionalprogramme, welche die Zuteilung von Achtung
und Missachtung regeln, was wiederum „moralisch gute“ Handlungen von „moralisch
schlechten“ Handlungen unterscheidet. Moralische Werte kommen schließlich in den
Finalprogrammen zur Anwendung, die sich der Maximierung von moralischen Gütern
verschrieben
haben.
Sowohl
in
teleologischen
als
auch
in
deontologischen
Handlungsmodellen ist Moral als motivierender und damit auch kausal wirksamer Faktor zu
berücksichtigen. Angesichts der Relevanz von Moral für die Erklärung des Handelns und die
Funktionsweise gesellschaftlicher Diskurse sollte die Soziologie das Phänomen der Moral
wieder stärker ins Zentrum ihrer Überlegungen rücken. Allerdings stellt sich hier die Frage,
wie die Soziologie dabei vorzugehen hat.
4.1.2. Soziologie als „moralfreie“ Wissenschaft von der Moral
Emile Durkheim erhob schon ihn seinem Werk über die Arbeitsteilung den Anspruch, die
„Tatsachen des moralischen Lebens entsprechend der Methode der positiven Wissenschaften
zu behandeln“ (2004/1893: 76). Durkheim tendiert dazu, den Bereich des „Sozialen“ mit dem
Bereich des „Moralischen“ gleichzusetzen – eine Parallelisierung, die nicht zuletzt aufgrund
der Nähe beider Wörter im Französischen naheliegt.218 Darüber hinaus sind bei ihm aber auch
Bemühungen erkennbar, die Soziologie der Moral als eine Teildisziplin zu etablieren. In
seinen Vorlesungen zur Soziologie der Moral nennt er diese Wissenschaft, wohl in
Anspielung auf Kants Metaphysik der Sitten, eine „Physik der Sitten und des Rechts“
(Durkheim 1999). Als Teildisziplin der Soziologie habe sich diese – neben der Erforschung
„soziologischer Tatbestände“, wie er sie in seiner methodischen Schrift über die Regeln der
soziologischen Methode (Durkheim 2002/1895) betrieben hat – mit den moralischen und
rechtlichen Tatbeständen einer Gesellschaft auseinanderzusetzen In Abgrenzung zum
217
Diese Differenz tritt uns schon in der biblischen Erzählung vom Garten Eden entgegen und ist auch aus den
Dialogen des Platon bekannt. In der Bibel ist noch der Zusammenhang zwischen Moral und dem Heiligen
sehr deutlich, während bei Platon das Gute zunächst in den Bereich des Wissens fällt, aber über die
Metaphysik an das Göttliche (als Idee des Guten) zurückgebunden wird.
218
Dies ist auch im Deutschen der Fall, wenn wir beispielsweise jemanden als besonders „sozial“ loben oder
aber als „asozial“ verurteilen. Begriffe wie „Sozialdemokratie“ oder „soziale Marktwirtschaft“ machen sich
ebenfalls die moralische Konnotation des Begriffes zu Nutze.
209
Oberbegriff des „soziologischen Tatbestandes“ definiert er moralische (und rechtliche)
Tatbestände als „sanktionsbewehrte Verhaltensregeln“. Der Soziologie als Moralwissenschaft
obliege es, zu klären,
1. wie diese Regeln im geschichtlichen Verlauf entstanden sind, das heißt, auf welche Ursachen sie
zurückgehen und welchen Zwecken sie dienen;
2. wie sie innerhalb der Gesellschaft funktionieren, das heißt, auf welche Weise sie von den Individuen
angewandt werden. (Durkheim 1999: 1)
Einerseits geht es Durkheim um eine soziologische Genealogie von moralischen Regeln und
ihrer Funktionsbestimmung in der gegenwärtigen Gesellschaft, andererseits aber um die
Frage, wie moralische Regeln von den einzelnen Akteuren angewendet und interpretiert
werden. Auch wenn einzelne Regeln von verschiedenen Individuen unterschiedlich ausgelegt
werden können, koppelt er den Begriff der „Moral“ an Gruppen und andere Kollektivitäten –
und damit an das eingangs skizzierte Phänomen der „kollektiven Intentionalität“ (1.1.2):
Für jedes Volk gibt es zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte eine Moral, und im Namen
dieser herrschenden Moral verurteilen die Gerichte und urteilt die öffentliche Meinung. Für jede
gegebene Gruppe gibt es eine wohldefinierte Moral. Mich auf die Tatsachen stützend, behaupte ich also,
dass es eine allen zu einer Kollektivität gehörenden Menschen gemeinsame Moral gibt. (Durkheim 1996:
90)
Moral ist für Durkheim ein historisches und gesellschaftliches Phänomen, das zwischen
sozialen Gruppen variiert und keine universelle, überzeitliche Geltung beanspruchen kann. Er
unterscheidet darüberhinaus zwischen einem „objektiven“ und einem „subjektiven“ Aspekt
der „moralischen Wirklichkeit“. Moral objektiviert sich beispielsweise in den institutionellen
Sphären des Rechts und der Öffentlichkeit.219 Neben dieser Moral existieren aber auch noch
subjektive Moralvorstellungen, denn „jedes Individuum, jedes moralische Bewusstsein bringt
die gemeinsame Moral auf seine Weise zum Ausdruck“ (1996: 90). Durkheim geht zwar von
einer moralischen Integration der Gesellschaft aus, räumt aber zugleich ein, dass
divergierende Interpretationen der öffentlichen Moral zu Konflikten führen können: „Sogar
die wesentlichsten Aspekte der Moral werden von den verschiedenen Individuen
unterschiedlich wahrgenommen“ (1996: 90). In Durkheims soziologischer Theorie der Moral
ist also durchaus auch ein Moment des Konfliktes und des Wandels angelegt, wenngleich
dieses in seinen materialen Analysen etwas zu kurz kommt. Durkheims Unterscheidung
219
Die Objektivationen der Moral können unterschiedlicher Natur sein, wie nicht zuletzt die Bandbreite
moralischer Phänomene in der vorliegenden Arbeit zeigt: Die öffentliche Moral objektiviert sich in
Gesetzestexten (6.4.2), Gerichtsurteilen (8.3), Meinungsumfragen, der Berichterstattung in den Medien sowie
in populärkulturellen Formaten (6.4.3; 10.3). Auch die Bilder aus Abu Ghraib können als Ausdruck und
Objektivation einer Gruppenmoral behandelt werden, die sich im Arrangement der Gefangenen und den
Posen der Soldaten dokumentiert (7.1-3).
210
zwischen einer „objektiven“ und „subjektiven Moral“ war wegweisend, allerdings ist in
einem Punkt Vorsicht geboten: Aus der Subjektivität der Auslegung und Anwendung von
moralischen Regeln folgt nicht, dass diese Subjektivität auch individuell sein muss. Der
kulturelle Hintergrund des Erlebens und Handels als mentale Disposition ist beispielsweise
dem wahrnehmenden und handelnden Subjekt zuzurechnen, wird aber dennoch von einem
Kollektiv geteilt (1.2). Dasselbe gilt für das soziale Imaginäre, das zwar nicht „objektiv“ ist,
weil es nicht kodifiziert werden kann, aber gleichwohl von einer Gruppe von Menschen
geteilt wird. Das Konzept des „sozialen Imaginären“ (1.3.3) unterläuft somit die
problematische Dichotomie von „Sozialität“ und „Subjektivität“, da es auf subjektive
Deutungsmuster zielt, die dennoch sozial geteilt werden. Eine soziologische Analyse der
gesellschaftlichen Moral darf nicht bei der objektivierten und kodifizierten Moral stehen
bleiben, sondern muss die subjektiven und insbesondere auch kollektiven Deutungen
berücksichtigen, die moralische Normen und Codes zuallererst zur Anwendung bringen.
Wenn es subjektive Deutungsmuster gibt, die zugleich kollektiv sind, dann könnte sich
möglicherweise auch die Rede von der Objektivation individueller Deutungsmuster als
sinnvoll erweisen. Dies scheint in der Tat der Fall zu sein, da sich in dem körperlichen und
performativen Ausdruck des Einzelnen auch moralische Einstellungen manifestieren. Der
Habitus samt seinen eingefleischten moralischen Überzeugungen bleibt den Individuen nicht
innerlich, sondern wird in ihrem Auftreten und Handeln äußerlich. Im sozialen Verkehr
gerinnen diese Objektivationen zu einem moralischen Image, das sich nur schwerlich wieder
abschütteln lässt. So wurden die Fotografien aus Abu Ghraib im amerikanischen Diskurs als
Objektivation der moralischen Verkommenheit der beteiligten Soldaten gelesen (8.3.1), wie
auch die öffentliche Entschuldigung von Rumsfeld diesem moralisch angerechnet wurde
(8.2.2). Die Unterscheidung zwischen der sozialen Verbreitung und dem epistemologischen
Status von moralischen Phänomenen liegen quer zueinander, weswegen sie sich in folgendes
Schema einordnen lassen:
Phänomene der Moral
Subjektive Deutungsmuster Objektive Manifestationen
Individuelle Moral
Individuelles Imaginäres und
Ausdruck im Körperbild und
persönliche Überzeugungen
in der soziale Performanz
Soziales Imaginäres
Öffentlichkeit und Recht
Kollektive Moral
Die symbolische Ordnung der Moral, hier als ein System von Verhaltensregeln und Codes
211
verstanden, liegt allen moralischen Phänomenen zu Grunde. Das gleiche gilt allerdings auch
für das Imaginäre. Moralische Ordnungen sind – für sich genommen – unvollständig und auf
ein komplettierendes Imaginäres angewiesen. Dies zeigen nicht zuletzt die Aporien, in die
sich die Systeme der monistischen Moralphilosophie verstrickten.
4.1.3. Moral als symbolische Ordnung und soziales Imaginäres
Moral lässt sich – vergleichbar dem System der Sprache (1.3.1) – als eine symbolische
Ordnung begreifen, die auf Unterscheidungen und Regeln basiert. Als gesellschaftlicher
Diskurs orientiert sich Moral an dem binären Code moralisch/unmoralisch, wobei das
„Wesen“ der Moral unbestimmt bleiben muss und erst durch die Anwendung von moralischen
Programmen konkretisiert wird (1.3.2). Eine elaborierte Kodifizierung von Programmen und
Systemen der Moral findet man in diversen philosophischen Ethiken. Eine „Pflichtethik“, wie
sie von Immanuel Kant vertreten wurde, setzt auf moralische Konditionalprogramme,
während konsequentialistische Ethiken, wie die verschiedenen Spielarten des ethischen
Utilitarismus, moralische Finalprogramme für unabdingbar halten, da nur sie den
Konsequenzen des Handelns Rechnung tragen könnten. Eine philosophische Ethik stellt eine
Systematisierung des moralischen Alltagshandelns dar, dem selbst eine symbolische Ordnung
und die entsprechenden Programme zu Grunde liegen. Eine philosophische Ethik ist kein
idiosynkratrisches Hirngespinst, sondern eine Ausgeburt des moralischen Imaginären einer
Gesellschaft – ansonsten dürfte sie nicht auf eine breite Resonanz und Akzeptanz hoffen.
Populäre philosophische Ethiken können als Indikatoren für die moralische Ordnung einer
Gesellschaft herangezogen werden. Darüberhinaus lässt sich an kodifizierten philosophischen
Systemen die Logik moralischer Ordnungen besonders gut aufzeigen, weswegen im
Folgenden auf Simmels Diskussion der Moralphilosophien eingegangen werden soll.
Simmels zweibändig erschienene Einleitung in die Moralwissenschaft (1991/1892,
1991/1893) stellt eine metatheoretische Debatte über den Begriff der Moral dar. Sie beginnt
mit einer Kritik der ethischen Grundbegriffe und der monistischen Moralphilosophie und
endet schließlich mit der Forderung nach einer Moralwissenschaft, die sich dem Phänomen
der Moral in einer unvoreingenommenen Weise und auf einer empirischen Basis nähert.
Simmel zufolge sind die oberste Prinzipien und letzten Zwecke in den Systemen der
Moralphilosophie, beispielsweise Glückseligkeit, Freiheit oder eben Kants kategorischer
Imperativ, inhaltlich unterbestimmt. In anderen Worten: Es handelt sich bei ihnen um leere
Signifikanten, welche das moralische System als symbolische Ordnung konstituieren (1.3.2).
Simmel ist davon überzeugt, dass solche Begriffe keine tragfähige Basis für eine
212
„Moralphilosophie“ abgeben, die sich stattdessen der faktisch gelebten Moral zuwenden
sollte.220 Die Unzulänglichkeit monistischer Moralphilosophien lässt sich insbesondere an den
Dilemmata aufzeigen, die in faktischen Situationen oder auch in hypothetischen
Gedankenexperimenten – wie dem Ticking-Bomb-Szenario (4.1.5; 6.4.3) – auftreten können.
Eine dogmatische Anwendung des moralischen Systems scheitert entweder an internen
Widersprüchen oder aber an unseren moralischen Intuitionen.221
Die von Simmel konstatierte Kreuzung der sozialen Kreise (1992/1908: 456-511) zieht
nicht nur eine Individualisierung der Moral nach sich, sondern führt auch zu widerstreitenden
Pflichten innerhalb ein und desselben Individuums. Daraus resultiert die „Tragik“ der
modernen Moral, die notwendig pluralistisch verfasst ist und dem Individuum damit tragische
Entscheidungen aufnötigt. Simmel zufolge kommt es im Bereich der Moral immer häufiger zu
tragischen Entscheidungen, die prinzipiell unentscheidbar sind, da es keinen äußeren Maßstab
gibt, um Konflikte zwischen moralischen Pflichten oder Gütern aufzulösen:
In einer Reihe solcher Fälle trifft thatsächlich das sogenannte sittliche Gefühl mit grosser subjektiver
Sicherheit und scheinbarer Feinheit die Abwägung seiner Entscheidungen. Allein an dieser Thatsache
eben beginnt die Aufgabe der Moralwissenschaft, welche zwar nicht zu prüfen hat, ob solche
Entscheidungen absolut genommen richtig sind oder nicht, wohl aber zu erforschen, auf welche Momente
innerer unbewusster Abwägung sie erfolgen. (Simmel 1991/1893: 369f.)
Auch wenn Simmel hier von einer psychologischen Erklärung moralischer Entscheidungen
spricht, heißt dies nicht, dass sein Vorschlag keine soziologische Relevanz besitzt. Denken
wir uns die „Momente innerer unbewusster Abwägung“ im Sinne des kulturellen
Hintergrundes (1.2-3) als sozial vermittelt, so rückt eine soziologische Lösung moralischer
Dilemmata in greifbare Nähe. Simmels Kritik des sogenannten „ethischen Monismus“, das
heißt philosophischer Systeme, die ein System der Moral aus einigen wenigen Prinzipien
abzuleiten versuchen, fördert zu Tage, dass moralische Regelsysteme letztlich unvollständig
oder widersprüchlich bleiben müssen. Seine Forderung, die empirischen Grundlagen der
moralischen Urteilsbildung zu untersuchen, verweist auf die zweite Grundfrage der
Moralsoziologie bei Durkheim: Wie wenden Individuen moralische Regeln eigentlich an?
220
Damit folgt Simmel der Kritik, die bereits Hegel gegenüber der kantianischen Moralphilosophie geäußert hat.
An die Stelle des leeren Räsonierens über Moral tritt bei Hegel die konkrete, geschichtliche und
gesellschaftliche Konzeption der „Sittlichkeit“.
221
Man denke nur an Kants Schrift Über das vermeintliche Menschenrecht zu lügen (1968/1797), in der dieser
argumentiert, dass es besser wäre, einen Freund durch eine wahrheitsgemäße Aussage ans Messer zu liefern,
als ihn durch eine Lüge zu retten. Man stelle sich dieselbe Situation einmal im Dritten Reich vor: Ein
Deutscher hält eine jüdische Familie bei sich versteckt und wird von den Schergen des Regimes gefragt, ob
sich Personen bei ihm zuhause aufhielten. Nicht nur würden wir diese Person wegen einer Lüge nicht
moralisch verurteilen, er wäre für uns – gerade aufgrund der Lüge – ein moralischer Held.
213
In dieser Arbeit soll davon ausgegangen werden, dass moralische Entscheidungen nicht
alleine der individuellen Willkür oder psychologischen Mechanismen geschuldet sind,
sondern auf überindividuellen kulturellen Mustern beruhen, die – im Sinne eines
vorintentionalen Hintergrundes (1.2-3) – die Anwendung von moralischen Normen regeln.
Die Moralphilosophie geht bei Simmel in eine Moralwissenschaft über, deren Aufgabe darin
besteht, die allgemeinen Gesetze des moralischen Lebens zu bestimmen, was allerdings erst
dann möglich werde, „wenn den einzelnen historischen Thatsachen der inneren und äusseren
Sittlichkeit die speziellste und individualisierendste Untersuchung zu Theil geworden ist“
(1991/1893: 389).
Soziologie als eine Moralwissenschaft muss die kulturellen Muster und Prinzipien
identifizieren, die dem moralischen Urteil von Akteuren zu Grunde liegen. Dies kann durch
die Identifikation von moralischen Schlüsselmetaphern (Lakoff 2006; siehe 4.3.5), von
Vorbildern und Narrativen (2.1-2), aber auch durch die „Herausarbeitung der letzten,
innerlich ‚konsequenten‘ Wertaxiome“ (Weber 1988/1917: 510) geschehen. Entscheidend ist,
dass die empirische Quelle der Moral letztlich diffus und ambivalent bleibt. Keine moralische
Ordnung lässt sich auf ein einziges gehaltvolles Prinzip zurückführen, von dem sich alle
moralischen Normen und Werte ableiten ließen. Es spricht viel dafür, dass unser intuitives
Moralverständnis nach einer „fuzzy logic“ (vgl. Kron 2005) operiert, für deren Verständnis
das soziale Imaginäre, das sich in Metaphern, Bildern und Narrativen verkörpert,
entscheidend ist. Letztbegründungen und letzte Werte symbolisieren Bereiche, die von dem
moralischen Diskurs ausgeschlossen sind, aber trotzdem vorausgesetzt werden müssen.222
Aus der Perspektive einer Kultursoziologie der Moral, die an die Arbeiten von Durkheim,
Weber und Simmel anknüpft, wirkt das Bemühen vieler Philosophen, ihren normativen
Theorien einen universellen Anspruch zu verleihen, verfehlt. Die normativen Schlüsse einer
Moralphilosophie sind auf die kollektive Anerkennung durch eine Gemeinschaft angewiesen,
die wiederum auf dem Fundament eines kulturellen Hintergrundes ruht. Die Moralphilosophie
sollte vielmehr als Versuch verstanden werden, die Menschen über ihre eigenen moralischen
Intuitionen aufzuklären. Sie erschöpft sich darin, diesen moralischen Intuitionen eine
systematische Gestalt zu geben. Das Scheitern des ethischen Monismus hat aber auch
Konsequenzen für die Soziologie der Moral. Aus ihr folgt, dass Moral nicht einfach als
222
Letztendlich handelt es sich auch bei Habermas’ Idee des „herrschaftsfreien Diskurs“ um etwas, das aus dem
Diskurs ausgeschlossen werden muss. Die Herrschaftsfreiheit eines Diskurses kann schließlich nur innerhalb
eines Diskurses festgestellt werden. Diese Selbstbezüglichkeit führt zu einem Widerspruch, der latent bleiben
muss. Herrschaftsfreiheit muss einfach vorausgesetzt werden.
214
Regelsystem aufgefasst werden kann, das über einen binären Code gesteuert wird. Die
moralische Ordnung ist vielmehr durch ein hohes Maß an Offenheit und Unbestimmtheit
gekennzeichnet, das moralischen Wandel ermöglicht.
4.1.4. Die moralische Ordnung liberaler Gesellschaften
Ein System der Moral, das moralische Prinzipien und moralische Normen in einen mehr oder
weniger kohärenten Zusammenhang bringt, kann als eine symbolische Ordnung aufgefasst
werden (vgl. 1.3.2). Daraus folgt, dass anerkannte moralische Prinzipien wie die Würde und
Autonomie des Einzelnen, aber auch die daraus resultierenden Normen, letztlich
unterbestimmt bleiben müssen. Sie bedürfen der Vervollständigung durch ein soziales
Imaginäres, das den leeren Signifikanten der Moral mit Bedeutung füllt und so die
Anwendung moralischer Normen ermöglicht. Das soziale Imaginäre der Moral in modernen
westlichen Gesellschaften zeichnet sich nach Charles Taylor (2002; 2009: 275-295) durch
drei Kernelemente aus: Die Vorstellung des Individuums als einem freien und autonomen
Akteur; des Weiteren die Vorstellung einer aus Individuen bestehen Gesellschaft, die auf den
Vorteilen wechselseitiger Kooperation beruht; schließlich aber die Vorstellung einer
politischen Ordnung, die dem Wohl der Individuen zu dienen hat und auf eine moralische
Legitimation angewiesen ist.
Die Autonomie des Individuums ist von zentraler Bedeutung für das Phänomen der Moral.
Einerseits ist die Autonomie des handelnden Subjekts die Voraussetzung jeglichen
moralischen Handelns, andererseits stellt das autonome Individuum das eigentliche Objekt
des moralischen Handelns dar. Die Autonomie des Individuums lässt sich damit in zwei
Aspekte untergliedern: die individuelle Freiheit einerseits und die Würde des Menschen
andererseits. Würde und Freiheit lassen sich, wie Luhmann (1986/1965: 53-83) gezeigt hat,
als die inneren und äußeren Bedingungen einer gelungenen Selbstdarstellung begreifen
(3.2.2). Im Folgenden soll die These vertreten werden, dass Freiheit und Würde darüberhinaus
zugleich als die fundamentalen Prinzipien der modernen Moral verstanden werden können. So
können nur freie Individuen moralisch fehlgehen. Individuelle Freiheit ist damit als eine
Bedingung der Möglichkeit moralischen Handelns zu begreifen.223 Darüberhinaus kann sich
ein Handelnder nur gegenüber einem freien Wesen, dem eine Würde zukommt, das also im
Sinne Kants immer auch als Selbstzweck behandelt werden muss, moralisch schuldig machen.
223
Sie ist zugleich Bedingung der Möglichkeit des liberalen Verfassungsstaats, ja vielleicht sogar der
funktionalen Differenzierung überhaupt (so zumindest Luhmann 1986/1965).
215
Das menschliche Individuum ist nicht nur der moralisch Handelnde, sondern zugleich auch
das „heilige“ Objekt der Moral. Die These von der Sakralisierung des Individuums in der
modernen Gesellschaft findet sich schon bei Durkheim, der dem „Kult des Individuums“
zunächst skeptisch gegenübergestanden hatte (2004/1893: 218-228), diesen aber schon fünf
Jahre später als das einzige Glaubenssystem, das die moderne Gesellschaft integrieren könne,
rehabilitierte (1986/1898). Hans Joas (2011) hat diesen Gedanken kürzlich noch einmal in
seiner Sakralität der Person aufgegriffen und ausgearbeitet.224 Die Freiheit und die Würde des
Einzelnen werden durch die moralische und rechtliche Ordnung geschützt – gegenüber den
anderen Mitgliedern der Gesellschaft, aber auch gegenüber politischen Zugriffen. Die Freiheit
des Einzelnen findet ihre moralischen Schranken in der Würde und der Freiheit von anderen
Individuen, aber auch in der eigenen Würde (wenn beispielsweise die Selbsttötung als ein
Missbrauch der eigenen Freiheit als „Selbstmord“ moralisch und rechtlich verurteilt wird).
Ein wesentlicher Aspekt der Autonomie und Sakralität des Individuums, seiner Freiheit
und Würde, stellt die „Unversehrtheit des Körpers“ dar (hierzu Walt & Menke 2007). Im
Übergang von der vormodernen zur modernen moralischen und rechtlichen Ordnung lässt
sich ein Wandel vom Schutz der Ehre hin zum Recht auf körperliche Unversehrtheit
konstatieren (Kalupner 2006; vgl. 3.2.1). Verletzungen des Körpers sind heutzutage nur
zulässig, wenn sie auf Freiwilligkeit beruhen, was unter anderem bei Operationen oder beim
Tätowieren der Fall ist. Die Anwendung von Gewalt ist als legitimes Mittel oft
ausgeschlossen und bedarf besonderer moralischer Rechtfertigung. Die Ächtung der
Körperstrafen und der Folter ist eine Konsequenz dieser Stellung des Körpers im moralischen
Imaginären der Gesellschaft. Ein anderer Aspekt der leiblichen Unversehrtheit, der
schwieriger zu fassen ist, betrifft das „seelische Wohlbefinden“ des Einzelnen. Grausamkeit,
die die Subjektivität ihres Opfers beschädigt, gilt – zumindest unter Liberalen – als summum
malum, als nicht weiter begründungsbedürftiges Übel.225 Grausame Gewaltakte (3.1.5),
Demütigungen (3.2.4; 3.3.3) und „Psychoterror“ können eine moralische Ächtung nach sich
224
In dieser Arbeit wird der Begriff des „Individuums“ vorgezogen, da er die Körperlichkeit des einzelnen
Menschen besser zum Ausdruck bringt als der Rechtsbegriff der „Person“. Joas weist zurecht auf die
religiöse Genealogie der Sakralisierung der Person hin, allerdings trägt er der Tatsache, dass die
Menschenrechte in den letzten Jahrhunderten gegen den Widerstand religiöser Gruppen – insbesondere aber
der katholischen Kirche – durchgesetzt werden mussten, zu wenig Rechnung.
225
Bei Avishai Margalit heißt es, dass Grausamkeit immer unmoralisch sei (1997: 113), während Richard Rorty
den von ihm propagierten Liberalismus als eine konsequente Ablehnung von Grausamkeit definiert (1989:
14).
216
ziehen und manchmal auch eine rechtliche Verurteilung zur Folge haben.226 Die körperliche
und psychische Integrität sind wesentliche Aspekte der Freiheit und Würde des Einzelnen.
Eng damit verbunden ist das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Identität, das in Abu
Ghraib mit Füßen getreten wurde (7.3).
Die Sakralisierung des Individuums ist das Produkt eines historischen Imaginären, das
wiederum mit der Vorstellung zusammenhängt, dass die Gesellschaft aus Individuen besteht –
und nicht etwa aus Familien, wie Hegel es noch annahm (2000/1821: § 158-181).227 Dieser
Wandel von der „heiligen Familie“ (Koschorke 2000) zur „Sakralität des Individuums“ ist
allerdings noch lange nicht abgeschlossen.228 Eine Gesellschaft autonomer Individuen ist auf
deren wechselseitige Anerkennung angewiesen. Einerseits lässt sich die Anerkennung von
Anderen als eine basale Voraussetzung für Sozialität überhaupt begreifen,229 andererseits lässt
sie sich auch als voraussetzungsvolles moralisches Prinzip verstehen, das erst in der Moderne
zur Entfaltung kommt. Axel Honneth (1992) unterscheidet zwischen drei Dimensionen der
Anerkennung: Liebe, Recht und Solidarität. Während Liebe auf den Bereich der
Intimbeziehungen beschränkt bleibt, sind rechtliche Anerkennung und die gesellschaftliche
Solidarität das Produkt sozialer Kämpfe. Der moralische Wandel der letzten Jahrzehnte zeigt
eine Ausweitung und Vertiefung der sozialen Anerkennung, insbesondere eine fortschreitende
rechtliche Inklusion und eine steigendende wohlfahrtstaatliche Solidarität. Eine weitere
226
In den Vereinigten Staaten kann die Demütigung von anderen Personen, beispielsweise aus einer
rassistischen Motivation heraus, als „hate crime“ verfolgt werden. In Deutschland ist das sogenannte
„Stalking“, das wiederholte Belästigen einer Person, strafbar. Aber auch die bloße Androhung von Folter im
Fall Daschner wurde strafrechtlich verfolgt, obwohl dem Entführer Gaefgen dabei kein Haar gekrümmt
wurde (10.4.3).
227
Dass die moderne Gesellschaft aus autonomen und freien Individuen bestehen soll – und nicht etwa aus
Herren und Knechten, manipulierbaren Konsumenten oder gar autopoetischen Kommunikationssystemen –
ist alles andere als selbstverständlich. Auch wenn die vorliegende Arbeit an bewusstseinstheoretische
Akteursmodelle anknüpft und sich damit nicht allzu weit vom Commonsense entfernt, folgt draus nicht, dass
Sozialtheorien immer die Nähe des sozialen Imaginären suchen sollten. Nicht jeder methodologische
Individualismus, der in den Sozialwissenschaften zur Maxime erhoben wurde, liefert eine treffende
wissenschaftliche Beschreibung moderner Gesellschaften. Allerdings ist es ein empirischer Fakt, dass man
sich Gesellschaft heute in erster Linie als eine Gesellschaft der Individuen vorstellt.
228
Dies lässt sich an jüngeren Innovationen im deutschen Recht aufzeigen, wie beispielsweise der Reform des
Scheidungsrechts, der Strafbarkeit von Vergewaltigungen in der Ehe (seit 1997) und dem Verbot der
körperlichen Züchtigung von Kindern (seit 2000). Der rechtliche Schutz des Individuums erstreckt sich bis in
den Intimbereich der Familie hinein – auch gegen den erklärten Willen ihrer Mitglieder.
229
Im Anschluss an Hegel hat George Herbert Mead (1970) das „taking the role of the other“, die wechselseitige
Rollenübernahme, als grundlegendsten Aspekt des menschlichen Sozialverhaltens herausgearbeitet. Thomas
Luckmann verortet den „universal menschlichen Ursprung der Moral“ in der „Reziprozität der Perspektiven“
(2007: 258), die ebenfalls eine Anerkennung des Anderen darstellt.
217
Dimension der Anerkennung, die bei Honneth keine Berücksichtigung findet, aber von
Charles Taylor diskutiert wurde (1993), ist die Anerkennung von Individuen als soziale
Gruppe, die für sich kulturelle Rechte in Anspruch nimmt.
Natürlich hat die Freiheit des Individuums seine Schranken: Diese liegen zunächst einmal
in der Freiheit der Anderen, die es zu respektieren gilt. Wie ist die individuelle Freiheit mit
der Freiheit der Anderen zu vereinbaren? Die Beantwortung dieser Frage ist von
fundamentaler
Bedeutung
für
das
Zusammenleben
von
Mitgliedern
in
liberalen
Gesellschaften. Allerdings gibt es mehr als eine mögliche Lösung dieses Problems. Das
moralische Fundament liberaler Gesellschaften erweist sich damit als unterbestimmt und
ambivalent. Die moralische Ordnung einer liberalen Gesellschaft lässt sich nicht aus
universellen Prinzipien ableiten, sondern beruht auf historisch-kontingenter Imagination und
Setzung. Im vierten Artikel der französischen Menschenrechtserklärung heißt es:
Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet: die Ausübung der
natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat mithin nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der
Gesellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz
festgelegt werden. (zitiert nach Gauchet 1991)
Die rechtliche und politische Ordnung, die hier das Zusammenleben der Menschen regeln
soll, beruht auf einer moralischen Ordnung, die in ein spezifisch modernes Imaginäres
eingebettet ist. Im vorliegenden Fall wird Freiheit in erster Linie als „negative“ und
„individuelle“ Freiheit bestimmt. Das heißt, dem Einzelnen wird nicht vorgeschrieben, wie er
seine Freiheit zu nutzen hat. Diese liberale Freiheitskonzeption findet in Rawls Theorie der
Gerechtigkeit einen zeitgemäßen Ausdruck, und zwar bereits in ihrem ersten Grundsatz:
„Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten
haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist“ (2003: 81). Diese
„negative Freiheit“ findet vor allem im Recht einer liberalen Gesellschaft ihren Ausdruck –
allerdings handelt es sich hier um ein „halbiertes“ Verständnis von Freiheit, das entschieden
zu kurz greift, wenn wir das moralische Imaginäre einer Gesellschaft verstehen wollen (vgl.
Taylor 2006: 118-144). So lässt sich beispielsweise die moralische (und rechtliche)
Verurteilung privaten Drogenkonsums nur schwer mit einem negativen Freiheitsbegriff
rechtfertigen. Die moralische Ordnung einer Gesellschaft schreibt dem Einzelnen in
bestimmten Fällen vor, wie er seine Freiheit zu nutzen hat. Diese „positive Freiheit“ wird
zwar seltener zum Gegenstand rechtlichen Sanktionen,230 aber moralische Achtung wird
230
Neben dem bereits angeführten Drogenkonsum, der nach wie vor strafbar ist, finden sich auch positive
Sanktionen für eine moralische Lebensführung, wie sie unter anderem im deutschen Steuerecht vorgesehen
sind, z.B. die steuerliche Absetzbarkeit von Spenden und steuerliche Vergünstigungen für Ehepartner.
218
trotzdem nur demjenigen entgegengebracht, der seine Freiheit auch „richtig“ zu nutzen
versteht. Den Einwänden der sogenannten „Kommunitaristen“ gegen die liberalen Theoretiker
ist aus einer empirisch-soziologischen Perspektive stattzugeben. Gruppen und Gesellschaften
haben ihre Vorstellungen vom „guten Leben“, die das Handeln der Akteure beeinflussen.
Wenn es ein allgemeines Prinzip der positiven Freiheit gibt, dann die von Taylor (2009: 286291) herausgearbeitete moderne Weisung, die eigene Freiheit zum Nutzen aller einzusetzen.
Die Idee, dass sich die Politik gegenüber einer höheren Instanz zu rechtfertigen habe, hat
ihren Ursprung in der sogenannte „Achsenzeit“ (vgl. Eisenstadt 2005), in der jüdische
Propheten und griechische Philosophen die jeweiligen politischen Machthaber erstmals unter
Berufung auf transzendente Prinzipien kritisierten. Allerdings ist erst mit dem Beginn der
Neuzeit der Versuch gemacht worden, Politik auf den moralischen Individualismus zu
gründen. Dies war die Stunde des Gesellschaftsvertrags, den Hobbes (1999/1651) aus der
„Natur“ des Einzelnen, aus seiner Furcht und seinem Bedürfnis nach körperlicher
Unversehrtheit, abzuleiten versuchte. Diese Idee einer Begründung des Politischen durch die
Individuen war wegweisend für die politische Ideengeschichte – wenngleich der
hobbesianische Staat, der autoritäre Leviathan, sich nach seiner Gründung nicht mehr
gegenüber den ihn konstituierenden Individuen zu rechtfertigen hatte. Aber auch die liberale
Idee, dass die Freiheit des Einzelnen geschützt werden müsse, impliziert eine politische
Instanz, die die Rechte des Einzelnen schützt – unter anderem auch vor dem Staat selbst.
Diese
Idee
findet
ihren
Ausdruck
im
zweiten
Artikel
der
französischen
Menschenrechtserklärung von 1789, in dem es heißt: „Der Endzweck jeder politischen
Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unvergänglichen Menschenrechte“
(Gauchet 1991: 10). Der Staat wird damit zu einer öffentlichen Angelegenheit (4.2.3), deren
vornehmliche Aufgabe im Schutz der Rechte des privaten Individuums liegt. Diese
moralische und rechtliche Selbstbeschränkung der Politik, wie sie in der französischen
Menschenrechtserklärung oder in der amerikanischen Bill of Rights zum Ausdruck kommt,
gewinnt nach dem Ende der totalitären Politikprojekte des 20. Jahrhunderts, die auf eine
Sakralisierung von Nation, Volk und Rasse auf Kosten der Individuen setzten, zunehmend an
Bedeutung. Moderne Politik setzt sich in den unveräußerlichen Rechten des Individuums eine
Schranke und in dem gesellschaftlichen Projekt des „guten Zusammenlebens“ ein Ziel. Nicht
nur liberale Demokratien verpflichten sich auf die Sakralität des Individuums und die
Förderung gesellschaftlicher Solidarität, sondern zunehmend auch autokratische Regime, die
sich gegenüber ihren Bürgern vor den Augen einer kritischen Weltöffentlichkeit rechtfertigen
219
müssen. Allerdings brechen auch in der modernen Politik immer wieder moralische und
rechtliche Dilemmata hervor, beispielsweise zwischen der Sicherheit der Bürger auf der einen
Seite und der Freiheit und Würde von Individuen auf der anderen Seite. Ereignisse wie der 11.
September 2001 und der Abu-Ghraib-Skandal können die moralischen Koordinaten einer
Gesellschaft verschieben.
4.1.5. Moralische Dilemmata – Die Unbestimmtheit moralischer Ordnungen
Selbst wenn man von den Konflikten zwischen unterschiedlichen moralischen Ordnungen
einmal absieht, zeichnet sich die einzelne moralische Ordnung durch Ambivalenz aus. Die
moralischen Prinzipien und Normen, die eine moralische Ordnung konstituieren, teilen das
Schicksal aller symbolischen Ordnungen, die für sich genommen unterdeterminiert und auf
ein komplementäres soziales Imaginäres angewiesen sind (1.3.2-3). Die Unvollständigkeit
und Widersprüchlichkeit moralischer Ordnungen wird überdeutlich, wenn wir uns moralische
Dilemmata und sogenannte „tragic choices“ anschauen. Überall wo es Moral gibt, kann es zu
Konflikten zwischen moralischen Prinzipen kommen. Die moralische Ordnung der modernen
Gesellschaft bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen der Sakralität des Einzelnen und
der Verantwortung für die Mitmenschen und das gesellschaftliche Ganze. Zwischen den
Grundpfeilern der Individualität und Sozialität, wie sie sich beispielhaft im Naturrecht und der
Theorie des sozialen Vertrags zeigen, spannt sich die moderne moralische Ordnung auf. Wie
lässt sich die Freiheit des Einzelnen mit der Freiheit der Anderen vereinbaren? Gerade auch
im Bereich der Menschenrechte, dem kodifizierten sakralen Kern der modernen moralischen
Ordnung, wurde von Kritikern moniert, dass Menschenrechte nicht mit Menschenpflichten
einhergingen (Galtung 1994). Dann aber stellt sich die Frage, welche Konsequenzen denn die
Nichterfüllung von Menschenpflichten haben soll? Die Aberkennung von Menschenrechten?
Hier tritt die Sakralität der Person in einen Konflikt mit der Reziprozität der Rechte und
Pflichten. Die Idee der Menschenwürde impliziert, dass jeder Mensch, unabhängig von
seinem Verhalten, eine gewisse Achtung verdient (3.2),. Wo die Grenze zwischen notwendig
zugeschriebener Würde und kontingent erworbener moralischer Achtung verlaufen soll, ist
allerdings eine empirisch-historische Frage.
Ein unvermeidbarer Bereich der Ambivalenz ist die Rechtfertigung von Gewalt (3.1.4-5),
sei es zur individuellen Notwehr, zur hoheitlichen Durchsetzung des Gewaltmonopols auf
dem staatlichen Territorium oder im Krieg gegen andere Staaten. Diese Fragen lassen sich im
Rekurs auf moralische Prinzipien und Normen nicht erschöpfend beantworten. Moralische
Urteile sind nur aus der Situation der Urteilenden heraus verständlich. Der gesellschaftliche
220
Umgang mit moralischen Dilemmata erfolgt im Rekurs auf Bilder, Narrative und
Performanzen. Die Bilder von Abu Ghraib haben uns die Behandlung von Gefangenen als
Akte der Entwürdigung erfahren lassen (7.1-3), ohne dass wir die genauen Regeln und
Gründe dafür anzugeben wüssten. Es sind apokalyptische Kriegsnarrative (6.3-5), die
militärische Eingriffe rechtfertigen, auch wenn dabei die eigenen Soldaten und auch Zivilisten
zu Schaden kommen sollten. Es ist die glaubwürdige Performanz eines Einzelnen, die uns
dazu zwingen kann, moralische Urteile zu revidieren. Die moralische Ordnung der modernen
Gesellschaft ist auf Formen kultureller Repräsentation angewiesen (vgl. zweites Kapitel), die
sich zu einem gegebenen kulturellen Hintergrund konsonant oder auch dissonant verhalten
können.
Ein zentrales moralisches Dilemma der modernen Politik stellt das Verhältnis von Freiheit
und Sicherheit dar. Einerseits hat der Staat für die leibliche Unversehrtheit seiner Bürger zu
sorgen, andererseits muss er ihre Freiheit achten. Auch hier verschieben sich die Grenzen
zwischen dem legitim und dem illegitim Erachteten, wie beispielsweise der Patriot Act in den
Vereinigten Staaten nach dem 11. September gezeigt hat (6.4.2). Wie stark dürfen
Bürgerrechte zur Terrorismusabwehr eingeschränkt werden? In verschärfter Weise stellte sich
dieses grundlegende Problem im Umgang mit Nichtbürgern, deren Freiheit, Würde und
körperliche Unversehrtheit gegenüber dem Schutz der eigenen Bürger oft zurücktreten muss.
Paradigmatisch hierfür ist der Umgang der amerikanischen Behörden mit Gefangenen im
Krieg gegen den Terror, denen zunächst oft kein Zugang zu Anwälten und ordentlichen
Gerichtsverfahren gewährt wurde – ohne dass dies für die die Mehrheit der Amerikaner, aber
auch für die amerikanischen Gerichte, ein moralisches oder rechtliches Problem gewesen
wäre. Erst infolge des Abu-Ghraib-Skandals wurde der unvermeidbare Kompromiss zwischen
der Freiheit und Würde des Einzelnen und der öffentlichen Sicherheit neu justiert (9.2).
Das Gleiche gilt für das absolute Verbot der Folter, das durch seinen Status als
Menschenrecht nicht nur die höchste rechtliche Verbindlichkeit, sondern auch eine
unvergleichbare moralische Dignität besitzt (3.3.5). So gibt es Narrative wie das „TickingBomb-Szenario“ oder die „selbstverschuldeten Rettungsbefragung“, mit deren Hilfe sich
Folter als moralisch geboten und rechtlich vertretbar rahmen lässt. Für diese Arbeit ist vor
allem das Ticking-Bomb-Narrativ von großer Bedeutung, da es als Legitimationsmuster für
den Gebrauch verschärfter Verhörtechniken im Krieg gegen den Terror diente (6.4.2-3).
Niklas Luhmann hat das Szenario in denkbar knapper Form umrissen: „Die Terroristen haben
eine Atombombe, und es kommt darauf an, diese zu finden und unschädlich zu machen.
221
Würden Sie foltern?“ (2008/1993). Während sich Luhmann noch in erster Linie für die
paradoxe Form der „tragic choice“ interessiert hatte, berief sich der Jurist Winfried Brugger –
noch vor dem 11. September 2001 – auf Luhmanns Argumentation, um eine rechtliche
Ausnahme für das Folterverbot einzufordern (vgl. Grimm et al. 2002). Diese Position ist
allerdings nur eine Möglichkeit, mit der Ambivalenz des Folterverbotes umzugehen und
damit Luhmanns Paradoxie der Form zur Entfaltung zu bringen. Ähnlich verhält es sich mit
der „selbstverschuldeten Rettungsbefragung“ (Trapp 2006), für die in Deutschland der Fall
Daschner exemplarisch ist. Nach diesem Modell ist Folter nur dann zulässig, wenn der
Betroffene durch die Beweislast seinen moralischen Vorschuss verspielt hat. Wenn sich etwa
ein Entführer weigerte, mit der Polizei zu kooperieren und so das Leben des Entführten zu
retten, verwirkt er damit das Menschenrecht, nicht gefoltert zu werden.
Jeder Versuch, Folter zu legitimieren, stellt eine Relativierung der Menschenwürde dar, die
meist zum Schutz der leiblichen Unversehrtheit von unschuldigen Opfern erfolgt. Eine solche
Relativierung der Menschenwürde sollte nicht überdramatisiert werden, da es sich bei jeder
Konzeption der Menschenwürde um einen historischen Kompromiss handelt, der auf dem
jeweiligen aktuellen sozialen Imaginären beruht. Eine Aufweichung des Folterverbotes und
die entsprechende Relativierung der Menschenwürde lässt sich – um eine erhellende
Metapher von Richard Münch aufzugreifen (1995: 225) – als eine Senkung des „moralischen
Grundeinkommens“ beschreiben. Dies bedeutet allerdings auch, dass die Geschichte der
Menschenwürde und der Menschenrechte noch nicht an ihr Ende gekommen ist, da sich das
moralische Grundeinkommen der Menschheit durchaus noch steigern lässt. Auf die
inhaltliche Ausweitung der Implikationen der Menschenwürde und der Menschenrechte setzt
beispielsweise das sogenannte „Generationenmodell der Menschenrechte“.231
Wir halten fest: Jedes moralische System und jedwede moralische Ordnung kann nicht
zugleich vollständig und widerspruchsfrei sei. Moral ist immer von Ambivalenzen
gekennzeichnet. Das moralische Imaginäre komplettiert die moralische Ordnung, indem sie
Lücken ausfüllt und Widersprüche verdeckt. Die amerikanischen Sklavenhalter haben noch
keinen Widerspruch zwischen der Praxis des Sklavenhaltens und der Bill of Rights gesehen.
Das soziale Imaginäre der Moral ist historischen Wandlungen unterworfen, die alte Rechte in
231
Es ist nicht undenkbar, dass in einer nicht allzu fernen Zukunft der Zugang zum Internet als Menschenrecht
gelten wird. Ein Schritt in die entgegengesetzte Richtung stellt allerdings der „Stop Online Piracy Act“
(SOPA) dar, demzufolge Straftätern, die gegen das Urheberrecht verstoßen haben, der Internetanschluss
entzogen werden soll. Dies würde allerdings eine Exklusion aus dem wichtigsten Kommunikationsnetz der
Welt bedeuten. Andere Lösungen wären denkbar, wie z.B. Upload- oder Zugangsbeschränkungen bei
Straftätern.
222
einem neuen Licht erscheinen lassen. Auch die immer nur vorläufige Lösung moralischer
Dilemmata verdankt sich einem kulturellen Hintergrund, der historischen Wandlungen
unterliegt. Die Frage, ob denn die Verhängung der Todesstrafe unmoralisch sei, lässt sich
nicht auf Grundlage der Würde des Menschen entscheiden, sondern hängt davon ab, wie diese
Würde interpretiert wird (vgl. 4.3.5). So beruht auch der zunehmende Widerstand gegen
bestimmte Formen der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten eher auf Bildern und
Narrativen als auf Prinzipien (Smith 2008b: 142-168). Für die Moderne lässt sich eine
zunehmende moralische Inklusion von Individuen und eine Ausweitung moralischer
Ansprüche konstatieren. Allerdings ist dies kein irreversibler Prozess, wie nicht zuletzt der
Krieg gegen den Terror gezeigt hat. Außerordentliche Ereignisse wie der 11. September 2001
und der Abu-Ghraib-Skandal können zu Verwerfungen in der moralischen Landschaft
moderner Gesellschaft führen, die sich wiederum im individuellen und politischen Handeln
niederschlagen.
4.2. Öffentlichkeit
Im Staat ist alles Schauhandlung, das Leben des Volks ist
Schauspiel; mithin muss auch der Geist des Volks sichtbar sein.
Novalis, Blütenstaub, 76. Aphorismus
Zunächst gilt es, den Begriff der „Öffentlichkeit“ zu klären, bevor dann die
zivilgesellschaftlichen Diskurse und die öffentliche Meinung genauer in den Blick genommen
werden sollen (4.3).232 Das Prädikat „öffentlich“ besitzt zwei Grundbedeutungen, die beide
einer Präzisierung bedürfen. Zum einen wird Öffentlichkeit nach dem Modell der agora in
griechischen Stadtstaaten gedacht, einem Marktplatz und Versammlungsort, auf dem freie
Bürger ihre Meinung äußern und sich austauschen konnten.233 Das andere Modell orientiert
232
Die folgende Typologie geht einerseits auf Bernhard Peters (2007/1994: 55-59) Unterscheidung zwischen
Öffentlichkeit als sozialer Handlungssphäre, als institutionalisierter Handlungssphäre und als
„Öffentlichkeit“ im emphatischen Sinn, andererseits aber auch auf Jeffrey C. Alexanders (2006a: 69-192)
Unterscheidung zwischen „kommunikativen“ und „regulativen Institutionen“ der zivilen Sphäre, zurück.
233
Hier lassen sich zwei Aspekte unterscheiden, die in den komplementären Arbeiten von Jürgen Habermas und
von Michail Bachtin zum Ausdruck kommen. Bachtins Modell der Öffentlichkeit arbeitet mit der Metapher
des „Marktplatzes“, auf dem ein karnevaleskes Treiben und ein Wirrwarr unterschiedlicher Stimmen
223
sich am römischen Begriff der res publica, der mit „Gemeinwesen“ oder „Staat“
wiedergegeben werden kann. Im ersten Fall ist die Öffentlichkeit des Handelns und der
Kommunikation entscheidend, im zweiten das öffentliche bzw. kollektive Interesse an einer
Sache. Der agora entspricht am ehesten das Modell der „Versammlungsöffentlichkeit“
(4.2.1), das einen offenen Dialog unter den versammelten Anwesenden ermöglicht. Weitaus
wichtiger für moderne Gesellschaften ist allerdings die monologische Kommunikation, wie
sie für die Massenmedien charakteristisch ist (4.2.2). Dem Modell der res publica entspricht
in erster Linie der Staat als öffentliche Angelegenheit und kollektiv legitimierter
Handlungssphäre (4.2.3). Die politische Öffentlichkeit als zivilgesellschaftlicher Diskurs, der
die Massenmedien als Kommunikationskanäle nutzt, um kollektive Legitimation zu verleihen
oder zu entziehen, führt als öffentliche Diskussion über eine öffentliche Sache die beiden
Grundbedeutungen von Öffentlichkeit zusammen (4.2.4.). In einem letzten Schritt wird dann
auf die Rolle der „Vorstellung“ für moderne Öffentlichkeiten eingegangen: Öffentlichkeit ist
nur als Imagination, Repräsentation und Inszenierung denkbar (4.2.5).
4.2.1. Öffentlicher Raum und Versammlungsöffentlichkeit
Wenn Goffman (2000, 2009) von „Interaktionen im öffentlichen Raum“ spricht, so meint er
damit soziales Handeln (im Weberschen Sinne) in frei zugänglichen Räumen zwischen
einander meist unbekannten Akteuren. Der Gegenbegriff zur „Öffentlichkeit“ stellt hier die
„Privatsphäre“ dar, die einen Raum bezeichnet, der Zugangsbeschränkungen unterliegt, z.B.
die „eigenen vier Wände“ oder das „Privatgrundstück“. Die Differenz öffentlich/privat findet
in der Unterscheidung zwischen anonymen und intimen Sozialbeziehungen ihre
Entsprechung. Zwar kann ein intimer Umgang in aller Öffentlichkeit gepflegt werden, wie
sich auch in anonymen Settings mit „Wildfremden“ intime Gespräche führen lassen – aber
dies ist nur innerhalb gewisser Grenzen zulässig, die kulturell variieren.234 Natürlich handelt
es sich bei der scharfen Unterscheidung zwischen „privat“ und „öffentlich“ um eine
idealtypische Entgegensetzung, bei der es viele Schattierungen und Abstufungen gibt, von der
exklusiven Privatheit der Intimkommunikation, der Interaktion mit Freunden und Familie
herrschten. Bei Habermas geht es gesitteter zu, da in seinen Diskussionszirkeln die „Stimme der Vernunft“
herrscht.
234
So ist es etwa in Indien verpönt, wenn sich Paare in der Öffentlichkeit anfassen oder küssen, während in
Deutschland erst die öffentliche Ausführung sexueller Handlungen als unsittlich gilt und als „Erregung
öffentlichen Ärgernisses“ geahndet wird. Das gleiche gilt für Gespräche mit Fremden: Während es in den
Vereinigten Staaten als aufdringlich und unschicklich gilt, Unbekannte in eine Intimkommunikation zu
verwickeln, wird dies in Russland alltäglich praktiziert und toleriert.
224
über die berufliche oder anderweitige Einbindung in formale Organisationen bis hin zum
Handeln in der Masse, vor einem anonymen Publikum, vor Fernsehkameras oder im Internet.
„Öffentlich“ ist im Idealfall das, was vor jedermanns Augen geschieht. Die Unterscheidung
zwischen Privatem und Öffentlichem verweist letztlich auf eine moralische und rechtliche
Ordnung, in der die Privatsphäre des Einzelnen unter einem gewissen Schutz steht, während
andere Aktivitäten öffentlich gemacht werden müssen.
In der modernen Gesellschaft gewinnt allerdings eine nichträumliche Vorstellung von
„Privatsphäre“ zunehmend an Bedeutung. In der neueren Debatte über „informationelle
Selbstbestimmung“ wird deutlich, dass auch personenbezogene Informationen zu der
Privatsphäre des Einzelnen gezählt werden. Aber schon in der „Schweigepflicht“ von Ärzten,
Anwälten und anderen Professionen, für die ein Zugang zu privaten Informationen
erforderlich ist, kommt dieser Schutz der Privatsphäre zum Ausdruck. Die Weitergabe eines
bestimmten Wissens an Unbefugte wird hier untersagt. In diesem Sinne lässt sich ein
öffentlich zugängliches Wissen von der Exklusivität des Geheimnisses abgrenzen. Aber nicht
alle Geheimnisse fallen unter den Schutz der Privatsphäre.235 So geschehen moralische
Verfehlungen und Straftaten meist im Verborgenen und werden in der Regel von den
Beteiligten geheim gehalten. In der Enthüllung des Skandals wird eine solche Verfehlung
publik gemacht (5.3.2). Allerdings kommt der „Publizität“ einer Information oder eines
Wissens ein besonderer Stellenwert zu: „Publizität“ lässt sich nicht auf das Wissen der
beteiligten Akteure reduzieren, sondern muss als eine emergente Eigenschaft der
Kommunikation aufgefasst werden. Sie existiert nur in einem gemeinsam konstituierten,
öffentlichen Raum, sei es nun in Form einer Interaktion zwischen Anwesenden oder der
Öffentlichkeit der Massenmedien. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass es auch „offene
Geheimnisse“ gibt: Alle wissen über einen gewissen Sachverhalt Bescheid – und wissen auch,
dass alle anderen darüber Bescheid wissen. Dennoch macht es in vielen Fällen einen
Unterschied, ob das offene Geheimnis von allen Beteiligten gewahrt oder öffentlich
ausgesprochen wird.236 „Geteiltes Wissen“ ist eben noch kein „öffentliches Wissen“.
235
Auch hier gibt es Unterschiede im nationalen Recht. Die Schweiz hält am „Bankgeheimnis“ als einem Teil
der nationalen Identität und einem Wettbewerbsvorteil fest, während dies von den Vereinigten Staaten oder
von Deutschland als unzulässige Verdunklung möglicher Straftaten kritisiert wird.
236
Ari Adut zeigt dies eindrucksvoll am Beispiel des Oscar-Wilde-Skandals im viktorianischen England (2005).
Erst der Publizität des damals nur selten verfolgten Normverstoßes (homosexuelle Praktiken) erzwang über
die sozialen Mechanismen der Kontamination und Provokation die Skandalisierung und strafrechtliche
Verfolgung: „[M]any inconsistencies in norm enforcement cannot be understood unless we take into account
225
Der öffentliche, frei zugängliche Raum potenzieller Interaktionen muss unterschieden werden
von der Versammlungsöffentlichkeit als einer sozialen Gruppe, die sich über körperliche
Anwesenheit, relative Offenheit und wechselseitige Kommunikation definieren lässt. Die Idee
der öffentlichen Versammlung prägt bis heute unsere Vorstellung von politischer
Öffentlichkeit. Es ist kein Zufall, dass das Versammlungsrecht in Deutschland
Verfassungsrang besitzt. Auch Jürgen Habermas (1990) entwickelt seinen Begriff der
„bürgerlichen Öffentlichkeit“ in seinem Werk Strukturwandel der Öffentlichkeit anhand von
aufklärerischen Lesezirkeln und Diskussionsgruppen. Diesem Vorbild ist letztlich auch sein
normatives Verständnis von Öffentlichkeit geschuldet, das dem öffentlichen Raum der
Massenmedien nur schwerlich gerecht werden kann. Eine „Versammlungsöffentlichkeit“ –
das können sowohl Betroffene einer Baumaßnahme sein, die sich in einem Gemeindehaus
treffen, als auch ein wissenschaftliches Publikum, das sich zu einem Vortrag mit
anschließender
Diskussion
zusammenfindet.
Die
Tatsache,
dass
sich
Versammlungsöffentlichkeiten durch Anwesenheit auszeichnen, ermöglicht besondere
Formen der Erzeugung und Verbreitung von Informationen. Versammlungsöffentlichkeiten
stellen,
mit
Vilém
Flusser
gesprochen,
die
„‚ursprünglichsten‘,
gewissermaßen
‚tribalistische[n]‘ Kommunikationsformen“ dar (2003: 35). Sie sind nach außen geschlossen,
aber nach innen geöffnet. Eine Versammlungsöffentlichkeit ermöglicht es jedem
Anwesenden, mit dem jeweiligen Sprecher, aber auch mit dem restlichen Publikum, in einen
Dialog zu treten.
4.2.2. Öffentlichkeit als „metatopischer“ Raum – Die Massenmedien
Gesellschaftlich folgenreiche Kommunikation über Moral findet in der Öffentlichkeit der
Massenmedien statt. Ohne die soziale Bedeutung der moralischen Alltagskommunikation
schmälern zu wollen, hat sich, so die hier vertretene These, die soziologische Moralforschung
vorrangig mit der Analyse zivilgesellschaftlicher Diskurse und populärkultureller Formate in
den Massenmedien zu beschäftigen. Im Gegensatz zum „topischen“ Raum der
Versammlungsöffentlichkeit handelt es sich bei jenem öffentlichen Raum, den die
Massenmedien konstituieren, um einen „metatopischen“ Raum (Taylor 2009: 323 f.), der
streng genommen nur in der sozialen Imagination existiert (4.2.5). Metatopische Räume
funktionieren nach einer grundlegend anderen Logik als topische Räume, in denen sich
the externalities on third parties that may be unleashed when transgressions are publicized — as opposed to
when they are simply known“ (Adut 2005: 215).
226
Anwesende aneinander orientieren und miteinander interagieren können. Der „metatopische“
öffentliche Raum bedarf zwar – anders als die „topische“ Versammlungsöffentlichkeit – nicht
der körperlichen Anwesenheit von Individuen, schließt aber dafür die Möglichkeit eines
„echten“ Dialoges zwischen Sprecher und Publikum aus.
Dass den Massenmedien eine mangelnde Dialogfähigkeit konstatiert werden muss, liegt
nicht alleine daran, dass die Kommunikation unter Nichtanwesenden auf Medientechnologien
zurückgreifen muss, die sich zwischen den Sender und den Empfänger der Information
schieben.237 So gibt es durchaus interaktionsnahe und dialogfähige Medientechnologien,
beispielsweise das herkömmliche Telefon, der schnelle Austausch von Textnachrichten (Chat)
oder die Konferenzschaltungen in Echtzeit. Das Internet hat in den letzten Jahren die
gesellschaftliche Kommunikation revolutioniert und auch zur Entstehung neuer Formen von
öffentlicher Kommunikation geführt: So stellen die Foren und Blogs des World Wide Web
„virtuelle Versammlungsöffentlichkeiten“ dar, die allerdings ähnlichen Beschränkungen
unterliegen wie Versammlungen im Real Life. Die Anzahl der Teilnehmer, die sich produktiv
in einen Dialog einbringen können, bleibt notwendig gering, während die Gefahr des
„Diskursvandalismus“ in der Anonymität des Netzes sogar zunimmt. Entgegen der anfänglich
gehegten Hoffnung hinsichtlich des demokratischen Potenzials des Internets sind virtuelle
Versammlungsöffentlichkeiten an deutliche Grenzen gestoßen. Klassische Strukturen von
Massenmedien ließen sich hingegen gut auf das Internet übertragen, wie nicht zuletzt die
Internetpräsenz der führenden Zeitungen und Fernsehsender zeigt. Wenn das Internet unsere
Kommunikation revolutioniert hat, dann durch die virale Verbreitung von Information in
sozialen Netzwerken (und durch Twitter). Aber auch hier kann man von Dialogizität nur noch
in einem sehr eingeschränkten Sinn sprechen.
Luhmann (1996) zufolge kommunizieren Massenmedien mit einer großen Anzahl
unbestimmter und vereinzelter Adressaten, wobei zwischen Sender und Empfänger jedwede
Interaktion – und damit jede Möglichkeit eines Dialogs – ausgeschlossen ist. Die
Kommunikation der Massenmedien ist monologisch, da der Empfänger dem Sender nicht
antworten und somit auch keinen Dialog einleiten kann. Dies gilt für alle klassischen
Massenmedien – Presse, Rundfunk und Fernsehen –, die dem Empfänger eine reine
237
Dies fängt nicht erst mit dem Buchdruck oder gar dem Rundfunk an, sondern schon mit der Schrift. Platon
begründet in seinem – aller Wahrscheinlichkeit nach authentischen – siebten Brief die Überlegenheit der
gesprochenen Sprache gegenüber der Schrift damit, dass der geschriebene Text von sich aus nicht in einen
echten Dialog mit seinem Leser treten könne. Die interaktionelle Kontrolle der Kommunikation wird durch
das Medium der Schrift ausgeschaltet (hierzu auch Luhmann 1997: 258f.).
227
Publikumsrolle zuweisen.238 Darüberhinaus versammelt die Sendung auch kein größeres
Publikum, das zueinander in Kontakt treten könnte. Die Sendung selbst ist zwar öffentlich,
aber ihr Empfang findet meist in der Privatsphäre der Zuschauer statt. Die Zuschauer (oder
Zuhörer) der Massenmedien können sich nur in ihrem jeweiligen sozialen Umfeld über das
Gesehene (oder Gehörte) austauschen – oder die Kritiken in der Zeitung konsultieren. Nach
Luhmann führt diese „Unterbrechung des unmittelbaren Kontaktes“ zum einen zu höheren
Freiheitsgraden auf Seiten des Senders, zum anderen aber auch zu einer erhöhten
Unsicherheit, da die Massenmedien „auf Vermutungen über Zumutbarkeit und Akzeptanz
angewiesen“ bleiben (1996: 12). Medienunternehmen, die auf dem Markt der Massenmedien
miteinander konkurrieren müssen, sind darauf angewiesen, mithilfe von Einschaltquoten und
Zuschauerbefragungen ein Bild von der öffentlichen Meinung zu konstruieren.
Während in einer Versammlungsöffentlichkeit alle Anwesenden in einen Dialog
miteinander treten können und gegebenenfalls auch ein Konsens unter allen Beteiligten
erreicht werden kann, ist dies im Falle der Massenmedien schlichtweg unmöglich. Ein
gesellschaftsweiter Dialog oder gar Konsens lässt sich dort nicht erzielen, sondern nur
inszenieren (4.2.5). Eine moderne Gesellschaft kann sich, etwas salopp formuliert, weder zu
einem Lagerfeuergespräch einfinden, noch an einem runden Tisch oder in einem noch so
großen Stadion versammeln. Trotzdem bleiben modernen Gesellschaften auf Öffentlichkeit
und damit auf die Leistung der Massenmedien angewiesen.
4.2.3. Der Staat als kollektiv legitimierte Handlungssphäre – Politik, Recht, Militär
Der Begriff der „Öffentlichkeit“ lässt sich nicht nur auf die kommunikative Sphären der
Versammlungsöffentlichkeit und der Massenmedien anwenden, sondern kann auch – im
Sinne der Öffentlichkeit als institutionalisierte Handlungssphäre bei Peters (2007/1994) – die
kollektive Legitimation, die einzelne Institutionen für sich in Anspruch nehmen, bezeichnen.
Hier geht es um die res publica, das heißt um den Staat als einer Angelegenheit des
öffentlichen Interesses. Erst wenn die privaten Interessen eines Machthabers bzw.
Amtsinhabers
und
die
normative
Verpflichtung
gegenüber
dem
Gemeinwohl
auseinandertreten, macht es Sinn, vom Staat als einer kollektiv legitimierten Handlungssphäre
238
Interessanterweise besitzt die parlamentarische Demokratie eine ähnliche Struktur. Auch hier muss man eine
scharfe Trennung von Publikumsrollen und politisch agierenden Personen konstatieren. Die Letzteren
kommunizieren politische Entscheidungen, die Ersteren nehmen dies zur Kenntnis. Nur am Wahltag dreht
sich der Spieß um: Das Publikum wird zum Wähler, der über die Zusammensetzung des Parlaments und die
künftige Regierung entscheidet.
228
zu sprechen. Eine entscheidende historische Vorrausetzung hierfür war die Trennung des
öffentlichen Haushaltes (demos) von den privaten Finanzen (oikos) des jeweiligen
Machthabers. Wer ein öffentliches Amt bekleidet, ist dazu angehalten, in seiner Eigenschaft
als Amtsinhaber im öffentlichen Interesse und nicht als Privatperson zu handeln. Auch die
öffentlich-rechtlichen Medien fungieren nicht als private Medienkonzerne, sondern haben
ihrem öffentlichen Auftrag nachzukommen. Während der Begriff der „Legalität“ auf eine rein
rechtliche Konformität abzielt, verweist die jener der „Legitimität“ auf eine höhere Instanz,
nämlich auf die kollektive Intentionalität und moralische Ordnung der Gesellschaft (4.1.4).
Der Kluft zwischen Legalität und Legitimität entspricht das Gefälle zwischen dem Recht
einerseits und der Gerechtigkeit und der Moral andererseits.
Alexander (2006a: 107-209) spricht von den regulativen Institutionen der Politik und des
Rechts, die über ihren zivilen bzw. öffentlichen Charakter an die Zivilgesellschaft als Quelle
der kollektiven Legitimität zurückgebunden sind. Am offensichtlichsten ist der Bedarf an
kollektiver Legitimation in der Politik, in der kollektiv bindende Entscheidungen gefällt
werden. Diese Entscheidungen lassen sich nicht alleine im Rekurs auf das ordnungsgemäß
durchgeführte politische Verfahren rechtfertigen, sondern sind auch inhaltlich auf öffentliche
Anerkennung angewiesen. Demokratien steht der Mechanismus der Wahl zur Verfügung, mit
dessen Hilfe die öffentliche Meinung über die Vermittlung des Wählerwillens einer Politik
die kollektive Legitimation entziehen kann. Ein politisches Amt, dessen Inhaber den
kollektiven Wählerwillen zu vertreten hat, wird nur auf Zeit verliehen. Aber selbst innerhalb
einer Wahlperiode kann der öffentliche Druck, der über die Massenmedien und
Meinungsumfragen erzeugt wird, Politiker in die Knie oder sogar zum Rücktritt zwingen. Das
Recht wird ebenfalls im Namen des Volkes gesprochen, obgleich Richter und Staatsanwälte
in Deutschland nicht durch demokratische Wahlen besetzt werden. Die Rechtsprechung, die
ebenfalls kollektive Verbindlichkeit beansprucht, hat einerseits die zivilen Gebote der
Rechtsstaatlichkeit und der Unparteilichkeit einzuhalten, andererseits die öffentliche Meinung
und die herrschende Moral zu berücksichtigen. Richter, die „skandalöse Urteile“ fällen, laufen
Gefahr, selbst zum öffentlichen Ärgernis zu werden. Diese „Fehlentscheidungen“ können
dann wiederum von höheren Gerichten zurückgenommen werden.
Aber nicht nur die regulativen Institutionen einer Gesellschaft wie die Politik und das
Recht sind von kollektiver Legitimität abhängig, sondern auch deren „Erzwingung-Stab“ (vgl.
Weber 2002/1921-22: 17f.), das heißt von der Polizei, der Armee oder auch der staatlichen
Geheimdienste. Die Armee ist eine Institution, die einen öffentlichen Auftrag besitzt. Jeder
229
Soldat bekleidet ein öffentliches Amt und ist in der Ausübung dieses Amtes dem Staat und
der Zivilgesellschaft verpflichtet. Der Abu-Ghraib-Skandal hätte nicht dieselbe Bedeutung
gehabt, wenn es sich bei den Tätern nur um amerikanische Söldner, Geschäftsmänner oder gar
Touristen gehandelt hätte. Dies erklärt auch, warum militärische Fehlleistungen wie das
Bombardement von Tankern in Afghanistan durch deutsche Luftstreitkräfte oder
Missbrauchsfälle innerhalb der Armee das Zeug zum Skandal hatten. Soldaten werden –
stärker noch als ihre zivilen Mitbürger – als Repräsentanten ihrer Nation wahrgenommen –
obgleich natürlich die Bedeutung der Armee für das kollektive Selbstbild einer Gesellschaft
variiert.
Unter dem Gesichtspunkt der „kollektiven Legitimität“ lässt sich eine Gesellschaft in ein
Zentrum und in eine Peripherie unterteilen (Shils 1975). Im Zentrum der Gesellschaft sind die
staatlichen Institutionen, Ämter und „Persönlichkeiten“ angesiedelt, die die Gesellschaft als
Ganzes verkörpern – aber gerade deswegen in besonderen Maße auf kollektive Legitimität
und Anerkennung angewiesen sind. In der Peripherie der Gesellschaft sind hingegen private
Akteure mit ihren partikularen Interessen zu finden, beispielsweise der „normale Bürger“,
aber auch Wirtschaftsunternehmen. Während die politische Macht und der kulturelle Einfluss
vom Zentrum einer Gesellschaft nach außen wirken, verläuft die Legitimierung in modernen
Gesellschaften in umgekehrter Richtung: Die Peripherie legitimiert das Zentrum – oder
entzieht diesem die Legitimität. Moderne Revolutionen, aber auch Skandale richten sich
gegen das „unreine“, vermeintlich illegitime Zentrum einer Gesellschaft (Giesen 2004c: 85105). Die kommunikativen Institutionen der Massenmedien und politische Assoziationen
lassen sich einer Semi-Peripherie bzw. einer „zentrierten Peripherie“ (Habermas 1992: 430;
Peters 2007/1994) zuordnen, da sie ebenfalls in einem – wenngleich diffusen – öffentlichen
Auftrag handeln. Dennoch handelt es sich bei ihnen um die zentralen Vermittlungsinstanzen
kollektiver Legitimität – ohne die kein moderner Staat zu machen ist.
Selbst in liberalen Gesellschaften ist kein Teil der Gesellschaft von den Zumutungen der
kollektiven Legitimierung befreit, was unter anderem an der „mutual benefit”-Klausel des
imaginierten Gesellschaftsvertrags liegt (4.1.4). Auch soziale Ungleichheiten haben sich zu
legitimieren: Sie können durch individuelle Leistung, aber auch durch ihren öffentlichen
Nutzen
gerechtfertigt
werden.
Eine
elaborierte
Manifestation
dieses
Rechtfertigungsbedürfnisses findet man in John Rawls Theorie der Gerechtigkeit (2003), in
welcher dieser die Bedingungen herausgearbeitet hat, unter denen soziale Ungleichheiten in
liberalen Gesellschaften als gerechtfertigt gelten dürfen. Angesichts von gesellschaftlichen
230
Krisen oder Skandalen können auch die privaten Interesen von Unternehmen und Individuen
ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik geraten. So wurde etwa nach der Finanzkrise nicht nur
den Politikern die mangelnde Regulierung der Finanzmärkte angekreidet, sondern auch die
„Gier“
der
Investmentbanker
moralisch
verurteilt.
Die
anhaltende
Debatte
um
Managergehälter und Bonuszahlungen zeigt, dass die kollektive Legitimität nicht bei
Privatunternehmen halt macht. Hinter der Legitimität einer sozialen Ordnung steht letztlich
die öffentliche Macht der Moral.
4.2.4. Politische Öffentlichkeit als zivilgesellschaftlicher Diskurs
Politische Ämter und politisches Handeln im öffentlichen Interesse setzen nicht die Existenz
einer unabhängigen politischen Öffentlichkeit voraus. Friedrich der Große bezeichnete sich –
trotz der seinerzeit nicht vorhandenen politischen Öffentlichkeit – als „ersten Diener des
Staates“. Auch der als „preußischer Staatsphilosoph“ verrufene Hegel definierte den Staat – in
Abgrenzung zu den besonderen „Sphären des Privatrechts, der Familie und der bürgerlichen
Gesellschaft“ (2000/1821: 407, § 261) – als eine Sphäre der Allgemeinheit, die dem Wohl des
Kollektivs und der Kultur verpflichtet sei. Die bürgerliche Gesellschaft ist hier nur eine
Sphäre des wirtschaftlichen Verkehrs zwischen privaten Individuen – und kein Ort der
öffentlichen Meinungsäußerung. Hegel verwehrte sich des Gedankens, dass die öffentliche
Meinung für die Allgemeinheit sprechen könne, weswegen ihr auch keine legitimitätsstiftende
oder kritische Funktion zukomme (2000/1821: 482-480, § 314-320).
Der Begriff der „Zivilgesellschaft“, der in den letzten Jahren eine gewisse Konjunktur
erlebt (vgl. Alexander & Smith 1994; Münch 2002), zeichnet sich – wie bereits die
„bürgerliche Gesellschaft“ bei Hegel, deren Erbe sie antrat – durch eine Distanz zum Staat
aus. Zugleich tritt die Zivilgesellschaft aber auch in einen Gegensatz zum ökonomischen
Markt und den anderen gesellschaftlichen
Teilbereichen (vgl.
Offe 2000). Die
Zivilgesellschaft manifestiert sich in der politischen Öffentlichkeit, in Bürgerinitiativen und
anderen Assoziationen. Für Habermas (1992) ist die Öffentlichkeit – in einem emphatischen
Sinn – immer auch zivilgesellschaftlich organisiert und nicht den Vermarktungsinteressen von
Medienkonzernen unterworfen. In seinen Augen stellt sie eine Verlängerung der Lebenswelt
dar, die sich der funktionalen und strategischen Logik der übrigen Teilsysteme der
Gesellschaft widersetzt (Habermas 1997).
Während Politik und Staat kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen und durchsetzen,
kann die politische Öffentlichkeit diesen Entscheidungen entweder Legitimität verleihen oder
sie ihnen entziehen. Die öffentliche Thematisierung von sozialen oder politischen Problemen
231
stellt, im Gegensatz zum alltäglichen Geschäft der Politik und Verwaltung, einen
„außerordentlichen Problembearbeitungsmodus“ dar (Habermas 1992: 433). Die Kapazitäten
der
politischen
Öffentlichkeit,
insbesondere
der
knapp
bemessene
mediale
Aufmerksamkeitsraum, sind hierfür begrenzt. Peters (2007/1994) und Habermas (1992: 430)
beschreiben das Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit als ein Verhältnis von Zentrum und
Peripherie, wobei die Einwirkung der Peripherie auf das Zentrum kein Regelfall, sondern die
Ausnahme darstellt. Dieses Verhältnis von Zentrum und Peripherie mag zwar dem Gestus
kritischer Gesellschaftstheorien entgegenkommen, die sich selbst gerne in einer kritischen
Distanz zur politischen Macht verorten, aber es lässt sich genauso gut umkehren: Nicht nur
alle politische Macht geht vom Volke aus, sondern auch die rechtliche Verfassung wird auf
die verfassungsgebende Gewalt des Volkes zurückgeführt. Das Volk als innerweltliche
Transzendenz des Kollektivs findet aber in der politischen Öffentlichkeit seinen zeitgemäßen
Ausdruck (so auch Giesen 2005). Die Außerordentlichkeit der öffentlichen Einflussnahme auf
das politische Geschäft muss vielmehr als Beleg für die zentrale Stellung der Öffentlichkeit in
liberalen Demokratien gelesen werden.
Die politische Öffentlichkeit legitimiert die Politik, wie auch die öffentliche Moral das
Recht legitimiert. So gesehen ist die Öffentlichkeit als Quelle der kollektiven Legitimität das
heilige Zentrum der Gesellschaft. Sie ist – um einen Gedanken von Durkheim aufzugreifen –
die zentrale Manifestation des kollektiven Bewusstseins. Habermas zufolge fungiert die
politische Öffentlichkeit als „Resonanzboden“ für Probleme, „die vom politischen System
bearbeitet werden müssen, weil sie andernorts nicht gelöst werden“, genauer als eine Art
„Warnsystem mit unspezialisierten, aber gesellschaftsweit empfindlichen Sensoren“ (1992:
435). Somit spielt die Öffentlichkeit nicht nur für politische Fragen im engeren Sinne, sondern
auch für die Rahmung sozialer Probleme eine wichtige Rolle. Bernhard Giesen zufolge beruht
die Konstruktion sozialer Probleme auf einem medial vermittelten und öffentlich artikulierten
Interesse, auf einer sozialen Grenzziehung zur Bestimmung der gesellschaftlichen
Gemeinschaft und einer normativen Definition des Problems, die vor dem Hintergrund der
moralischen Ordnung der Gesellschaft stattfindet (1983: 236). Aus der erfolgreichen
Rahmung bestimmter Phänomene als „soziale Probleme“ im öffentlichen Diskurs, resultiert
nicht nur Handlungsbedarf für die Politik, sondern es entstehen auch Tätigkeitsfelder für
„moralische Unternehmer“.
Öffentlichkeit als zivilgesellschaftlicher Diskurs kann auf zwei Weisen thematisiert
werden. Zum einen kann von „Öffentlichkeit im emphatischen Sinn“ als einer normativen
232
Konzeption gesprochen werden (Peters 2007/1994: 59-68), zum anderen kann der
zivilgesellschaftliche Diskurs als empirisches Faktum untersucht werden (Alexander 2006a;
4.3.2; Alexander & Smith 1994). Der emphatische Begriff einer „deliberativen Öffentlichkeit“
erschöpft sich weder in der offenen Kommunikation noch in der kollektiven Legitimierung
politischer Entscheidungen, sondern setzt voraus, dass Legitimation durch eine rationale
Argumentation innerhalb eines herrschaftsfreien Diskurses hergestellt wird. Diesem
rationalistischen Verständnis zivilgesellschaftlicher Diskurse wurde in Deutschland durch die
normative Besetzung des Diskursbegriffs in der sogenannten „Diskursethik“ Vorschub
geleistet (Apel 1976; 1.1.5), während der empirische Diskursbegriff vor allem auf die
Arbeiten von Michel Foucault zurückgeht. Da sich der kritische Diskursbegriff am
dialogischen Modell der Versammlungsöffentlichkeit orientiert, stellt für Habermas die
„massenmedial vermachtete Öffentlichkeit“ (1992: 451) keine politische Öffentlichkeit im
emphatisch-normativen Sinn des Wortes dar. Nur eine kritisch-räsonierende Öffentlichkeit
kann die ihr zugedachte Funktion der demokratischen Willensbildung und der Kritik der
Herrschenden erfüllen. Die Unterschiedlichkeit der beiden Ansätze schlägt sich auch in einer
grundverschiedenen Konzeption der öffentlichen Meinung nieder, auf die noch später
einzugehen ist (4.3.1).
4.2.5. Öffentlichkeit als Vorstellung – Imagination, Repräsentation, Inszenierung
Öffentlichkeit kann in dreierlei Hinsicht als eine Vorstellung begriffen werden: Erstens als
sozial geteilte Imagination, die den Praktiken der Akteure eine spezifische Bedeutung
verleiht; zweitens als performative Repräsentation, durch die sich Einzelne, seien es
Journalisten, Politiker oder Intellektuelle, als Sprecher eines Kollektivs in Szene setzen;
drittens als Inszenierung eines gesellschaftlichen Dialogs, welche das Publikum mit auf die
Bühne holt. Alle drei Formen sind auf eine Imagination von Öffentlichkeit und Gemeinschaft
angewiesen, die das faktische Geschehen überbietet. Die einsame Tätigkeit des Zeitungslesers
oder Fernsehzuschauers muss gleichzeitig als Teilhabe an einem öffentlichen Diskurs
verstanden werden. Der Politiker und der Intellektuelle sprechen in der Öffentlichkeit nicht
alleine für sich, sondern treten als Sprachrohre einer sozialen Gemeinschaft auf, die selbst
wiederum nur in der Vorstellung zu existieren scheint. Leserbriefen in Zeitungen und
Bürgerbefragungen im Fernsehen wird in einer ähnlichen Weise eine Bedeutung
zugeschrieben, die über die faktische Meinungsäußerung des Einzelnen hinausgeht: Sie gelten
als Stimmen aus dem Volke, die die imaginierte Gemeinschaft repräsentieren.
Die „metatopische Öffentlichkeit“, die kein real existierender Ort ist, lässt sich nur vor
233
dem
Hintergrund
latent
bleibender
sozialer
Vorstellungschemata
und
kultureller
Deutungsmuster verständlich machen (vgl. Taylor 2009: 320-338). Die eigentümliche
Vorstellung eines öffentlichen Raumes, „in dem Menschen, die einander niemals begegnen,
nach eigenem Verständnis miteinander diskutieren und sich eine gemeinsame Meinung bilden
können“ (2009: 323), ist auf die Einbildungskraft angewiesen, da ein solcher Ort als brute fact
nicht existiert. Die Vorstellung einer Öffentlichkeit verleiht den intentionalen Akten der
Sender bzw. Produzenten wie auch der Empfänger bzw. Rezipienten eine neue Bedeutung.
Diese Imagination ist selbst kein intentionaler Akt, sondern Teil eines sozialen Imaginären,
vor dessen Hintergrund der Akt des Zeitunglesens oder auch das Halten einer Rede an die
Nation erst ihre eigentümliche Bedeutung gewinnen. Wer vor einer Kamera singt, weiß um
den Unterschied zu einem Ständchen unter der Dusche. Ein offener Brief in einer Zeitung hat
für den Verfasser wie auch für den Leser eine andere Bedeutung als ein privater
Schriftwechsel. Der Mehrwert an Bedeutung speist sich aus der Imagination eines
abwesenden Publikums. In seiner Einsamkeit weiß sich der einzelne Fernsehzuschauer oder
Zeitungsleser als einer von vielen – insbesondere, wenn er Zeuge bedeutender
Medienereignissen wie dem 11. September 2001 wird. Die Öffentlichkeit als abwesendes
Publikum wird im Akt der Rezeption mit vergegenwärtigt. Sie ist nicht auf eine direkte
Repräsentation angewiesen, sondern wird vom Rezipienten „appräsentiert“.239 Der Zuschauer
bzw. Leser weiß um die Öffentlichkeit der Meldungen und er kann sie innerhalb gewisser
Grenzen als geteiltes Wissen für künftige Interaktionen voraussetzen. In einem doppelten
Sinn handelt es sich bei Öffentlichkeit um eine imaginierte Gemeinschaft im Sinne von
Anderson (1996). Zum einen ist sie eine Gemeinschaft der Zuschauer, die in der Vorstellung
des einzelnen Zuschauers lebt, zum anderen bringt sich die Öffentlichkeit auch selbst als
Gemeinschaft auf die Bühne – durch Repräsentation und Inszenierung.
Öffentlichkeit als Repräsentation handelt in erster Linie nicht von dem, was sich jemand
mental vorstellt, sondern von dem, was einer performativ darstellt (2.3). Repräsentation des
Volkes liegt in einer liberalen Demokratie nicht alleine beim Staat und den politischen
Ämtern, sondern auch in der Öffentlichkeit, in der sich einzelne Akteure und Organisationen
zum
Sprachrohr
des
Volkes
im
Ganzen
machen.
Journalisten,
Redakteure,
Nachrichtensprecher und andere konstituieren und repräsentieren die Öffentlichkeit. Durch sie
artikuliert sich die öffentliche Meinung. Auch politische Demonstrationen im öffentlichen
Raum versuchen oft, die Repräsentation der Öffentlichkeit für sich zu reklamieren.
239
Im Sinne von Edmund Husserl und später dann auch Alfred Schütz und Thomas Luckmann (1984: 178-184).
234
Demonstrationen stellen in erster Linie keine Versammlungsöffentlichkeiten, denen es um
inhaltliches Räsonnement und Verständigung geht, sondern Gesinnungsgemeinschaften dar,
denen es auf medial verstärkte Außenwirkung ankommt. Der auf den Leipziger
Montagsdemonstrationen verwendete Slogan „Wir sind das Volk“ – oder jüngst: „We are the
99 percent“ – ist im buchstäblichen Sinne falsch, aber wir verstehen seine Bedeutung, weil
wir den Bannerträger als legitimen oder illegitimen Repräsentanten einer imaginierten
Gemeinschaft auffassen können.
Eng verwandt mit der symbolischen Repräsentation von Öffentlichkeit ist die Inszenierung
der Öffentlichkeit durch die Massenmedien, die weniger auf Repräsentation als auf einer
spezifischen Form der Selektion beruht (4.2.2). So argumentiert Luhmann beispielsweise,
dass Dialogizität durch die technische Struktur der Massenmedien ausgeschlossen sei:
Entscheidend ist auf alle Fälle: dass keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfänger
stattfinden kann. Interaktion wird durch die Zwischenschaltung von Technik ausgeschlossen, und hat
weitreichende Konsequenzen, die uns den Begriff der Massenmedien definieren. Ausnahmen sind
möglich (doch nie: mit allen Teilnehmern), wirken aber als inszeniert und werden in den Senderäumen
auch so gehandhabt. (1996: 11)
Um den Mangel an Dialogizität zu kompensieren, können unterschiedliche Techniken zur
Anwendung kommen, die das Publikum (scheinbar) mit einbeziehen und so den eigenen
Anspruch auf Repräsentation der öffentlichen Meinung untermauern. Die Inszenierung von
Bürger-, Zuschauer- und Leserbeteiligung reicht von abgedruckten Leserbriefen über
Interviews mit Passanten auf der Straße oder am Telefon bis hin zur Beteiligung der
Zuschauer an Umfragen. Ähnliche Probleme besitzt auch die Politik, die nur über die Wahlen
ein direktes Feedback der Bürger bekommt, sich aber durch die regelmäßig erhobene
„Sonntagsfrage“ und die in den Medien repräsentierte öffentliche Meinung ein Bild vom
Wählerwillen zu machen versucht. Die Massenmedien simulieren eine Dialogizität und
Partizipation, die durch das Medium selbst ausgeschlossen ist. In eine ähnliche Richtung
gehen die Kommentare und Diskussionsplattformen im Internet, die die klassischen
Medienformate begleiten. Auch hier darf die faktische Einbindung des Users nicht
überschätzt werden. Vielmehr handelt es sich um eine sehr eingeschränkte Möglichkeit der
Partizipation, die nur von wenigen Usern genutzt wird und in erster Linie der Simulation von
Dialogizität dient.
Die Öffentlichkeit der modernen Gesellschaft lässt sich als soziales Imaginäres begreifen,
das zusammen mit den Massenmedien als materielle und symbolische Infrastruktur eine
Institution bildet. Zugleich ist Öffentlichkeit eine imaginäre Konstruktion, die auf eine
symbolische und mediale Vermittlung angewiesen bleibt. Luhmann charakterisiert die
235
Öffentlichkeit der Massenmedien als monologische Kommunikation, während sich Habermas
in erster Linie an einem dialogischen Modell orientiert. In dieser Arbeit soll jedoch von einem
triadischen Modell der öffentlichen Kommunikation ausgegangen werden, in dem die
Öffentlichkeit als eine „Figur des Dritten“, als ein abwesender Dritter, der zu einer dyadischen
Beziehung hinzutritt, begriffen werden soll. „Öffentlichkeit“, so die These, ist kein Akteur im
herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr Platzhalter für eine unbestimmte Zahl weiterer
Akteure, die einen Dialog beobachten oder sich an diesem sogar beteiligen könnten.
„Öffentlichkeit“ ist eine besondere Form der Imagination der gesellschaftlichen Einheit – die
reale Konsequenzen zeitigt.
4.3. Öffentliche Moral – Zur Theorie zivilgesellschaftlicher Diskurse
Ohne Zweifel kann man die öffentliche Meinung als Studienobjekt wählen und
daraus eine Wissenschaft machen; daraus besteht hauptsächlich die Soziologie.
Émile Durkheim, Die elementaren Formen
des religiösen Lebens (2005/1912: 586)
Die öffentliche Meinung ist ein soziologischer Tatbestand par exellence. Sie lässt sich nicht
auf individuelle Meinungen einzelner Akteure zurückführen, sondern stellt ein soziales
Phänomen sui generis dar. Dies bedeutet nicht, dass die öffentliche Meinung nicht auch aus
einer Akteursperspektive verständlich zu machen wäre. Die Ausführungen über die kollektive
Intentionalität von Bewusstseinszuständen und Handlungen haben gezeigt (1.1.2), dass die
Kollektivität vieler sozialer Phänomene nicht notwendig in einem Widerspruch zum
methodologischen Individualismus stehen muss. Ähnlich verhält es sich mit der öffentlichen
Äußerung von Meinungen und Gefühlen und dem performativen Handeln in der
Öffentlichkeit. Auch wenn öffentliche Akte nicht per se kollektiv sind, sind sie doch einer
kollektiven Beobachtung ausgesetzt. Äußerungen im öffentlichen Diskurs müssen sich, selbst
wenn sie als private Meinungen ausgeflaggt werden, an bestimmten Codes orientieren, um
Gehör und Zuspruch zu finden. Öffentliche Diskurse sind von normativen Regeln
durchzogen, die wiederum von kollektiven Gefühlen gestützt werden. Selbst reine
Tatsachenbehauptungen, wie beispielsweise die Feststellung, dass die Erde flach oder von
Gott in sechs Tagen erschaffen worden sei, müssen, wenn sie gegen öffentliche kollektive
Überzeugungen verstoßen, damit rechnen, auf Empörung zu stoßen. Selbst den kollektiven
236
Überzeugungen haftet somit etwas Normatives an. Die Frage ist nun, wie soziologische
Theorien diese inhärente Normativität der öffentlichen Meinung konzeptualisieren.
Im Folgenden soll daher zunächst einmal der Unterschied zwischen „normativen“ und
„deskriptiven“ Theorien der öffentlichen Meinung herausgearbeitet werden (4.3.1). In dieser
Arbeit wird die Auffassung vertreten, dass nur ein deskriptiver Zugang zur inhärenten
Normativität des Sozialen den wissenschaftlichen Ansprüchen in Sachen Werturteilsfreiheit
Genüge tut. Wenn die Soziologie einen eigenständigen Beitrag zu Normen- und
Wertedebatten zu leisten vermag, dann als Reflexionsdisziplin, die latente normative Muster
einer öffentlichen Debatte zugänglich macht. Einen deskriptiven Zugang zur Moralität
öffentlicher Diskurse verspricht die Theorie zivilgesellschaftlicher Diskurse in der neueren
amerikanischen Kultursoziologie, die als theoretischer Bezugsrahmen für die Diskursanalyse
in den letzten drei Kapitel dieser Arbeit dienen wird (4.3.2). Sodann ist auf die Autonomie der
zivilen Sphäre und die Eigenlogik zivilgesellschaftlicher Diskurse gegenüber den Kräften des
Marktes und der Macht des Staates sowie auf ihre Wechselwirkung untereinander einzugehen
(4.3.3). Die Öffentliche Meinung lässt sich als Hegemonie in zivilgesellschaftlichen
Diskursen konzeptualisieren, die auch soziale Folgen zeitigt (4.3.4). Die „Theorie der
Schweigespirale“ beschreibt Mechanismen, mit Hilfe derer die öffentliche Meinung eine
soziale Kontrolle über die Mitglieder einer Gesellschaft ausübt – die Macht der Moral reicht
damit über die öffentlichen Diskurse hinaus. Zu guter Letzt wird das einfache Modell
zivilgesellschaftlicher Diskurse einer Kritik unterzogen, da es der internen Differenzierung
öffentlicher Diskurse zu wenig Rechnung trägt (4.3.5). Die einfache moralische Codierung
öffentlicher
Diskurse
ist
durch
sekundäre
Codierungen
wie
links/rechts
oder
konservativ/liberal zu erweitern. So lässt sich ohne die Unterscheidung zwischen einem
liberalen und einem konservativen Diskurs der Verlauf des Abu-Ghraib-Skandals nicht
angemessen rekonstruieren (8.3).
4.3.1. Normative und deskriptive Theorien der öffentlichen Meinung
Theorien öffentlicher Meinung lassen sich danach unterscheiden, ob sie selbst einen
normativen Anspruch erheben oder sich mit einer empirischen Beschreibung und Erklärung
von Öffentlichkeit begnügen. Während die sogenannten „kritischen Theorien“ vorzugsweise
unter Berufung auf universelle und objektive Prinzipien über die öffentliche Meinung
urteilen, versucht der größte Teil der empirischen Öffentlichkeitsforschung zwischen
empirischer Forschung und normativer Kritik zu trennen, oder verzichtet gar völlig auf
letztere. Ein dritter Weg, der eingeschlagen werden kann, ist der einer sogenannten „public
237
sociology“, die als Akteur in den öffentlichen Diskurs eingreift und aus einer soziologisch
informierten Perspektive zu normativen Fragen Stellung bezieht. In einer „public sociology“
hat der Soziologe oder Intellektuelle keine herausgehobene Beobachterposition mehr, von der
aus er über die Gesellschaft urteilen könnte, sondern ist selbst ein Teil der Gesellschaft und
des öffentlichen Diskurses. Schon Durkheim hat darauf hingewiesen, dass die Soziologie
selbst öffentlich werden müsse, um einen Einfluss auf die öffentliche Meinung zu haben:
Aber die Wissenschaft der Meinung erzeugt noch keine Meinung. Sie kann nur aufklären, sie kann sie nur
ihrer selbst bewusst machen. In der Tat kann Wissenschaft die öffentliche Meinung dadurch verändern.
Aber die Wissenschaft hängt auch dort weiter von der Meinung ab, wo sie sie zu beherrschen scheint.
Denn sie nimmt, wie wir gezeigt haben, die nötige Kraft um auf die Meinung zu wirken, aus der
Meinung. (2005/1912: 586; vgl. auch 287)
Die Soziologie und auch andere Wissenschaften können in öffentlichen Diskursen wirksam
werden – aber eben nur nach Maßgabe der Strukturen der Öffentlichkeit. In vielen Fragen von
öffentlichem Interesse stößt die (sozial-)wissenschaftliche Autorität sehr schnell an ihre
Grenzen, vor allem wenn die Ergebnisse ihrer Forschung in eine andere Richtung weisen als
das öffentliche Klima. Philip Zimbardos sozialpsychologische Erklärung der Abu-GhraibMissbrauchsfälle konnte sich zwar auf das sozialpsychologische Stanford-Prison-Experiment
berufen (7.4.1), aber dies hatte nicht zur Folge, dass seine Erklärung im öffentlichen Diskurs
als überlegen angesehen wurde (8.3.2). Aber auch in einem weiteren Punkt ist die Soziologie
von der öffentlichen Meinung abhängig: Es ist vor allem der öffentliche Diskurs, der soziale
Probleme und Themen identifiziert (Giesen 1983; 4.1.4), die dann von der Soziologie
aufgegriffen werden. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Abu Ghraib ist hierfür ein
gutes Beispiel, aber auch das durch die Finanzkrise geschürte Interesse an der
Finanzmarktsoziologie.
Theorien der Öffentlichkeit lassen sich auch danach unterscheiden, welche Rolle sie der
Rationalität der Akteure und irrationalen Faktoren wie Emotionen einräumen. Kritische
Theorie der Öffentlichkeit, der Art wie sie von Habermas in Faktizität und Geltung vertreten
wird (1992: 399-467), sehen in der öffentliche Meinung das Produkt von spontanen und
rationalen Meinungsbildungsprozessen, die allerdings den störenden Einflüssen von
Manipulationen und Affekten ausgesetzt sind. Diesen Defiziten gegenüber der idealen
Kommunikationssituation setzen kritische Theorien die Forderung nach einer „Aufklärung der
Öffentlichkeit“ entgegen. Im Gegensatz dazu betonen andere Autoren, dass sich
medienvermittelte öffentliche Diskussionen nur bedingt am Modell des rationalen
238
aufgeklärten Diskurses orientieren (Giesen 1983; Münch 1995; Hondrich 2002).240 Karl-Otto
Hondrich geht sogar so weit zu behaupten, dass die irrationalen und emotionalen Aspekte der
öffentlichen Meinung nicht nur unvermeidbar, sondern auch funktional seien. So kommt es in
der Empörung anlässlich eines Skandals zu einer spontan-irrationalen Einheit des Gefühls, die
tiefer greift als der im rationalen Diskurs erzielte Konsens (5.3.3). Argumenten in einem
Diskurs kann man mit Zurückweisung oder Gegenargumenten begegnen; die kollektiven
Gefühle jedoch gehen den Beteiligten unter die Haut – ob sie dies wollen oder nicht.
Die folgenden Überlegungen messen dem Konzept der „Rationalität“ keine große
Bedeutung bei. Die Bedeutung von Rationalität hängt in empirischer Hinsicht vom kulturellen
Hintergrund, in theoretischer Hinsicht aber vom jeweiligen Bezugsproblem ab. In der
westlichen Kultur hat sich, was auch in Webers Handlungstypologie zum Ausdruck kommt
(2002/1921-22: 12f.), ein Gegensatz zwischen „emotionalem“ und „rationalem“ Handeln
herausgebildet, der bis heute ein Hindernis für ein angemessenes Handlungsverständnis
darstellt. In der Realität des zivilgesellschaftlichen Diskurses spielen Rationalitäts- bzw.
Irrationalitätsunterstellungen im Kampf um die Diskurshegemonie allerdings eine wichtige
Rolle. Man nimmt, wie dies auch der Philosoph in seinem Elfenbeinturm tut, für sich selbst
Rationalität und Vernunft in Anspruch und deklassiert den Gegner als irrational und
unvernünftig.
Eine letzte Möglichkeit, öffentliche Diskurse zu verstehen, besteht darin, die Motive der
beteiligten Akteure auf ihr Eigeninteresse zu reduzieren. Allerdings führt dies nicht sehr weit,
da selbst strategisch handelnde Akteure sich an den Strukturen des Diskurses orientieren
müssen, um erfolgreich zu sein: Peters (2007/1994) zufolge zeichnen sich öffentliche
Diskurse durch den Anspruch auf kollektive Akzeptanz aus; bei Münch (1995: 214-240) heißt
es, dass partikulare Interessen in öffentlichen Diskursen als verallgemeinerungsfähig
dargestellt werden müssen; Elster (1998a) spricht gar von der zivilisierenden Kraft der
„Heuchelei“; auch Giesen (1983) hat schon früh darauf hingewiesen, dass kollektive
Deutungsschemata keineswegs willkürlich gehandhabt werden können, sondern für die
Akteure eine strategische Bedeutung gewinnen. Aus diesem Grund müssen die vorgeblichen
öffentlichen Interessen, aber auch die latenten kulturellen Muster bei der Analyse öffentlicher
Diskurse immer berücksichtigt werden. Die Akteure operieren innerhalb einer symbolischen
240
Auch andere Autoren wie der technokratisch argumentierende Hans Mathias Kepplinger (2005) bescheinigen
der öffentlichen Meinung gravierende Rationalitätsdefizite. Kepplinger zieht aus demselben Befund einen
ganz anderen Schluss als Habermas. Nicht die Aufklärung des Diskurses soll hier die Rationalitätsdefizite
beseitigen, sondern die Herrschaft rationaler, nüchterner und sachlicher Experten.
239
Ordnung und können durch den geschickten Gebrauch der Codes die öffentliche Meinung für
sich gewinnen.241
4.3.2. Die Struktur zivilgesellschaftlicher Diskurse
Wir haben gesehen, dass sich die moralische Ordnung moderner Gesellschaften als eine
symbolische Ordnung beschreiben lässt, die sich an einem binären moralischen Code
orientiert (4.1). Die genaue Benennung dieses Codes ist eine terminologische Frage. In dieser
Arbeit wird überwiegend von moralisch/unmoralisch gesprochen, aber man könnte auch
achtenswert/verachtenswert, moralisch richtig/falsch oder aber gut/böse verwenden. Es bietet
sich allerdings an, diesen allgemeinen Code der Moral von dem Code der „öffentlichen
Moral“ zu unterscheiden. Im Gegensatz zur universellen Moral der Philosophen oder der
partikularen Moral der Lebensstile bezieht sich die zivile Moral auf ein nationales Kollektiv
und eine politische Öffentlichkeit. Jeffrey C. Alexander und Phillip Smith haben eine Theorie
des zivilgesellschaftlichen Diskurses entworfen, in der sie den Code der öffentlichen Moral
als „demokratisch/repressiv“ bezeichnen (Alexander & Smith 1994). In neueren Arbeiten
spricht Alexander (2006a) auch von „liberty“ und „repression“. Im Folgenden wird von
„zivil“ und „unzivil“ die Rede sein, da sich dieses Begriffspaar sowohl auf liberaldemokratische als auch auf autoritäre Diskurse anwenden lässt. Alexander und Smith
argumentieren, dass sich der binäre Code der zivilen Sphäre in öffentlichen Diskursen auf
Akteure und ihre Motive, auf soziale Beziehungen und auf die Institutionen einer Gesellschaft
anwenden lässt (1994: 165f.; vgl. auch Alexander 2006a: 57-59):
241
In seiner Studie zum amerikanischen Wahlkampf 2008 spricht Jeffrey C. Alexander vom „working the
binaries“ als der vornehmlichen Aufgabe von Berufspolitikern:“Making oneself pure, polluting one’s
opponent—this is the stuff of which political victory is made” (2010: 89).
240
Diskursive Struktur
Akteure und Motive
Soziale Beziehungen
Institutionen
Demokratischer Code / Zivil
Gegendemokratischer Code / Unzivil
Aktiv
Passiv
Rational
Irrational
Ruhig
Erregbar
Realistisch
Unrealistisch
Normal
Verrückt
Offen
Verborgen
Kritisch
Ehrerbietig
Aufrichtig
Berechnend
Ehrlich
Falsch
Freund
Feind
Regelgeleitet
Willkürlich
Recht
Macht
Gleichheit
Hierarchie
Unpersönlich
Persönlich
Amt
Persönlichkeit
Alexander und Smith zufolge lässt sich diese Struktur als ein Grundgerüst interpretieren, das
allen zivilgesellschaftlichen Diskursen zu Grunde liegt. Akteure bedienen sich dieser Struktur,
indem sie anderen Akteuren unlautere Motive unterstellen, soziale Beziehungen als „korrupt“
diskreditieren oder Institutionen anschwärzen. Auch wenn den Autoren beizupflichten ist,
dass es sich bei der binären Struktur des zivilgesellschaftlichen Diskurses der Vereinigten
Staaten um ein allgemeines Merkmal öffentlicher Diskurse handelt, stößt die Ausgestaltung
dieser Struktur schon bei der Beschreibung amerikanischer politischer Diskurse an ihre
Grenzen. So klaffen beispielsweise bei den Demokraten und den Republikaner die
Vorstellungen darüber, was als „Freiheit“ oder als „Repression“ zu gelten habe, welches
Verhalten als „zivil“ und welches als „unzivil“ anzusehen sei, manchmal weit auseinander.
Neben der primären Codierung des zivilgesellschaftlichen Diskurses, die von allen
Mitgliedern einer Gesellschaft geteilt werden, gibt es noch sekundäre Codierungen (z.B.
links/rechts, liberal/konservativ), die nur für bestimmte Gruppierungen gelten (4.3.5). Auch
die einzelnen Attribute, die Alexander und Smith den jeweiligen Seiten des Codes zuordnen,
variieren von Kontext zu Kontext. Nicht jedes Geheimnis und nicht jeder vertrauliche Akt
lässt sich als „geheimniskrämerisch“ und/oder „repressiv“ brandmarken. Die Entscheidung
der Obama-Administration, keine weiteren Abu-Ghraib-Bilder zu veröffentlichen, ist hierfür
ein gutes Beispiel (10.5.3). Darüberhinaus werden Hierarchien in bestimmten Institutionen
durchaus für legitim erachtet, während sie in anderen Institutionen verpönt sind. So hat sich
241
das Militär im Allgemeinen und die amerikanische Armee im Besonderen nicht wegen ihrer
hierarchischen Struktur zu rechtfertigen.
Die Schwierigkeiten nehmen zu, wenn man dieses Modell auf andere Diskursformationen
überträgt. In royalistischen Diskursen gelten nun mal die Königstreuen als zivil – und nicht
die Revolutionäre, die für eine neue politische Ordnung streiten. Das nicht alle öffentlichen
Diskurse die Freiheit des Einzelnen auf der positiven Seite des Codes verorten, hat bereits
einer der beiden Autoren in einer Arbeit zum Kommunismus und Faschismus gezeigt (Smith
1998). Im Nationalsozialismus hatte man ein „anständiger Deutscher“ zu sein, das heißt die
vollgültige Inklusion in den öffentlichen Diskurs war nicht nur von „zivilen“, sondern auch
von „primordialen Codes“ abhängig.242 Auch in den nationalistischen Diskursen der
Gegenwart spielen diese askriptiven Merkmale eine große Rolle. Trotzdem muss man der
Theorie von Alexander und Smith zugutehalten, dass zivilgesellschaftliche Diskurse in allen
Gesellschaften, die eine öffentliche Meinung besitzen, nach einem binären Code (analog zur
Differenz von heilig/profan) operieren, der allerdings in verschiedenen Gesellschaften eine
unterschiedliche Ausprägung erfahren kann. Anders gesagt: Gesellschaften können sich
hinsichtlich ihrer moralisch-politischen Programme, die die Zuweisung von Codewerten
regeln (1.3.2), und hinsichtlich ihres sozialen Imaginären, das dem symbolischen Gerüst
öffentlicher Diskurse erst seine Bedeutung verleiht, erheblich unterscheiden. Das Basismodell
lässt sich für jede Analyse von öffentlichen Diskursen verwenden, aber die Spezifizierungen
des binären Codes müssen dem jeweiligen Forschungsgegenstand angepasst werden. Das
Schema von Alexander und Smith sollte sich auch auf autoritäre Staaten und Monarchien
übertragen lassen, die in öffentlichen Diskursen nicht von vornherein als „unzivil“ gelten,
sondern durchaus auch – selbst in Demokratien – eine anerkennende Würdigung erfahren
können.
In dieser Arbeit wird der Code zivil/unzivil für das allgemeine binäre Schema verwendet,
da er keinem „demokratischen Bias“ unterliegt. Im Anschluss an Aristoteles (2003) lässt sich
das Modell des zivilgesellschaftlichen Diskurses durchaus auch auf die diskursive Rahmung
von nichtdemokratischen Staatsformen übertragen. Bekanntermaßen unterscheidet Aristoteles
(2003: 169-223) zwischen drei Staatsformen, in denen entweder „einer“ (Monarchie),
„wenige“ (Oligarchie) oder „die Mehrheit“ (Demokratie) die politische Macht innehat bzw.
innehaben, wobei jede dieser Formen eine gerechte bzw. zivile und eine korrupte bzw.
242
Zum Begriff des „primordialen Codes“, der die Zugehörigkeit zu Gruppen über „natürliche“ Merkmale wie
Geschlecht, Herkunft und Rasse knüpft, vgl. die Arbeiten von Bernhard Giesen (1993; vgl. auch Eisenstadt &
Giesen 1995)
242
unzivile Erscheinungsform besitzt. Gerechte und korrupte Staatsformen lassen sich
dahingehend voneinander unterscheiden, ob in ihnen das „öffentliche Interesse“ realisiert wird
– oder eben nur die partikularen Interessen der jeweiligen Herrschenden:
Wenn nun zwar der Eine oder die Wenigen oder die Mehrheit mit Rücksicht auf das gemeinsame
Nützliche herrschen, dann müssen diese Staatsverfassungen die richtigen sein, diejenigen aber, die im
Hinblick auf den eigenen Nutzen entweder des Einen oder der Wenigen oder der breiten Masse
ausgerichtet sind, sind dann notwendigerweise Abweichungen. (Aristoteles 2003: 169; Hervorhebung im
Original)
So muss die genuine Demokratie von ihrer Verfallsform, der sogenannten „Ochlokratie“, der
„Herrschaft des Pöbels“, unterschieden werden. Die Vorstellung einer Korrumpierbarkeit der
Demokratie ist auch im zeitgenössischen europäischen Diskurs verbreitet. „Populismus“ ist
ein Kampfbegriff, mit dem politische Gegner als „unzivil“ diffamiert werden können, gerade
wenn sie sich mit ihren Forderungen der Unterstützung der Massen erfreuen (z.B. das Verbot
von Minaretten in der Schweiz). Nicht nur „zu wenig“ Demokratie, sondern auch eine
„falsche“ Demokratie kann in öffentlichen Diskursen zum Gegenstand der öffentlichen Kritik
werden. In liberalen Demokratien ist vor allem der Grundkonflikt zwischen der
demokratischen Herrschaft der Mehrheit und dem rechtsstaatlichen Schutz von Minderheiten
und Individuen für deren Rahmung als „zivil“ oder „unzivil“ ausschlaggebend. Neben der
Demokratie gibt es noch die aristokratischen und monarchischen Herrschaftsformen, die
ebenfalls ihre eigene Verfallsform aufweisen:
Herrschaft und Diskurs
Zivil (legitim)
Unzivil (illegitim, repressiv)
Herrschaft eines Einzelnen
Monarchie
Tyrannei (Diktatur)
Herrschaft weniger
Aristokratie (Meritokratie)
Oligarchie
Herrschaft der Mehrheit
Demokratie
Ochlokratie (Populismus)
Als zeitgenössisches Beispiel einer Regierung, die sich zumindest in Teilen über ein
„aristokratisches“ Verständnis legitimiert, kann die technokratische Übergangregierung in
Italien dienen, die im Zuge der sich verschärfenden Haushaltskrise den demokratisch
gewählten Präsidenten und „Populisten“ Berlusconi abgelöst hat. In sehr viel stärkerem Maße
kommt dieses diskursive Schema allerdings bei der Beurteilung von ausländischen
Machthabern zu Anwendung. In liberalen Diskursen können auch undemokratische
Autokraten oder Monarchen als „zivile“ Herrscher gerahmt werden. So wurde beispielsweise
im zivilgesellschaftlichen Diskurs der Vereinigten Staaten die Herrschaft von Gamal Abdel
Nasser in Ägypten in ein progressives Narrativ eingebettet: Nasser wurde zu einem
243
antikolonialistischen Befreiungshelden und weisen Herrscher stilisiert, der sein Land
(allmählich) zur Demokratie führe (Smith 2005: 62-65). Auch der Schah von Persien genoss
im amerikanischen Diskurs ein hohes Ansehen als aufgeklärter Alleinherrscher, während der
demokratisch gewählte Präsident von Chile, Salvador Allende, als ein bekennender Sozialist
in der amerikanischen Öffentlichkeit auf Ablehnung stieß. Der absolute Monarch in SaudiArabien gilt in amerikanischen Diskursen – im Gegensatz zu dem gewählten iranischen
Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad – als ein vergleichsweise „ziviler“ Herrscher.
Eine Verschiebung vom unzivilen zum zivilen Pol der symbolischen Ordnung muss für die
Wahrnehmung von China in den westlichen Öffentlichkeiten konstatiert werden. Wurde die
kommunistische Regierung von China im Jahr 1989 nach der blutigen Niederschlagung des
Protestes auf dem Platz des himmlischen Friedens noch als repressives Regime gebrandmarkt,
so wurde zwanzig Jahre später der Einparteienherrschaft in Peking – trotz andauernder
Menschenrechtsverletzungen – eine große Anerkennung für ihre Modernisierungs- und
Wirtschaftspolitik gezollt. Die sogenannte „Output-Legitimation“, die Realisierung des
öffentlichen Interesses, scheint die Legitimation durch demokratische Verfahren bis zu einem
gewissen Grad ersetzen zu können. Eine Berücksichtigung von monarchischen und
aristokratischen Codes ist für ein differenziertes und sachlich angemessenes Verständnis von
zivilgesellschaftlichen Diskursen in liberalen Öffentlichkeiten erforderlich. Darüberhinaus
lassen sich diese Codes auch für die Untersuchung von öffentlichen Diskursen in autoritären
Regimen verwenden – wenngleich hier zunächst die relative Autonomie der Öffentlichkeit
gewährleistet sein muss.
4.3.3. Die relative Autonomie öffentlicher Diskurse – Staat, Markt und Zivilgesellschaft
In Hegels Rechtsphilosophie definierte sich die „bürgerliche Gesellschaft“ noch – in
Abgrenzung zum „Staat“ – über den wirtschaftlichen Austausch zwischen Familien als den
zentralen Elementen der Gesellschaft, während der „öffentlichen Meinung“ nur eine
marginale Rolle zugestanden wurde (2000/1821: § 319). In modernen Gesellschaften ist nicht
nur das Individuum an die Stelle der Familie als kleinstes Element der Gesellschaft getreten,
auch die bürgerliche Gesellschaft hat sich von den Kräften des Marktes und der staatlichen
Bevormundung emanzipiert. Neuere Theoretiker sprechen von einer „Zivilgesellschaft“, die
das Erbe von Hegels bürgerlicher Gesellschaft angetreten hat und sowohl vom Staat als auch
vom Markt als Handlungssphäre unterschieden werden muss (Offe 2000; Alexander 2006a).
Die Rede von der Zivilgesellschaft impliziert eine politische Öffentlichkeit, die gegenüber
staatlichen Eingriffen und Marktzwängen einen gewissen Grad an Autonomie besitzt. Zwar
244
besitzen auch totalitäre Staaten eine Öffentlichkeit, diese ist aber politisch gleichgeschaltet
und besitzt keine Autonomie gegenüber dem Staat – auch wenn sie nach einer ähnlichen
diskursiven Logik arbeitet.243 Nicht nur den zivilgesellschaftlichen Diskursen in liberalen
Staaten, sondern auch vielen öffentlichen Diskursen in autoritären Staaten muss eine relative
Autonomie zugestanden werden.
Die sogenannten „kommunikativen Institutionen“, zu denen Alexander (2006a: 69-105)
vor allem die Massenmedien, aber auch Umfragen und Assoziationen zählt, stellen die
materielle und organisatorische Basis von öffentlichen Diskursen dar. Unter den Begriff
„Massenmedien“ lassen sich hier vor allem Fernsehsender, Zeitungen und Radiostationen
subsumieren, die sich als Medienunternehmen auf dem Meinungsmarkt behaupten müssen,
seien sie in staatlicher oder privater Trägerschaft. Natürlich ist hier auch das Internet zu
nennen, das allerdings – zumindest was den zivilgesellschaftlichen Diskurs angeht – an
bereits bestehende Medienplattformen anknüpft. Trotz dieser Einbindung in Märkte kommt
zivilgesellschaftlichen Diskursen eine relative Autonomie gegenüber Marktzwängen bzw.
gegenüber den politischen Interessen der Besitzer der Medienunternehmen zu. Der
Berufsethos der Journalisten und der öffentliche Auftrag der Massenmedien regulieren
zivilgesellschaftliche Diskurse und sichern ihnen eine gewisse Autonomie. Darüberhinaus
gibt es keinen inhärenten Widerspruch zwischen dem zivilgesellschaftlichen Diskurs und dem
marktförmigen Wettbewerb der Medienunternehmen – nur für jene, die einer kruden
Manipulationstheorie anhängen. Das Angebot auf dem Markt der öffentlichen Meinung
richtet sich in weiten Teilen nach der antizipierten Nachfrage, wofür nicht zuletzt die
Mechanismen des Marktes sorgen. Medienkonsumenten sind keiner einseitigen Manipulation
ausgesetzt, sondern entscheiden gewissermaßen selber, welchen Meinungen sie sich aussetzen
wollen. Eine politische Einflussnahme von Seiten der Besitzer von Medienunternehmen ist
damit nicht ausgeschlossen, aber ihr sind gewisse Grenzen gesetzt. Monopole und Oligopole
in der Medienlandschaft sind weitaus gefährlicher für die Autonomie zivilgesellschaftlicher
Diskurse als ein freier Markt der öffentlichen Meinung. Dem Manipulationsverdacht, dem
Medienunternehmen unterliegen, muss entgegnet werden, dass eine journalistische
Berichterstattung zwar Stimmung machen kann, ihre Resonanz aber trotzdem von der
Stimmung in der Bevölkerung abhängt. Während private Medienunternehmen in erster Linie
243
Vgl. die Studien von Lorenz Erren (2008, 2010) zur öffentlichen Sphäre in der Sowjetunion
(obshchestvennost) und zu der dort verbreiteten kommunikativen Praxis der Selbstkritik. Zu Skandalen, die
immer ein gewisses Maß an Öffentlichkeit voraussetzen, vgl. den Aufsatz von Peter Klier, Erhard Stölting
und Walter Süß (1989), die ebenfalls die Sowjetunion als Beispiel anführen.
245
über die Profitorientierung an ihr Publikum gebunden sind,
handeln staatliche
Medienanstalten in öffentlichem Auftrag. Diese sind teils einer staatlichen Einflussnahme,
teils aber auch den Mechanismen des Marktes unterworfen. Auch in ihrem Fall muss von
einer relativen Autonomie gesprochen werden. Sowohl staatliche Medienanstalten als auch
private Medienunternehmen sind im Prinzip mit dem Kriterium des zivilgesellschaftlichen
Diskurses vereinbar.244
Der zivilgesellschaftliche Diskurs besitzt Schnittstellen zu anderen gesellschaftlichen
Bereichen, insbesondere zur Politik und zum Recht als zwei regulative Institutionen
(Alexander 2006a: 107-192; Peters 1993: 322-362). Zum einen sind die politischen und
rechtlichen Institutionen eines Staates dazu verpflichtet, die zivilgesellschaftlichen Werte zu
schützen, zum anderen sind sie auch einer öffentlichen Dauerbeobachtung und oft auch einem
moralischen Druck ausgesetzt. Wichtige Entscheidungen in Politik und Recht werden
öffentlich beobachtet, kommentiert und kritisiert. Dies trifft zumindest auf den Kern des
politischen Feldes, das heißt auf die Regierung, die Parteien und das Parlament, zu, weniger
allerdings auf die staatliche Bürokratie, die weitestgehend unabhängig von öffentlicher
Einflussnahme nach ihrer eigenen Logik operiert – es sei denn, ein skandalöser Fall des
Versagens von Ämtern wird publik gemacht. Politik, die durch ihre Aufgabe, kollektiv
bindende Entscheidungen zu treffen charakterisiert werden kann, ist ein genuin öffentliches
Anliegen. Gerade weil Politiker, zumindest dem Anspruch nach, die Interessen der
Öffentlichkeit vertreten und in Demokratien auch faktisch von Wählerstimmen abhängig sind,
dringt die öffentliche Meinung tief in den Bereich politischer Entscheidungen ein. Dies
hindert die Politik natürlich nicht daran, auch einmal unpopuläre Entscheidungen zu treffen –
allerdings muss sie dann mit den Konsequenzen leben.
In modernen Demokratien gibt es Mehrparteiensysteme und freie Wahlen, was es erlaubt,
das Spektrum der öffentlichen Meinung in politischen Institutionen wie dem Parlament
abzubilden. Selbst ein Zweiparteiensystem wie das der Vereinigten Staaten muss schon auf
kleinste Verschiebungen in der öffentlichen Meinung reagieren, weil Wahlen letztendlich „in
der Mitte“ gewonnen werden. Die Gewissensfreiheit der Abgeordneten im deutschen wie im
amerikanischen Parlament löst den Abgeordneten – zumindest dem Prinzip nach – aus der
244
Natürlich gibt es, wie zuletzt in Berlusconis Italien, auch in sogenannten „Demokratien“ immer wieder Fälle,
bei denen die Autonomie zivilgesellschaftlicher Diskurse bedrohlich im Schwinden begriffen ist. Der Fall
Berlusconi, der sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor seine Medienmacht ausspielen konnte,
zeigt aber auch, dass sich zivilgesellschaftliche Diskurse und der Wille der Wähler auch unter widrigen
Umständen eine gewisse Eigenständigkeit bewahren können. Nicht umsonst wurde Berlusconi 2006
abgewählt.
246
hierarchischen Parteidisziplin heraus: Als gewählter Repräsentant ist er nur seinem Gewissen
und dem öffentlichen Interesse verpflichtet. Das Ausmaß der Autonomie der Abgeordneten
gegenüber ihrer Partei variiert allerdings je nach Maßgabe der jeweiligen politischen Kultur.
In Deutschland besitzt der „Fraktionszwang“ eine lange Tradition, und die Existenz von
Abweichlern wird im öffentlichen Diskurs als Symbol der Uneinigkeit und Schwäche
gedeutet, während in den Vereinigten Staaten, gerade aufgrund des Direktwahlsystems, der
eigene Abgeordnete weniger stark an die Parteilinie gebunden ist. Dies ermöglicht, wie im
Falle des McCain-Amendments (9.2), parteiübergreifende Mehrheiten. Entscheidend für die
öffentliche Einflussnahme ist, dass Politiker nicht für eine bestimmte Zeit gewählt werden, in
der sie – innerhalb der Grenzen des Gesetzes – nach eigenem Belieben schalten und walten
können. Vielmehr sind sie der Dauerbeobachtung durch die Öffentlichkeit ausgesetzt und –
im eigenem Interesse – dazu gezwungen, „dem Volk auf Maul schauen“ – oder zumindest den
Journalisten als der Stimme des Volkes. Dieser Einfluss von zivilgesellschaftlichen Diskursen
auf die Politik wird nicht immer gutgeheißen, da er dem Populismus Tür und Tor öffnet und
nicht zuletzt der Effektivität politischer Arbeit hinderlich sein kann. Dennoch würde jeder
Versuch, den Einfluss der Öffentlichkeit auf die Politik zu verringern, einen Schritt in
Richtung eines autoritären Staatsverständnisses bedeuten. Der Königsweg zur Lösung dieses
moralischen Dilemmas, der gerne von kritischen Theoretikern beschritten wird, besteht in der
Aufklärung der Öffentlichkeit, die als „deliberative Öffentlichkeit“ vor den Versuchungen des
Populismus gefeit ist und auch der Politik die nötigen Freiräume lässt, schwierige
Entscheidungen zu treffen.
Ein weiterer staatlicher Bereich, der mit zivilgesellschaftlichen und moralischen Diskursen
aufs Engste verknüpft ist, ist das Recht (hierzu auch Noelle-Neumann 1991: 178-191). Im
Gegensatz zu Luhmanns Theorie des Rechts als einem autopoietischen System (1993) soll
hier nur von einer „relativen Autonomie“ der Sphäre des Rechts ausgegangen werden.245 Im
Gegensatz zur öffentlichen Macht der Moral, die lediglich moralische Achtung vergeben oder
entziehen kann, stehen für die Durchsetzung des Rechts die Sanktionsmechanismen des
Staates zur Verfügung. Schon in seinem Werk Über soziale Arbeitsteilung hat Durkheim
(2004/1893) auf den engen Zusammenhang zwischen Recht und öffentlicher Moral
245
Natürlich kann man Luhmann zugutehalten, dass er „Autopoiesis“ als operative Geschlossenheit definiert
und ausdrücklich eine strukturelle Kopplung von Funktionssystem einräumt. Allerdings äußerst sich
Luhmann nur sehr begrenzt darüber, wie sich Systeme wechselseitig irritieren – und schon der Begriff der
„Irritation“ ist zu schwach, um die wechselseitige Beeinflussung von Systemen angemessen zu erfassen. Aus
diesem Grunde wird hier der Begriff der „relativen Autonomie“ der Sphäre des Rechts vorgezogen.
247
hingewiesen, ja das Recht sogar als materiellen Ausdruck der allgemeinen Moral bezeichnet.
Zwar kann eine neue Moral in einen zeitweiligen Gegensatz zum überlieferten Recht treten,
aber dieser Gegensatz ist für Durkheim nur ein vorübergehendes Symptom gesellschaftlichen
Wandels (2004/1893: 112f.). Allerdings kann das institutionalisierte Recht und die öffentliche
Moral, wie nicht zuletzt an der Folterdebatte nach dem 11. September 2001 und dem AbuGhraib-Skandal ersichtlich wird (6.4; 10.4.), auch dauerhaft auseinanderklaffen. Moralische
Dilemmata führen in Graubereiche des moralischen Handelns (4.1.5), die einer rechtlichen
Institutionalisierung entzogen werden können. In der akademischen Debatte zum Thema
Folter wurde ein Konsens erzielt, der von einer moralischen Zulässigkeit von Folter in
bestimmten Situationen ausgeht, aber ihre rechtliche Institutionalisierung strikt ablehnt
(10.4.3).
Alexander sieht im Recht als regulativer Institution einen Bestandteil der zivilen Sphäre
(2006a: 151-192). Giesen begreift den Aufstieg der Moral in der Moderne als Folge des
Verlustes
jenseitiger
Transzendenzen
und
als
notwendige
Ergänzung
zum
Rechtspositivismus: „Wird eine Gesellschaft durch eine übergreifende Moral integriert, so
kann zum ersten Mal bestehendes Recht als ungerecht kritisiert und durch gänzlich neue
Rechtsströmungen kritisiert werden“ (1991b: 218; vgl. auch 2005). In der öffentlichen Moral
findet das Recht den Grund seiner Legitimität.246 Da in der Auslegung des jeweils geltenden
Rechts und der Beimessung des Strafmaßes ein gewisser Spielraum herrscht, werden
rechtliche Entscheidungen nicht alleine durch Gesetze determiniert. Für das Rechtsystem
gelten nämlich dieselben Aporien, die bereits am normativistischen Handlungsverständnis
herausgearbeitet wurden (1.1.4). Rechtliche Normen sind unterbestimmt und werden erst
durch ihre Interpretation und Anwendung konkretisiert. Zudem kann über die Anwendbarkeit
und Unabwendbarkeit von Normen gestritten werden. Dies lässt die Rechtsprechung auch zu
einem
Einfallstor
für
das
öffentliche
Klima
werden,
das
als
„unentscheidbare
Entscheidungsprämisse“ (Luhmann 2000) in rechtliche Urteile mit einfließt. Die schnelle und
harte Bestrafung der Täter von Abu Ghraib durch ein Militärgericht verdankte sich dem
246
In einem Aufsatz von Giesen (2005) über den gesellschaftlichen Wandel von Transzendenz tritt die
unpersönliche Herrschaft des Rechts erst an die Stelle des persönlichen Herrschers und wird im weiteren
Verlauf der Geschichte von der Öffentlichkeit entthront. Die neueste Form der Transzendenz stellt für Giesen
die Figur des „Opfers“ dar. Diese tritt allerdings nicht an die Stelle der Öffentlichkeit, sondern rückt vielmehr
vom Rand der Gesellschaft ins Licht der Öffentlichkeit. Der moderne Kult des Opfers und die demokratische
Öffentlichkeit müssen als komplementäre Formen zivilgesellschaftlicher Organisation verstanden werden,
die ein prekäres Gleichgewicht zwischen dem Schutz von Minderheiten und der Macht der Mehrheit
herstellen.
248
politischen und öffentlichen Druck (8.5.1), der im Laufe des Skandals aufgebaut wurde. In
ähnlicher Weise setzte der Supreme Court, das höchste Gericht der Vereinigten Staaten, in
den Nachwehen des Skandals gegen den erklärten Willen der Regierung strengere Regeln bei
der Inhaftierung von Gefangenen im Krieg gegen den Terror durch (9.3). Umgekehrt muss
natürlich auch rechtlichen Entscheidungen ein Einfluss auf das öffentliche Meinungsklima
zugestanden werden (vgl. Noelle-Neumann 1991: 188-191).
Das Rechtssystem bleibt als symbolische Ordnung, bestehend aus einem binären Code
und einem System rechtlicher Normen und Werte, immer auch auf ein imaginäres Supplement
angewiesen. So hat Robert M. Cover (1983) den griechischen Begriff nomos für das
normative Universum bzw. den moralischen Hintergrund geprägt, in dem Menschen schon
vor der Existenz eigenständiger rechtlicher Institutionen lebten, das aber auch für unser
gegenwärtiges Verständnis von rechtlichen Ordnungen von Bedeutung ist.
The normative universe is held together by the force of interpretive commitments – some small and
private, others immense and public. These commitments – of official and of others – do determine what
law means and what law shall be. (Cover 1983: 7)
Eine zentrale Rolle räumt Cover narrativen Mustern ein, die den nomos strukturieren und
organisieren. Selbst identische rechtliche Ordnungen können, so Cover, unterschiedlich
angewendet werden und divergierende Bewertungen erfahren. Dies bedeutet aber auch, dass
geltendes Recht von einer Gemeinschaft von Interpreten als „ungerecht“ kritisiert werden
kann.
4.3.4. Öffentliche Meinung als diskursive Hegemonie – Die „Schweigespirale“
Trotz der deutschen Tradition eines normativen und rationalistischen Diskursbegriffs im
Anschluss an Apel und Habermas hat sich auch hierzulande – zumindest in den Sozial- und
Kulturwissenschaften – ein deskriptiver und empirischer Diskursbegriff durchgesetzt. In
Anschluss and Laclau und Mouffe (2000) lässt sich die öffentliche Meinung als Hegemonie
und damit als zeitweilige Besetzung des leeren Signifikanten im zivilgesellschaftlichen
Diskurs definieren. Der leere Signifikant steht dabei für das Kollektiv, das sich mit Hilfe
äquivalent gehandhabter partikulärer Differenzen von seinem konstitutiven Außen abgrenzt
(1.3.2). Die öffentliche Meinung ist unbestimmt und umkämpft. Auch für Alexander und
Smith (1994) ist die öffentliche Meinung das Ergebnis eines diskursiv ausgetragenen
Kampfes um die legitime Repräsentation des Kollektivs (4.3.2). In dem hier vorgeschlagenen
Modell stellt die öffentliche Meinung eine diskursiv erzielte Hegemonie dar, die zunächst nur
begrenzt Rückschlüsse auf die moralischen Einstellungen der einzelnen Mitglieder der
249
Gesellschaft zulässt. Dennoch stellt die öffentliche Moral einen lohnenden Gegenstand für die
soziologische Forschung dar, da sie durch die kommunikativen und regulativen Institutionen
einer Gesellschaft eine weite Verbreitung und einen großen Einfluss erfährt. Gesetzgebung
und Rechtsprechung besitzen, wie auch die Soziologie, keinen direkten Zugriff auf die
Meinungen der Bürger, wobei natürlich in einzelnen Fällen auf Meinungsumfragen
zurückgegriffen werden kann. Politikern und Richtern bleibt wenig anderes übrig, als sich an
der öffentlichen Meinung zu orientieren, wie sie im zivilgesellschaftlichen Diskurs verhandelt
wird. Dennoch scheint die Hypothese plausibel, dass die herrschende öffentliche Meinung die
tatsächlichen Einstellungen der Mitglieder einer Gesellschaft zu einem gewissen Grade
reflektiert und auch beeinflusst.
Mit der Diskrepanz zwischen öffentlicher Moral und den moralischen Einstellungen der
Mitglieder einer Gesellschaft hat sich Elisabeth Noelle-Neumann (1991) in ihrer „Theorie der
Schweigespirale“ auseinandergesetzt. Sie unterscheidet zwischen der „manifesten“ und der
„latenten Funktion“ der öffentlichen Meinung, wobei die manifeste Funktion der öffentliche
Meinung einem normativen bzw. rationalen Diskursbegriff entspricht (4.3.1). Die öffentliche
Meinung, die einen Einfluss auf politische und rechtliche Entscheidungen ausübt, dient hier in
erster Linie der Selbststeuerung einer Gesellschaft. Schon in seinem Werk Strukturwandel der
Öffentlichkeit schrieb Habermas (1990: 344) der räsonierend-kritischen Publizität die
Funktion zu, politische Herrschaft zu legitimieren. Dabei wandte er sich dezidiert gegen ein
Verständnis von der öffentlichen Meinung als einer staatsrechtlichen Fiktion, aber auch gegen
die aggregierte Massenmeinung der Sozialpsychologie (1990: 343-352). Habermas operierte
damals mit den binären Codes der kritischen Theorie, in der die „aufgeklärte Öffentlichkeit“
und die „unaufgeklärten Massen“ zwei polare Gegensätze bildeten.
Die latente Funktion der öffentlichen Meinung, die an das von Habermas kritisierte
sozialpsychologische Modell der Öffentlichkeit anknüpft, erfüllt für Noelle-Neumann (1991)
die „soziale Kontrolle“. Ihr zufolge leistet die öffentliche Meinung einen Beitrag zur
Integration der Gesellschaft, indem sie abweichendes Handeln unterdrückt. Die von NoelleNeumann beschriebene „Schweigespirale“ fungiert als kausaler Mechanismus dieser sozialen
Kontrolle. Sie beschreibt den empirischen Befund, dass abweichende Meinungen von der
hegemonialen öffentlichen Meinung zunächst nicht mehr öffentlich geäußert und dann im
Laufe der Zeit sogar fallen gelassen werden. Diesen sozialen Mechanismus dröselt NoelleNeumann in elementarere sozialpsychologische Mechanismen auf. Grundlegend für die
Funktionsweise der Schweigespirale ist die drohende Sanktionierung von abweichenden
250
Meinungen durch moralische Ächtung und soziale Exklusion. Über dem Einzelnen schwebt
das Damoklesschwert einer – meist implizit bleibenden – Isolationsdrohung. Das Individuum
reagiert auf diese Isolationsdrohung mit einer Isolationsfurcht, die es wiederum zum
Schweigen motiviert (Noelle-Neumann 1991: 59-83).247 Der Konformitätsdruck reicht aber
noch weiter, bis in das Innere des Individuums hinein. Die privaten Meinungen, die vom
hegemonialen Diskurs abweichen, verschwinden auf Dauer. Es kommt zu einer
Einstellungsänderung bei den Betroffenen, die möglicherweise der Bewältigung von
„kognitiver Dissonanz“ geschuldet ist (vgl. Festinger 1968). Die öffentliche Macht der Moral
verdankt sich, wo sie nicht durch ihre Autorität überzeugen kann, einer anonymisierten
Drohmacht (3.1.1). Die Schweigespirale ist ein empirisch gut belegter Mechanismus, der die
öffentliche Meinung, die öffentlich geäußerten Meinungen und die Einstellungen der Bürger
in einen kausalen Zusammenhang bringt.248
4.3.5. Einheit und Polarität zivilgesellschaftlicher Diskurse – Sekundäre Codierungen
Die Einheit des zivilgesellschaftlichen Diskurses wird durch einen binären moralischen Code
repräsentiert. Dieser zivile Code ist allerdings – wie alle symbolischen Codes (1.3.2) –
unspezifisch und lässt Freiräume für Interpretationen. Schauen wir uns reale öffentliche
Diskurse an, so stellen wir fest, dass sie eine interne Differenzierung besitzen und von
tiefsitzenden Deutungskonflikten geprägt sind. So hat schon Parsons mit Blick auf die
Vereinigten Staaten bemerkt, dass sich der hegemoniale Diskurs – zwischen den politischen
Extrempolen der äußersten Linken und Rechten – in zwei Flügel, nämlich einen liberalen und
einen konservativen Diskurs, differenziert (2007: 84f.). Diese Differenzen und Konflikte
dürfen uns allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass alle beteiligten Akteure über eine
gemeinsame symbolische Ordnung und ein geteiltes soziales Imaginäres verfügen. Dieser
kulturelle Boden, auf dem sich Dissens erst etablieren kann, wird von Wittgenstein mit dem
Begriff der „Lebensform“249 belegt:
‚So sagst du also, dass die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist?‘ –
Richtig und falsch ist, was die Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies
ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform. (Wittgenstein 1980: 356)
247
Noelle-Neumann zieht eine wichtige methodische Konsequenz aus ihrer Entdeckung der Schweigespirale: So
sollte in Umfragen nicht nur nach der Meinung einer Person gefragt werden, sondern auch nach der
Redebereitschaft und der wahrgenommenen Mehrheitsmeinung gefragt werden.
248
Zur Schweigespirale, der Kritik an der Theorie und einigen Erweiterungen vgl. die Ausführungen von
Michael Jäckel (2011: 276-293).
249
Zum Begriff der „Lebensform“ als Kultur vgl. Derra Alexandra (2007).
251
Erst vor einem geteilten kulturellen Hintergrund, der gemeinsame Bedeutung konstituiert,
kann es zu Meinungsverschiedenheiten kommen. Auch zivilgesellschaftliche Diskurse können
als ein derartiges „Sprachspiel“ begriffen werden, das auf einer primären Codierung beruht,
die von allen Akteuren geteilt wird. Allerdings greift ein solches Konzept, wie es
insbesondere von Alexander und Smith vertreten wird (4.3.2), für die Beschreibung realer
Diskurse zu kurz, da es die interne Differenzierung, ja Polarisierung dieser Diskurse
vernachlässigt. Die Polarität zivilgesellschaftlicher Diskurse erstreckt sich nicht nur auf den
Bereich manifester öffentlicher Konflikte, sondern reicht bis in die Bereiche der Lebenswelt
und in die private Lebensführung hinein. So stellt George Lakoff (2006) zu Beginn seiner
Studie über Moral Politics in den Vereinigten Staaten fest, dass Liberale und Konservative
bestimmte Begriffe unterschiedlich verwenden und deswegen aneinander vorbeireden. Frei
nach Wittgenstein müssen wir den Liberalen und Konservativen nicht nur unterschiedliche
Meinungen konstatieren, sondern auch Unterschiede in der Lebensform, im kulturellen
Hintergrund.
So sind beispielsweise die Leitbegriffe „Freiheit“ und „Repression“ in amerikanischen
zivilgesellschaftlichen Diskursen unterbestimmt. Es handelt sich bei ihnen um leere
Signifikanten, die zeitweilig durch hegemoniale Vorstellungen besetzt werden können (1.3.2).
Was für Konservative in den Vereinigten Staaten eine selbstverständliche politische Freiheit
ist, beispielsweise das Recht, Waffen zu tragen, ist für manche Liberale schlichtweg
Wahnsinn. Was für Liberale eine natürliche Freiheit darstellt, z.B. das Recht auf Abtreibung,
empfinden Konservative als unverantwortliches Töten von unschuldigen Babys. Konservative
gehören allerdings mehrheitlich zu den Befürwortern der Todesstrafe, während Demokraten
die Todesstrafe in aller Regel ablehnen. Auch das Verhältnis der einzelnen Bürger zum Recht
ist von Unterschieden im Rechtsverständnis geprägt (4.3.3). So polarisiert die Entscheidung
des Supreme Court über die Legalisierung der Abtreibung den zivilgesellschaftlichen Diskurs
der Vereinigten Staaten bis auf den heutigen Tag: „It is a somber fact of our own world, that
many citizens believe that, with Roe v. Wade, the Supreme Court licensed the killing of
absolutely
innocent
beings“
(Cover
1983:
7).
Während
Liberale
den
Schwangerschaftsabbruch als Ausübung einer rechtmäßigen Freiheit interpretieren (pro
choice), stellt die Abtreibung für Konservative einen illegitimen, da unmoralischen Gebrauch
von Freiheit dar (pro life).
Lakoff (2006) stellt sich nun die Frage, woher diese systematischen Unterschiede zwischen
liberalem und konservativem Denken kommen. Ihm zufolge korrespondiert die politische
252
oder öffentliche Moral von Konservativen und Liberalen mit ihrer jeweiligen Alltags- oder
Familienmoral. Sein Ansatz besteht zunächst darin, nach Schlüsselmetaphern zu suchen, die
zu den wichtigsten Aspekten des kulturellen Handlungshintergrundes gehören (grundlegend
hierzu Lakoff & Johnson 2003). In seiner Studie zur amerikanischen Moralpolitik kommt
Lakoff (2006) zu dem Schluss, dass sowohl die Liberalen als auch die Konservativen eine
Schlüsselmetapher teilen, nämlich jene vom „Staat als Familie“. Diese Schlüsselmetapher
verschränkt auf einer vorbewussten mentalen Ebene den Bereich der Alltagsmoral mit dem
der öffentlichen Moral, darüberhinaus steht sie für die Einheit des Diskurses, die eine
Verständigung über die politischen Lager hinweg ermöglicht. Zugleich markiert sie aber auch
den Punkt, an dem ein unterschiedliches Familienverständnis in politische Differenzen
umschlägt: Konservative und Liberale pflegen nämlich, so Lakoff, unterschiedliche
Familienmodelle, die sie dann auf den Staat übertragen.250 Konservative gingen von dem
strengen Vater als dem Oberhaupt der Familie aus, der die erwachsenen Kinder in die Freiheit
entlässt, während die Liberalen das Ideal von fürsorglichen Eltern hegen, die ihre Kinder ein
Leben lang unterstützten.
Diese kulturellen Unterschiede zwischen der liberalen und der konservativen Moral, die
auch die zivilgesellschaftlichen Diskurse der Vereinigten Staaten prägen, besitzen im
amerikanischen Zweiparteiensystem ihre politische Entsprechung. Beide Parteien artikulieren
die kulturellen Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft in einer spezifischen Weise, die
der anderen Partei nicht nur als fragwürdig, sondern oft auch als widersinnig erscheint. Dass
ein Republikaner für die Todesstrafe und gegen Abtreibung sein kann, aber staatliche
Programme zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit ablehnt, stellt viele Demokraten vor
ein Rätsel (vgl. Lakoff 2006: 25). Bezüglich der Abtreibung ließe sich argumentieren, dass
Konservative in der Regel religiöser sind und daher auch dem ungeborenen Leben einen
höheren Wert beimessen. Lakoff lehnt dieser Erklärung jedoch ab, da auch die Mehrheit der
Liberalen in den Vereinigten Staaten religiös sei. Zudem besitzt der Schutz des Lebens in
beiden Diskursen einen hohen Stellenwert, wie beispielsweise die Ablehnung der Todesstrafe
durch die Demokraten zeigt. Lakoff weist darauf hin, dass sich die unterschiedlichen
Familienmodelle von Liberalen und Konservativen in einem spezifischen Verständnis ihrer
Religion niederschlügen. Konservative beriefen sich vorzugsweise auf das Alte Testament
und den strengen und strafenden Gott, während Liberale das neue Testament und den
250
Die Imaginationen von Familie und Staat sind dabei als handlungsleitende Modelle im Sinne eines „model
of“ und eines „model for“ zu verstehen (Geertz 1987).
253
fürsorglichen und vergebenden Gott vorzögen (Lakoff 2006: 245-262).
Was die Streitfrage der Abtreibung anbelangt, so argumentiert Lakoff, dass die
Unterschiede in der politischen Einstellung zunächst einmal damit zu tun hätten, dass
Konservative den vorehelichen Sex von Jugendlichen als Missachtung der Autorität des
Vaters ablehnen (Lakoff 2006: 263-270). Im amerikanischen Kontext ist die öffentliche
Debatte um Abtreibung aufs Engste mit der moral panic vor „underage pregnancies“
verknüpft. Während die Konservativen in dieser Frage auf die Enthaltsamkeit der Kinder und
die Autorität der Eltern setzen, propagieren die Liberalen den Einsatz von Verhütungsmittel
und sexuelle Aufklärung. Dementsprechend stellt die ungewollte Schwangerschaft für
Konservative die natürliche Strafe einer moralischen Übertretung dar. Sich dieser Bestrafung
zu entziehen, so die Argumentation, sei schlecht für die Tochter, da dies ihren Charakter
verderbe.251 Im Gegensatz dazu steht für die Liberalen das Wohlergehen der Tochter im
Vordergrund. Zudem bringe ein überforderter und unglücklicher Teenager nicht die nötigen
Voraussetzungen für eine glückende Erziehung von Kindern mit.
Lakoffs Theorie bietet einen Einblick in die kulturellen Muster, die die Alltagsmoral der
Vereinigten Staaten und ihre zivilgesellschaftlichen Diskurse durchziehen. Zwar ist der
reduktionistische Einschlag seiner Theorie, die politische und religiöse Modelle letztendlich
auf Familienstrukturen zurückführt, durchaus bedenklich, aber man muss diese Einschätzung
nicht teilen, um die generellen Aussagen seiner Theorie mitzutragen. So ergänzt Lakoffs
Theorie den Ansatz von Alexander und Smith (4.3.2), da sie nicht nur der symbolischen
Unbestimmtheit von politischen Kampfbegriffen Rechnung trägt, sondern darüberhinaus eine
kulturelle Erklärung für die unterschiedliche Bestimmung der leeren Signifikanten bietet. Die
sekundäre Codierung von zivilgesellschaftlichen Diskursen, die grundlegenden Unterschieden
in moralischen Einstellungen entspricht, erlaubt es uns, zu erklären, warum bestimmte
Narrative und Performanzen bei einem Publikum auf Resonanz stoßen und bei einem anderen
Publikum kein Gehör finden. Allerdings sollte man keinen absoluten Gegensatz zwischen den
Gesinnungsgruppen postulieren. Empirisch ist ein Kontinuum politischer Meinungen und
Lebensformen zu konstatieren, die sich jedoch in einzelnen Dimensionen unterscheiden
können (Lakoff 2006: 283-309).252
251
Ein popkultureller Beleg für Lakoffs These, dass Abtreibung in konservativen Kreisen als ein moralischer
Betrug angesehen wird, findet sich in der South-Park-Episode Patriots Cheat.
252
Der libertäre Flügel in den Vereinigten Staaten wird von Lakoff (2006: 293-296) als eine konservative
Strömung beschrieben, die in einigen Fragen mit den Demokraten übereinstimmt (z.B. im Abtreibungsrecht),
aber in anderen Fragen, insbesondere solchen, die das allgemeine Verhältnis von Individuum und Staat
254
Robert Wuthnow (1988) hat sich in einem Artikel ebenfalls mit der Polarisierung innerhalb
von Diskursen auseinandergesetzt. Er untersuchte die Struktur evangelikaler Diskurse in den
Vereinigten Staaten und kam zu dem Ergebnis, dass sich die liberalen und konservativen bzw.
fundamentalistischen Diskurse innerhalb des Evangelikalismus weniger in ihren Inhalten, als
vielmehr in ihrer Form voneinander unterscheiden. Sein Interesse an religiösen Diskursen
begründet er damit, dass die Polarisierung zwischen liberalen und konservativen Christen in
den Vereinigten Staaten zugenommen habe und in die öffentlichen Diskurse übergeschwappt
sei. Die von Wuthnow herausgearbeiteten diskursiven Muster beschränken sich nicht auf das
religiöse Feld, sondern sind auch für den zivilgesellschaftlichen Diskurs von Bedeutung. Die
Ergebnisse seiner Studie können teils als Bestätigung, teils aber auch als Ergänzung von
Lakoffs Theorie gelesen werden. So beginnt Wuthnows Studie, ähnlich wie Lakoffs Arbeit,
mit der Feststellung, dass sich konservative und liberale Christen in Amerika einander fremd
sind – und das, obwohl sie die wesentlichen religiösen Inhalte miteinander teilen. Wuthnows
Untersuchung von Predigten in verschiedenen Kirchen kommt zu dem Schluss, dass sich die
Stile der jeweiligen Diskurse fundamental voneinander unterscheiden. Während liberale
Diskurse auf Dialog setzen und eine offene Struktur aufweisen, ist für konservativfundamentalistische Diskurse die Autorität des Predigers und die Geschlossenheit des
Diskurses charakteristisch. Konservative und fundamentalistische Christen halten an einer
„wörtlichen Bedeutung“ der Bibel fest, während sich Liberale auf das Spiel der Interpretation
einlassen. Bei den Konservativen wird Komplexität reduziert und die existenziellen Fragen
auf eine einfache Antwort zugespitzt („Jesus is the answer“), liberale Predigten fangen mit
einfachen Problemen an und bauen sukzessive Komplexität auf, die auch am Ende der Predigt
nicht aufgelöst wird. Wuthnow spricht von einer „zentrifugalen“ Bedeutungsstruktur der
liberalen Diskurse und einer „zentripetalen“ Struktur in fundamentalistischen Diskursen
(1988: 334f.).
Wie wir sehen, gibt es einige signifikante Unterschiede zwischen liberalen und
fundamentalistischen Diskursen, die sich möglicherweise auch auf andere Diskurse
übertragen lassen. Ähnliche Differenzen – und dies spricht für die Richtigkeit und
Generalisierbarkeit der Ergebnisse von Wuthnow – gibt es beispielsweise in der
Verfassungsrechtsprechung in den Vereinigten Staaten. Konservative Verfassungsrichter wie
Antonin Scalia tendieren zu einer textualistischen Auslegung der Verfassung, für die alleine
betreffen, den Republikanern näher steht. So konnte Arnold Schwarzenegger als moderater Republikaner mit
libertärer Gesinnung die Gouverneurswahl im demokratisch dominierten Kalifornien für sich entscheiden.
255
die „ursprüngliche Intention der Verfasser“ und der Wortlaut des Gesetzes maßgeblich sind.
Liberale Verfassungsrichter berufen sich in aller Regel auf den pragmatischen Ansatz einer
„living constitution“, in der die bisherige Rechtsprechung berücksichtigt wird und die
Auslegung des Gesetzes – nicht dem Wortlaut, sondern seinem „Sinn“ nach – an die aktuelle
Situation angepasst wird. Vergleichbare sekundäre Codierungen gibt es auch im islamischen
Recht.253 Die folgende Tabelle fasst noch einmal die bereits diskutierten Aspekte der
sekundären Codierung zivilgesellschaftlicher Diskurses in den Vereinigten Staaten zusammen
und ergänzt sie noch um das von Liberalen und Konservativen favorisierte Modell der
Handlungserklärung, das nicht nur für die soziologische Handlungstheorie, sondern auch für
die empirische Analyse des Abu-Ghraib-Skandals von Bedeutung ist:
Sekundäre Codierung nach
Konservativ
Liberal
Macht (Lakoff und Wuthnow)
Autorität
Dialog
Familienmodell (Lakoff)
Strenge
Fürsorge
Staatsmodell (Lakoff)
Nachtwächterstaat
Wohlfahrtstaat
Auslegungsmodus (Wuthnow)
Zentripetal (Schließung)
Zentrifugal (Öffnung)
Bibel (Lakoff)
Altes Testament
Neues Testament
Bibelverständnis (Wuthnow)
Wörtliche Bedeutung
Gleichnis, Auslegung
Anrede in Predigten (Wuthnow)
Individuell
Kollektiv
Verfassungsverständnis
„Textualism“
„Living Constitution“
Handlungserklärung
Monokausal
Multikausal
Sowohl die von Lakoff und Wuthnow beschriebenen diskursiven Strukturen als auch die
Unterschiede im Handlungsverständnis lassen sich anhand des empirischen Materials zu Abu
Ghraib nachweisen. So bevorzugte der konservativ-hegemoniale Diskurs eine monokausale
Erklärung der Missbrauchsfälle, während der linksliberale Gegendiskurs eine komplexere
Betrachtung der Zusammenhänge forderte, die auch die Militärführung und die Regierung mit
in die Verantwortung nahm (8.3). Erst als es gelang, die Verantwortung der Regierung in
konservativen Begrifflichkeiten verständlich zu machen, konnte es zu einem neuen,
253
Die sunnitischen Rechtschulen im Islam unterscheiden sich dahingehend, ob die „Tore des Idschtihad“
geschlossen oder offen sind, d.h. ob eine freie und zeitgemäße Auslegung des islamischen Rechts, der
Scharia, möglich ist. So lehnt die Hanbaliya, die in der besonders dogmatischen Form des Wahhabismus die
Staatsreligion von Saudi-Arabien stellt, Neurungen in der Rechtsprechung rundweg ab, während die
Hanafiya, die in der Türkei und auf dem Balkan vorherrschend ist, eine pragmatische und liberale
Rechtsauslegung der Scharia befürwortet.
256
übergreifenden Konsens in der Beurteilung der Missbrauchsfälle kommen (9.2; 10.1.3).
Die Einsichten von Lakoff und Wuthnow sind nicht allein auf die politischen Diskurse der
Vereinigten Staaten beschränkt, sondern lassen sich auch auf jene in anderen Ländern
übertragen. Gerade die Schlüsselmetapher, der „Staat als Familie“, ist auch in anderen
Ländern weit verbreitet. Und auch die Polarisierung politischer Diskurse zwischen
rechts/links oder konservativ/progressiv ist überall anzutreffen. Allerdings – und dies wird
durch das amerikanische Zweiparteiensystem noch unterstützt – polarisieren die
zivilgesellschaftlichen Diskurse in den Vereinigten Staaten stärker, als dies etwa in
Deutschland der Fall ist. Die neuere Parteienlandschaft in Deutschland erlaubt keine
eindeutige Positionierung der Parteien entlang eines Rechts-links- oder Konservativprogressiv-Spektrums mehr. So müssen etwa die Grünen sowohl als progressive wie auch als
konservative Partei betrachtet werden, und auch Koalitionen mit der CDU sind nicht mehr
undenkbar. Die sekundäre Codierung kann in unterschiedlicher Weise zur Anwendung
kommen. So kommt es zur Entstehung von Mischformen, die beispielsweise einen
konservativen „Ökofundamentalismus“ mit einer progressiven Familienpolitik oder aber
einen Wertkonservatismus mit Marktliberalismus kombinieren. Außerdem bedeuten Begriffe
wie „konservativ“ oder „liberal“ je nach kulturellem Hintergrund etwas völlig anderes: So
pflegen deutsche Konservative ein paternalistisches Staatsverständnis, das für amerikanische
Konservative einer Gängelung gleichkäme.254
Trotz dieser kulturellen Unterschiede scheint es sich bei der Einheit und Polarität um ein
allgemeines Strukturmerkmal von zivilgesellschaftlichen Diskursen zu handeln. Ohne eine
gemeinsame symbolische Ordnung wäre Kommunikation schlechterdings unmöglich, ohne
kulturelle Differenzen in der Interpretation der Codes würde dem Diskurs einiges an Dynamik
abgehen. Die Beilegung strittiger Debatten geht oft mit kulturellen Veränderungen einher,
welche den kulturellen Hintergrund einer Gesellschaft nachhaltig prägen können. Zur
Sedimentierung der öffentlichen Meinung in der Lebenswelt der Akteure tragen nicht zuletzt
auch Mechanismen wie die Schweigespirale bei. Kaum ist allerdings ein gemeinsamer Boden
gefunden, gibt es schon neuen Konfliktstoff für politische Debatten.255
254
Der amerikanischen Konservatismus ist dezidiert individualistisch, während beispielsweise im Frankreich der
Jahrhundertwende der Individualismus auf der Seite der Liberalen und der Kollektivismus auf Seite der
Konservativen zu verorten ist (vgl. Durkheim 1986/1898). Auch die deutsche FDP hat in der
Wirtschaftspolitik mehr Gemeinsamkeiten mit den Republikanern als mit den amerikanischen Liberalen.
255
Die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten führte zu einer nachhaltigen Veränderung. Während
die Inklusion der afro-amerikanischen Bevölkerung in die amerikanische Gesellschaft in beiden Parteien
(trotz eines latenten Rassismus) nicht mehr zur Debatte steht, scheiden sich das konservative und das liberale
257
5. Der Skandal – Grundzüge einer kultursoziologischen Theorie
Die öffentliche Macht der Moral und zivilgesellschaftlicher Diskurse nimmt im Skandal eine
besonders
dramatische
Gestalt
an.
Im
Folgenden
wird
es
darum
gehen,
eine
kultursoziologische Theorie des Skandals zu skizzieren, die einen Rahmen für die spätere
Analyse des Abu-Ghraib-Skandals zur Verfügung stellt. Nach einigen einleitenden
Bemerkungen über den religiösen Ursprung des Skandals und zu seiner Stellung in
gegenwärtigen Theorien der Öffentlichkeit sollen zunächst einmal drei grundlegende
Narrative der Skandalkritik skizziert werden, die auch in zeitgenössischen Skandaltheorien
wirksam sind (5.1.1-3). In Auseinandersetzung mit diesen Positionen und im Rückgriff auf
die funktionalistische Straftheorie von Durkheim ist dann eine integrative und dynamische
Theorie des Skandals und seiner gesellschaftlichen Funktionen zu entwerfen (5.1.4-5). In
einem weiteren Schritt soll der Skandal dann als „außerordentliches Ereignis“ (5.2.1), als
„Medienritual“ (5.2.2) und als „soziales Drama“ (5.2.3) diskutiert werden, wobei jeder dieser
Begriffe andere Aspekte des Phänomens offenlegt. Die Konzeption des Skandals als einem
einfachen Medienritual greift insbesondere bei komplexeren Skandalen zu kurz, weswegen in
einem letzten Schritt – im Anschluss an die Arbeiten von Karl-Otto Hondrich (2002) und
Victor Turner (2009) – die bisherigen Überlegungen zu einem Prozessmodell des Skandals als
einem sozialen Drama in fünf Akten ausgearbeitet werden sollen (5.3).
Für moderne Öffentlichkeiten gilt: Vox populi, vox dei. Dies zeigt sich besonders deutlich
am Skandal, wo sich der Zorn des alten Gottes als öffentliche Empörung eine neue Bahn
bricht. Der Begriff des Skandals hat nicht von ungefähr eine religiöse Konnotation, entstammt
er doch der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments. Das
altgriechische Wort scándalon bezeichnete ursprünglich das Stellhölzchen, das eine Falle am
Zuschnappen hindert, bis es von einem unachtsamen Tier beiseite gestoßen wird. Im
griechischen Bibeltext tritt es an die Stelle eines hebräischen Wortes, das in der
Lutherübersetzung zumeist mit „Ärgernis“ wiedergegeben wird. Im biblischen Kontext stellt
das scándalon eine religiöse Verfehlung, eine Sünde wider Gott dar.256 Vor dem religiösen
Lager in bezüglich der Praxis des „affirmative action“. Die unterschiedlichen Positionen zur institutionellen
Förderung von Minderheiten resultieren, so Lakoff (2006: 222-225), nicht aus sachlichen Differenzen,
sondern aus unterschiedlichen Moralvorstellungen.
256
Zur Etymologie des Skandals vgl. vor allem Käsler (1991). Eine ausführliche Behandlung der Symbolik der
Sünde und des Bösen findet sich bei Ricoeur (1971).
258
Hintergrund westlicher Zivilgesellschaften ist es kaum verwunderlich, dass der Skandal auch
heute noch die tragische Form eines selbstverschuldeten Falls in Ungnade annimmt (2.2.2),
wie sie archetypisch im biblischen Sündenfall vorgezeichnet ist. Im Frankreich des 16.
Jahrhunderts wurde der Begriff erstmals in seiner heutigen Bedeutung als „öffentliches
Ärgernis“ verwendet und zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Lehnwort im deutschsprachigen
Raum übernommen (vgl. Neckel 1989). An diesem Bedeutungswandel wird sinnfällig, wie
das Gesetz des zornigen und strafenden Gottes von der Moral einer zunehmend säkularen
Öffentlichkeit verdrängt wurde (vgl. Giesen 2005). Die Etymologie des Skandals stützt
Durkheims wohlbekannte These, dass sich eine Gesellschaft in ihren Göttern selbst verehrt
(2005/1912: 285-295). Quelle der kollektiven Identität ist aber in modernen Gesellschaften
nicht mehr die offenbarte Religion, sondern die öffentliche Moral des zivilgesellschaftlichen
Diskurs (4.3). Die moralische Verfehlung stellt somit eine Sünde wider die für alle
verbindliche „Zivilreligion“ dar (vgl. Bellah 1991a).
Unter einem Skandal wollen wir zunächst einmal folgenden sozialen Prozess verstehen:
Eine moralische Verfehlung findet statt, wird öffentlich gemacht und führt zu einer
allgemeinen Empörung des Publikums. Seit der Entstehung der Tagespresse, dem ersten
modernen Massenmedium, sind Skandale aus dem öffentlichen Leben gar nicht mehr
wegzudenken. Dennoch wurde dem sozialen Phänomen des Skandals lange Zeit wenig
wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt. Anfang der siebziger Jahre beklagte Niklas
Luhmann noch das Fehlen einer ernst zu nehmenden Skandalforschung, „die nicht selbst
skandalös wäre“ (2008/1972: 69, Fn. 62). Dieser Klage dürfte sich heute wohl kaum noch
jemand anschließen, da die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Skandalen seit den
achtziger Jahren stark zugenommen hat. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Fallstudien
und theoretische Beiträge, die sich für eine soziologische Betrachtung des Skandals fruchtbar
machen lassen.257 Allerdings wird der Skandal in den meisten zeitgenössischen Theorien der
257
Die wohl beste und eingängigste Monographie über den Skandal im deutschsprachigen Raum stammt aus der
Feder des Frankfurter Soziologen Karl-Otto Hondrich (2002). Enthüllung und Entrüstung besticht durch
seinen essayistischen Stil und die – an Durkheim geschulte – dezidiert soziologische Perspektive, die sich
wohltuend von politikwissenschaftlichen oder medienwissenschaftlichen Arbeiten abhebt. Steffen Burkhardt
hat eine umfangreiche – wenn auch soziologisch etwas dünne – Dissertation zum Medienskandal (2006) aus
einer journalistischen und kommunikationswissenschaftlichen Perspektive vorgelegt, wobei er seine Theorie
am Beispiel des Friedmann-Skandals exemplifiziert. Für die deutsche soziologische Debatte war
insbesondere der von Rolf Ebbighausen und Sighard Neckel herausgegebene Sammelband zum politischen
Skandal entscheidend (1989). Einen geschichtswissenschaftlichen Zugang mit Fallstudien aus dem deutschen
Kaiserreich und Großbritannien bietet Frank Bösch in seinem Werk Öffentliche Geheimnisse (2009). In der
englischsprachigen Literatur ist vor allem John B. Thompsons grundlegende Arbeit zum politischen Skandal
geradezu ein Muss (2000), während der von James Lull und Stephen Hinerman herausgegebene Sammelband
259
Öffentlichkeit immer noch nicht angemessen gewürdigt – und das, obwohl der Aufstieg des
Skandals unverkennbar mit der Entwicklung der Massenmedien und der Herausbildung einer
unabhängigen
Öffentlichkeit
einherging
(vgl.
Bösch
2004:
447-449).
Normativ
argumentierende Sozialphilosophen wie Jürgen Habermas (1990, 1992), aber auch stärker auf
Realismus bedachte Politologen wie Bernhard Peters (2007/1994), vermögen im Skandal
wenig mehr als eine irrationale Verzerrung idealer Kommunikationsstrukturen zu erkennen.
Das rationalistische und verständigungsorientierte Pathos dieser Theorien lädt dazu ein, dem
Phänomen des Skandals von vornherein jeden systematischen Stellenwert abzusprechen.
Von den zeitgenössischen Theoretikern der Zivilgesellschaft und öffentlichen Sphäre ist es
vor allem Jeffrey C. Alexander, der dem Phänomen des Skandals sowohl in seinen Fallstudien
als auch in seinen theoretischen Schriften eine zentrale Bedeutung beimisst (1993; 2006a:
132-150; vgl. auch Alexander & Smith 1994). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass hier die
binären Codes der zivilen Sphäre nicht nur als kognitiv, sondern auch als affektiv und
evaluativ wirksam betrachtet werden (4.3.2). Diese „heißen“ Codes strukturieren das Handeln
und Wahrnehmen im öffentlichen Raum auf eine Weise, die sich nicht mit dem unterkühlten
Konzept des „kommunikativen Handelns“ vereinbaren lässt. In Anlehnung an Durkheim
definiert Alexander den Skandal als die öffentliche Erniedrigung einer Person oder einen
Personengruppe (vgl. 3.3.3), als außeralltägliche Form der sozialen Bestrafung für eine
moralische Verfehlung. Die moralische Verfehlung droht als symbolische Verschmutzung die
übrige Gemeinschaft zu kontaminieren, da sie die Unterscheidbarkeit von „gut und „böse“,
von „rein“ und „unrein“, von „innen“ und „außen“ in Frage stellt. Der Skandal wirkt somit
einer drohenden „Entdifferenzierungskrise“ entgegen (Girard 1992: 23-37), indem er die
Trennung von „gut“ und „böse“ wiederherstellt, Schuldige ermittelt und diese symbolisch aus
der Gemeinschaft ausschließt. Erst mit der Bestrafung der vermeintlichen Übeltäter, dem
Ausschluss des Sündenbocks, wird die moralische Ordnung wiederhergestellt. Skandale sind
in dreifacher Hinsicht
von besonderem soziologischem
Interesse: Als ephemere
Oberflächenphänomene tragen sie durch ihr fortwährendes Entstehen und Vergehen zur
prozessualen Reproduktion der Gesellschaft bei. Daneben verweisen Skandale aber immer
auch auf eine normative und kulturelle Tiefenstruktur, den kulturellen Hintergrund einer
Gesellschaft (1.2-3), der dem Prozess der Vergesellschaftung zu Grunde liegt. Schließlich
stellen Skandale auch Phänomene einer Koppelung von Oberfläche und Tiefenstruktur dar,
Media Scandals sowohl theoretische Beiträge als auch empirische Fallstudien bietet (1997). Unter den
neueren Veröffentlichungen in soziologischen Fachzeitschriften ragen die theoretisch ambitionierten
Fallstudien von Ari Adut hervor (2004, 2005).
260
was sie zu einem Katalysator des sozialen Wandels werden lässt (Hondrich 2002: 28-31), der
auch desintegrative Wirkungen zeitigen kann. Im Folgenden soll jeder dieser Aspekte noch
einmal kurz erläutert werden.
Der Skandal kann als ein vergängliches Ereignis im Prozess der Vergesellschaftung einer
analytischen Untersuchung unterzogen werden. Jeder Skandal lässt sich selbst wieder als
Prozess betrachten und in mehrere Komponenten zerlegen. Zum einen kann man die
Akteursebene untersuchen, zum anderen lassen sich auch zeitliche Verlaufsmuster von
Skandalen feststellen. Auf der Akteursebene kann zwischen dem „Skandalisierten“, dem
„Skandalisierenden“ und dem „Publikum des Skandals“ unterschieden werden (so Neckel
1989). Ohne einen Skandalisierten geht es nicht, da sich Skandale gerade durch eine
Personalisierung der Verfehlung auszeichnen, die im Übrigen für alle moralischen
Phänomene charakteristisch ist. Aber auch ohne das Publikum könnte es keinen Skandal
geben, weil erst seine kollektive Empörung dem Normbruch eine übersubjektive Geltung und
gesellschaftliche Bedeutung verleiht. Der Skandalisierende strebt in der Regel danach, als
individuelle Person in den Hintergrund zu treten, um besser als kollektiver Repräsentant und
Stimme des Publikums auftreten zu können. Die Fusion zwischen Performer und Publikum
als Kennzeichen einer gelungenen Performanz (Alexander 2006b, vgl. 2.2.4) ist auch für den
Erfolg einer Skandalisierung von entscheidender Bedeutung. Alle Skandale folgen darüber
hinaus einem mehr oder weniger typischen Verlauf. Nach Hondrich stellt die „moralische
Verfehlung“ den ersten Schritt dar, worauf die „Enthüllung der Verfehlung“ als zweiter und
die „kollektive Empörung“ als dritter Schritt folgen (2002). Bei näherer Betrachtung
entspricht der Skandalverlauf aber einer rekursiven Logik. Erst mit der Enthüllung gewinnt
die moralische Verfehlung eine gesellschaftliche Realität und Bedeutung, erst mit der
kollektiven Empörung erfährt die Enthüllung eine öffentliche Beachtung und Bewertung. Der
Skandal ist nicht nur ein in sich unterschiedener und gegliederter Prozess, sondern ebenso
sehr die Totalität seiner Momente.
Sowohl das überraschende Aufkommen als auch die fortwährende Wiederkehr von
Skandalen verweisen auf die beständigen Strukturen einer Gesellschaft, ihre normative
Ordnung und den geteilten kulturellen Hintergrund, was eine kultursoziologische Analyse des
Skandals als ein lohnendes Unterfangen erscheinen lässt.258 Skandale können somit als
258
Der Skandal wird hier als Anzeichen einer dahinterliegenden, nicht direkt beobachtbaren, gesellschaftlichen
Wirklichkeit genommen; Charles Sanders Peirce würde in diesem Fall von “indices” sprechen (1998/1894).
Skandale lassen sich in ähnlicher Weise wie die Bilder der Ikonologie (2.1.1) oder die sozialen Akte in der
261
makrosoziologische Krisenexperimente betrachtet und als empirische Indikatoren für eine
Untersuchung von implizit geltenden Normen und Werten verwendet werden (vgl. Imhof
2002). Die moralische Verfehlung stellt im Skandal nicht nur die Manifestation eines
Normverstoßes dar, sondern zeigt auch – entsprechend dem Figur/Hintergrund-Verhältnis von
Ausnahme und Regel (vgl. Ortmann 2003; 1.1.4) – die Existenz bisher latent gehaltener
gesellschaftlicher Normen an. Die moralische Krise des Skandals stellt für soziologische
Beobachter eine einmalige Chance dar, Einblick in die Tiefenstrukturen einer Gesellschaft zu
bekommen. Die öffentliche Anprangerung von Verfehlungen macht den Normverstoß erst als
solchen kenntlich, wobei das Ausmaß der kollektiven Entrüstung einen Aufschluss über den
Grad der Verankerung von gesellschaftlichen Normen und Werten gibt. Gerade weil Skandale
die impliziten Normen und vorintentionalen Strukturen einer Gesellschaft prinzipiell
beobachtbar machen, können sie eine explizite und intentionale Auseinandersetzung mit
ebendiesen Normen im zivilgesellschaftlichen Diskurs nach sich ziehen – und damit zu
Rückkopplungseffekten führen.
Skandale lassen sich nicht nur als Indikatoren einer normativen Ordnung und eines
kulturellen Hintergrundes verstehen, sondern können auch unter dem Gesichtspunkt ihrer
Rückkopplung mit der moralischen Ordnung und dem sozialen Imaginären untersucht
werden. Ein einseitiges und unhistorisches Determinationsverhältnis zwischen Tiefenstruktur
und Oberfläche, wie es für den klassischen Strukturalismus kennzeichnend war, muss aufs
Schärfste zurückgewiesen werden. Zwischen dem Skandal als einem ephemeren Ereignis und
der beständigen Gesellschaftsstruktur besteht ein Verhältnis der Wechselwirkung. Zum einen
leisten Skandale einen Beitrag zur Reproduktion dieser Struktur; zum anderen können
Skandale – wie nicht zuletzt der Abu-Ghraib-Skandal zeigt – zu einem tiefgreifenden
moralischen Wandel in der Gesellschaft führen. Skandale stellen somit eine empirische
Schnittstelle zwischen Mikro- und Makroebene dar (vgl. Alexander et al. 1987). In den
individuellen Beiträgen und öffentlichen Performanzen des Skandals als einem sozialen
Drama tritt die Bedeutung überpersönlicher Strukturen deutlich zu Tage, wobei deren
Aneignung und Interpretation durch die Akteure sich wiederum in den gesellschaftlichen
Strukturen niederschlägt. Damit leistet die Erforschung wirkmächtiger Skandale einen Beitrag
zum Verständnis von Gesellschaften in ihrem jeweiligen „geschichtlichen So-und-nichtanders-Gewordensein“ (Weber 1988/1904: 171) und damit zur Erklärung sozialen Wandels
dokumentarische Methode (Bohnsack 2007; Mannheim 2009) als kulturelle Symptome lesen bzw. als
Manifestationen eines kulturellen Hintergrundes deuten (1.2-3).
262
überhaupt. Der Skandal, so anrüchig er als wissenschaftliches Thema zunächst auch scheinen
mag, stellt einen ausgezeichneten Gegenstand der soziologischen Forschung dar. Im
Folgenden sollen zunächst in Auseinandersetzung mit dem Stand der Skandalforschung die
Grundzüge einer kultursoziologischen Theorie des Skandals skizziert werden.
5.1. Skandalkritik und Skandaltheorie
Was wir heute erleben, ist der zweite, der
endgültige Zusammenbruch Preußens.
Wilhelm Hennis, deutscher
Politikwissenschaftler259
Die individuellen und kollektiven Haltungen zum Skandal sind aufs Engste mit den
Vorstellungen verknüpft, die sich die Mitglieder einer Gesellschaft von eben dieser
Gesellschaft machen. Lange bevor der Skandal als soziales Phänomen zum Gegenstand des
wissenschaftlichen Interesses wurde, stand der vermeintliche Nutzen und Nachteil der
Skandalisierung immer wieder zur Debatte. So haben professionelle Journalisten und
öffentliche Intellektuelle einzelne Skandale auch immer wieder als Anzeichen eines
gesellschaftlichen Wandels gedeutet – sei es als Symptom eines fortschreitenden Verfalls oder
der zunehmenden Vervollkommnung einer Gesellschaft. Es ist sowohl eine kritische als auch
eine affirmative Haltung zum Skandal möglich, wobei es in beiden Fällen meistens an der
nötigen wissenschaftlichen Distanz und Reflexion mangelt. Dennoch lohnt sich die
Betrachtung dieser Grundhaltungen im Rahmen einer Theorie des Skandals aus zweierlei
Gründen. Zum einen fällt jede öffentliche Stellungnahme zu Skandalen in den
Gegenstandsbereich einer Skandaltheorie, zum anderen handelt es sich bei diesen
Grundhaltungen um vortheoretische Deutungen und narrative Muster, die als vorintentionaler
Hintergrund die kulturelle Basis für wissenschaftliche Skandaltheorien darstellen. Es gibt also
eine Entsprechung zwischen den allgemein verbreiteten Imaginationen des Skandals und den
bis heute vertretenen Skandaltheorien. Es lassen sich insgesamt drei verschiedene Positionen
ausmachen, die es in einer soziologischen Theorie des Skandals zu umschiffen gilt. Als Scylla
259
So Hennis zur Parteispendenaffäre der CDU am Ende der neunziger Jahre, die er als Folge einer
„Katholisierung der alten Bundesrepublik“ interpretiert. Zitiert nach Karl-Otto Hondrich (2002: 9f.).
263
und Charybdis einer Skandaltheorie dürfen die ideologiekritische und die konservative
Skandalkritik gelten. Aber auch eine naiv-affirmative Haltung zum Skandal – sozusagen die
Insel der Lotusesser – ist tunlichst zu meiden, soll unsere Theorieodyssee Erfolg haben.260
Die ideologiekritische Kritik – zwischen Komödie und Satire (2.2.2) – entlarvt den
Skandal als reines Oberflächenphänomen, als massenmedialen Schein, der für das
gesellschaftliche Sein bedeutungs- und folgenlos bleibt. Im Rahmen der Ideologiekritik ist der
Skandal nicht mehr bloß die Enthüllung eines Normverstoßes, sondern wird zur Verhüllung
gesellschaftlicher Verhältnisse. Er ist nur noch ein blendendes Spektakel und eine
Verschleierung realpolitischer Prozesse – wie für den Marxismus die bürgerlichen Ideologien
die Klasseninteressen und Ausbeutungsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft
verschleiern. Im Gegensatz dazu heißt es von konservativer Seite, dass dem Skandal keine
stabilisierende Funktion zukommen könne. Folgt man der konservativen Skandalkritik, so
birgt und enthüllt der Skandal eine schreckliche Wahrheit. Der Skandal ist hier ein Zeugnis
des moralischen Verfalls, des unvermeidlichen Untergangs einer Gesellschaft – ein tragischapokalyptisches Narrativ. Allerdings gibt es innerhalb des konservativen Lagers durchaus
Differenzen in der Beurteilung der Rolle des Skandals: Einerseits lässt sich der Skandal als
bloßes Anzeichen und Symptom des unaufhaltsamen Verfalls deuten, andererseits kann er als
Katalysator dieses Verfallsprozesses fungieren und damit selbst eine wirkende Ursache
sein.261 Lässt man diese Unterschiede beiseite, so stimmen beide Betrachtungsweisen doch in
ihrer Endzeitstimmung überein. Die dritte, naiv-affirmative Position, wie sie insbesondere als
Professionsideologie im investigativen Journalismus hochgehalten wird, geht von der
gegenteiligen Annahme aus, nämlich dass der positive Nutzen der Skandalisierung die
negativen Folgen bei Weitem überwiegt. Nur die Skandalisierung von Verfehlungen könne,
so die Argumentation, die Gesellschaft von den moralischen Übeln erlösen. Dahinter steckt
260
John B. Thompson (2000: 234-245) verwendet eine auf den ersten Blick ähnliche, aber doch anders gelagerte
Unterscheidung zwischen vier Typen von Skandaltheorien: Da wäre zum einen die „no-consequence theory“,
die eine gewisse Nähe zu der ideologiekritischen Haltung gegenüber dem Skandal aufweist (5.1.1), die
„functionalist theory of scandal“, der man mit gewissen Einschränkungen auch die hier dargelegte
Skandaltheorie zuordnen könnte (5.1.4-5), die „trivialization theory“, die sowohl von ideologiekritischen wie
auch von konservativen Skandalkritikern bedient wird, sowie die postmoderne „subversion theory of
scandal“, die die liminalen und karnevalesken Aspekte von Skandalen würdigt. Thompson geht es allerdings
nicht um vortheoretische Haltungen zum Skandal, sondern alleine um die Typologisierung von elaborierten
Skandaltheorien.
261
Der erste Position lässt sich der von Hondrich (2002: 9f.) zitierte Wilhelm Hennis zuordnen, die zweite
Position kann Richard Sennet (2004) oder aber Jürgen Habermas (1990), der von Thompson als Vertreter
einer „trivialization theory“ des Skandals diskutiert wird (2000: 239f.), zugeschrieben werden.
264
ein
romantisches
Narrativ:
der
investigative
Journalist
als
Held
sowie
die
geschichtsteleologische Verheißung der Aufklärung, die Perfektibilisierung der Gesellschaft
durch eine umfassende Anprangerung von Missständen. Alle drei Positionen sollen nun im
Einzelnen vorgestellt und hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen überprüft werden. Im
Anschluss an die Diskussion der drei Grundhaltungen zum Skandal sollen die Grundzüge
einer kultursoziologischen Theorie des Skandals im Anschluss an Durkheims Straftheorie
umrissen werden. Eine solche Theorie hat zum einen die Oberfläche des Skandals mit seiner
Tiefenstruktur in Beziehung zu setzen, zum anderen sollte sie aber auch die latenten
Funktionen des Skandals freilegen und mögliche Dysfunktionalitäten aufzeigen.
5.1.1. Ideologiekritische Formen der Skandalkritik
Jede Form der Ideologiekritik weist ikonoklastische Züge auf. Dies lässt sich gerade auch am
Beispiel der ideologiekritischen Skandalkritik zeigen. Von einer ideologiekritischen Warte
aus betrachtet erweist sich der Skandal als oberflächliches Trugbild, dessen tiefere Bedeutung
alleine darin besteht, dass es von dem eigentlichen Geschehen ablenkt. Wir können zwei
Formen der ideologiekritischen Skandalkritik unterscheiden: Für die realpolitische Schule der
ideologiekritischen Skandalkritik verdeckt das Spektakel des Skandals die handfesten
Interessen und Machtverhältnisse der Akteure hinter den Kulissen, während der Skandal einer
am System ansetzenden Kritik zufolge dazu dient, die Systemfehler als moralische
Verfehlungen einzelner Individuen auszugeben. Im Folgenden soll vor allem die
realpolitische Skandalkritik im Vordergrund stehen, die in den Sozialwissenschaften
einflussreiche theoretische Entsprechungen besitzt. Skandalkritik als Teil einer umfassenden
Systemkritik hat es im Zuge der Weltwirtschaftskrise 2008 gegeben: Die Skandalisierung
einiger gieriger Banker schien in den Augen von manchem Kritiker von den grundlegenden
Risiken des Weltfinanzsystems abzulenken.
Die realpolitische Schule der Skandalkritik wird von jenen Sozialwissenschaftlern
vertreten, die in der Tradition von Thrasymachos und Machiavelli stehen.262 Derartige
Erklärungen bedienen sich einer „low-mimesis“-Erzählung, in der Akteuren niedere und
profane Motive zugeschrieben werden (2.2.1-3). Diese Form der Skandalkritik ist von
262
Alexander fasst in seiner Abhandlung über die zivile Sphäre jene (scheinbar) realistischen Ansätze, die das
Handeln in der Öffentlichkeit auf ein instrumentell-strategisches Handeln reduzieren und dabei die Realität
der Moral ausblenden, unter dem Etikett der „Tradition des Thrasymachos“ zusammen (2006a: 39-42).
Thrasymachos ist sowohl eine historische als auch eine literarische Figur, die als Gegenspieler des Sokrates
in Platons Politeia eingeführt wird. Die Auseinandersetzung zwischen Sokrates und Thrasymachos soll
demonstrieren, dass ohne eine moralische Ordnung kein Staat zu machen ist.
265
besonderem Interesse, da die Skandalisierten und ihre Advokaten oft eine ähnliche
Argumentation verwenden, um sich den negativen Konsequenzen einer Skandalisierung zu
entziehen: So behaupten Skandalierte in der Regel, man sei das Opfer einer Intrige geworden,
deren Drahtzieher hinter dem ganzen Spektakel steckten. Einer der einflussreichsten Autoren,
die die öffentliche Dimension der Politik auf ein bloßes Spektakel reduzieren, das die
Interessen der beteiligten Akteure maskiere, ist Murray Edelman. Bei Edelman (1988; 2005)
wird die sogenannte „symbolische“ Politik auf der öffentlichen Vorderbühne gespielt,
während die Realpolitik auf einer verborgenen Hinterbühne stattfindet. Ihm zufolge sind die
öffentlichen Auftritte von Politikern am ehesten noch der Gattung theatralischer
Performanzen zuzurechnen (2.2.3) – mit dem einzigen Unterschied, dass sie vom
(unaufgeklärten) Publikum nicht als solche durchschaut werden. Dass Skandale innerhalb
dieses theoretischen Rahmens als Teil eines allumfassenden politischen Theaters auftreten,
vermag daher kaum zu überraschen. Skandale erscheinen als das moralische Feigenblatt
knallharter Interessenkonflikte – so wie das bürgerliche Recht nach Marx die Ausbeutung der
Arbeiterklasse zugleich verdeckt und legitimiert. Moral wird hier zu einer Waffe degradiert,
mit deren Hilfe Interessen- und Machtkonflikte entschieden werden. Ein rein instrumentelles
Verständnis von symbolischer Politik lässt wenig Platz für die Eigenlogik normativer und
symbolischer
Ordnungen
jenseits
von
individuellen
Interessen
und
sozialen
Machtbeziehungen.263 Im Rahmen einer solchen Theorie wird zwar verständlich, wie einzelne
Politiker die öffentliche Moral und den zivilgesellschaftlichen Diskurs für den eigenen
Karriereweg nutzen können, aber die bindende und sinnstiftende Wirkung der Symbole, vor
der auch die politischen Akteure selbst nicht gefeit sind, bleibt hier notwendig unterbelichtet.
Ein kultursoziologischer Ansatz, wie er in dieser Arbeit zur Anwendung kommt, muss auf
der Autonomie des kulturellen Hintergrundes gegenüber dem interessegeleiteten Handeln von
Akteuren bestehen. Vor allem Edelmanns „schwache“ und „flache“ Symbolkonzeption muss
als theoretisch unzureichend und empirisch unzutreffend zurückgewiesen werden. Moral und
Kultur sind kein bloßer Schein, sondern entfalten eine eigenständige Wirksamkeit, die keiner
Determination – auch nicht in letzter Instanz – durch „harte“ Faktoren unterliegen. Dies gilt
erst recht für Medienereignisse wie dem Skandal, bei denen die öffentliche Performanz
263
Gegen diese zynische und – soziologisch betrachtet – eher oberflächliche Theoriekonzeption wurden
wichtige Einwände geltend gemacht: Gerhard Göhler hat in Abgrenzung zu Edelmann und im Rückgriff auf
die reichhaltige Literatur zum Symbolbegriff eine Neufassung der symbolischen Dimension politischen
Handelns vorgeschlagen (1999, 2002). In dieselbe Kerbe schlagen auch die Arbeiten des Konstanzer
Sonderforschungsbereichs „Norm und Symbol“ (z.B. Schlögl 2004). Auch das Konzept der „sozialen
Performanz“ sprengt einen derartigen Theorierahmen (vgl. Alexander et al. 2006; 2.3.4).
266
einzelner Akteure zu einer historischen Weichenstellungen führen kann. Für die
wissenschaftliche Behandlung des Skandals reicht es nicht aus, die Oberfläche des Spektakels
auf den Widerschein einer materialen oder ideellen Tiefenstruktur zu reduzieren. Stattdessen
ist herauszuarbeiten, auf welche Weise die Entstehung von Skandalen durch institutionelle
und kulturelle Ordnungen präfiguriert wird, wie sich kontingente Performanzen auf ihren
Ablauf auswirken und wie die Resultate dieser Prozesse wieder auf gesellschaftliche
Strukturen zurückwirken.
5.1.2. Konservative Skandalkritik
Die konservative Kritik am Skandal ist so alt wie der Skandal selbst. Jeder halbwegs ernst zu
nehmende Skandal wird von Kassandrarufen begleitet, die den Untergang des Abendlandes
prophezeien.264 Doch auch hier lassen sich zwei grundlegende Formen der Kritik
unterscheiden. Oft richtet sich die konservative Kritik gegen eine aufgedeckte moralische
Verfehlung, die als Anzeichen eines moralischen Verfalls gedeutet wird. So beklagte
beispielsweise der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis die Parteispendenaffäre der CDU
als Folge „einer Katholisierung der alten Bundesrepublik“ (zitiert nach Hondrich 2002: 10).
Nicht selten steht allerdings auch die Enthüllung selbst im Kreuzfeuer der konservativen
Kritik. Dahinter steckt die (im Grunde nicht unberechtigte) Annahme, dass die Enthüllung
von Verfehlungen das Vertrauen in die gesellschaftlichen Institutionen untergrabe und im
Falle politischer Skandale zur Politikverdrossenheit führe (so vor allem Kepplinger 2005).
Die Wahrheit des Skandals wird hier nicht für bare Münze genommen, sondern entpuppt sich
bei näherer Betrachtung als eine gefährliche Illusion, die zerstörerische Folgen zeitigt: So
untergraben Skandale nicht nur das grundlegende Vertrauen in die Institutionen, sondern
führen auch dazu, dass die fähigsten Köpfe einer Gesellschaft auf dem Altar der öffentlichen
Moral auf Basis von falschen Unterstellungen, sachfremden Argumenten und irrationalen
Affekten geopfert werden.265
Selbst bei unbestreitbaren Normverletzungen können die konservativen Skandalkritiker
gegen eine Skandalisierung Partei ergreifen, weil, so deren Argumentation, die Institutionen
264
Das Kassandra kein Gehör finden darf, da sonst ihre Vorhersage nicht eintreffen würde, hat Bernhard Giesen
in einem Essay über die Melancholie der Intellektuellen gezeigt (2010: 258-270).
265
Hondrich stimmt mit Kepplingers empirischem Befund überein, ohne allerdings dessen Bewertung zu teilen.
In seiner Analyse der CDU-Spendenaffäre interpretiert Hondrich den CDU-Politiker Wolfgang Schäuble als
unschuldiges Opfer und perfekten Sündenbock (2002: 114-122). Er betont, dass die Suche nach einem
adäquaten Opfer nicht alleine sachlichen und rationalen Erwägungen folgen dürfe, da im Skandal die
Besänftigung der kollektiven Gefühlen im Vordergrund stehe.
267
einer Gesellschaft nun einmal wichtiger seien als das Gerechtigkeitsempfinden des Einzelnen.
So kann die Autorität des Gerichts und die Unfehlbarkeit der Richter für wichtiger erachtet
werden als die Korrektur eines juristischen Fehlurteils. Dies lässt sich am Beispiel der
konservativen Kritik am Dreyfus-Skandal im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhundert
sehr gut aufzeigen. Die Anti-Dreyfusiens bezogen nicht nur Stellung gegen Dreyfus, sondern
auch gegen die Skandalisierung von Seiten der Dreyfusiens. Viele der Anti-Dreyfusiens zogen
die ungerechte Verurteilung des französischen Hauptmanns Dreyfus einer Schwächung der
zentralen nationalen Institutionen, Armee, Staat und Kirche, vor. Durkheim (1986/1898) hat
inmitten der Affäre gegen diese Position in einem Essay öffentlich und soziologisch Stellung
bezogen. Ihm zufolge ist nämlich für den Bestand der sozialen Ordnung in modernen
Gesellschaften nicht die Autorität einzelner Institutionen oder Personen entscheidend, sondern
normative und kulturelle Hintergrundmuster, zu denen auch der moralische Individualismus
gehört. Erst die Skandalisierung als öffentliche Anprangerung einer offenbar gewordenen
moralischen Verfehlung, so Durkheim, vermag es, die verletzte moralische Ordnung
wiederherzustellen.
5.1.3. Die naive Affirmation der Skandals
Die naiv-affirmative Haltung gegenüber dem Skandal ist – aus verständlichen Gründen – vor
allem unter Journalisten weit verbreitet. Der investigative Journalismus verdankt sein
Charisma nicht zuletzt der aufklärerischen (aber auch amerikanisch-puritanischen)
Überzeugung, dass sich durch öffentliche Anprangerung gesellschaftliche Missstände
beseitigen und künftige Verfehlungen verhindern lassen.266 Die logische und praktische
Konsequenz dieser Position lautet: Es sollten so viel Verfehlungen wie möglich aufgedeckt
werden. Die Skandalisierung wird hier zum Vehikel einer Vervollkommnung der
Gesellschaft, die in letzter Konsequenz auf eine Selbstabschaffung des investigativen
Journalismus samt den Skandalen hinauslaufen würde. Hier zeigen sich Parallelen zu jener
naiven Straftheorie, welche die Funktion von Strafe in der künftigen Verhinderung von
Straftaten erblickt – und ihr Ideal in einer kriminalitätsfreien Gesellschaft. Vergessen wird
hingegen, dass mit der Enthüllung aller moralischer Verfehlungen die schlimmsten Alpträume
der konservativen Skandalkritiker wahr werden würden: Das schiere Ausmaß der
Normverletzungen könnte die gesamte moralische Ordnung ins Wanken bringen (so Popitz
266
Am Einfluss des Protestantismus und seinem moralischen Rigorismus mag es auch liegen, dass gerade in den
USA der investigative Journalismus einen regelrechten Kultstatus erlangt hat. In katholisch geprägten
Ländern ist ein lockerer und diskreterer Umgang mit Verfehlungen zu erwarten.
268
2006: 158-174). Der Schleier, der über der gesellschaftlichen Unterwelt liegt, darf nur ein
wenig gelüftet werden – die ganze Wahrheit wäre einfach zu schrecklich (vgl. Hondrich 2002:
20f.; Giesen 2010: 103-125).
In der naiven Bejahung des Skandals geschieht eine folgenschwere Verwechslung: Die
naiven Intentionen der an diesen Prozessen beteiligten Personen werden für bare Münze
genommen und als manifeste Funktionen der Gesellschaft verkauft. Eine soziologische
Theorie des Skandals muss diese naive Gleichsetzung von Intention und Funktion
hinterfragen und die latenten Funktionen von Skandalen identifizieren (vgl. Merton 1995a).
Das soziologische Denken gelangt so zu kontraintuitiven Einsichten, wie z.B. bei Durkheim,
der ein gewisses Maß an Kriminalität in einer Gesellschaft nicht nur als normal, sondern gar
als notwendig erachtet (2002/1895: 159). Unterschreitet eine Gesellschaft dieses Maß, ist sie
für Durkheim ein pathologischer Fall, da sie die Bestrafung von Verbrechen nicht mehr in
einem ausreichenden Maße zur Herstellung gesellschaftlicher Solidarität und Bekräftigung
kollektiv geteilter moralischer Überzeugungen nutzen kann. Abweichendes Verhalten auf der
Mikroebene stellt somit eine Voraussetzung für Normalität auf der Makroebene dar.267
Dasselbe gilt natürlich auch für Skandale, die Mikropathologien in Makronormalität
transformieren. Ein Versiegen der fortwährenden Skandalisierung von Verfehlungen würde
die Geltung von moralischen Normen untergraben, da Normverstöße für die Bildung und
Reproduktion kontrafaktischer Erwartungshaltungen nun einmal unentbehrlich sind (4.1.1).
Eine Gesellschaft ohne Skandale würde jener affektiv-spontanen Vergemeinschaftung
entbehren, für die erfolgreiche Skandalisierungen immer wieder aufs Neue sorgen. Dies
bedeutet jedoch nicht, dass Skandale – je nach Verlauf und Bezugsproblem – nicht auch
dysfunktional sein können.
5.1.4. Die funktionalen Theorie des Skandals und ihre Kritiker
Jede dieser drei Grundhaltungen zum Skandal basiert auf empirischen Beobachtungen,
plausiblen Mechanismen und mehr oder minder einleuchtenden Annahmen über die Natur der
Gesellschaft. Die theoretischen Einseitigkeiten und empirischen Mängel dieser Positionen
müssen jedoch in einer integrativen Theorie des Skandals aufgehoben werden. Ein solches
267
Karl Otto Hondrich (1987) hat sich schon früh dafür stark gemacht, Mikropathologien als wichtige
Voraussetzung für die Makronormalität zu betrachten – genauso wie es ein „richtiges Leben im Falschen“,
also Mikronormalität in einer makropathologischen Gesellschaft, geben kann. Das von Hondrich (2002) in
seinen späteren Arbeiten untersuchte Phänomen des Skandals wird von ihm als Mechanismus begriffen, der
Mikropathologien für eine Normalisierung auf der Makroebene nutzt.
269
Theoriegebäude, so die hier vertretene These, lässt sich auf dem Fundament von Durkheims
funktionalistischer Straftheorie errichten. So verdeutlicht Durkheim an einer Stelle die
Funktion der Strafe am Beispiel eines öffentlichen Skandals:
Das Verbrechen bringt also das Bewusstsein aller ehrbaren Leute enger zusammen und verdichtet sie.
Man braucht nur zu sehen, wie es, besonders in einer kleinen Stadt, zugeht, wenn sich ein Moralskandal
ereignet hat. Man bleibt auf der Straße stehen, man besucht sich an bestimmten Orten, um über das
Ereignis zu reden, und man empört sich gemeinsam. Aus allen dieser einander ähnlichen Eindrücken, die
ausgetauscht werden, aus all den verschiedenen Zornesausbrüchen entsteht ein je nach Fall mehr oder
weniger bestimmter einheitlicher Zorn, der Zorn eines jeden ist, ohne deshalb ein persönlicher zu sein;
der öffentliche Zorn. (Durkheim 2004/1893: 152f.)
Vor der Verbreitung der Tagespresse war ein Moralskandal auf solche face-to-faceInteraktionen und somit auch auf eine gewisse räumliche Nähe angewiesen. Dennoch sind in
Durkheims Kleinstadt dieselben Mechanismen der Skandalisierung wirksam wie im globalen
Dorf der modernen Mediengesellschaft. Das öffentliche Bekanntwerden der Normverletzung
führt
zur
kollektiven
Empörung
der
Gemeinschaft
als
einer
Äußerung
ihres
Kollektivbewusstseins. Die Aufwallung der kollektiven Gefühle ist teils spontan-kollektiver,
teils epidemisch-interaktiver Natur. Einerseits ruft das Verbrechen bei allen Mitglieder einer
Gesellschaft – auch unabhängig voneinander – die gleichen Gefühle hervor, andererseits führt
der gesellschaftliche Austausch aber auch zu einer Verbreitung und Intensivierung dieser
Gefühle, und zwar durch emotionale Ansteckung. Die Normverletzung wird zum Anlass und
Gegenstand einer Kommunikation zwischen den Individuen, wodurch sich die kollektiven
Gefühle verbreiten und verstetigen. Durkheim betont, dass diese kollektiven Gefühle anderen
Ursprungs sind als rein individuelle Gefühle:
Was den sozialen Charakter dieser Reaktion betrifft, so stammt er aus der sozialen Natur der verletzten
Gefühle. Weil diese im Bewusstsein eines jeden anzutreffen sind, erregt das Vergehen bei allen, die
Zeuge geworden sind oder die davon gehört haben, die gleiche Ablehnung. Alle Welt ist betroffen und
folglich setzt sich alle Welt gegen den Angriff zur Wehr. Das ist die Reaktion nicht nur allgemein, sie ist
auch kollektiv, was nicht das gleiche ist. Sie entsteht nicht isoliert in jedem einzelnen, sondern mit einer
im Übrigen fallweise veränderlichen Einheitlichkeit und Geschlossenheit. (Durkheim 2004/1893: 152)
Kollektive Emotionalität ist mehr als die Summe individueller Affekte, nämlich eine Form
„kollektiver Intentionalität“ (1.1.2). Kollektive Gefühle erschöpfen sich nicht darin, dass die
Mitglieder einer Gruppe auf eine ähnliche Art und Weise fühlen. Die Empörung über einen
öffentlich gewordenen Normverstoß muss vielmehr als ein von allen geteiltes kollektives
Gefühl begriffen werden. Durkheim zufolge sind diese kollektiv geteilten Gefühle nicht nur
relativ einheitlich, sondern auch weitaus intensiver als individuell-private Gefühle. Selbst
heute, wo individuelle Emotionen an Bedeutung gewonnen haben, lässt sich dieser Befund
nicht völlig von der Hand weisen. Auch wenn wir geneigt sind, das emotionale Band
270
zwischen Geliebten für unzertrennlicher und stärker zu halten als die Liebe zum Vaterland, so
sind es doch immer noch die von allen verabscheuten Verbrechen, welche auch im einzelnen
Individuum für die größte Empörung sorgen.268
Die (scheinbar) irrationale Tatsache, dass der spontane Ausbruch kollektiver Emotionalität
für die Entstehung eines Skandal unabdingbar ist, hat dazu beigetragen, dass dem Skandal von
Seiten der rationalistischen Öffentlichkeittheorien und der kognitivistischen Diskurstheorien
kaum Beachtung geschenkt wurde (vgl. aber Iser 2008). Allerdings erfüllen diese kollektiven
Gefühlsausbrüche eine unverzichtbare Funktion für die moralische Ordnung einer
Gesellschaft. Erst die Irrationalität der Empörung macht die überpersönliche Geltung der
verletzten moralischen Norm von intersubjektiver Zustimmung (die immer auch die
Möglichkeit des Nichtzustimmens in sich schließt) und rationaler Argumentation (die immer
auch Bestreitbarkeit ermöglicht) unabhängig. Ohne diesen emotionalen Kurzschluss wäre es
dem Skandal kaum möglich, seinen spezifischen gesellschaftlichen Nutzen zu erbringen,
seine eigentlichen Funktionen zu erfüllen:
Im Übrigen ist er [der öffentliche Zorn] nur von Nutzen. Denn in der Tat: Die Gefühle, die daran beteiligt
sind, holen ihre Kraft aus der Tatsache, dass sie in aller Welt gemeinsam sind; sie sind kraftvoll, weil sie
unbestritten sind. Der besondere Respekt, dessen sie sich erfreuen, liegt darin, dass sie allgemein
respektiert werden. Das Verbrechen ist aber nur möglich, weil dieser Respekt nicht wirklich universell ist.
Folglich impliziert das Verbrechen, dass sie nicht absolut kollektiv sind und dass es diese Einstimmigkeit
untergräbt, die die Quelle der Autorität ist. Wenn sich also, sobald ein Verbrechen geschieht, die
Individuen, deren Bewusstsein es verletzt hat, nicht vereinigen um sich gegenseitig zu bezeugen, dass sie
in Kommunikation bleiben und dass dieser besondere Fall eine Anomalie ist, so würde nicht ausbleiben
können, dass sie auf die Dauer erschüttert würden. Sie müssen sich stärken und sich gegenseitig
versichern, dass sie noch immer im Einklang stehen. Das einzige Mittel hierfür ist die gemeinsame
Reaktion. Mit einem Wort: Da es das gemeinsame Bewusstsein ist, dass verletzt worden ist, muss es auch
genau dieses gemeinsame Bewusstsein sein, das den Widerstand leistet und folglich muss der Widerstand
ein kollektiver sein. (Durkheim 2004/1893: 153)
An diesem Textabschnitt lassen sich einige zentrale gesellschaftliche Funktionen des
Skandals aufzeigen. Zunächst einmal dienen die kollektiven Gefühle der Wiederherstellung
einer verletzten moralischen Ordnung, die eine universelle und unbedingte Geltung
beansprucht. Die Enthüllung der Normverletzung führt zu einer Enttäuschung der kollektiven
Erwartung, dass man sich jederzeit ordnungsgemäß verhält. Ohne die kollektive Empörung
wäre mit einer kognitiven Anpassung der kollektiven Erwartungshaltung zu rechnen (vgl.
1.1.1), was aber die universelle Geltung der Norm untergraben würde. Stattdessen wird die
268
Exemplarisch ist hierfür vor allem öffentliche Reaktionen auf bekannt gewordene Fälle des
Kindesmissbrauchs. Generell scheint es der Fall zu sein, dass sich – zumindest in modernen Gesellschaften –
negative Gefühle in sehr viel stärkerem Maße für die Kollektivierung von Emotionen eignen. Dies würde
Bernhard Giesens These belegen, dass in modernen Gesellschaften die negative Transzendenz des Opfers
weitgehend an die Stelle positiver Transzendenzen getreten ist (2005).
271
Normverletzung durch die Skandalisierung als ein Verstoß gerahmt, der die Geltung der
Regel nicht außer Kraft setzt. Die kollektive Empörung führt so zur Wiederherstellung des
verletzten kollektiven Bewusstseins (bzw. Gewissens) und damit zur Reproduktion der
moralischen Ordnung. Diesen über kausalen Mechanismen erzielten Effekt des Skandals kann
man als „normative Reproduktionsfunktion“ bezeichnen.
Nehmen wir nun allerdings nicht länger die mental verankerte moralische Ordnung als
Bezugspunkt unserer Funktionsbestimmung, sondern das aus Akteuren und ihren
Interaktionen bestehende soziale Gefüge, so wird ein weiterer Effekt des Skandals sichtbar.
Die wechselseitige Bezeugung der Geltung der Norm und das spontane Aufwallen der
Empörung gegenüber dem Normbruch bringt die einzelnen Menschen näher zusammen – und
das nicht nur räumlich, sondern auch sozial. Der Aufstand der Anständigen erzeugt somit
(mechanische) Solidarität (im Sinne Durkheims) und trägt dadurch zur Herstellung einer
gesellschaftlichen Gemeinschaft (im Sinne Parsons) bei. Heute können wir sagen, dass der
Skandal einen Beitrag zur Integration der Gesellschaft leistet – genauer gesagt, zu ihrer
Sozialintegration (vgl. Lockwood 2008). Dieser vergemeinschaftende Effekt von Skandalen
kann
„soziale
Integrationsfunktion“
genannt
werden.
Sowohl
die
normative
Reproduktionsfunktion als auch die soziale Integrationsfunktion beziehen sich auf die
nichtintendierten Folgen des absichtsvollen Handelns der Akteure und sind in ihrer Erfüllung
vom jeweiligen Verlauf des Skandals abhängig. Latente Funktionen dürfen nicht als kausale
Mechanismen und Automatismen begriffen werden und stellen auch keine bewussten
Handlungsziele der Akteure oder quasi-teleologische Attraktoren der öffentlichen
Kommunikation dar. Die Erklärung eines Skandals muss von seiner funktionalen Analyse
getrennt werden. Allerdings liefert die funktionale Analyse ein Schema, vor dessen
Hintergrund erklärungsbedürftige Anomalien sichtbar werden, die dann in einer empirischen
Analyse erklärt werden können.
Der hier skizzierte funktionalistische Ansatz widerspricht den verbreiteten Formen der
Skandalkritik. Vom Standpunkt einer ideologiekritischen Skandalkritik aus betrachtet (5.1.1)
handelt es sich beim Kollektivbewusstsein des Skandals um ein „falsches Bewusstsein“. Die
im Skandal aufschäumenden Emotionen, der öffentliche Zorn und die Solidarität der Zornigen
fungieren hier, mit Marx zu sprechen, vor allem als „Opium des Volkes“, das die Akteure
erregt und benebelt, sie aber nicht die wahren Hintergründe des Spektakels durchschauen
lässt. Zweck des Skandals ist hier vielmehr die Täuschung des Volkes, die von politischen
Akteuren gesteuert wird und vor dem Publikum geheim gehalten werden muss. Den Beitrag
272
des Skandals zur Reproduktion von Normen kommt – wie auch die allgemeine Bedeutung
von Moral für Öffentlichkeit und Politik – in diesen Ansätzen zu kurz. Aber auch die
konservative Kritik am Skandal (5.1.2), der man keine Vernachlässigung seiner moralischen
Dimension vorwerfen kann, verkennt die latente Funktion von Skandalen. Konservative
Kritiker empören sich wie alle anderen über den Normverstoß, aber können nicht sehen, wie
gerade ihr Lamentieren die Norm kontrafaktisch wiederherstellt. Das konservative
Bewusstsein des Skandals ist – frei nach Hegel – ein „unglückliches Bewusstsein“.
Auf die hier vorgeschlagene funktionalistische Skandaltheorie trifft auf ein Großteil der
Kritik, die an funktionalistischen Ansätzen geübt wurde, nicht zu. Kritiker des
Funktionalismus verwenden „Funktionalismus“ gerne als einen Strohmann, der mit ernsthaft
vertretenen Positionen kaum mehr etwas zu tun hat.269 Als Beispiel einer Kritik an
funktionalistischen Skandaltheorien sollen im Folgenden die Ausführungen von HansMatthias Kepplinger (2005: 148-161) dienen. Dieser knüpft an die Kritik der
funktionalistischen Straftheorie an – leider ohne auch nur einen Vertreter dieser Theorie beim
Namen zu nennen oder gar zu zitieren. Kepplinger orientiert sich vor allem an der Arbeit von
Heinrich Popitz über die „Präventivwirkung des Nichtwissens“ (2006: 158-174), die er als
eine Kritik der funktionalistischen Straftheorie interpretiert. Popitz argumentiert nämlich, dass
die Entdeckung und Bestrafung aller Verfehlungen zu einer „schrecklich-unmöglichen
Gesellschaft“ führen würde. Popitz bestreitet damit keineswegs die Funktionalität von Strafe,
allerdings kann sie ihm zufolge ihre soziale Wirksamkeit paradoxerweise nur solange
bewahren, wie die Mehrheit nicht bekommt, was sie verdient (2006: 174). Richtig verstanden
stellen die Überlegungen von Popitz keine Kritik, sondern ein unverzichtbares Korrektiv zum
naiv-affirmativen Skandalverständnis dar. Kepplinger schüttet durch seine einseitige
Rezeption von Popitz das Kind mit dem Bade aus.
Gerade Durkheim als klassischer Verfechter einer funktionalistischen Straftheorie geht
keineswegs davon aus, dass „die Aufdeckung und Bestrafung von Straftaten“ dazu führe,
„dass die Gesetze eingehalten werden“ (Kepplinger 2005: 149). Vielmehr teilen Durkheim
und Popitz die Überzeugung, dass eine Gesellschaft ohne Verbrechen weder möglich noch
wünschenswert sei. Kepplingers Missverständnis beruht in wesentlichen Teilen auf einer
unzureichenden Berücksichtigung der Unterscheidung zwischen „manifesten“ und „latenten
269
So z.B. Hans Joas und Wolfgang Knöbl (2004), vgl. auch die Rezension des Verfassers zur englischen
Ausgabe ihres Buches (Binder 2010a). Für eine Verteidigung eines richtigverstandenen Funktionalismus
siehe Robert K. Merton (1967) und Shmuel N. Eisenstadt (1990). Zum rekonstruktiven Funktionalismus und
zur Funktion der Kritik funktionaler Ansätze vgl. die Ausführungen von Bernhard Peters (1993).
273
Funktionen“ (hierzu Merton 1995a). In Gesellschaften mag sich die Vorstellung durchsetzen,
dass die Bestrafung tatsächlich die (manifeste) Funktion erfüllen sollte, deviante Handlungen
in Zukunft zu verhindern. In dem einen oder anderen Fall mag Strafe ja tatsächlich den
gewünschten pädagogischen Erfolg bzw. abschreckendenden Effekt haben; aufs Ganze
gerechnet lassen sich jedoch nur schwerlich Korrelationen zwischen der Härte der Strafe und
der Häufigkeit des Verbrechens feststellen.270 Die weitaus wichtigere (latente) Funktion des
Strafens, die von keinem der Akteure intendiert wird, sondern eine nichtintendierte Folge
ihres Handelns darstellt, besteht darin, die kollektive Erwartung an normgerechtes Handeln
wiederherzustellen. Ein gewisses Maß an Verbrechen dient somit der Stabilisierung der
normativen Ordnung der Gesellschaft, da ein Normverstoß erst die Reproduktion
kontrafaktischer (und das heißt: normativer) Erwartungshaltungen ermöglicht.
Es wäre irreführend, wenn man, wie dies Kepplinger (1996, 2005) zu tun pflegt, den
Nutzen von Skandalen nur auf Basis seiner erwünschten Wirkungen bzw. seiner manifesten
Funktionen einer wissenschaftlichen Beurteilung unterzöge. Auch wenn Skandale, wie
Kepplinger in seinen Studien nachgewiesen zu haben glaubt, tatsächlich das Vertrauen in
politische Institutionen untergraben und damit zu Politikverdrossenheit führen, bedeutet dies
noch lange nicht, dass der Schaden von Skandalen ihren gesellschaftlichen Nutzen überwiegt.
Misstrauen gegenüber politischen Würdeträgern und Institutionen kann genauso gut als
Indikator für Demokratiefähigkeit gedeutet werden. Hinter Kepplingers Theorie des Skandals
verbirgt sich letzten Endes eine konservative Skandalkritik (3.1.2), die den affektivirrationalen Regungen der Öffentlichkeit misstraut und ein Expertenmonopol rationaler
Verfahren auf Wahrheitsfindung und Rechtsprechung einfordert.
5.1.5. Zur Funktionalität und Kontingenz von Skandalen
Anhand von Durkheims knappen Ausführungen zum Skandal in seiner Straftheorie wurden
bereits zwei Funktionen des Skandals herausgearbeitet: Einerseits tragen Skandale zur
Reproduktion
der
moralischen
Ordnung
einer
Gesellschaft
bei
(normative
Reproduktionsfunktion), andererseits bringen Skandale die Mitglieder einer Gesellschaft
zusammen, indem sie ihnen einen Anlass und ein Gesprächsthema geben, um sich in
Interaktionen
wechselseitig
ihrer
Solidarität
versichern
zu
können
(soziale
Integrationsfunktion). Trotz ihrer Vorzüge erweist sich die funktionalistische Straftheorie
270
Obwohl die Vereinigten Staaten von Amerika in einigen Bundesstaaten immer noch die Todesstrafe
vollstrecken, liegt die Mordrate deutlich höher als beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland.
274
nach Durkheim – dies sei den Kritikern zugestanden – bald als unterkomplex und
erweiterungsbedürftig. Im Folgenden soll vor allem Durkheims evolutionäre Perspektive, die
der Kontingenz historischer Entwicklungen nur unzureichend Rechnung trägt, und die
Annahme
einer
gesellschaftlichen
Kohärenz
problematisiert
werden.
Durkheim
konzeptualisiert sozialen Wandel vorwiegend als relativ irreversible und unilinear
fortschreitende Entwicklung, beispielsweise in Richtung einer zunehmenden Arbeitsteilung
oder einer abnehmenden mechanischen Solidarität (2004/1893). Eine soziologische
Perspektive, welche den großen Erzählungen der Moderne skeptisch gegenübersteht, wird
sich dagegen mit der fundamentalen Offenheit von Geschichte abfinden müssen (2.2.3-4).
Sozialer Wandel muss als Resultat historischer Ereignisse und handelnder Akteure
aufgefasst werden. Die jeweilige faktische Ordnung mag zwar kontingent sein, kann aber in
ihrer Genese dennoch über geeignete soziale Mechanismen rekonstruiert werden. Durkheim
geht zudem von einem relativ einheitlichen und widerspruchfreien Gesellschaftsgebilde aus,
das über einen verbindlichen Normenkatalog für jedermann verfügt. Damit bleibt die
Fragmentierung,
Hybridisierung
und
Widersprüchlichkeit
moderner
Gesellschaften
unterbelichtet. Skandale enthüllen nicht nur moralische Verfehlungen, sie thematisieren auch
häufig latente Spannungen oder können dabei helfen, bisher unklare moralische
Überzeugungen zu artikulieren. Die im Skandal zu Tage tretenden Norm- und Wertkonflikte
werden so zum Motor gesellschaftlicher Entwicklung. In diesem Sinne können wir auch von
einer
„normgenetischen
Funktion“
des
Skandals
sprechen,
da
sich
unscharfe
Erwartungshaltungen nicht selten erst im Skandalisierungsprozess konkretisieren und zu
sozialen Normen kristallisieren. Es können auch neue Lösungen für Norm- und Wertkonflikte
gefunden und auf Dauer gestellt werden. Skandale fördern somit einen gesellschaftlichen
Lernprozess (Hondrich 2002: 55-73).
Ein weiterer Punkt, auf den es sich näher einzugehen lohnt, ist die Bedrohung des
kollektiven Selbstbildes einer Gesellschaft durch Skandale (vgl. 8.2). Diese Bedrohung der
kollektiven Identität muss allerdings zugleich als Chance einer kollektiven Wiedergeburt
verstanden werden. Poststrukturalistische Kulturtheorien im Anschluss an Derrida haben auf
die Unverzichtbarkeit eines „konstitutiven Außens“ für kollektive Identitäten hingewiesen
(z.B. Laclau & Mouffe 2000; vgl. auch 1.3.2). Damit gehen die entsprechenden symbolischen
und sozialen Ausgrenzungsmechanismen einher: Die Exklusion des Normbrechers, seine
Bestrafung, ist ein notwendiges Korrelat zur Integration der Gesellschaft. Die Bestrafung des
Verbrechers reinigt die Gemeinschaft in demselben Maße, wie dieser durch die Strafe
275
symbolisch aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird. Dies lässt sich gut am Rechtssystem
beobachten, wo die symbolische Exklusion oft durch eine räumliche Isolation der Kriminellen
ergänzt wird, beispielsweise durch die Unterbringung im Gefängnis (6.3.1). Hingegen erfolgt
die moralische Inklusion und Exklusion über die Zuteilung von Achtung oder Missachtung
(4.1.1). Die Bestrafung durch das Recht und die moralische Ächtung gehen zwar oft Hand in
Hand, sind aber logisch voneinander unabhängig. So stellen Schwarzarbeit und
Steuerhinterziehung in weiten Teilen der Bevölkerung Kavaliersdelikte dar, das heißt sie
werden wohl rechtlich, aber nicht moralisch verurteilt. Im Gegensatz zum Recht überwiegt
bei Skandalen das Moment der öffentlichen Ächtung, da der Skandalisierte meistens keine
rechtliche Verfolgung und Bestrafung zu befürchten hat (z.B. bei der außerehelichen Affäre
eines Politikers). Den Ausschluss unreiner und verunreinigender Elemente aus einer
Gemeinschaft können wir als „symbolische Reinigungsfunktion“ bezeichnen. Durch sie wird
die kollektive Identität einer Gruppe wiederhergestellt.
In diesem Zusammenhang ist der „Sündenbock“-Mechanismus, wie er von René Girard
(1992, 2006) im Mythos, in der Literatur und der Geschichte herausgearbeitet wurde,
aufschlussreich. Der Sündenbock repräsentiert nicht nur die das konstitutive Außen, sondern
nimmt auch die Sünden der Gemeinschaft auf sich. Dabei werden die eigenen Mängel auf das
Opfer projiziert – der kleine Mann vergisst seine eigenen Steuersünden, wenn wieder einmal
die Hatz auf Schwarzkonten in der Schweiz entbrennt. Neben der Funktion der symbolischen
Reinigung erfüllt das Opfern eines Sündenbocks, auch im Skandal, eine „kathartische
Funktion“. Gäbe es, so Girard, den Sündenbock nicht, würden die aufgestauten Aggressionen
in der Gemeinschaft zum unkontrollierten Ausbruch von Gewalt führen. Das kollektive
Aufwallen der Empörung kanalisiert diese potenziell destruktiven Affekte und stabilisiert so
den emotionalen Haushalt der Gesellschaft. Neben dieser affektiven Leistung erfüllt der
Skandal auch eine rein „kognitive Funktion“, da im Zuge der Thematisierung von
Verfehlungen bestimmte Sachverhalte oft auch erstmals einem breiteren Publikum zugänglich
gemacht werden (vgl. Hondrich 2002: 68).
Rekapitulieren wir noch einmal das bisher Erreichte: Es lassen sich dem Skandal in der Tat
unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen zuschreiben, zu denen aber gerade nicht – oder
nur sehr bedingt – die künftige Prävention von moralischen Verfehlungen gehört. Der Sinn
des Skandals liegt vielmehr in der kollektiven Empörung selbst, die ein Ausdruck dessen ist,
was Durkheim „mechanische Solidarität“ nennt. Die kollektive Empörung ist nicht nur eine
Folge, sondern zugleich auch Ursache dieser Solidarität. Der Skandal integriert moderne
276
Gesellschaften, indem er zeitweilig zum Symbol einer gesellschaftlichen Gemeinschaft wird.
Die gesellschaftliche Gefahr, die von einer öffentlichen moralischen Verfehlung ausgeht, liegt
nicht in den direkten Folgen dieser Verfehlung, sondern in ihren Konsequenzen für das
moralische Bewusstsein der Menschen. In anderen Worten: Es geht im Skandal in erster Linie
darum, die normative Erwartungshaltung der Akteure zu erneuern, und weniger darum,
sicherzustellen, dass auch entsprechend dieser Erwartungen gehandelt wird. Aus diesem
Grund wäre es dysfunktional, jeden Verstoß öffentlich zu machen, aber jeder öffentliche
Verstoß muss skandalisiert werden, damit die moralische Ordnung der Gesellschaft keine
bleibenden Schäden davonträgt. Allerdings müssen moralische Verfehlungen von Zeit zu Zeit
ans Licht der Öffentlichkeit geraten, weil eine Regel nur durch ihre Übertretung, eine Norm
nur im Verstoß gegen sie, sichtbar wird. Dadurch leisten Skandale einen Beitrag zur
Reproduktion der moralischen Ordnung der Gesellschaft. Darüberhinaus nehmen Skandale
auch in hohem Maße Einfluss auf die Gestaltung von moralischen Ordnungen, indem sie
strukturelle Spannungen zum öffentlichen Thema machen oder einen normativen
Regelungsbedarf anzeigen. Nicht zuletzt dient der Skandal der Produktion eines konstitutiven
Außens sowie der Affektregulierung moderner Gesellschaften. Die Funktionen des Skandals
lassen sich wie folgt in einer Tabelle zusammenfassen:
Gesellschaftlicher Teilbereich
Bezugsproblem
Funktion
Moralische Ordnung
Strukturerhalt
Normreproduktion
Gesellschaftliche Gemeinschaft
Solidarität
Sozialintegration
Sozialer Wandel
Normative Anpassung
Normproduktion
Kollektive Identität
Kollektive Repräsentation
Reinigungsfunktion
Gesellschaftlicher Affekthaushalt
Affektregulierung
Kathartische Funktion
Gesellschaftliches Wissen
Kognitive Anpassung
Kognitive Funktion
277
5.2. Der Skandal als Ereignis, Ritual und Drama
Mag sich alles ändern in einer schnelllebigen Welt: Skandale sind
darin eine Art ruhender Pol, eine verlässliche Größe, geradezu ein
Symbol für die ewige Wiederkehr des Gleichen. Dabei scheint es
doch immer der Reiz des Neuen zu sein, mit dem sie uns anziehen.
Karl Otto Hondrich, Einblicke in die Unterwelt (2002: 9)
Gesellschaften sind von fundamentalen Dichotomien durchzogen, die für eine soziologische
Theoriebildung wichtige Eckpfeiler darstellen. So changieren soziale Phänomene zwischen
Struktur und Prozess, Systemerhaltung und kreativem Handeln, Routine und Ereignis,
Alltäglichem und Außeralltäglichem, Regel und Ausnahme. Auch der Skandal hat
(mindestens) zwei Gesichter. Zum einen erstaunt die Verlässlichkeit, mit der Skandale immer
wieder die Öffentlichkeit heimsuchen, zum anderen inszeniert sich jeder Skandal als
unerhörte und einzigartige Begebenheit. Die Beständigkeit von Skandalisierungen hat
Hondrich (2002) dazu bewogen, vom Skandal als einer „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ zu
sprechen. Hondrich versucht dieses Faktum (oder besser: Fatum) mit der fortschreitenden
funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften und dem Beitrag der Moral zur
Aufrechterhaltung dieser Differenzierung zu erklären (2002: 13f., 150-164). So entstehen
politische Skandale beispielsweise nicht selten infolge einer Verquickung von öffentlichem
Amt und privaten Geschäftsinteressen, also an der Schnittstelle von politischem System und
Wirtschaftssystem. Die funktionale Differenzierung führt nicht nur zu Reibungen zwischen
den einzelnen Funktionssystemen, sondern auch zu Loyalitätskonflikten, da segmentäre und
stratifizierte Ordnungen nicht einfach verschwinden, sondern parallel zur funktionalen
Differenzierung bestehen bleiben. Gerade die Loyalität zu partikularen Gruppen wie der
Familie oder der Firma wird in modernen Gesellschaften oft als Beeinträchtigung der
Funktionsweise von Bürokratien und Märkten wahrgenommen und als Korruption oder
unlauteres Geschäftsgebaren gebrandmarkt. Die Differenzierung moderner Gesellschaften
führt außerdem zu unscharfen Grenzen und moralischen Graubereichen, wodurch sich die
Möglichkeit für Normverstöße noch einmal potenziert. Skandale ziehen diese Grenzen
zwischen den Systemen, aber auch zwischen regelkonformem und abweichendem Verhalten,
immer wieder neu. Skandalisierer verwenden die binären Codes des zivilgesellschaftlichen
Diskurses (4.3.2), um die moralischen Grauzonen mit moralisierender Schwarzweißmalerei
zu übertünchen – eine Sisyphos-Aufgabe, da die Grenzen zwischen „Innen“ und „Außen“
bzw. „gut“ und „böse“ ohne Skandalisierung immer wieder zu verwischen drohen.
278
Die moralische Ordnung einer Gesellschaft setzt durch ihre Normen einen Maßstab für
normkonformes Verhalten. Diese Normsetzung macht abweichendes Verhalten zuallererst
möglich, ja erzwingt geradezu die Entstehung einer devianten Unterwelt, die vor den Blicken
der moralischen Öffentlichkeit geschützt werden muss (Becker 1981; Hondrich 2002).
Zwischen der normativen Ordnung und den immer wieder stattfindenden Regelverstößen
besteht nicht nur ein antagonistisches, sondern auch ein komplementäres Verhältnis (vgl.
Ortmann 2003). Erst der Regelverstoß bringt die Geltung der Regel zu Bewusstsein; und erst
vor dem Hintergrund der Regel kann eine Handlung als Ausnahme gerahmt werden. Die
Enthüllung des Normverstoßes ist ein Ereignis, das die Unterwelt des devianten Handelns für
einen Moment aufblitzen lässt, während das Grollen des Publikums noch einige Zeit
nachhallt. Trotz dieser prinzipiellen Vorhersagbarkeit von Skandalen tritt der einzelne
Skandal als historisches Ereignis in Erscheinung, das ungeahnte Folgen zeitigen kann.
Der Skandal lässt sich im Anschluss an Turner (2005) als „antistrukturelles Phänomen“
bezeichnen, das eine wichtige Stellung innerhalb der Struktur moderner Gesellschaften
einnimmt. Zwischen den Begriffen „Struktur“ und „Antistruktur“ besteht ein wechselseitiges
Konstitutionsverhältnis, ähnlich dem gestaltpsychologischen Verhältnis von „Figur“ und
„Hintergrund“. Gerade wegen des wissenschaftlichen Interesses an der Entdeckung relativ
stabiler gesellschaftlicher Strukturen besitzt das antistrukturelle Moment für Turner eine
besondere epistemologische Relevanz:
Tatsächlich stößt man in menschlichen Kulturen oft darauf, dass strukturelle Widersprüche, Asymmetrien
und Anomalien unter Schichten von Mythen, Ritualen und Symbolen zum Vorschein kommen, die den
axiomatischen Wert wichtiger Strukturprinzipien gerade in Situationen betonen, in denen diese am
wenigsten zu funktionieren scheinen. (Turner 2005: 51)
In einer ähnlichen Stoßrichtung hat auch schon der Soziologe Harold Garfinkel
vorgeschlagen, mit Hilfe von Krisenexperimenten die unhinterfragten Annahmen des
alltäglichen Lebens aufzudecken (1967; 1.2.1). Skandale können in diesem Sinne als
makrosoziale Krisenexperimente aufgefasst werden. Turner hat in seinen ethnologischen
Fallstudien nicht nur gezeigt, dass antistrukturelle Ereignisse latente gesellschaftliche
Strukturen sichtbar machen, sondern auch darauf hingewiesen, dass bestimmte Formen
eingehegter Antistruktur (wie der Karneval oder das indische Holi-Fest) in funktionaler
Hinsicht einen Beitrag zur strukturellen Reproduktion einer gesellschaftlichen Ordnung
leisten können (2005: 169-179). Darüberhinaus sind antistrukturelle Phänomene bevorzugte
Orte der Entstehung des Neuen. So gruppieren sich Sekten in der Regel um einen
charismatischen, antistrukturellen Kern, der sich im Prozess ihrer Institutionalisierung und
279
Verkirchlichung verflüchtigt.271 Die kulturwissenschaftliche Relevanz der Antistruktur lässt
sich in drei Punkten zusammenfassen: Aus einer epistemologischen Perspektive ermöglicht
sie die Erforschung gesellschaftlicher Strukturen, in funktionaler Hinsicht leistet sie einen
Beitrag zum Strukturerhalt, und in historischer Betrachtungsweise öffnet sie den
geschlossenen Kreislauf der Strukturreproduktion für das Neue. Turners Begriffspaar muss
relational verstanden werden: Was als „Struktur“ oder „Antistruktur“ bezeichnet wird, hängt
vom jeweiligen Referenzrahmen ab. Was im einen Fall „Struktur“ darstellt, kann schon im
nächsten Fall als „Antistruktur“ fungieren. Auch der Skandal besitzt einen eigentümlich
strukturierten Prozessverlauf, der wiederum antistrukturelle Momente beinhaltet.
Bevor wir im nächsten Kapitel auf den typischen Verlauf eines Skandals eingehen, soll
dieser zunächst als Medienereignis, öffentliches Ritual und soziales Drama charakterisiert
werden. Die Unterscheidung zwischen „Ereignis“, „Ritual“ und „Drama“ orientiert sich an
einer Typologie verschiedener Ereignistypen von Bernhard Giesen (2006b). Ereignisse erster
Ordnung stellen eine Erscheinung des Außerordentlichen dar, das in den alltäglichen Lauf der
Dinge einbricht. Sie sind damit antistrukturelle Phänomene par excellence. Rituale lassen sich
als Ereignisse zweiter Ordnung beschreiben, die der Einhegung antistruktureller Momente
dienen (2.3.2). Sie unterwerfen die einzelnen Ereignisse dem Gesetz der Serie. Ereignisse
dritter Ordnung kombinieren Ereignishaftigkeit und Strukturbildung. So handelt es sich bei
theatralischen und sozialen Performanzen um symbolische Akte, die in einer Serie stehen,
ihre Bedeutung aber erst im Unterschied zu vorangegangenen Ereignissen und vor dem
Hintergrund kultureller Mustern gewinnen (2.3.3-4). Der Erfolg von sozialen Performanzen,
die den Verlauf eines Skandals als einem sozialen Drama maßgeblich beeinflussen (2.3.5), ist
kontingent, aber keineswegs zufällig. In der Konzeption des Skandals als einem sozialen
Drama erschließt sich uns eine historische Form der Kontingenzbewältigung, die sich sowohl
von der radikalen Kontingenz des ursprünglichen Ereignisses als auch vom starren Gesetz der
Serie abhebt.
5.2.1. Der Skandal als Medienereignis
Jedes Ereignis stellt eine „unerhörte Begebenheit“, eine außerordentliche Verkörperung des
Neuen dar. Im Ereignis tritt das Reale zu Tage, weil die symbolische Ordnung der Welt aus
271
So auch bei der Entstehung des Christentums, wobei sich dieser Prozess bei kirchlichen Abspaltungen und
Neurungen wiederholte. Vgl. hierzu Turners Untersuchungen zum Heiligen Franziskus und der Entstehung
des Franziskanerordens (2005: 136-148).
280
den Fugen gerät.272 Somit transzendiert das Ereignis – nicht unähnlich der charismatischen
Persönlichkeit bei Max Weber (2002/1921-22: 140f.) – die alltägliche Ordnung der Dinge.
Wie das Charisma einer Person ist auch die Außeralltäglichkeit eines Ereignisses dem
zeitlichen Verfall unterworfen.273 Ganz allgemein ergeben sich drei mögliche Wege der
„Veralltäglichung“ von Ereignissen: Ihre natürliche Profanisierung, ihre Überschattung durch
dringlichere Ereignisse und schließlich ihre partielle Aufhebung durch gegenläufige
Ereignisse. So kann auch der charismatische Führer nicht nur aufgrund von bloßer
Gewöhnung und räumlicher Nähe (nach Hegel gibt es für den Kammerdiener keinen Helden),
sondern auch infolge einer Skandalisierung seinen außeralltäglichen Status verlieren.
Skandale stellen soziale Katalysatoren im natürlichen Verfallsprozess des Charismas dar (vgl.
Giesen 2010: 226). Als Medienereignisse können Skandale von anderen Ereignissen
überschattet oder aufgehoben werden – was nicht zuletzt die Enthauptung von „Nick“ Berg
zwei Wochen nach Ausbruch des Abu-Ghraib-Skandals gezeigt hat (8.4.2).
Das Ereignis ist, wie im Übrigen auch Webers Begriff des „Charismas“, keine natürliche,
sondern eine beobachterabhängige Kategorie. Jedes Ereignis („event“) stellt damit immer
auch schon eine Selektion vor dem Hintergrund des bloßen Geschehens („occurrence“) dar
(so Mast 2006: 117). Die Analyse von Medienereignissen zeigt, dass Ereignisse nach
Maßgabe medienspezifischer Prinzipien und Formate konstruiert werden. Die Selektion und
Produktion von Ereignishaftigkeit findet im System der Massenmedien statt. Luhmann
zufolge operieren die Massenmedien mit der Leitunterscheidung von „Information“ und
„Nichtinformation“ (1996). Ereignisse sind nach dieser Terminologie per se informativ. Zu
den Prozessen der Selektion von Nachrichten und der Produktion von Ereignissen gibt es
mittlerweile umfassende Untersuchungen mit relativ gesicherten, wenngleich auch wenig
überraschenden Erkenntnissen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die sogenannte
272
Charakteristisch für Medienereignisse ist eine zweifache Verschränkung des Symbolischen mit dem Realen:
Zum einen wird das Reale nur als Riss im Symbolischen sichtbar, zum anderen verwandelt sich das Reale
sofort zum Zeichen, das aber dennoch die Spur des Realen trägt. Dieser Riss im Symbolischen darf nicht nur
als gewaltsames Durchbrechen des Realen gedeutet werden, sondern ist als Selektion und Erzeugung eines
Realitätseffektes zu verstehen (1.3.4).
273
Zehn Jahre nach dem 11. September 2001 haben die Anschläge auf das World Trade Center spürbar an
weltgeschichtlicher Bedeutung eingebüßt. Der Kampf gegen den Terror, der die Präsidentschaftswahlen im
Jahr 2004 noch maßgeblich geprägt hatte, spielte im Wahlkampf 2008 nur noch eine untergeordnete Rolle,
nicht zuletzt weil das Trauma von 9/11 von der Finanzkrise überschattet wurde. Der Bedeutungsverlust von
9/11 spiegelt nicht nur die „natürliche“ Veralltäglichung des Ereignisses wieder, sondern wurde durch andere
Ereignisse beschleunigt. In dieser Arbeit wird die These vertreten, dass der Abu-Ghraib-Skandal einen
zentralen Wendepunkt im Krieg gegen den Terror darstellt.
281
„Nachrichtenwerttheorie“, in der zwischen „Nachrichtenfaktoren“ als den unabhängigen
Variablen und dem „Nachrichtenwert“ als abhängiger Variable unterschieden wird
(Ruhrmann et al. 2003). Als klassische Nachrichtenfaktoren gelten „Vereinfachung“
(simplification), „Identifikation“ (identification) und „Sensationalismus“ (sensationalism),
elaboriertere Versionen der Theorie weisen wesentlich mehr Faktoren auf (vgl. Maier 2003).
Zudem wird ein deutlicher Anstieg der Bedeutung des Nachrichtenfaktors „Visualität“, also
der Verfügbarkeit geeigneten Bildmaterials, konstatiert (Ruhrmann 2003: 231f.). Es fällt
sofort auf, dass die Skandalisierung von moralischen Verfehlungen, gemessen an der
klassischen Nachrichtenwerttheorie, eine attraktive Strategie für das Mediensystem darstellt.
Skandale simplifizieren, weil sie Missstände nach einem binären Schwarz/Weiß-Schema
anprangern, und personalisieren, da sie Verantwortlichkeiten individuell zurechnen. Sowohl
die Personalisierung der Schuldfrage als auch die mit dem Skandal einhergehende
Dramatisierung erleichtert die Identifikation des Publikums mit den Akteuren. Die heimliche
Faszination und die offene Abscheu auf Seiten der Zuschauer tragen ihren Teil dazu bei, den
Skandal zu einer Sensation und einem Spektakel aufzubauschen. Die Verfügbarkeit von
Bildmaterial steigert die Attraktivität von Skandalen ungemein, wie es nicht zuletzt der AbuGhraib-Skandal, aber auch schon die Berichterstattung über das My-Lai-Massaker während
des Vietnamkrieges (5.2.3) gezeigt hat.
Medienereignisse stellen aber nicht nur Informationen bereit, die von den Rezipienten rein
kognitiv verarbeitet werden. Das kollektive Interesse an Medienereignissen wird erst durch
den emotionalen und evaluativen Gehalt der Berichterstattung verständlich. Was rein kognitiv
eine Neuigkeit darstellt (wie der sprichwörtliche Sack Reis, der in China umfällt), muss noch
lange nicht relevant sein. Nur die emotionale Besetzung und evaluative Beurteilung von
Ereignissen, die immer vor einem kulturellen Hintergrund stattfindet, erlaubt es, die Spreu
vom Weizen zu trennen. Als Hintergrundfolie für die Wahrnehmung von Ereignissen dienen
gesellschaftliche
Klassifikationsschemata,
vor
allem
aber
die
durkheimianische
Unterscheidung zwischen dem „Heiligen“ und dem „Profanen“. Was als „heilig“ gilt, steht
nicht nur im Zentrum des kollektiven Interesses, sondern vermag es auch, kollektive Gefühle
zu wecken. Das Profane ist höchstens von individuellem Interesse.
Als „high holidays of mass communication“ repräsentieren Medienereignisse das heilige
Zentrum moderner Gesellschaften (Dayan & Katz 1996). Die Transzendenz von
Medienereignissen kann, wie schon das Heilige bei Durkheim (2005/1912: 548-555), sowohl
eine positive als auch eine negative Form annehmen. Zu den Medienereignissen mit positiver
282
Transzendenz zählen beispielsweise Krönungen und Hochzeiten (Shils 1975; Dayan & Katz
1988), während Anlässe für kollektive Trauer wie Krisen, Katastrophen und Attentate ex
negativo auf das heilige Zentrum einer Gesellschaft verweisen (Kear 1999; Alexander 2004;
Tiryakian 2005; Eyerman 2008). Aufgrund ihrer Bedeutung für das soziale Leben einer
Gemeinschaft gehen solche Ereignisse mit einer bedeutenden perspektivischen Verschiebung
einher. Dominiert im Alltag, insbesondere in der medialen Unterhaltung, die individuelle
Perspektive des Zuschauers, so tritt für denjenigen, der Zeuge eines Medienereignisses wird,
das kollektive Erleben in den Vordergrund.
Ereignisse lassen sich damit als zeitliche Erscheinung des Außerordentlichen, des Heiligen
und der kollektiver Identität einer Gemeinschaft definieren (vgl. Giesen 2006b: 335-338). Wie
der Ausbruch von Gewalt (3.1.4), so unterbricht auch das Ereignis die zeitliche Ordnung des
Alltags. Der Anschlag vom 11. September 2001 und die Ermordung von John F. Kennedy am
22. November 1963 können hier als Beispiele dienen: Die Forderungen des Tages blieben
liegen, stattdessen verfolgte man die Ereignisse am Bildschirm oder rief Bekannte und
Verwandte an, um sie über dieses Ereignis zu informieren oder sich mit ihnen auszutauschen.
Zugleich aber waren sich die Menschen an den Bildschirmen bewusst, dass sie zu Zeitzeugen
dieses Ereignisses wurden – ja dass die ganze Nation mit ihnen zusah.274 Hier zeigt sich eine
frappierende Übereinstimmung mit Durkheims Schilderung eines Moralskandals, der eine
kleine Stadt in Aufruhr versetzt und die alltäglichen Geschäfte zum Erliegen bringt (5.1.4).
Der Skandal stellt als Ereignis eine medial vermittelte und zeitlich begrenzte Erscheinung des
Außerordentlichen dar, die kollektiv erlebt wird. Skandale sind aber nicht nur
gesellschaftliche Epiphanien, sondern stellen zugleich den Versuch dar, das Unfassbare in
eine mediale und kulturelle Form zu gießen. Kurzum, wir müssen den Skandal zugleich als
ein Ereignis zweiter Ordnung und damit als öffentliches Ritual betrachten.
5.2.2. Der Skandal als öffentliches Ritual
Medienereignisse können nicht nur als reine Ereignisse, sondern auch als Medienrituale
betrachtet werden (vgl. Dayan & Katz 1988; Couldry 2003; Cottle 2006). Turner (2005) hat in
seinen Untersuchungen den ereignishaften und antistrukturellen Kern von Ritualen
herausgearbeitet, für den der Begriff des „Liminalen“ steht (2.3.2). Das Konzept der
Liminalität geht auf van Gennep (1999) zurück, der die sogenannten „Übergangsriten“ in drei
274
Gerade die Echtzeit- oder „Life“-Übertragung, die bei alltäglichen bzw. normalen Nachrichten absolut
unüblich ist, stach bei 9/11 besonders hervor. Sie betonte die Ereignishaftigkeit des Geschehens und verlieh
den Bildern – ihrer medial-symbolischen Vermittlung zum Trotz – den Stempel des Realen.
283
Phasen unterteilt: Erst die Abspaltung, sodann die Schwellen- oder liminale Phase, schließlich
die Wiederangliederung. Nach Turner zeichnet sich diese mittlere Phase durch „Antistruktur“
aus – ein Zustand, in dem die gesellschaftliche Ordnung zeitweise außer Kraft gesetzt wird
und sich ein Raum für kreatives Handeln und Innovationen öffnet. In diesem Sinne wird
Liminalität oft als Epiphanie, als eine Erscheinung des Heiligen erfahren. Dieses
Übergangsstadium kann – und hier drängt sich wiederum der Vergleich zu Durkheims
Konzeption des Heiligen auf – nicht nur eine positive, sondern auch eine negative Bewertung
erfahren:
Liminalität mag für viele weniger das Milieu kreativer zwischenmenschlicher oder transmenschlicher
Befriedigungen und Leistungen als vielmehr den Gipfel der Unsicherheit, den Einbruch des Chaos in den
Kosmos, der Unordnung in die Ordnung darstellen. Liminalität kann der Schauplatz von Krankheit,
Verzweiflung, Tod und Selbstmord, des Zusammenbruchs normativer, klar definierter sozialer
Beziehungen und Bindungen sein, ohne dass neue Beziehungen dieser Art an ihre Stelle träten.
Liminalität kann Anomie, Entfremdung [im Original „alienation“, W.B.], Angst,
die drei
verhängnisvollen Alpha-Schwestern vieler moderner Mythen bedeuten. (Turner 2009: 72)
Nicht nur die Epiphanie, das Erscheinen des lebendigen Gottes, kann sich im Liminalen
ereignen, es kann auch der bedrohliche Abgrund des Realen aufklaffen. Dementsprechend
beschwört die moralische Verfehlung im Skandal oft Ängste vor Werteverlust, Regellosigkeit
und Amoralität herauf. Der Skandal ist eine kulturelle Form, die es modernen Gesellschaften
erlaubt, auf eine als kollektiv empfundene Bedrohung zu reagieren.
Für ein Verständnis des Skandals als einem Medienritual ist der Rekurs auf den späten
Durkheim hilfreich. Während in der Arbeitsteilung noch die organische Solidarität im
Vordergrund steht und die mechanische Solidarität, auf der Skandale und Bestrafungen
basieren, vor allem als Kontrastfolie dient, widmet sich Durkheim in seinem Werk Die
elementaren Formen des religiösen Lebens verstärkt jenen Formen der Solidarität zu, die auf
einer substanziellen Ähnlichkeit zu basieren scheinen. Während der frühe Durkheim mit dem
Begriff der mechanischen Solidarität von einer natürlichen Ähnlichkeit der Mitglieder einer
Gesellschaft ausgeht, beschäftig sich der späte Durkheim mit den sozialen und kulturellen
Formen, durch welche Gleichförmigkeit, Übereinstimmung und kollektive Identität
hergestellt werden. Zentral sind hier vor allem die Begriffe „Ritual“ und „Symbol“. Das
Ritual stellt eine Form des kollektiven Handelns dar, welche Solidarität erzeugt und kollektive
Identität herstellt. Im Zentrum jedes Rituals stehen sakrale Objekte oder Symbole, die die
gesellschaftliche Solidarität und kollektive Identität repräsentieren (Durkheim 2005/1912:
166-177; Collins 2004: 81-87). So ist beispielsweise der „Kult des Individuums“ bei
Durkheim ein System von Vorstellungen und rituellen Praktiken, die sich auf den einzelnen
Menschen als heiliges Objekt beziehen (1986/1898, 2004/1893). Im Anschluss an Durkheim
284
wurden Medienereignisse immer wieder als „Medienrituale“ charakterisiert (Dayan & Katz
1988, 1996; Cottle 2006), wenn auch bisweilen deren Funktionalität vehement bestritten
wurde (Couldry 2003). Auch Robert Bellah (1991b) hatte in seinem bahnbrechenden Aufsatz
über die Zivilreligion die Rolle von Medienritualen in der amerikanischen Öffentlichkeit
hervorgehoben. Jeffrey Alexander (2003c), ein Schüler Bellahs, hat eine Analyse der
Watergate-Affäre als demokratisches Ritual vorgelegt. Im Zentrum von Skandalen finden wir
meistens „unreine Objekte“ wie die Watergate-Bänder oder die Abu-Ghraib-Fotografien, die
den Gegenstand ritueller Auseinandersetzungen bilden und öffentliche Diskurse anstoßen. Bei
dem Stein des Anstoßes handelt es sich in der Regel um ein corpus delicti, die Spur oder das
Indiz einer Normverletzung. Als solches repräsentiert das Objekt die Gruppe ex negativo. Das
„unreine Objekt“ zeichnet sich in der Regel durch kognitive Ambiguität, affektive Besetzung
und negative Bewertung aus. Das Medienritual fungiert als ein Reinigungsritual, das die vom
jeweiligen Objekt ausgehende Gefahr bannt und seine negative Liminalität in ein positives
Strukturprinzip transformiert.275
Skandale, wie wir sie heute kennen, sind erst durch die neuen Medientechnologien im
Ausgang des 19. Jahrhunderts möglich geworden (Bösch 2004). Sie verdanken sich zum
einen neuen Kommunikationskanälen, die den Kreis der Partizipierenden und insbesondere
des Publikums ungemein erweiterten. Zum anderen steigerten auditive und visuelle
Aufnahme-
und
Speichermedien
die
Möglichkeiten
der
Dokumentation
von
Normverletzungen und damit auch der Produktion von Symbolen und Artefakten, die im
Fokus von Medienritualen stehen können. Die Erfindung, Entwicklung und Verbreitung der
Fotografie hat die Skandalisierungsmöglichkeiten enorm gesteigert. Für den Abu-GhraibSkandal war die seinerzeit relativ neue Technik der Digitalfotografie von überragender
Bedeutung. Ohne die billigen und handlichen Digitalkameras, die einem rund um die Uhr zur
Verfügung standen, und die dazugehörige Computertechnik, die eine einfache, aber schwer zu
kontrollierende Verbreitung der Bilder ermöglichte, hätte es den Skandal vermutlich nie
gegeben. Medientechnologien sind für Skandale in doppelter Hinsicht von Bedeutung: Als
Aufnahme- und Speichermedien können sie für die Dokumentation von Normverletzungen
genutzt werden und fungieren somit als Bindeglied zwischen Normbruch und Enthüllung,
während sie als Kommunikations- und Verbreitungsmedien dafür sorgen, dass die Enthüllung
ein größeres Publikum erreicht und die Entrüstung einen Anspruch auf Repräsentativität
275
So ist der gekreuzigte Jesus, der sterbende Gott, das Skandalon schlechthin, das jedoch im Christentum zu
einer Ikone des Göttlichen geworden ist. In ähnlicher Weise transformieren säkulare Ikonen die bildliche
Darstellung von Normverstössen in Objekte eines säkularen Kults (2.1.5).
285
erheben kann. Sowohl der rituelle Charakter von Medienereignissen als auch ihre
symbolische Vermittlung durch Bilder lassen sich von einer normativen Warte aus kritisieren.
Die antiritualistische Kritik von Medienritualen (Couldry 2003; Edelman 2005) und die
ikonoklastische Kritik an ihrer visuellen Dimension (Müller 2004; aber auch Ruhrmann 2003:
231) mögen noch so berechtigt sein, sie sollten die Soziologie jedoch nicht daran hindern,
nach den gesellschaftlichen Funktionen von Ritualen und Bildern Ausschau zu halten.
Als Ereignisse zweiter Ordnung folgen öffentliche Rituale verbreiteten kulturellen Mustern
und allgemein bekannten Verlaufsschemata. Ganz allgemein kann man – in Analogie zur
Unterscheidung von „Riten der Lebenskrisen“ und „kalendarischen Riten“ bei Turner (2005:
161f.) – zwischen der rituellen Bewältigung „nichtperiodischer“ und „periodischer
Ereignisse“
unterscheiden.
Periodisch
wiederkehrende
Medienereignisse
wie
die
Olympischen Spiele oder politische Wahlkämpfe sind vorhersehbar und stellen im
Wesentlichen eine Wiederholung vorheriger Ereignisse dar. Sie haben feste Formen
(Fackellauf bzw. Fernsehduell), kombinieren diese aber mit einem gewissen Maß an
Kontingenz. In derselben Weise sichert das Ritual des politischen Wahlkampfes und der Wahl
den kritischen Übergang der Machtübergabe – gerade angesichts des ungewissen
Wahlausgangs. Man kann sagen, dass das demokratische Ritual der Wahl den liminalen
Übergang von einer Herrschaft zur nächsten Herrschaft absichert, indem sie die revolutionäre
Situation der Enthauptung des Königs immer wieder aufs Neue inszeniert (Giesen 2004c).
Nichtperiodisch wiederkehrende Ereignisse sind prinzipiell unvorhersehbar (die nächste
Krise kommt bestimmt, fragt sich nur wann). Fallen nichtperiodische Ereignisse sogar aus
dem Horizont des Erwartbaren, so können sie den kognitiven Hintergrund und die kulturelle
Identität einer Gesellschaft in Frage stellen, was traumatische Folgen haben kann (vgl. 1.3.5).
In der Reaktion auf unvorhergesehene Ereignisse spielen allerdings auch etablierte Muster
eine große Rolle. Dies zeigt sich gerade an den medialen Formaten der Vermittlung des
Außerordentlichen: Geschieht etwa ein großes Unglück oder wurde ein schwerwiegender
Skandal aufgedeckt, so werden sofort Sondersendungen geschaltet. Diese unterbrechen das
alltägliche Programm und signalisieren damit die zeitweilige Suspension der normalen
Ordnung, womit sie dem Ereignis letztlich eine Aura des Außeralltäglichen verleihen.
Dennoch handelt es sich bei Sondersendungen um ein etabliertes Format, das es den
Fernsehsendern erlaubt, auf das Nichtvorhersehbare in einer dafür vorgesehenen Weise zu
reagieren. So wird das außerordentliche Ereignis durch rituelle Formen handhabbar gemacht
und wieder in die soziale Ordnung eingehegt. Traumatische Ereignisse im engeren Sinne, wie
286
beispielsweise der 11. September 2001, zeichnen sich dadurch aus, dass auf sie nicht mehr in
angemessener Weise reagiert werden kann. Die Kommentatoren sind sprach- und fassungslos.
Der Skandal stellt eine Form des nichtperiodischen Medienereignisses dar, die Funktionen
periodischer Ereignisse übernehmen kann. Politische Skandale, die einen Politiker zum
Rücktritt zwingen, stehen als funktionales Äquivalent zu dessen Abwahl oder Pensionierung
zur Verfügung (so auch Giesen 2010: 228). Sie sind eine notwendige Ergänzung zum
Wahlverfahren, insofern sie die demokratische Kontrolle auch jenseits des Urnengangs
öffentlich in Szene setzen.276 Ohne die fortwährende Kontrolle der Legislative und Exekutive
durch die Öffentlichkeit wären demokratische Systeme konstitutionelle Wahldiktaturen auf
Zeit. Erst die zivilgesellschaftlichen Diskurse im imaginären Raum der Öffentlichkeit stellen
die Herrschaft des Volkes auf Dauer (4.2.4-5).
5.2.3. Der Skandal als soziales Drama
Der Begriff des „sozialen Dramas“ stammt ebenfalls von Victor Turner, der damit eine
spezifische Form der öffentlichen Austragung sozialer Konflikte bezeichnet (2009: 95-139;
2.3.5). Genauer handelt es sich dabei „um eine spontane Einheit des sozialen Prozesses und
ein universelles Phänomen“ (2009: 108), das heißt um ein öffentliches Ereignis der dritten
Ordnung, das in der vorliegenden Skandaltheorie dem offenen Ausgang von Skandalen
Rechnung tragen soll. Turner zufolge weisen soziale Dramen folgendes Verlaufsmuster auf:
Als Hypothese, die sich auf wiederholte Beobachtungen derartiger Prozesseinheiten in verschiedenen
soziokulturellen Systemen sowie meine Lektüre ethnographischer und historischer Literatur stützt,
möchte ich formulieren, dass soziale Dramen [...] vier Phasen aufweisen, die ich Bruch, Krise,
Bewältigung und entweder Reintegration oder Anerkennung der Spaltung nenne. (2009: 108)
Dieses Schema weist einige bemerkenswerte Übereinstimmungen mit Hondrichs (2002)
Skandalverlaufsschema – der Trias von Normverstoß, Enthüllung und Entrüstung – auf. So
scheint der „Bruch“ zunächst dem „Normverstoß“ im Skandal zu entsprechen, insofern auch
er eine Regelverletzung darstellt, über die im öffentlichen Leben nicht mehr so ohne Weiteres
hinweggegangen werden kann:
Ganz gleich, ob es sich dabei um eine große Affäre wie die Dreyfus- oder Watergate-Affäre oder einen
Kampf um das Amt des Dorfoberhaupts handelt, ein soziales Drama beginnt zunächst mit einem
öffentlichen Bruch einer sozialen Norm, der Verletzung einer moralischen Regel, dem Verstoß gegen ein
Gesetz, einem Brauch oder eine Etikette. (Turner 2009: 110)
276
Viele öffentliche Ämter, wie beispielsweise das Amt des Bundespräsidenten, beruhen in ihrer Legitimität nur
indirekt auf einer demokratischen Wahl, so dass deren Inhaber auch nicht wieder abgewählt werden können.
Hier ist der Mechanismus der Skandalisierung noch unverzichtbarer, da er für ein Kollektiv die einzige
Möglichkeit darstellt, sich eines unliebsamen Repräsentanten zu entledigen.
287
Eine genauere Lektüre zeigt, dass für Turner in erster Linie die öffentliche Normverletzung
von Interesse ist. Normverstoß und Enthüllung werden von ihm im „Bruch“ zu einer Einheit
zusammengezogen. Turner interessiert sich nicht für das Verhältnis von verborgenen
Normverstößen zu den öffentlich bekannt gewordenen Verfehlungen, wofür beispielsweise
die Selektionsmechanismen der Medien von Bedeutung sind (5.3.2). Eine weitere Differenz
zu Hondrich zeigt sich in Turners Konzeption der „Krise“:
Hierauf folgt eine sich zuspitzende Krise, ein bedeutsamer Wendepunkt in den Beziehungen zwischen
den Bestandteilen eines sozialen Feldes, an dem aus dem scheinbaren Frieden offener Konflikt wird und
unterschwellige Antagonismen zum Vorschein kommen. Man ergreift Partei, bildet Splittergruppen, und
falls der Konflikt nicht schnell auf einen kleinen Bereich der sozialen Interaktion begrenzt werden kann,
besteht die Tendenz, dass sich der Bruch solange ausweitet, bis er zur Spaltung im umfassendsten System
relevanter sozialer Beziehungen, dem die konfligierenden Parteien angehören führt. (Turner 2009: 110)
Hondrich geht von einer einmütigen Empörung aus, die sich an Durkheims einfachem Modell
des Rituals als einem Integrationsmechanismus der Gemeinschaft orientiert. Hingegen geht es
Turner um den Konfliktfall, in dem unterschiedliche soziale Gruppen aneinandergeraten und
über die Deutungshoheit der sozialen Krise streiten. Im Gegensatz zu Girard, der die
gesellschaftliche Krise als anomische Entdifferenzierung begreift (1992: 23-37), geht es
Turner um die Krise als drohendes gesellschaftliches Schisma. Der Normverstoß führt hier zu
einer Spaltung innerhalb der Gruppe. Es bleibt also nicht bei dem Bruch als einer
Regelverletzung, einer Überschreitung der für alle verbindlichen normativen Ordnung,
sondern dieser weitet sich zu einem sozialen Bruch aus. Hier treten die Grenzen des
normativen Paradigmas in der Soziologie deutlich zu Tage: Der öffentliche Bruch der Norm
ist kein positivistisch feststellbares Faktum, sondern das Resultat von sozialen
Aushandlungsprozessen (1.1.4-5), die ihrerseits wieder auf kulturelle Muster zurückgreifen
müssen (1.2). Ob ein Normverstoß vorliegt, wie schwer dieser wiegt, wem er zugerechnet
wird oder ob nicht doch der transgressive Akt der Normüberschreitung am Ende als legitime
Ausnahme gerahmt wird – darüber entscheidet der kontingente Verlauf des sozialen Dramas.
Dieser hängt wiederum vom öffentlichen Einsatz der beteiligten Akteure ab, die auf
gemeinsame Deutungsmuster zurückgreifen müssen, damit eine hegemoniale Deutung des
Bruchs und somit auch eine Beilegung des Konfliktes gelingen kann. Das soziale Drama wird
erst durch die Krise zu einem Prozess mit offenem Ausgang. Hat man sich erst einmal über
die Krise verständigt, können Maßnahmen getroffen werden, um diese einzudämmen,
wodurch eine weitere Phase des sozialen Dramas, die Bewältigung, eingeleitet wird:
Um die Ausweitung des Bruchs zu vermeiden, setzen führende Mitglieder der betroffenen Gruppe
bestimmte Anpassungs- und Bewältigungsmechanismen in Gang. […] Ein solches Ritual schließt ein
288
tatsächliches oder ein moralisches “Opfer” ein, das als Sündenbock für die von der Gruppe im Zuge der
gewaltsamen Krisenbewältigung begangenen “Sünde” dient. (Turner 2009: 111)
Die Protagonisten des sozialen Dramas setzen soziale Performanzen, standardisierte Rituale
oder andere Formen individuellen wie kollektiven Handelns ein, um den sozialen Bruch zu
kitten und so der Krise Herr zu werden. Ein bewährtes Mittel zur Beilegung des Konflikts ist
der von Turner erwähnte und von Girard (1992, 2006) ausführlich behandelte „Sündenbock“.
Obwohl (oder gerade weil) es sich beim Sündenbock ursprünglich um ein religiöses
Phänomen handelte, spielt er auch in den aktuellen öffentlichen Diskursen eine große Rolle.
In den sogenannten moral panics fungieren Sündenböcke vorwiegend als Projektionsfläche
für kollektive Ängste (vgl. Cohen 1982; Jenkins 1992), während sie im sozialen Drama – und
natürlich auch im Skandal – der Krisenbewältigung dienen. Gerade weil der idealtypische
Sündenbock nicht am Konflikt beteiligt ist, da er keiner der streitenden Parteien angehört,
kann sein Opfer integrativ wirken. In modernen Gesellschaften gilt das Opfern von
Unschuldigen als rechtlich unzulässig und moralisch verwerflich – außer natürlich im Falle
eines Selbstopfers, durch welches der vermeintlich Schuldlose die Schuld des Kollektivs in
einem performativen Akt der Demut auf sich nimmt (3.3.1). Der öffentliche Vorwurf des
scapegoating dient somit in erster Linie der Verteidigung der vermeintlichen Sündenböcke
gegen die Angriffe der gegnerischen Partei. Im Abu-Ghraib-Skandal waren es vor allem die
Anwälte der Soldaten, die diese als Sündenböcke bezeichneten (8.3). An die Stelle des
Sündenbock-Mechanismus tritt in modernen Gesellschaften der unpersönliche Mechanismus
des Rechts, der in ähnlicher Weise eine Beilegung des Konfliktes ohne Parteinahme
verspricht (Girard 2006: 27-46). Nichtsdestotrotz bleibt der Sündenbock-Mechanismus auch
in liberalen Öffentlichkeiten wirksam, wenn auch die Benennung von Sündenböcken nie
offen erfolgt, sondern sich unter einem moralischen und rechtlichen Deckmantel vollzieht.277
Die letzte Etappe des sozialen Dramas ist sein offener Ausgang. Der Skandal als soziales
Drama kann sowohl – wie im Fall von Watergate – mit einer Reintegration, als auch – wie
nicht zuletzt die Dreyfus-Affäre gezeigt hat – mit einer anhaltenden Spaltung der Gesellschaft
einhergehen (vgl. Alexander 1993). Während die Reintegration zur Beilegung des sozialen
Konfliktes, zu einer Solidarisierung der streitenden Gruppen und zur Bekräftigung der
gemeinsamen kollektiven Identität führt, gibt es im Falle der Spaltung keine allgemein
277
Hondrich sieht in seiner Analyse des CDU-Spendenskandals von 1999 den Sündenbock-Mechanismus am
Werke (2002: 115f.). Der Rücktritt altgedienter Parteimitglieder sei, so Hondrich, dem aufgebrachten
Publikum nicht genug gewesen, weswegen mit Wolfgang Schäuble ein vergleichsweise junger und
unbelasteter Hoffnungsträger zurücktreten musste.
289
anerkannte Lösung des sozialen Dramas. Stattdessen wird die Spaltung als solche anerkannt
und auf Dauer gestellt, was die kollektive Identität und den Zusammenhalt der Gesellschaft
nachhaltig schwächen kann. Das soziale Drama unterliegt zudem einer narrativen Logik: Es
kann sowohl einen tragischen als auch einen romantischen Verlauf nehmen (2.2.2). Auch
wenn sich ein soziales Drama durch die Existenz unterschiedlicher Interessengruppen und
Interpretationsgemeinschaften auszeichnet, ist ein geteilter kultureller Hintergrund eine
Voraussetzung seines Entstehens:
Soziale Dramen entstehen in Gruppen, deren Mitglieder die gleichen Werte und Interessen sowie eine –
tatsächlich oder angeblich – gemeinsame Geschichte aufweisen. Hauptakteure im sozialen Drama sind
Personen, die in der Gruppe, dem Feld der dramatischen Handlung, hohe Wertschätzung genießen.
(Turner 2009: 106)
Soziale Dramen, in denen das Schicksal von sozialen Gruppen ausgehandelt wird, sind auf
Stellvertretung angewiesen. Jedes soziale Drama hat seine Protagonisten und Akteure, denen
nicht nur von ihren jeweiligen Gruppen Achtung entgegengebracht und Einfluss zugestanden
wird, sondern die auch für bestimmte Aspekte des Kollektivs als Ganzem stehen. Wer im
Laufe des sozialen Dramas, beispielsweise durch eine erfolgreiche Skandalisierung oder eine
misslungene Performanz, seine Achtung verliert, büßt damit auch seinen Einfluss und das
Recht ein, für das gesellschaftliche Ganze zu sprechen.
Skandale lassen sich hinsichtlich ihres Ablaufs und ihrer Komplexität zwischen zwei Polen
verorten. Triviale Skandale entsprechen weitestgehend dem Ritualbegriff von Durkheim und
dem von Hondrich vorgeschlagenen Verlaufsmodell des Skandals.278 Die Empörung über die
enthüllte Normverletzung erfolgt hier prompt und unisono. Viele zeitgenössische Skandale
sind in diesem Sinne relativ trivial. Sie problematisieren Normverstöße, über die öffentlich
Einigkeit besteht und für die bereits institutionalisierte Sanktionen vorliegen. Die
gesellschaftlich bedeutenderen und wissenschaftlich interessanteren Skandale zeichnen sich in
der Regel durch Situationen der Unentscheidbarkeit aus, die sich nicht mehr nach „Schema F“
lösen
lassen.
Hier
Schuldzuweisungen
greift
als
Turners
auch
Konzept
des
die institutionellen
sozialen
Dramas:
Vorkehrungen
Sowohl
werden
die
öffentlich
problematisiert und zum Gegenstand von sozialen Deutungskonflikten. In der Form von
sozialen
Dramen
führen
Skandale
„entscheidbare
Unentscheidbarkeiten“
bzw.
Handlungsspielräume in die Gesellschaft ein. Mit der Bewältigung eines Skandals fällt eine
Entscheidung und der Freiraum wird geschlossen. Damit ist aber die Geschichte des Skandals
278
Das Adjektiv „trivial“ wird hier nicht im Sinne von „belanglos“ verwendet, sondern in seiner kybernetischen
Bedeutung, wonach eine triviale Maschine infolge eines bestimmten Inputs immer den gleichen Output
produziert.
290
als einem sozialen Drama noch nicht zu Ende. Soziale Dramen führen ein Nachleben, insofern
sie sich zu kulturellen Mustern verfestigen und so in das kollektive Gedächtnis der
Gesellschaft eingehen. Daher üben sie nicht nur einen Einfluss auf die Rezeption von
Normverstößen und den Verlauf sozialer Dramen aus,279 sondern können sogar in
künstlerische Schaffensprozesse eingehen, die wiederum auf performatives Handeln und
soziale Prozesse zurückwirken können. Das soziale Drama besitzt eine implizite rhetorische
Struktur, die es Werken der Kultur und Populärkultur verdankt, in denen wiederum ein
impliziter sozialer Prozess steckt. Dies macht Turner am Beispiel der Watergate-Krise
deutlich:
So war z.B. Das soziale Drama “Watergate” in allen seinen Phasen ausgesprochen “bühnenreif”:
angefangen bei der an Guy Fawkes erinnernden konspirativen Atmosphäre der “Bruch”-Episode, die sich
mit dem Fund des belastenden Tonbands ankündigte, und der realistischen Fiktionalität der Vertuschung
bis hin zur “Krisen”-Phase der Untersuchungen mit ihren “Deep Throat”-Enthüllungen und
Kombinationen aus hochgesinntem prinzipiellen und gewöhnlichem politischem Opportunismus. Auch
die Bewältigungsphase folgte implizit einem Drehbuch, das sich an theatralischen und fiktionalen
Modellen orientierte. Ich brauche wohl nicht die Anhörungen und das Samstagabend-Massaker zu
beschreiben. Heute gibt es über Watergate und seine dramatis personae naturalis Bühnenstücke, Filme
und Romane, die
in der aseptischen Sprache der Sozialwissenschaften ausgedrückt
gemäß der
Struktur und den Eigenschaften des sozialen Feldes, das ihre Autoren zur Zeit ihrer Verfassung umgab
und durchdrang, gestaltet sind. (Turner 2009: 117)
Der Politiker und sein öffentliches Handeln, die Öffentlichkeit und ihr moralisches
Empfinden, der Künstler und sein kreatives Schaffen – sie alle sind in soziale und kulturelle
Kontexte eingebettet und gestalten diese Kontexte auch mit. Das soziale Drama entfaltet seine
Bedeutung nicht alleine als originärer Prozess, sondern auch als Zitat eines abwesenden
kulturellen Textes. Dieser im mentalen Hintergrund der Akteure mitlaufende und in ihrem
Handeln wirksam werdende Kontext ermöglicht erst die Entstehung eines sozialen Dramas.
Die Elemente des sozialen Dramas – wie Symbole und Skripte, Rituale und Performanzen,
Narrative und Bilder – gewinnen erst vor dem Hintergrund eines relativ diffus bleibenden,
aber dennoch gemeinsamen kulturellen Hintergrundverständnisses, dem sozialen Imaginären,
ihren spezifischen Sinn und ihre soziale Wirksamkeit. Vor diesem kulturellen Hintergrund
reproduzieren soziale Dramen und Bühnendramen nicht nur bestehende Muster, sondern sind
zugleich schöpferisch tätig, stellen also neue kulturelle Muster bereit, die in das Reservoir von
Deutungen einer Gesellschaft mit eingehen (vgl. 2.3.5). Wir können diese Leistungen des
Skandals als „kulturelle (Re-)Produktionsfunktion“ bezeichnen. Die Liminalität des Skandals
wie auch die Liminoidität der Kunst tragen damit zum kulturellen Wandel einer Gesellschaft
279
Auf Watergate folgten unter anderem „Waterkantgate“, „Whitewatergate“, „Monicagate“, „Nipplegate“,
„Torturegate”, wobei letzterer Begriff im Zusammenhang mit dem Abu-Ghraib-Skandal geprägt wurde.
291
und zur Entstehung des Neuen bei. Damit schließt sich der Kreis: Soziale Dramen stellen
individuelle Performanzen, gesellschaftliche Prozesse und kulturelle Muster in einen
wechselseitigen Wirkungszusammenhang.
5.3. Der Skandal als sozialer Prozess – Ein Verlaufsschema
Nichts ist den guten Sitten zuträglicher als ein Skandal,
vorausgesetzt, er vollendet sich.
Karl-Otto Hondrich, Skandal CDU (2002: 111)
Zwischen Hondrichs Phasenmodell des Skandals und Turners Verlaufsschema eines sozialen
Dramas gibt es viele Übereinstimmungen, aber auch einige bedeutende Differenzen. So findet
bei Hondrich die „moralische Verfehlung“ zunächst im Verborgenen statt und wird erst durch
die Enthüllung für alle öffentlich sichtbar. Auf die Enthüllung folgt dann die kollektive
Empörung, wobei Hondrich an einer Stelle auch noch von der „Vollendung des Skandals“ als
einer zusätzlichen Phase spricht (2002: 16f.). Während es Hondrich vor allem um die
Bestimmung des Skandals als einem sozialen Phänomen und Prozess geht, interessiert sich
Turner für die allgemeine Form, in der gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden. Schon
der öffentliche „Bruch“, die erste Phase des sozialen Dramas, umfasst die ersten beiden von
Hondrich genannten Schritte. Die Normverletzung ist im Modell des sozialen Dramas immer
schon eine öffentliche Verfehlung (Turner 2009: 110). Vielleicht muss aber auch noch
Hondrichs dritter Schritt, die „Entrüstung“, dem Bruch zugerechnet werden, denn erst an der
emotionalen Reaktion des Publikums wird die öffentliche Verletzung der normativen
Ordnung erkennbar. Der Bruch spitzt sich nach Turner erst dann zu einer echten Krise zu,
wenn eine zwiespältige Reaktion auf den öffentlichen Normbruch erfolgt. Repräsentanten
verschiedener Gruppen ringen um die Gunst des Publikums und um die Deutungshoheit.
Daran schließen sich Versuche an, der Krise mittels geeigneter Bewältigungsmechanismen –
vor allem Rituale und Performanzen – wieder Herr zu werden. Mit dem offenen, letzten Akt
des Dramas – Reintegration oder Anerkennung der Spaltung – trägt Turner der Tatsache
Rechnung, dass soziale Dramen im Allgemeinen und Skandale im Besonderen nicht immer zu
gesellschaftlicher Solidarität und sozialer Integration führen. Aus der Krise kann eine
dauerhafte Spaltung der Gesellschaft erwachsen. Diese letzten beiden Phasen des sozialen
292
Dramas, die Mechanismen der Bewältigung und sein Nachspiel, entsprechen wiederum der
Vollendung des Skandals bei Hondrich. Beide Ansätze lassen sich in einem analytisch
sinnvollen und – zugegebenermaßen – formal ansprechenden Modell vereinigen: Der Skandal
als soziales Drama in fünf Akten.
5.3.1. Die moralische Verfehlung als abweichendes Verhalten
Am Anfang des Skandals steht ein Normverstoß der besonderen Art – die moralische
Verfehlung. Soziale und moralische Normen sind relativ erfahrungsresistente und sozial
stabilisierte Erwartungshaltungshaltungen von Akteuren gegenüber dem Handeln anderer
Akteure (1.1.1; 4.1.1). Bemerkenswert ist nicht nur, dass die Geltung einer Norm auch
kontrafaktisch, also angesichts ihrer Verletzung, durchgehalten wird, sondern dass die Norm
selbst auf ihre wiederkehrende Verletzung angewiesen bleibt. Der Normverstoß als eine Form
des abweichenden Verhaltens lässt sich nur in Relation zur jeweils geltenden normativen
Ordnung bestimmen. Zwischen Norm und Normverletzung besteht somit ein Verhältnis von
Figur und Hintergrund. Dieses Verhältnis hat neben seinen epistemologischen Implikationen
auch soziale Konsequenzen. Die Setzung einer normativen Ordnung hat immer auch zur
Folge, dass ein Bereich des abweichenden Handelns mit gesetzt wird (Becker 1981) und
somit die gesellschaftliche Oberwelt notwendig ihre Verkehrung in Form einer normativen
Unterwelt hervorbringt (Hondrich 2002). In komplexeren Gesellschaften bilden sich so
Bereiche mit unterschiedlichen normativen Orientierungen heraus. Moral ist in diesen
Zusammenhängen durch Ambivalenz gekennzeichnet. Vor einem variablen moralischen
Hintergrund kann ein- und dasselbe Verhalten einmal als geboten, ein anderes Mal aber als
abweichend erscheinen.
In modernen Gesellschaften wurde das allsehende Auge Gottes von der Öffentlichkeit
abgelöst, in deren Schatten eine Vielzahl von normativen Devianzbereichen existieren. Trotz
diesem Nebeneinander von teils unvereinbaren normativen Ordnungen existiert in allen
Gesellschaften eine mehr oder weniger scharf umrissene, relativ konsistente, öffentlich
bekannte und für alle gleichermaßen verbindliche moralische Ordnung. Sie gilt als offizielles
Maß allen Handelns und wird zu großen Teilen durch das Rechtssystem gestützt und
sanktioniert. Es gibt allerdings auch moralische Normen, die sich einer Verrechtlichung
entziehen, aber dennoch eine allgemeine Geltung beanspruchen. Akteure bewegen sich oft in
Situationen, wo ihr Verhalten von anderen Akteuren nicht als Verletzung einer normativen
Ordnung wahrgenommen wird, obwohl dies in anderen Situationen durchaus der Fall sein
würde: Man nimmt in einer Szene unbehelligt Drogen, prahlt bei seinen Kumpels mit
293
Steuerhinterziehung und arbeitet „schwarz“, ohne dass sich der Auftraggeber darüber
empören würde. In ähnlicher Weise wird im Krieg massakriert, vergewaltigt und gefoltert,
ohne dass es zu Einwänden von Seiten der Kameraden käme. Jede faktische Normverletzung
ist relativ zu einer gegebenen normativen Ordnung. Entweder entspricht ein Verhalten der
Norm oder es stellt vom Standpunkt dieser normativen Ordnung eine Verletzung dieser Norm
dar – tertium non datur, so scheint es zumindest. Auf die Enttäuschung einer
Erwartungshaltung kann aber auch noch in einer dritten Weise reagiert werden: Neben der
kognitiven Reaktion des Lernens und der normativen Reaktion einer Empörung gibt es noch
eine weitere Möglichkeit, nämlich die Rahmung des Normverstoß als einer legitimen
Ausnahme – und eben nicht als moralische Verfehlung. Die Logik der Ausnahme behauptet
die „Unanwendbarkeit der Regel“ (Giesen 2010: 36), ohne dabei die Geltung dieser Regel
außer Kraft zu setzen. Dies geschieht in der Regel durch den Verweis auf die Persönlichkeit
des Handelnden (z.B. Charisma) oder den Kontext der Handlung (z.B. Notlage).
Die kulturelle Figur des Helden gibt den Ausnahmecharakter eines Handelnden besonders
deutlich wieder (Giesen 2004c: 15-44; 2010: 76-79). Der Held zeichnet sich durch
transgressive Akte aus, die seiner Souveränität Ausdruck verleihen. Als mythischer
Gesetzgeber steht der Held über den Buchstaben des Gesetzes. Er stiftet normative
Ordnungen, denen andere zu gehorchen haben, während für ihn selbst das Dichterwort gilt:
„Und er gehorcht / in dem er überschreitet“ (Rilke, Sonette an Orpheus). Als Souverän steht
die Figur des Helden im Hintergrund der politischen Theologie von Carl Schmitt (1996). Aber
nicht nur im klassischen Mythos und der politischen Theologie wird der Überschreitung ein
positiver Wert zugesprochen. Auch für die Helden der zeitgenössischen Populärkultur ist das
Publikum immer wieder gerne bereit, eine Ausnahme zu machen.280 Wie Webers Begriff des
„Charismas“ ist auch das Heldentum keine intrinsische Qualität von Personen, sondern vom
Urteil anderer abhängig. Dieses Urteil basiert wiederum auf narrativen Hintergrundmustern
und exemplarischen Erzählungen, die im Falle des Helden dem romantischen und dem
tragischen Typus zuzurechnen sind (2.2.2). Es gehört zu den Binsenweisheiten des gesunden
Menschenverstandes, dass außergewöhnliche Umstände außergewöhnliche Maßnahmen, ja
manchmal sogar Ausnahmen von bis dato ehern gehaltenen Regeln, rechtfertigen. So
280
James Bond hat im Gegensatz zu seinen Gegenspielern die „Lizenz zum Töten“ – nicht nur von der Queen,
sondern auch vom Publikum. Besonders deutlich wird die Figur des transgressiven Helden im „law-defying
hero“ der amerikanischen Populärkultur (6.4.3; 7.2.5). Welcher Zuschauer hegt schon Zweifel and der
Richtigkeit des Entschlusses von Callahan oder Jack Bauer, zur Rettung von Unschuldigen zum Mittel der
Folter zu greifen – insbesondere wenn der Gefolterte eine wahre Ausgeburt des Bösen ist?
294
entbindet der Krieg von dem Gebot „Du sollst nicht töten“, ohne jedoch das Gebot selbst
aufzuheben (Caillois 1988) – was im Übrigen auch auf den Umstand der Notwehr zutrifft.281
Gelingt es dem Skandalisierten, seine Übertretung als außerordentliche Heldentat zu rahmen,
so ist ihm die Verehrung des Volkes sicher.
Für den Verlauf des Skandals und die Beurteilung eines Normverstoßes in der
Öffentlichkeit ist die für alle verbindliche gesellschaftliche Moral relevant, wenn auch
partikulare Moralvorstellungen für das Zustandekommen eines Normverstoßes, für das
Handeln einzelner Akteure in einem Skandal (man denke nur an das „Ehrenwort“ Kohls) oder
für die Rezeption des Skandals in bestimmten Milieus relevant sein können. Die öffentliche
Moral stellt den Kernbereich dessen dar, was Durkheim „mechanische Solidarität“ nennt. Hier
befindet sich das kollektive Gewissen einer Gesellschaft, und nur Normverletzungen, die
dieses verletzten, haben das Potenzial für erfolgreiche Skandalisierungen. Die Voraussetzung
dafür, dass eine moralische Verfehlung als solche erkannt wird und in einem nächsten Schritt
öffentlich werden kann, liegt zunächst darin, dass sie als abweichend und moralisch
verwerflich wahrgenommen wird. Weil sich normative Devianzbereiche herausbilden, in
denen Verfehlungen zur Norm werden, werden Verfehlungen oft von Außenseitern
aufgedeckt. So ist es kein Zufall, dass Seymour Hersh als in Amerika sitzender Journalist die
Brisanz des My-Lai-Massakers erkannte, während sich seine Kollegen vor Ort schon mit dem
ganz normalen Wahnsinn des Krieges abgefunden hatten (6.2.3). Dies trifft auch auf den
whistleblower von Abu Ghraib zu (8.1.1). Eine Normverletzung muss erst als abweichendes
Handeln erkannt und als moralische Verfehlung eingestuft werden, bevor sie zu einem
Verstoß gegen die moralische Ordnung der Gesellschaft und zur Verletzung eines
Kollektivgewissens stilisiert werden kann.
5.3.2. Die Enthüllung als Selektion der Massenmedien
Nach Hondrichs Standardmodell des Skandals findet die moralische Verfehlung unter dem
Ausschluss der Öffentlichkeit statt und wird erst in einem weiteren Schritt öffentlich gemacht.
Dies muss aber nicht immer der Fall sein. So kann ein Skandal auch mit einem Normbruch in
281
Das gleiche Prinzip – Selbstermächtigung durch die Ausnahme – gilt für den politischen Ernstfall bei Schmitt
(1996): Der Souverän entscheidet über den Ausnahmezustand, der im Gegenzug den Souverän ermächtigt.
Die heroische Logik der Ausnahme gilt auch noch in unserem (scheinbar) postheroischen Zeitalter. So
werden trotz der völkerrechtlichen Ächtung des Krieges auf internationalem Parkett Kriege angezettelt, wenn
ein apokalyptisches Bedrohungsszenario plausibel gemacht werden kann (Smith 2005) oder es eine
humanitäre Katastrophe zu verhindern gilt (Schwab-Trapp 1999). Das gleiche gilt natürlich auch für das
absolute Folterverbot, das in Zeiten des nationalen Notstandes bei unterstellter Heldenhaftigkeit der Folterer
zu bröckeln beginnt (6.4.3; vgl. auch Holmes 2006).
295
aller Öffentlichkeit seinen Anfang nehmen. Ein öffentlicher Normbruch, wie z.B. die
entblößte Brust von Janet Jackson vor laufender Kamera während der Übertragung des Super
Bowl 2004 (das sogenannte „Nipplegate“), macht eine separate Enthüllung überflüssig. Hier
kommt es nur darauf an, dass die Handlung nachträglich als Normverstoß und moralische
Verfehlung gerahmt wird, wobei sich die Skandalisierten oft damit verteidigen, dass es sich
bei dem Normverstoß um ein bloßes Versehen gehandelt habe. In der Regel findet der
Normverstoß aber im Vorborgenen statt. Erst der Skandal bringt ihn ans Licht der
Öffentlichkeit. Dieses Geschehen vollzieht sich für die Öffentlichkeit als eine Offenbarung
der Wahrheit – auch wenn es in Wahrheit die Illusion einer Wahrheit sein sollte (so zumindest
Kepplinger 2005). In den meisten westlichen Gesellschaften ist der Enthüllungsjournalismus
als Arbeit am Skandal positiv besetzt (wenn man einmal von der anrüchigen Skandalpresse
absieht). Der investigative Journalist wird als einer der letzten Aufklärer dargestellt und in
Bühnendramen, TV-Serien und Kinofilmen immer wieder als moderner Held gefeiert.282 Die
Enthüllung einer Verfehlung entpuppt sich oft als langwieriger Prozess, der prinzipiell
unabschließbar ist. Hinter jedem Schleier kommt ein weiterer Schleier zum Vorschein und
hinter tausend Schleiern immer noch nicht die ganze Wahrheit. Die journalistische Arbeit am
Skandal wird so zu einer wahren Sisyphos-Aufgabe, die sich jedoch im System der
Massenmedien bezahlt macht.
Ein
Skandal
kommt
selten
allein.
Im
Gefolge
eines
Skandals
können
Vertuschungsversuche skandalisiert und neue Verfehlungen aufgedeckt werden, was die
Attraktivität von Skandalen für die Berichterstattung abermals steigert. Dennoch wird nur ein
geringer Anteil möglicher Skandalthemen von den Massenmedien aufgegriffen. Der
Aufmerksamkeitsraum („attention space“) der Öffentlichkeit und die Aufnahmekapazität des
Publikums sind begrenzt. Eine Selektion wird damit zwingend erforderlich. Jede Enthüllung
stellt immer auch eine Selektion im System der Massenmedien dar. Massenmedien reduzieren
Umweltkomplexität, indem sie der Öffentlichkeit nur eine begrenzte Zahl von Themen
zugänglich machen. In diesem Zusammenhang spricht man auch von der sogenannten
„Gatekeeping-Funktion“ der Massenmedien (White 1964). Eine zentrale Rolle bei der
Etablierung von Themen kommt den sogenannten „Leitmedien“ zu, die nicht unbedingt ein
großes Publikum erreichen, deren Selektion aber einen großen Einfluss auf die übrige
Medienlandschaft hat. Skandale, die in Leitmedien (in Deutschland lange Zeit der Spiegel, in
282
Man denke nur an die Oscar-prämierte Verfilmung des Watergate-Skandals: „Die Unbestechlichen“ (All the
President’s Men, 1976).
296
den Vereinigten Staaten insbesondere der New Yorker) publik gemacht werden, greifen in der
Regel auch andere Akteure des journalistischen Feldes auf.
Um den Schritt der Enthüllung von Skandalen zu verstehen, müssen wir uns diesen
Selektionsmechanismus näher anschauen. Dafür eignet sich die bereits erwähnte
Nachrichtenwerttheorie, welche die Selektionsprinzipien zu isolieren versucht, mit denen die
Berichterstattung in den Medien arbeitet. Als klassische Nachrichtenfaktoren gelten
„Vereinfachung“ (simplification), „Identifikation“ (identification) und „Sensationalismus“
(sensationalism). Galtung und Runge (1965) haben in einem erweiterten Modell zwölf
Nachrichtenfaktoren unterschieden, die zum Teil noch in mehrere Unterfaktoren zergliedert
werden können. Ein Nachrichtenwertfaktor, der die Selektion von Skandalen schon immer
favorisiert hat, ist die „Negativität“ eines Ereignisses (Galtung & Ruge 1965: 69f.). Oder:
„bad news are good news“. Immer bedeutender wird – und dies hat unter anderem auch
wieder der Fall von Abu Ghraib gezeigt – die Verfügbarkeit geeigneten Bildmaterials bzw.
„Visualität“ als Nachrichtenfaktor (Ruhrmann 2003: 231f.). Die Verwendung von
unbewegten oder bewegten Bildern in den Medien, egal ob in Form von Diagrammen,
Fotografien oder Filmaufnahmen, erfüllt schon für sich genommen alle drei Kriterien der
klassischen Nachrichtenwerttheorie. Bilder vereinfachen, fordern zur Identifikation mit den
dargestellten Personen auf und sprechen die Emotionalität der Rezipienten an. Damit eignen
sie sich vorzüglich zur Skandalisierung, indem sie deren spontane Bewertung erleichtern und
nicht zuletzt eine Personalisierung und affektive Erregung über moralische Verfehlungen
ermöglichen.
Ari Adut (2005) hat am Beispiel von Oscar Wilde gezeigt, dass das kollektive Wissen um
eine moralische Verfehlung nicht ausreicht, um einen Skandal auszulösen. Ein allen
bekanntes, offenes Geheimnis macht noch keine Skandalisierung von Seiten Dritter
erforderlich. So war auch Wildes Verstoß gegen die Sexualnormen des viktorianischen
Zeitalters seinerzeit nichts Unerhörtes und Außerordentliches. Erst als Wilde eine Klage auf
Verleumdung einreichte, konnte sein Normverstoß nicht mehr ohne Weiteres ignoriert
werden. Eine ähnliche Rolle spielten auch die Fotografien von Abu Ghraib, die eine Reaktion
auf den Normverstoß unumgänglich machten. Ein breiter Teil der Öffentlichkeit wäre
sicherlich nicht ungeneigt gewesen, die Realitäten in Abu Ghraib oder Guantanamo
auszublenden. Jedoch zwangen deren Dokumentation durch Bilder und ihre Veröffentlichung
die Armee (8.1.2) und wenig später auch die amerikanische Regierung und den
zivilgesellschaftlichen Diskurs zu einer Stellungnahme (8.2).
297
Nicht nur der Normverstoß und die Ausnahme, sondern auch die „Enthüllung“ ist eine Form
der Überschreitung. So überschreitet die Öffentlichkeit bei einer Enthüllung die Grenze zu
dem, was als „privat“ gilt oder geheim gehalten wurde. Was zunächst im Verborgenen
geschah, wird auf einmal zum Gegenstand öffentlichen Interesses. Dies hat zur Folge, dass
die Enthüllung selbst wieder zum Gegenstand eines Skandals werden kann, sei es durch die
Verletzung der Privatsphäre des Skandalisierten (ein üblicher Vorwurf gegen die
„Regenbogenpresse“), oder sei es dadurch, dass den Journalisten oder ihren Informanten
Geheimnisverrat vorgeworfen wird (9.1.2; 9.5.3). Die Enthüllung kann aber auch im Hinblick
auf ihre Rezeption zum Gegenstand einer Kulturkritik durch Intellektuelle werden. Sie
fungiert nämlich zugleich als Spektakel, welches nicht zuletzt die Schaulust des Publikums
bedient. So gibt es eine – wenn auch oft mit Abscheu gepaarte – Faszination am Bösen, die
sich auch an den moralischen Verfehlungen anderer ergötzt. Somit kann nicht nur der
Enthüller des Skandals, sondern auch das begierig schauende Publikum der Unanständigkeit
bezichtigt werden.
5.3.3. Die Empörung als Aufstand der Anständigen
Wenn das vermeintliche Vergehen erst einmal ans Licht der Öffentlichkeit gelangt ist, kann es
zu einer kollektiven Empörung als einer affektiv-expressiven Reaktion auf die Verfehlung
kommen. Empörung ist kein bloßes Gefühl, sondern die artikulierte emotionale Erregung
anlässlich eines öffentlichen Ärgernisses. Die kollektive Empörung ist mehr als die
gemeinschaftliche Empfindung von Abscheu, Ärger und Wut, nämlich deren öffentliche
Artikulation – und als solche äußerst ansteckend. Die öffentliche Artikulation kollektiver
Emotionen verstärkt nicht nur den Prozess der Ansteckung, sondern lässt auch die Stimmen
der Andersfühlenden verstummen. Aufgrund des öffentlichen Charakters und der
wahrgenommen Verbindlichkeit dieser Gefühle greift die Logik der Schweigespirale, die sich
der Isolationsangst der Mitglieder einer Gesellschaft zur Herstellung äußerer Konformität
bedient (4.3.3).
Im Skandal muss die kollektive Empörung vor allem durch die Medien simuliert bzw.
repräsentiert werden. Zwar stellen die Massenmedien durchaus auch Skandalthemen für
alltägliche Kommunikationen bereit und stimulieren dadurch das zeitweilige Aufflackern
kollektiver Entrüstung im Alltag, aber diese lebensweltliche Empörung lässt sich wiederum
nur
mittels
journalistischer
Kunstgriffe
in
das
Mediensystem
einspeisen.
Das
Kommunikationsgefälle zwischen den Produzenten des Mediensystems und seinem Publikum
ist prinzipiell unüberwindbar (4.2.3). Es gibt auch Fälle einer spontanen Empörung vieler
298
Einzelner, wie z.B. die unzähligen Protestbriefe an Nixon im Rahmen der Watergate-Affäre
nach dem berüchtigten „Saturday-Night-Massacre”. Aber selbst hier oblag es zunächst den
kommunikativen Institutionen der Massenmedien, diese vereinzelten Äußerungen als
kollektive Empörung sichtbar werden zu lassen. Das gleiche gilt für Spontandemonstrationen,
die erst durch eine mediale Berichterstattung zur Repräsentationen eines gesellschaftlichen
Zorns werden können. Auf Seiten der Massenmedien bemüht man sich zwar, einzelne
Stimmen aus dem Publikum zu Wort kommen zu lassen, sei es durch anonyme Umfragen
oder Interviews vor laufender Kamera, sei es durch das Abdrucken oder Vorlesen
ausgewählter Leserbriefe. Jedoch bleibt auch diese Ausweitung der öffentlichen
Kommunikation immer noch auf eine Selektion von Seiten des Mediensystems angewiesen:
Über welche Umfragen berichtet wird, welche Leserbriefe abgedruckt und welche Interviews
gezeigt werden, liegt letztlich in der Hand der Sender und der Verlage. Auch das Aufkommen
des Internets hat an der grundlegenden Asymmetrie zwischen dem öffentlichen Zentrum der
Medienelite und der semi-öffentlichen Peripherie der Zuschauer im Grunde wenig geändert.
Kollektive Empörung muss von den Massenmedien repräsentiert bzw. fingiert werden, so wie
auch
die
Öffentlichkeit
als
institutionelle
Sphäre
auf
die
Imagination
einer
gesamtgesellschaftlichen Einheit angewiesen ist (4.1.5). Journalisten und Kommentatoren
setzen sich in Skandalen als Vertreter der öffentlichen Meinung in Szene.
Es gibt ein Moment der Selbstselektion, das bei Umfragen und Leserbriefen, aber auch bei
anderen Formen der öffentlichen Meinungsäußerung eine Rolle spielt. In der Selbstselektion
machen sich auch strukturelle Faktoren – wie politisches Engagement und die zur Verfügung
stehende Zeit – bemerkbar (so sind Rentner in der Regel überrepräsentiert). Ein weitaus
bedeutenderer Faktor ist allerdings die Nähe zum Zentrum der Gesellschaft. Personen des
öffentlichen Interesses, beispielsweise Politiker oder „Prominente“, fällt es weitaus leichter,
sich zu einem Thema öffentlich zu äußern und dafür auch ein medial verstärktes Gehör zu
finden. Auch berühmte Künstler, öffentliche Intellektuelle und Wissenschaftsexperten können
ihrer Empörung einen öffentlichen Nachdruck verleihen, wie nicht zuletzt auch Émile Zolas
offener Brief an den französischen Präsidenten im Rahmen der Dreyfus-Affäre gezeigt hat. Es
gibt aber auch Chancen für relativ unbekannte Akteure und Organisationen, sich durch
spektakuläre Inszenierungen und Massendemonstrationen mit ihren Beiträgen in die
Öffentlichkeit zu drängen.283 Mit zunehmender Entfernung zum Zentrum einer Gesellschaft
283
Man denke an das spektakuläre Entern der der Ölplattform Brent Spar durch die Rainbow Warrior, dem
Flaggschiff von Green Peace, durch das das rechtlich zulässige Versenken der Ölplattform erst zum Skandal
wurde, oder aber an die Demonstrationen zu den G8-Gipfeln, die durch Massenaufläufe, kreative Aktionen
299
fällt es allerdings auch zunehmend schwerer, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Am Ende
kann sich die Empörung noch im Rückgriff auf besonders monströse und gewalttätige Formen
des
Protestes
–
politische
Attentate,
terroristische
Anschläge
oder
öffentliche
Selbstverbrennungen – Gehör verschaffen.
Die kollektive Entrüstung straft den vermeintlichen Übeltäter mit Verachtung, weswegen
sie auch als moralische Sanktion verstanden werden kann, mit der eine öffentlich gewordene
Verfehlung geahndet wird (4.1.1). Bleibt die Empörung und damit auch die Sanktion aus,
wird der enthüllte Normbruch nicht als sozialer Bruch erlebt, der den Übeltäter vom Rest der
Gemeinschaft abspaltet. Damit verliert auch die Norm ihre Autorität bzw. ihren Rückhalt in
den kollektiven Gefühlen der Einzelnen. Zudem kann auch eine aufwallende oder entfallende
Empörung zum Gegenstand weiterer Skandalisierungen werden. So versuchte die radikale
Rechte in den Vereinigten Staaten – wenn auch relativ erfolglos – die Empörung über die
Abu-Ghraib-Bilder zum eigentlichen Skandal zu stilisieren, wofür sie wiederum vom
hegemonialen Diskurs skandalisiert wurde (8.3.3). Mehr Erfolg hatte die amerikanische
Rechte bei der Skandalisierung der (angeblich) fehlenden Empörung in den (liberalen)
Medien über die Enthauptung von Nick Berg (8.4.2). Aber hier sind wir schon mitten in der
sozialen Krise, in der streitende Parteien über die Deutungshoheit kämpfen.
5.3.4. Die Krise als gesellschaftlicher Konflikt
Der Bruch des sozialen Dramas ist eine öffentliche oder öffentlich gewordene
Normverletzung, die eine kollektive Empörung nach sich zieht. Erst nach einem erfolgten
Bruch entscheidet es sich, ob der Skandal ein schnelles Ende findet oder ob es zu einem
öffentlichen Konflikt um die Deutungshoheit hinsichtlich des anstößigen Ereignisses kommt.
Der „triviale Skandal“, der nach dem Modell der klassischen Ritualtheorie verstanden werden
kann (5.2.3), zeichnet sich durch einmütige Empörung und eindeutige Schuldzuweisungen
aus. Hier stehen die vermeintlichen Übeltäter einer geeinten Öffentlichkeit gegenüber.
Kommt es nicht zu einem solchen frühen Konsens, weitet sich der soziale Bruch zur
gesellschaftlichen Krise aus, indem es zu einer Spaltung innerhalb des Publikums und zu
einem Konflikt zwischen seinen Repräsentanten kommt. Es liegt dann ein „nichttrivialer
und Krawalle von sich reden machen. Allerdings gilt dies nur in Gesellschaften mit unabhängigen Medien
und einer öffentlichen Sphäre. In totalitären Systemen können Medien politisch gleichgeschaltet und
unbeliebsame Ereignisse prinzipiell totgeschwiegen werden – auch wenn dies im Zeitalter des Internets
immer schwieriger wird, wie nicht zuletzt der Arabische Frühling 2011 zeigte. Allerdings gab es auch in der
totalitären Sowjetunion Skandale, wobei diese vor allem eine Abrechnung der neuen Machthaber mit den
alten Amtsinhabern darstellten: Skandale als politisch kontrollierte Übergangsrituale (vgl. Klier et al. 1989).
300
Skandal“ mit ungewissem Ausgang vor. In diesem Fall muss auf Turners Modell des sozialen
Dramas zurückgegriffen werden (2.3.5; 5.2.3), um der Komplexität des Skandals als einem
ergebnisoffenen sozialen Prozess soziologisch Rechnung tragen zu können. Der konkrete
Verlauf eines Skandals hängt zunächst einmal davon ab, wie die skandalisierten Personen, die
durch symbolische Verunreinigung gefährdeten Institutionen und das medial repräsentierte
Publikum auf die Anschuldigungen reagieren.
Beschuldigte Personen oder gefährdete Institutionen können sich unterschiedlicher
Strategien bedienen, um den öffentlichen Zorn von sich abzuwenden oder zumindest den
drohenden Schaden zu begrenzen. Die einfachste Strategie besteht darin, den Wahrheitsgehalt
der Anschuldigungen zu bestreiten: Der Vorfall wird geleugnet, vorliegendes Beweismaterial
und Zeugenaussagen angezweifelt oder neue Gegenbeweise und Alibis ins Feld geführt. Eine
andere Strategie erkennt den Normverstoß als Tatbestand an, aber versucht die Rahmung, das
Ausmaß und die Bewertung des Normverstoßes zu ändern: Die Vorkommnisse werden
heruntergespielt, indem etwa behauptet wird, dass der Normverstoß keine intentionale
Verfehlung, sondern nur ein unbeabsichtigtes Missgeschick darstelle, oder der Normverstoß
wird gar ins Positive gewendet und durch hehre Ziele gerechtfertigt. Beide Strategien können
ihrerseits mit einer Empörung über die Enthüllung bzw. Skandalisierung einhergehen, wobei
man den Skandalisierern gerne unlautere Ziele unterstellt oder ihnen eine Verletzung der
Privatsphäre und der Persönlichkeitsrechte des Skandalisierten vorwirft.284 Eine weitere
Strategie der Schadensbegrenzung und Eindämmung des Skandals besteht in einer Art
„vorrauseilenden
Gehorsams“,
sei
es
durch
eine
Entschuldigung,
ein
partielles
Schuldeingeständnis oder ein Bauernopfer. Dabei wird dem Skandal nicht jede Berechtigung
abgesprochen und es besteht weiterhin Diskussionsbedarf hinsichtlich der Schuldfrage sowie
der aus dem Skandal zu ziehenden Konsequenzen. Schließlich bleibt noch das Aussitzen des
Skandals. Ohne neue Anstöße kann die kollektive Empörung nur schwerlich auf Dauer
gestellt werden, selbst wenn die Verfehlung in ihrem Ausmaß unumstritten sein sollte. Alle
vier Strategien lassen sich gut mit der Versicherung einer „brutalstmöglichen Aufklärung“
(Koch) verbinden. Jede dieser Strategien kann den Skandal zur Vollendung bringen. Einmütig
gibt sich die Öffentlichkeit dann mit dem Stand der Aufklärung und dem ihr gezollten Tribut
zufrieden. Die kognitive Anerkennung des Normverstoßes, sein evaluativer Charakter als
moralische Verfehlung und das rechte Maß an Strafe können aber jederzeit wieder zum
284
In anderen Worten: Man setzt dem heroisch-romantischen Narrativ des Enthüllers eine „low-mimesis“Erzählung entgegen – oder aber ein Täternarrativ, das einen selbst als Opfer dastehen lässt (2.2.1).
301
Gegenstand von gesellschaftlichen Konflikten werden.
Wenn sich die Öffentlichkeit nicht auf eine einheitliche Rahmung der Vorfälle einigen
kann, entstehen in der Regel zwei gesellschaftliche Lager, die um die gesellschaftliche
Deutungshoheit über den Konflikt konkurrieren. Oft entwickeln sich diese Lager entlang
organisierter Gruppen – wie z.B. politische Parteien und ihre Anhänger –, oder sie verlaufen
entlang latenter Konfliktlinien, die dann in der Krise manifest werden. Als Beispiel für die
Formierung streitender Lager kann die Dreyfus-Affäre im Frankreich des ausgehenden 19.
Jahrhunderts herangezogen werden: Anlässlich eines Spionagefalls kam es zu einem Konflikt
zwischen den konservativen und liberalen Kräften im Lande. Die konservativen
Antidreyfusiens, die sich dem vorrevolutionären Ancien Régime verbunden fühlten, waren in
erster Linie der katholischen Kirche und der französischen Armee verbunden. Ihnen ging es in
vor allem darum, so zumindest die Interpretation Durkheims (1986/1898), die Autorität
gesellschaftlicher Institutionen zu stärken – notfalls auch durch Opferung des perfekten
Sündenbocks, Alfred Dreyfus, der aus dem grenznahen Elsass stammte und zudem jüdischer
Herkunft war. Die liberalen Dreyfusiens waren hingegen Anhänger der Ideale der
französischen Revolutionen, welche die Autorität der Gesellschaft nicht mehr in den
konkreten Institutionen, sondern in der Geltung universeller Normsysteme und Werte
verortete. Unter Berufung auf den französischen Rechtstaat und die Erklärung der
Menschenrechte von 1789 forderten sie, auf Dreyfus als einen Sündenbock zu verzichten und
die Klärung des Spionagefalls einem ergebnisoffenen rechtlichen Verfahren anheimzustellen.
Die Dramatik des sozialen Dramas verlangt nach handelnden Personen, weswegen die
Repräsentation von Personengruppen durch einzelne Akteure unabdingbar ist. Zudem hängt
die Wirksamkeit der bereits erwähnten Strategien in hohem Maße vom Erfolg sozialer
Performanzen ab. In ähnlicher Weise wie sich Journalisten als Delegation der Öffentlichkeit
gerieren, so findet auch im Falle sozialer Krisen eine Delegation von Sprechern – oder besser:
deren Selbstermächtigung im Namen eines Kollektivs statt (Bourdieu 1989). Zwischen den
öffentlichen Repräsentanten bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und den Gruppen selbst
besteht dabei eine gewisse Homologie, ob es sich nun um das Verhältnis von Journalist und
Leser oder um jenes zwischen politischem Führer und Anhänger handelt (Bourdieu 1989:
48f.). Diese Homologie wird durch die Zweitcodierung der politischen Öffentlichkeit, die
Unterscheidung zwischen „rechten“ und „linken“ bzw. „konservativen“ und „liberalen“
Parteien und Medien gestützt (4.3.5). Eine Homologie mit dem Publikum wird auch beim
Auftreten von öffentlichen Intellektuellen oder anderen Repräsentanten unterstellt; daher auch
302
der Einfluss, der bestimmten moralischen Eliten in liberalen Gesellschaften zugeschrieben
wird. Als sich Susan Sonntag zu Abu Ghraib äußerte (8.3.2), konnte sie sicher sein, dass ein
großer Teil des linksliberalen Milieus in den Vereinigten Staaten hinter ihr stand oder
zumindest an ihren Ausführungen interessiert war. In der Öffentlichkeit findet gleichsam ein
Stellvertreterkrieg zwischen den Repräsentanten unterschiedlicher Lager statt. Allerdings gibt
es auch den Fall, dass die geglückte Performanz eines selbsternannten Propheten auf
Resonanz stößt, die sein Gefolge zu allererst konstituiert. So hat Emile Zolas Intervention im
Dreyfus-Skandal („J’accuse“) maßgeblich zur Mobilisierung der Dreyfusiens beigetragen. Der
öffentliche Adressat der Kommunikation wurde damit erst durch den Akt der Kommunikation
hervorgebracht – ein klassischer Fall einer „self-fulfilling prophecy“ (Merton).
Pierre Bourdieu (1989) kritisiert die Delegation als politischen Fetischismus und
Verkennung des Repräsentanten durch das repräsentierte Kollektiv. Akzeptieren wir jedoch
mit Durkheim, dass Totemismus und Fetischismus notwendige Bestandteile moderner
Gesellschaften sind, lässt sich Bourdieus „Mysterium des ministerium“ als Projektion eines
Kollektivbewusstseins und damit als Manifestation des Heiligen einer Gesellschaft deuten.
Gerade die Heiligkeit des gesellschaftlichen Zentrums zeigt sich auch für die ikonoklastischen
Tendenzen im Prozess der Skandalisierung verantwortlich: Der scheinbar heilige
Repräsentant des Kollektivs wird als einfacher Mensch oder gar als Übeltäter entlarvt –
vorzugsweise durch solche, die selbst die Repräsentation des Kollektivs und damit den Status
der Heiligkeit beanspruchen. Die Aberkennung des Status als Repräsentant oder der Entzug
der Delegation, aber auch der demütige Rücktritt eines beschädigten Amtsinhabers (3.3.1),
eröffnen neue Möglichkeiten der Beilegung der Krise und einer Vereinigung der
konkurrierenden Parteien. Mit seinem Rücktritt erweist der angeschlagene Amtsinhaber seiner
Partei und der Gesellschaft einen letzten Dienst als Sündenbock (9.5.2).
5.3.5. Die Bewältigung des Skandals und sein Nachspiel
Jeder Skandal geht einmal zu Ende. Dies kann auf eine unterschiedliche Art und Weise
geschehen. Zunächst einmal können Skandale einfach im Sand des Tagesgeschäfts verlaufen.
Jene kollektiven Gefühle, unter deren Einfluss zunächst voller Empörung nach einem
Schuldigen verlangt wurde, kühlen sich ab, oder es kommt zu keinen weiteren Enthüllungen,
wodurch das Medieninteresse nachlässt. Skandale verschwinden allmählich von der
Bildfläche – um vielleicht später noch einmal wiederzukehren. Dieser zeitliche Verfall des
Skandals kann aber auch durch teils unbewusst wirkende, teils bewusst von den Akteuren
eingesetzte Mechanismen der Skandalbewältigung unterstützt oder aufgehalten werden. So
303
können die Schuldigen angemessen bestraft werden – dies kann durch moralischen
Achtungsentzug (10.1.3), oder aber auch durch strafrechtliche Verfolgung (8.5.1; 10.5.2)
geschehen. Durch eine Bestrafung der vermeintlichen Übeltäter wird die Verletzung des
kollektiven Gewissens gesühnt und die kollektive Empörung beruhigt. Mit Genugtuung
wendet sich dann die Öffentlichkeit von ihren Opfern ab und wieder dem politischen
Tagesgeschäft zu. Jedoch kann der angebliche Normverstoß auch erfolgreich bestritten oder
profanisiert werden. Damit geht in der Regel die Skandalisierung der vermeintlichen
Enthüller als Rufmörder oder machtpolitische Strategen einher. Es scheint, dass die erregte
Öffentlichkeit ihr Opfer braucht. Entpuppt sich die Anklage als Täuschung, so wendet sie sich
gegen den vermeintlichen Täuscher. Bleibt aber die große Empörung aus, bevor der Skandal
von der medialen Bildfläche verschwindet, hat dies Konsequenzen für die Geltung der
verletzten Norm. Die Norm wird in ihrer Geltung geschwächt und es wird im nächsten Fall
vermutlich nicht einmal mehr zu einer Enthüllung derartiger Verstöße kommen, weil sie ihren
Wert als Nachricht verlieren.285 Damit sind wir aber schon bei den unintendierten
Konsequenzen und Folgen, dem Nachspiel des Skandals, angelangt.
Während
sich
bei
trivialen
Skandalen
das
Kollektiv
gegen
die
Missetäter
zusammenschließt, können komplexere Skandale zu gesellschaftlichen Verwerfungen führen.
Abhängig davon, wie die Bewältigung des Skandals bei den beteiligten Parteien und dem
gespaltenen Publikum aufgenommen wird, kommt es entweder zu einer Einigung im Namen
des öffentlichen Interesses, dem sich dann auch die unterlegene Partei anschließt, oder zur
Entstehung eines latent schwellenden Konfliktherdes, der sogar eine nachhaltige Spaltung
nach sich ziehen kann. Der Ausgang eines Skandals ist immer ungewiss, aber keineswegs
dem bloßen Zufall überlassen. Einer „Soziologie des Skandals“ obliegt die Aufgabe,
Ereignisse, Mechanismen und Performanzen zu identifizieren, die dem Skandal als sozialem
Drama eine temporäre Wendung bzw. seine endgültige historische Form verliehen haben. So
hat beispielsweise Jeffrey C. Alexander (1988b, 1993) überzeugend dargelegt, warum sich die
Watergate-Affäre erst schleppend über zwei Jahre hingezogen hatte, bevor sich dann die
Ereignisse überschlugen und im Rücktritt von Nixon gipfelten. Angesichts der
bevorstehenden Präsidentschaftswahl von 1972 verlief die Affäre entlang der verhärteten
Fronten der sechziger Jahre, was eine überparteiliche Einigung unmöglich machte. Erst der
Druck der Ereignisse und die Wirkung sozialer Performanzen ließ die Differenzen zwischen
285
Hat sich ein homosexueller Bürgermeister einer deutschen Großstadt, um einer Skandalisierung
vorzubeugen, erst einmal ohne öffentlichen Aufschrei geoutet, müssen sich andere Bürgermeister vor ihrem
eigenen Outing, und sollten sie auch einer konservativen Partei angehören, nicht mehr fürchten.
304
den streitenden Parteien in den Hintergrund treten. Eine Welle der Empörung schlug Nixon
entgegen, der sich sogar überzeugte Republikaner anschlossen. Alexander zeigt in seiner
Analyse der einzelnen Etappen des Skandals, wo die Konfliktlinien zwischen den Parteien
verliefen, wie diese eine frühe Vollendung des Skandals verunmöglichten, wie neue
Enthüllungen den Status quo ins Wanken brachten und welchen Einfluss die öffentlichen
Watergate-Anhörungen für die Überwindung der weltanschaulichen Kluft hatte. Watergate
führte letzten Endes nicht nur zur Re-Integration der amerikanischen Gesellschaft, sondern
trug auch zur Wiederbelebung der demokratischen Kultur in Amerika bei. Aber erst als der
Skandal nicht mehr als ein
Interessen- bzw. Weltanschauungskonflikt zwischen
verschiedenen Parteien gesehen, sondern die Aufklärung der Affäre als öffentliches Interesse
wahrgenommen wurde, konnte es zu einer Reintegration der amerikanischen Gesellschaft
kommen. Neben sozialen Performanzen, die einer der streitenden Parteien zum Sieg über die
Gegenpartei
verhelfen
Krisenbewältigung
dar
können,
(Shils
stellen
1975:
auch
Rituale
153-163).
soziale
Rituelle
Mechanismen
Performanzen
der
betonen
gesellschaftliche Gemeinsamkeiten angesichts einer drohenden Spaltung.
Auch die Dreyfus-Affäre in Frankreich entzündete sich an den bestehenden
gesellschaftlichen Konfliktlinien (Sennett 2004: 306-320). Aber im Gegensatz zu Watergate
führte der Spionagefall zu einer nachhaltigen Spaltung der französischen Gesellschaft –
obwohl Dreyfus im Jahre 1906 vollständig rehabilitiert wurde.286 Die Dreyfus-Affäre hat
mehrfach gezeigt, dass rechtliche Verfahren zwar als Bewältigungsmechanismen fungieren
können, aber keineswegs moralisch bindend sind (vgl. die Darstellung bei Begley 2009).
Weder hat man sich auf Seiten der Dreyfusiens mit der Verurteilung von Dreyfus durch ein
ordentliches französisches Gericht zufrieden gegeben, noch hat sich die Gegenseite mit
seinem Freispruch und seiner Rehabilitation abgefunden. Die Anerkennung der Legitimität
von rechtlichen Verfahren ist von der politischen Kultur einer Gesellschaft abhängig, die in
den Bereich der öffentlichen Moral fällt (so Hondrich 2002). Eine fest verankerte politische
Kultur und eingeschliffene Übergangsrituale können die Krisenbewältigung einer
Gesellschaft und damit ihre Re-Integration erleichtern. Man führe sich den hitzig geführten
amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf vor Augen: Für einige Monate ist das Land in
zwei große Lager gespalten, während nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses und der
Inauguration des neuen Präsidenten dieser (auch von Seiten der Wahlverlierer) zunächst
286
Wenn auch kein klassischer Skandal, sondern vielmehr ein Komplex von verschiedenen Krisen, Skandalen
und traumatischen Ereignissen, führte die öffentliche Auseinandersetzung um den Vietnamkrieg zu einer
nachhaltigen Spaltung der amerikanischen Gesellschaft (vgl. 6.2.).
305
vorbehaltlos unterstützt wird.287 In weniger stabilen Staaten kann es zu Protesten gegen den
Ausgang der Wahl kommen; Verlierer beschuldigen die Gewinner der Manipulation; im
äußersten Fall kommt es zu einer Revolution oder einem Bürgerkrieg. Auf den ersten Blick
scheinen liberale Demokratien und Öffentlichkeiten besonders anfällig für destabilisierende
Krisen und Skandale zu sein, da sie sozialen Konflikten und politischen Dramen eine größere
Bühne bieten. Dem ist aber nur mitnichten so: Einer funktionierenden Demokratie gelingt es
immer wieder, soziale Konflikte in gesellschaftliche Solidarität umzumünzen. Liberale
Demokratien haben im Vergleich zu autoritären Regimen darüberhinaus den Vorteil, dass ihre
Institutionen relativ unabhängig von den einzelnen Individuen sind. So lassen sich soziale
Missstände personalisieren und moralische Verfehlungen ahnden, ohne das demokratische
System als solches in Frage stellen zu müssen. Die gewählten Politiker müssen
Verantwortung für gesellschaftliche Missstände übernehmen und werden im Zuge dessen
symbolisch verunreinigt. Freie Wahlen ermöglichen die Abwahl von verbrauchten Politikern
und dadurch eine periodische Reinigung und Erneuerung der Gesellschaft. Skandale stellen
hingegen einen außerordentlichen Mechanismus der Erneuerung, eine nichtperiodische
Selbstreinigung dar.
287
Zur Rolle von Ritualen beim Machtwechsel in den Vereinigten Staaten vgl. Christoph Wulf (2005: 153-163).
306
III. Historisch-empirischer Teil
6. Exposition: Amerika auf dem Weg nach Abu Ghraib
6.1. Der Zweite Weltkrieg – Trauma und Triumph
6.2. Der Vietnamkrieg –Ein dreifaches amerikanisches Trauma
6.3. Das Abu-Ghraib-Gefängnis und der Golfkrieg von 1991
6.4. Der 11. September 2001 und der Krieg gegen den Terror
6.5. Der Irakkrieg von 2003und die Transformation von Abu Ghraib
7. Die Skandalfotos: Interpretation – Rekonstruktion – Rezeption
7.1. Interpretation I: Die Ikone des Skandals
7.2. Interpretation II: Die menschliche Pyramide
7.3. Interpretation III: Sexualität, Erniedrigung und Folter
7.4. Rekonstruktion: Folter als rituelle Demütigung
7.5. Rezeption: Das Reale und die Imagination von Folter
8. Diskursanalyse I – Entstehung und Bewältigung des Skandals
8.1. Bildbruch –Enthüllung und Rahmung der Normverstösse
8.2. Identitätskrise –Abu Ghraib als Imageproblem
8.3. Soziale Spaltung? – Diskurshegemonie und Gegendiskurs
8.4. Ausweitung der Krise und retardierende Momente
8.5. Rechtliche Bewältigung und Politische Reintegration
9. Diskursanalyse II (2004-2006) – Politik, Recht und Kunst
9.1. Memoranda, Geheimgefängnisse, Folter
9.2. Ein neuer politischer Konsens – Das McCain-Amendment
9.3. Abu Ghraib, Guantanamo und der Supreme Court
9.4. Politischer Aktivismus und politische Kunst
9.5. Internationales Recht und nationale Politik
10. Diskursanalyse III (2006-2009) – Spätfolgen eines Skandals
10.1. Abu Ghraib und der Präsidentschaftswahlkampf 2008
10.2. Bildkritik und narrative Rekonstruktion – Die Dokumentationen
10.3. Abu Ghraib in der Populärkultur und die Debatte um 24
10.4. Abu Ghraib und die Folterdebatte
10.5. Die Obama-Präsidentschaft – Bewältigung oder Verdrängung?
307
6. Exposition: Amerika auf dem Weg nach Abu Ghraib
Dieser Arbeit liegt ein Verständnis von Soziologie als einer historischen Kulturwissenschaft
zu Grunde (vgl. Weber 1988/1904). Der historische Bezug ist schon bei einer Erklärung des
Handelns einzelner Akteure unabdingbar, die nicht nur in einem geschichtlich-gewordenen
Umfeld handeln, sondern deren Handeln auch immer in einen geschichtlich-geformten
Hintergrund eingebettet ist. Was für einzelne Handlungen gilt, gilt erst recht für komplexere
soziale Phänomene, die selbst wiederum auf den Gang der Geschichte Einfluss nehmen
können. Historische Ereignisse wie der Abu-Ghraib-Skandal können nicht aus sich selbst
heraus verstanden werden. Erst die Erinnerung an eine gemeinsam durchlebte Geschichte
stellt Kontexte und Hintergründe des Verstehens bereit, die dem aktuellen Ereignis seinen
Sinn geben. Dies gilt nicht nur für den Sozialwissenschaftler, sondern auch für die Menschen
in ihrer alltäglichen Lebenswelt. Aber nicht nur sinnhaftes Verstehen, sondern auch
ursächliches Erklären eines Ereignisses ist nur im Rekurs auf Vergangenes und Erinnertes
möglich. Kulturelle Muster als relativ stabile Dispositionen, die zur Erklärung von
Handlungen herangezogen werden können, weisen nicht nur Spuren vergangener Ereignisse
auf, sondern müssen selbst als geschichtliche Produkte verstanden werden.
Geschichte ist nichts Vorgefundenes, sondern muss von individuellen und kollektiven
Akteuren erzählt werden (2.2.3). Vergangenheit ist somit immer eine Konstruktion, oder
besser: eine Rekonstruktion von historischen Ereignissen im Lichte der Gegenwart. Erst in der
historischen Erzählung wird, im Rückgriff auf narrative Grundmuster, der Trümmerhaufen
der Vergangenheit zu einem sinnhaften Ganzen verwoben. Dies geschieht einerseits in
biographischen Erzählungen, die dem eigenen Leben eine narrative Struktur und damit auch
einen Sinn verleihen, andererseits aber auch in den Gründungsmythen und der offiziellen
Geschichtschreibung von Nationen. Vergangenes ist nur im intentionalen Modus der
Erinnerung gegenwärtig. Allerdings erschöpft sich das Phänomen des Gedächtnisses nicht im
intentionalen Akt der Erinnerung, sondern erstreckt sich bis in den kulturellen Hintergrund
einer Gesellschaft. So unterscheiden beispielsweise Bernhard Giesen und Kay Junge (2003:
326f.)
zwischen
dem
Gedächtnis
als
intentionaler
Hervorbringung
(„intentional
reproduction”) und dem Gedächtnis als einer nicht-intentionalen Wiederkehr („nonintentional recurrence“), die durch einen geeigneten Auslöser in Gang gesetzt werden kann.
Paradigmatisch für die nicht-intentionale Wiederkehr von Erinnerungen sind Traumata, die
zunächst latent im Gedächtnis verbleiben, aber dann durch ein Ereignis, das im kulturellen
308
Hintergrund auf Resonanz stößt, manifest werden können (1.3.5). In der vorliegenden Arbeit
trifft dies auf das Gedenken an Pearl Harbor zu (6.1.1), das anlässlich des 11. Septembers
aktualisiert wurde (6.4), aber auch auf das My-Lai-Massaker (6.2.3), das in den
Missbrauchsfällen von Abu Ghraib seinen Wiedergänger fand, und schließlich auf das
Trauma des Scheiterns in Vietnam (6.2.2), das als aktueller Bezugsrahmen der kollektiven
Erinnerung und Deutung der Gegenwart mit dem absehbaren Scheitern im Irak an Bedeutung
gewann. Ein „kulturelles Trauma“ ist dabei selbst als ein historisches Phänomen zu
betrachten. Es folgt nicht einfach auf ein traumatisches Ereignis, sondern stellt eine historisch
gewordene Diskursformation dar, deren Entstehen gegenüber dem ursprünglichen Ereignis
eine relative Autonomie besitzt. Zugleich aber präfiguriert ein existierendes kulturelles
Trauma, wie auch andere Formen des kulturellen Gedächtnisses (Assmann 2002; 2007), den
gesellschaftlichen Umgang mit historischen wie auch aktuellen Ereignissen.288 Darüber
hinaus ist die komparative Dimension von historischer Analysen für diese Arbeit von
besonderem Interesse. Erst die geschichtliche Betrachtung eröffnet einen Horizont, vor
welchem Ereignisse unter verschiedenen Gesichtspunkten vergleichbar werden.
Während Erinnerung als ein intentionaler Akt, Vergangenes zu gegenwärtigen, begriffen
werden kann, lässt sich das Gedächtnis als Disposition oder vorintentionaler Hintergrund
verstehen, der erst die Möglichkeit individuellen wie auch kollektiven Erinnerns sichert. So
spricht schon Maurice Halbwachs (2006) von den sozialen Bedingungen des Gedächtnisses,
die einen Rahmen für individuelle und kollektive Erinnerungen bereitstellen. Diese sozialen
Bedingungen formen den kulturellen Hintergrund des Gedächtnisses in einer Weise, die
bestimmte Erinnerungen ermöglicht und andere ausschließt. Dem individuellen und
kollektiven Gedächtnis liegt zudem eine symbolische Ordnung zu Grunde, die binär
strukturiert ist. In diese Richtung weist auch die Polarität von „Triumph“ und „Trauma“, wie
sie von Bernhard Giesen (2004c) herausgearbeitet wurde. Triumph und Trauma stellen zwei
entgegengesetzte Pole auf einem Kontinuum zwischen positiv bewerteten Erinnerungen und
negativ bewerteten Erinnerungen dar. Dem entsprechen die Figuren des Helden auf der einen
sowie die des Täters und des Opfers auf der anderen Seite. Helden, Täter und Opfer sind
kulturelle Imaginationen dieser symbolischen Ordnung von Erinnerungsdiskursen und
288
Kulturelle Traumata gehören zum kollektiv geteilten Handlungshintergrund einer Gesellschaft und müssen
deswegen als ein kausal wirksamer Faktor begriffen werden. Auch wenn historische Ereignisse und
intentionale Handlungen keiner vollständigen kausalen Determination unterliegen, weil sie ansonsten für uns
ihren Sinn verlören, ist die ursächliche Erklärung in den historischen Sozialwissenschaften von zu großer
Bedeutung, um sie mit dem Bade eines kruden Szientismus auszuschütten.
309
integraler Bestandteil ihrer Narrative (Giesen 2010: 67-87).
Das Begriffspaar der „symbolischen Ordnung“ und des „sozialen Imaginären“ lässt sich
auch für die Analyse des kulturellen Gedächtnisses als vorintentionalem Hintergrund des
Erinnerns fruchtbar machen. Ein Grenzfall des gesellschaftlichen Unbewussten und sozialen
Imaginären stellt das von Aleida Assmann diskutierte Speichergedächtnis dar, das als
„amorphe Masse“ eine Vorbedingung des sogenannten Funktionsgedächtnisses darstellt:
Dieses teils nicht bewusste, teils unbewusste Gedächtnis bildet deshalb nicht den Gegensatz zum
Funktionsgedächtnis, eher dessen Hintergrund. Das Modell von Vorder- und Hintergrund umgeht das
Problem der binären Opposition; es ist nicht mehr dualistisch, sondern perspektivisch. In dieser
Bezogenheit von Vordergrund und Hintergrund liegt die Möglichkeit beschlossen, dass sich das bewusste
Gedächtnis verändern kann, dass Konfigurationen aufgelöst und neu zusammengesetzt werden, dass
aktuelle Elemente unwichtig werden, latente Elemente emportauchen und neue Verbindungen eingehen.
Die Tiefenstruktur des Gedächtnisses mit ihrem Binnenverkehr zwischen aktualisierten und
nichtaktualisierten Elementen ist die Bedingung der Möglichkeit von Veränderung und Erneuerung in der
Struktur des Bewusstseins, dass ohne den Hintergrund jener amorphen Reserve erstarren würde.
(Assmann 2009: 136)
Das Speichergedächtnis verkörpert sich zum einem im sozialen Imaginären einer
Gesellschaft, zum anderen objektiviert es sich in Artefakten und Archiven. Ähnlich wie der
vorintentionale Hintergrund des Gedächtnisses, der nur durch den intentionalen Akt der
Erinnerung aktualisiert wird, werden diese Objektivationen der Vergangenheit nur dadurch
lebendig, dass ihrer gedacht wird. Dies unterscheidet beispielsweise säkulare Ikonen von
anderen historischen Bildern (2.1.5). Ikonen sind durch Riten der Erinnerung in das
Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft eingebunden, während ein unermesslicher Vorrat an
Bildern im Speichergedächtnis der Archive lagert und dort seiner Wiederentdeckung harrt.
Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit der kulturellen Rahmung von Ereignissen der
neueren amerikanischen Geschichte in hermeneutischer, explanatorischer und komparativer
Absicht. Möchte man das kollektive Gedächtnis von Gesellschaften untersuchen, so ist eine
Analyse der öffentlichen und akademischen Diskurse das Mittel der Wahl. Die Auswahl der
historischen Ereignisse und der herangezogenen Literatur wurde auf die Problemstellung
dieser Arbeit zugeschnitten. Jeder Abschnitt beschäftigt sich mit der kollektiven
Wahrnehmung und Erinnerung eines historischen Ereignisses und versucht, dessen Folgen für
die gesellschaftlichen Diskurse und das soziale Imaginäre der Vereinigten Staaten
abzuschätzen. So ist für ein tieferes Verständnis der Rolle des Abu-Ghraib-Skandals im
Irakkrieg von 2003 die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den
Vietnamkrieg von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Im Folgenden soll die These erhärtet
werden, dass sich die beiden Kriege in der symbolischen Ordnung des amerikanischen
Gedächtnisses als strukturierende Pole, als „Triumph und Trauma“ (Giesen 2004c), diametral
310
gegenüberstehen (6.1-2). So wird der Zweite Weltkrieg in den Vereinigten Staaten trotz (oder:
gerade wegen) des anfänglichen Traumas von Pearl Harbour und der nachträglichen
Traumatisierung des Holocausts als militärischer und moralischer Triumph erinnert. Im
Unterschied zu dieser Eindeutigkeit des Erinnerns bleibt das kollektive Gedenken an den
Vietnamkrieg ambivalent und umstritten. Das Einzige, worüber man nach dem Truppenabzug
übereinkam, war die militärische Niederlage des amerikanischen „Goliath“ gegenüber dem
nordvietnamesischen
„David“.
Diese
polare
Struktur
des
amerikanischen
Geschichtsgedächtnisses schlug sich auch in der kulturellen Rahmung der späteren
Kriegshandlungen nieder. Dies lässt sich vor allem an der Veränderung der Wahrnehmung
des Irakkrieges von 2003 aufzeigen. Dominierte zu Beginn des Krieges im amerikanischen
Diskurs noch die Analogie zum Zweiten Weltkrieg, so wich diese Rahmung im Zuge des
Abu-Ghraib-Skandals und des ausbleibenden militärischen Erfolgs bald der Vorstellung vom
Irak als einem zweiten Vietnam.
In dieser historischen Exposition zum Abu-Ghraib-Skandal konnten nur einige wenige
ausgewählte Arbeiten berücksichtigt werden, die sich meist mit dem symbolischen Charakter
von Kriegsereignissen und der Bedeutung von kulturellen Codes für die nationale Erinnerung
auseinandersetzen. Besonderes Augenmerk liegt auf kollektiven Symbolen und säkularen
Ikonen, die als Referenzpunkte des kollektiven Gedächtnisses dienen. Es geht mir in den
folgenden Ausführungen weder um eine historische Rekonstruktion des tatsächlichen
Geschehens, noch um eine umfassende Betrachtung einzelner historischer Ereignisse.
Vielmehr sollen spezifische Schlüsselereignisse der jüngeren amerikanischen Geschichte im
Hinblick auf den 11. September 2001 und den Abu-Ghraib-Skandal ausführlicher diskutiert
und eine skizzenhafte Generalisierung der symbolische Ordnung und des sozialen Imaginären
der hier untersuchten Erinnerungsdiskurse vorgenommen werden. Neben der Auswertung von
historischen und soziologischen Studien greifen weite Teile des dritten und des fünften
Kapitels auf eine eigens durchgeführte Diskursanalyse englisch- und deutschsprachiger
Zeitungen zurück.289 So lässt sich anhand dieser Daten nachzeichnen, wie das Abu-GhraibGefängnis noch unter Saddam Husseins Herrschaft zu einem negativen Symbol in den
westlichen Mediendiskursen und damit zu einem Instrument der symbolischen Mobilmachung
289
Die Diskursanalyse erfolgte auf Basis einer stichprobenartigen Erhebung über die Datenbank Lexis-Nexis, die
zum Zeitpunkt der Analyse im Frühjahr 2008 schon einen Zugriff auf eine Vielzahl von amerikanischen,
englischen, kanadischen und deutschen Tageszeitungen ermöglichte. Der verwendete Suchbegriff war „Abu
Ghraib“; der Suchzeitraum beginnt am 1. Januar 1980 und endet am 31. Dezember 2003, d.h. nur wenige
Tage, bevor es die ersten Pressemeldungen zu den Vorfällen in Abu Ghraib gab.
311
für den Golfkrieg von 1991 und den Irakkrieg von 2003 wurde (6.3). Die Tatsache, dass Abu
Ghraib schon vor der amerikanischen Okkupation als ein negativ besetzter Ort des Schreckens
galt, darf in ihrer Bedeutung für die Rezeption der Abu-Ghraib-Bilder und die Entstehung des
Skandals nicht unterschätzt werden. Die Legitimation des Golfkrieges von 1991 erfolgte im
Wesentlichen über den mnemotechnischen Rückgriff auf den Zweiten Weltkrieg, nach der
Saddam Husseins Invasion von Kuwait in Analogie zu Hitlers Angriff auf Polen gesehen
wurde (6.3.2.). Auch der Krieg gegen den Terror erfolgte als Rückgriff auf den Zweiten
Weltkrieg, da der Anschlag auf das World Trade Center am Trauma von Pearl Harbor rührte.
Der Irakkrieg von 2003 muss ebenfalls vor dem Hintergrund des 11. Septembers 2001, aber
auch im Kontext des vorangegangenen Golfkrieges und des Zweiten Weltkrieges, verstanden
werden (6.5). Die mutmaßliche Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak und die
darin implizierte Gefahr eines biologischen, chemischen oder gar nuklearen „Holocausts“,
führte in den Vereinigten Staaten zu einer breiten Zustimmung für den militärischen Einsatz.
Abu Ghraib wurde aber bald nach seiner Übernahme durch die Amerikaner zu einem Symbol
für die verhassten Besatzer, was unter anderem zu Anschlägen auf das Gefängnis führte
(6.5.2). Diese Anschläge schufen ein Klima der Bedrohung und Vergeltung, das wiederum
den Gefangenenmissbrauch in Abu Ghraib förderte (7.4).
6.1. Amerika und der Zweite Weltkrieg – Triumph und Trauma
I fear all we have done is to awaken a sleeping giant.
Admiral Isoroku Yamamoto, in Pearl Harbor (2001)290
Die Bedeutung des Zweiten Weltkriegs liegt nicht alleine in seiner historischen Tragweite als
einem Ereignis, welches das Antlitz der Welt veränderte, sondern ebenso in seiner
fortwährenden Wirkung als erinnerte Geschichte, die Schemata zur Interpretation der
290
Dieses Zitat ist historisch nicht verbürgt. Man muss davon ausgehen, dass der japanische Admiral, der in der
Tat der Meinung war, dass Japan den Krieg gegen die Vereinigten Staaten nicht gewinnen könne, nie etwas
Derartiges gesagt hat. Die Macher von Pearl Harbor zitieren selbst wieder ein populärkulturelles Vorbild,
den Film Tora! Tora! Tora! (1970), in welchem dem Admiral ein ähnliches Zitat in den Mund gelegt wird: „I
fear all we have done is to awaken a sleeping giant and fill him with a terrible resolve“. Allerdings haben sich
beide Zitate so nachhaltig in der populären Imagination der amerikanischen Geschichte festgesetzt, dass sie
auf Webseiten neben historisch gesicherten Zitaten aufgeführt werden.
312
Gegenwart bereitstellt. So lässt sich konstatieren, dass der Zweite Weltkrieg zur klassischen
Vorlage für zeitgenössische Kriegsrechtfertigungsnarrative geworden ist. Unbeliebsame
Diktatoren werden heute gerne mit Adolf Hitler verglichen, der Holocaust steht Pate für
epigonale Verbrechen gegen die Menschlichkeit, während Angriffskriege mit dem Verweis
auf die missglückte Appeasement-Politik gegenüber dem dritten Reich und der geglückten
Besetzung von Deutschland und Japan legitimiert werden. So diente im öffentlichen Diskurs
in Deutschland der Völkermord in Jugoslawien und insbesondere das Massaker von
Srebrenica der Rechtfertigung der deutschen Beteiligung am Kosovokrieg.291 Der erste
Militäreinsatz in der Geschichte der Bundeswehr wurde von Journalisten, Politikern und
Intellektuellen vorwiegend im Rückgriff auf den Holocaust und die historische
Verantwortung der Deutschen legitimiert (vgl. Schwab-Trapp 1999). Das „Dritte Reich“ stellt
nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen zivilgesellschaftlichen Diskursen das
konstitutive Außen par excellence dar. Als alternative Füllung der symbolischen Leerstelle
eines „Reich des Bösen“ kommt in den meisten westlichen Diskursen nur noch Stalins
Sowjetunion in Frage, wenn auch die berüchtigten Säuberungen und Gulags nie den
symbolischen Status des Holocausts und der Konzentrationslager erreichen konnten.
Im zivilgesellschaftlichen Diskurs der Vereinigten Staaten sind sowohl das „Dritte-Reich“Schema als auch das „Stalinismus“-Schema vertreten.292 Daneben gibt es noch ein weiteres
kulturelles Muster, das auf die amerikanische Erfahrung des Pazifikkriegs gegen Japan
zurückgeht. Im Folgenden soll zunächst einmal auf den traumatisierenden Angriff der Japaner
auf Pearl Harbor eingegangen werden, der den amerikanischen Kriegseintritt markierte
(6.1.1), bevor schließlich zu den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki
übergangen wird, die den militärischen Triumph über Japan symbolisieren (6.1.2). Im
Gegensatz zu der genuin amerikanischen Besetzung der Symbole „Pearl Harbor“ und
„Hiroshima“ steht die nahezu universelle Bedeutung des „Holocaust“, der im Zuge der
siebziger Jahre in öffentlichen Diskursen auf der ganzen Welt zu einem absoluten
Negativsymbol avancierte (6.1.3). Eine zentrale Rolle bei der Erinnerung an den Holocausts
spielen die Fotografien aus den Vernichtungslagern, die in vielerlei Hinsicht als säkulare
291
Dieser Einsatz fand in den Jahren 1998 und 1999 statt. Zum Zeitpunkt des Abfassens dieser Arbeit waren
allerdings immer noch deutsche Soldaten (im Rahmen der KFOR) im Kosovo stationiert.
292
Diese Schemata dienen nicht nur der Rahmung von Kriegen, sondern auch als Kampfmittel im politischen
Alltag – insbesondere bei den Konservativen. So wurden die öffentlichen Auftritte des Präsidenten Obama
und seiner Anhängerschaft von dem rechtskonservativen Moderator Glen Beck mit „Naziaufmärschen“
verglichen, während die umstrittene Gesundheitsreform der Demokraten 2010 von republikanischen
Abgeordneten als „kommunistisch“, „totalitär“ und „stalinistisch“ gebrandmarkt wurde.
313
Ikonen par excellence gelten dürfen (Brink 1998) – auch wenn sie nur einen sekundären
Beitrag zur Transformation des Völkermords in ein „trauma drama“ leisteten. Für das
nationale Gedenken an Pearl Harbor und Hiroshima hatten visuelle Ikonen eine ebenfalls
nicht unerhebliche Bedeutung.
6.1.1. „Pearl Harbor“ – Traumatisches Ereignis und kollektives Symbol
Nach dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise dominierten im öffentlichen Diskurs
der Vereinigten Staaten isolationistische Tendenzen. So hielten noch 1937 etwa 70% der
Bevölkerung die amerikanische Beteiligung am ersten Weltkrieg für einen Fehler (vgl.
Schwartz 1996: 913). Auch nach Beginn des Zweiten Weltkrieges stand die Mehrheit der
Amerikaner einem etwaigen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten ablehnend gegenüber –
trotz einer demokratischen Regierung, die eine amerikanische Beteiligung am Krieg
ausdrücklich befürwortete. Der Erste Weltkrieg war damit als legitimierender und
motivierender Code für eine amerikanische Beteiligung am Zweiten Weltkrieg zunächst
unbrauchbar. Wie Barry Schwartz (1996) in einer Studie zeigt, erfolgte die symbolische
Aufrüstung zunächst mit Hilfe der Mobilisierung von Abraham Lincoln als einem kollektiven
Symbol, das für ein amerikanisches Modell von Demokratie stand, das in Europa als bedroht
wahrgenommen wurde. Schon sechs Monate vor dem Angriff auf Pearl Harbor gelang es
Präsident
Roosevelt
im
symbolischen
Rückgriff
auf
Lincoln
einen
nationalen
Ausnahmezustand auszurufen (Schwartz 1996: 914f.). Aber erst der japanische Angriff auf
die amerikanische Pazifikflotte im hawaiianischen Hafen Pearl Harbor sorgte vollends für
einen Umschwung in der öffentlichen Meinung.
Die Erfahrung von Pearl Harbor kann als „traumatisch“ bezeichnet werden, weil sie einige
Hintergrundannahmen der amerikanischen Bevölkerung untergrub (Neal 1998: 60-66).293 So
steht „Pearl Harbor“ für den ersten Angriff einer fremden Macht auf amerikanischem
Territorium und wurde damit als Bedrohung der Nation selbst wahrgenommen. Aber auch die
fast vollständige Vernichtung der Pazifikflotte am 7. Dezember 1941 war für die meisten
Amerikaner ein Schock. Sie verletzte nicht nur die isolationistische Hintergrundannahme,
dass sich Amerika unbeschadet aus den Konflikten der Alten Welt heraushalten könne (vgl.
Smith 2005: 219), sondern führte auch dazu, dass sich die selbstbewusste Nation in der
ungewohnten Rolle des Opfers wiederfand. Der kollektive Schock und der verletzte
293
Zu Pearl Harbor als nationalem Trauma und seiner kulturellen Verarbeitung vgl. vor allem die Arbeit von
Michael Hartwig (2011), der insbesondere auch den Bezug zum 11. September thematisiert.
314
Nationalstolz schlugen alsbald, nicht zuletzt dank der performativen Vermittlung Roosevelts,
in ein Bedürfnis nach Vergeltung um, welches die Regierung zur Proklamation des
Kriegseintritts nutzte (Neal 1998: 66-71). Die Tatsache, dass nach dem Krieg bekannt wurde,
dass dem amerikanischen Geheimdienst im Vorfeld des Angriffs auf Pearl Harbor zahlreiche
Fehler unterlaufen waren (vgl. Kahn 1991), gibt bis zum heutigen Tage Anlass zu
Verschwörungstheorien, die allerdings weder öffentliche noch akademische Anerkennung
fanden (vgl. Dower 2010: 35).294
Am Tag nach dem Angriff eröffnete Präsident Franklin Roosevelt seine Rede an die beiden
Häuser des amerikanischen Parlaments mit folgenden Worten: „Yesterday, December 7,
1941—a date which will live in infamy—the United States was suddenly and deliberately
attacked by naval and air forces of the Empire of Japan” (zitiert nach Dower 2010; vgl. auch
Rosenberg 2003: 84f.). Die eigene militärische Niederlage wurde als moralische Verfehlung
des Gegners porträtiert, als heimtückischer und ehrloser Angriff, der Amerika unvorbereitet
treffen musste.295 Im Rohentwurf zu der Rede hatte es noch „a date which will live in world
history” geheißen, aber Roosevelts handschriftliche Notiz und seine tatsächliche Performanz
vor den Parlamentariern und der amerikanischen Öffentlichkeit ließen „infamy“ zu einem
Codewort für Pearl Harbor werden, das schließlich auch auf den 11. September 2001 gemünzt
wurde (Dower 2010: 3-38; Rosenberg 2003: 174-190). „Infamy“, die Schande und
Ehrlosigkeit des Gegners, half den Amerikanern, ihr eigenes Selbstbild auch angesichts dieser
offensichtlichen Niederlage zu wahren.296
294
Was nicht heißt, dass diese Verschwörungstheorien kein breites Publikum erreichten. So veröffentlichte etwa
der Schriftsteller John Toland im Jahre 1982, also kurz nach der Übernahme des Präsidentenamtes durch den
Republikaner Ronald Reagan, einen Bestseller namens Infamy, in dem er die Demokraten beschuldigte, den
Angriff auf Pearl Harbor nicht nur provoziert, sondern auch zugelassen zu haben. Interessanterweise gab es
nach dem 11. September 2001 ähnliche Verschwörungstheorien, wenn auch diesmal aus dem linksliberalen
Milieu.
295
Die Heimtücke des Angriff wird in einer amerikanischen Propagandazeichnung besonders prägnant zum
Ausdruck gebracht. Darauf zu sehen ist eine verletzt auf dem Boden liegende weibliche Figur mit der
Aufschrift „Hawaii“, die einen Dolch im Rücken hat, an dem eine japanische Flagge angebracht ist,. Unter
der Figur steht geschrieben: „Remember Pearl Harbor“. Der Oberkörper Lincolns, der sich gerade die Ärmel
hochkrempelt, ist auf der oberen Bildhälfte zu sehen. Darüber steht in großen Buchstaben: „Let’s go U.S.A“
(Linenthal 1993: 186-187). Obwohl der Angriff kaum weibliche Opfer gefordert haben dürfte, wird die
weibliche Figur hier als Symbol des hilflosen Opfers bemüht. Die symbolische Botschaft des Dolches,
traditionell schon immer die Waffe heimtückischer Angriffe (man denke an Judith und Brutus), wird durch
den Angriff von hinten noch verstärkt („Dolchstoßlegende“).
296
Heute ist Pearl Harbor für viele Amerikaner nicht nur ein Ort der kollektiven Erinnerung, sondern ein „sacred
ground“ (Linenthal 1993, vgl. 6.3.1), der der Gefahr einer symbolischen Verschmutzung durch japanische
Besucher ausgesetzt ist: „For some, physical defilement is symbolized by the presence of Japanese tourists
and Japanese ships at Pearl Harbor, at the visitors center, and the memorial“ (1993: 192).
315
6.1.2. „Hiroshima“ – Triumphale Performanz und kollektive Verdrängung
Das anfängliche Trauma von Pearl Harbor wurde durch den beispiellosen Triumph der
Alliierten, der sich in der bedingungslosen Kapitulation von Deutschland und Japan äußerte,
fast vollständig überdeckt. Der Kapitulation Japans ging der Abwurf von Atombomben über
Hiroshima und Nagasaki voraus, der nicht nur als militärisch-strategischer Akt verstanden
werden darf, sondern zugleich auch als performativ-symbolische Handlung begriffen werden
muss. Heute besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass der Einsatz der atomaren Bombe
keinesfalls militärisch notwendig war, was im Übrigen auch für das konventionelle
Flächenbombardement deutscher und japanischer Städte gilt (Friedrich 2002; Childers 2005;
Dower 2010: 162-196).
Der amerikanische Historiker John W. Dower wies darauf hin,297 dass diese exzessiven
Gewaltakte sowohl in der Durchführung als auch für ihre wohlwollende öffentliche Rezeption
auf Seiten der Alliierten eine Limitierung der gesellschaftlichen Vorstellungskraft
voraussetzten: „Faith in one’s own and one’s nation righteous cause, and to some degree
personal sanity itself, required closing off any genuinely unblinking and sustained
imagination of what modern warfare had come to“ (2010: 211). Diese Blockade der
Vorstellungskraft hatte paradoxerweise zur Folge, dass im Diskurs und in den Köpfen vieler
Menschen ein vergleichsweise unrealistisches Bild vom Krieg existierte. Hier wird deutlich,
dass Imagination eine zentrale Zugangsbedingung zur „realen“ Wirklichkeit darstellt. Die
direkt an den Kampfhandlungen beteiligten Akteure wurden sich allerdings der realen
Konsequenzen ihrer Handlungen öfter bewusst, als es ihnen lieb war und so mussten sie, wie
folgender Auszug aus den Memoiren eines Bomberpiloten zeigt, diese störenden
Vorstellungen beiseite schieben:
You drop a load of bombs and, if you’re cursed with any imagination at all, you have at least a quick
horrid glimpse of a child lying in a bed with a whole ton of masonry tumbling down on top of him; or a
three-year-old girl wailing for Mutter… Mutter… because she has been burned. Then you have to turn
away from the picture if you intend to retain your sanity. And also if you intend on doing the work your
Nation expects of you. (zitiert nach Dower 2010: 503)
An diesem Beispiel wird deutlich, dass wir das Imaginäre und das Symbolische als analytisch
unabhängige Aspekte der Kultur betrachten müssen. Wenn Vorstellungen und Bilder konträr
297
Dower (2010) unterzieht die Flächenbombardements und die Atombombenabwürfe während des Zweiten
Weltkriegs einer kulturalistischen Analyse – mit besonderer Berücksichtigung der Bezüge zum 11.
September 2001 und dem Krieg im Irak. Die vorliegenden Ausführungen verdanken seinen Überlegungen
und historischen Quellen sehr viel.
316
zur symbolischen Ordnung verlaufen, kann dies zu mentalen Spannungen führen, die sich
sozialpsychologisch als „kognitive Dissonanz“ (Festinger 1968), oder marxistisch, als
„Entfremdung“, deuten lassen. Im Rahmen einer Theorie des sozialen Imaginären sprechen
wir dann von Entfremdung, wenn sich eine Gesellschaft in ihren eigenen Produkten nicht
mehr wiedererkennt (Castoriadis 1987: 226; vgl. auch 1.3.1). Auf lange Sicht kann ein
derartiges Auseinanderklaffen von symbolischer Ordnung und sozialem Imaginären zu
kulturellem Wandel führen, sofern nicht Verdrängung und Vergessen überhand nehmen.
Entscheidend für die erfolgreiche Codierung des Flächenbombardements und der
Atombombenabwürfe als einem gerechten Triumph über die bösen Achsenmächte war, dass
das soziale Imaginäre von weinenden Kinder und wehklagenden Müttern weitgehend
verschont blieb.
Sowohl die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki als auch das
Flächenbombardement japanischer und deutscher Städte müssen als symbolische Akte
aufgefasst werden, denen primär eine kommunikative Funktion zukam. Insbesondere der
Einsatz der Atombombe entfaltete eine bisher unbekannte symbolische Sprengkraft. So sollte
die Bombe zunächst die japanische Führung und Öffentlichkeit einschüchtern, die auch nach
den konventionellen Flächenbombardements noch nicht zu einer bedingungslosen
Kapitulation bereit waren. Aber der Einsatz der Atombombe richtete sich zugleich auch an die
öffentliche Meinung an der Heimatfront. Ein Friedensabkommen zu den japanischen
Konditionen wäre im damaligen öffentlichen Klima der Vereinigten Staaten, wo ein Drittel
der Bevölkerung nach der Schmach von Pearl Harbor und den vielen gefallenen Soldaten eine
Hinrichtung
des
japanischen
Kaisers
befürwortete,
einem
politischen
Himmelfahrtskommando gleichgekommen (Dower 2010: 250). Zudem, so heißt es jedenfalls
in verschiedenen internen Berichten und Memoranda, wurde der Einsatz der Atombombe von
politischer Seite zunehmend als die einzige Möglichkeit gesehen, die exorbitanten Kosten des
Manhattan-Programms zur Entwicklung der Atombombe gegenüber der amerikanischen
Öffentlichkeit zu rechtfertigen (so Dower 2010: 248f.). Das wohl wichtigste Publikum waren
aber wohl die unbeteiligten Dritten, allen voran die zunehmend als Bedrohung
wahrgenommene Sowjetunion. Der Abwurf der Atombomben diente somit nicht zuletzt einer
Stärkung der Verhandlungsposition der Amerikaner auf der Potsdamer Konferenz (Paul 2006:
244f.; Dower 2010: 241-248). In der Retrospektive wurde der Atombombenabwurf allerdings
mit der sofortigen Herbeiführung des Kriegsendes und den dadurch ersparten Verlusten auf
Seiten der Alliierten öffentlich gerechtfertigt (Dower 2010: 212-220). Dieser Argumentation
317
ließe sich entgegenhalten, dass ein sofortiges Kriegsende auch durch eine Einwilligung in die
Bedingungen Japans oder eine weltöffentliche Demonstration der Bombe auf einem
unbewohnten Atoll hätte erreicht werden können. Lässt man sich aber erst einmal auf darauf
ein, dass die einzig denkbare Alternative zum Einsatz der Atombombe in einer
infanteristischen Invasion bestand, die womöglich bis zu einer Million amerikanischer
Soldaten das Leben gekostet hätte, so tritt die Ähnlichkeit des apokalyptischen Narrativs zu
dem Ticking-Bomb-Szenario im Krieg gegen den Terror zu Tage (6.4). Die Rede von
Abertausenden oder gar Millionen möglicher amerikanischer Verluste stellen allerdings
weniger eine realistische Schätzung, als vielmehr ein rhetorisches Mittel dar, welches das
Viel-zu-viele oder „far-too-many“ der vorhersehbaren Verluste signalisierte: „Whatever the
number might be, it was to be avoided at all costs“ (Dower 2010: 217). Der Einsatz der
Atombombe wurde – in einer dem Ticking-Bomb-Szenario vergleichbaren Weise – in ein
apokalyptisches
Narrativ
eingebettet,
das
als
Handlungshintergrund
alle
anderen
Handlungsmöglichkeiten auszuschließen schien. Angesichts der Faktenlage und der von
Dower diskutierten Gründe für den Bombenkrieg gegen Deutschland und Japan bleibt die
Frage, ob nicht zumindest auf die Atombombenabwürfe zu Gunsten einer weltöffentlichen
Demonstration der neuen Waffe hätte verzichtet werden können. Hier müssen wir uns
zunächst einmal auf die performative und kommunikative Funktion exzessiver Gewaltakte
besinnen (3.1). Gerade die Überschreitung geltender Normen der Kriegsführung besitzt ein
enormes symbolisches Potenzial, das nicht nur den Ausnahmezustand des Krieges signalisiert,
sondern auch den Willen zum Einsatz äußerster Mittel performativ unter Beweis stellt. Diese
gelungene Demonstration militärischer Stärke wirkte sich natürlich positiv auf die
Verhandlungsposition der Amerikaner in Potsdam aus. Daneben kann man aber auch von
einer „redemptive function of American strategic bombing“ in Bezug auf das traumatische
Ereignis von Pearl Harbor sprechen (Linenthal 1993: 185). Die symbolische Kraft des
transgressiven Gewaltaktes lässt sich so als angemessene Reaktion auf den japanischen
Angriff auf Pearl Harbor verstehen, wodurch sich eine „moral symmetry of righteous
vengeance“ (Linenthal 1993: 185) habe herstellen lassen. Auch der Einsatz von Folter im
Krieg gegen den Terror lässt sich als Mechanismus der symbolischen Vergeltung und
Herstellung einer moralischen „Gerechtigkeit“ betrachten (6.4).
Nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte der Atompilz bzw. die „mushroom cloud“ zu
einer visuellen Ikone, die in den Vereinigten Staaten zunächst als ein Symbol des Fortschritts
und des Sieges gefeiert wurde (Rosenthal 1991; Paul 2006). Erst der kalte Krieg ließ die
318
„mushroom cloud“ zu einer globalen Medienikone werden, die zunehmend auch „als Symbol
des Schreckens in der West-Ost-Auseinandersetzung“ fungierte. Das progressive Narrativ auf
der amerikanischen Seite fand sein Gegenstück in der apokalyptischen Rahmung der
„mushroom cloud“ in Europa. Allerdings setzte mit dem Ende des kalten Krieges eine
grundlegende Veränderung in der Wahrnehmung von atomarer Bedrohung ein. So war nun
vermehrt damit zu rechnen, dass Atomwaffen auch in die Hände nichtstaatlicher Akteure
geraten könnten. Wie „Pearl Harbor“, so wurde auch „Hiroshima“ zu einem Code, der nach
dem 11. September 2001 zur Anwendung kam (Dower 2010: 153-161, vgl. 6.4.). Dower
zufolge hatte sich der Name „Ground Zero“, der nach 9/11 auch auf den ehemaligen Standtort
der Zwillingstürme angewendet wurde, bereits im Jahr 1946 als fester Begriff für das Zentrum
einer Atomexplosion eingebürgert (2010: 157). Auch die „Shock and Awe“-Strategie der
Amerikaner im Irakkrieg von 2003, so Dower (2010: 153), greift letztendlich auf die kollektiv
erinnerten Erfahrungen mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki zurück.
Angesichts der manichäisch-apokalyptischen Deutung des Zweiten Weltkriegs ist es kaum
verwunderlich, dass sich im öffentlichen Diskurs der Vereinigten Staaten kein Tätertrauma
etablieren konnte – und das trotz zunehmender Verwendung von „Hiroshima“ als einem
negativem Code. Während das von den Alliierten besetzte Westdeutschland seine Niederlage
im Zweiten Weltkrieg allmählich zu einem Tätertrauma umcodierte (Giesen 2004a), gingen
die Vereinigten Staaten aus dem zweiten Weltkrieg zunächst mit gestärktem Selbst- und
Sendungsbewusstsein hervor.298
6.1.3. „Holocaust“ – Zur Universalisierung eines moralischen Codes
Nicht nur der Schrecken der Atombombe wurde vom progressiven Nachkriegsnarrativ der
Amerikaner verdeckt; auch dem Völkermord an den europäischen Juden konnte zunächst
keine historische Sonderstellung zugesprochen werden. Jeffrey Alexander beginnt seine
Analyse des kulturellen Traumatisierungsprozesses zunächst mit der simplen Feststellung,
dass von dem Holocaust kurz nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht die Rede war (2002,
2003b, 2009b; vgl. auch Novick 2003). Bevor der Völkermord an den europäischen Juden zu
einem globalen Symbol für das menschliche Leiden überhaupt wurde, galt er in erster Linie
298
Der Status von Hiroshima als „universal symbol of the horror of modern war and human suffering“
(Linenthal 1993: 185) mag zwar weltweit verbreitet sein, ist aber im amerikanischen Diskurs immer noch
umstritten. Die Konfliktlinien stimmen im Wesentlichen mit dem Kulturkampf um die Erinnerung an
Vietnam überein (6.2). Die Liberalen sind bereit, Hiroshima als universelles Symbol des Schreckens zu
akzeptieren, während die Konservativen an einer triumphalistischen Deutung des Ereignisses festhalten.
319
als Kriegsverbrechen, das die Ermordung von mehr als sechs Millionen Zivilisten zur Folge
hatte – wenn auch zugestanden werden muss, dass der Anklagepunkt „Verbrechen gegen die
Menschlichkeit“ auf den Nürnberger Prozessen schon ein historisches Novum darstellte.
Allerdings spielte die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Opfer jüdischer Herkunft
war, damals noch keine große Rolle. Nach dem Zweiten Weltkrieg, so Alexander weiter,
wurde der Holocaust zunächst als Symbol für die Gräuel der Naziherrschaft verwendet,
weswegen er in letzter Konsequenz der Verherrlichung des Triumphes der Alliierten diente
(2003b: 38-43). So erfüllte das negative Ereignis des Holocausts dank seiner Einbettung in ein
progressives Narrativ zunächst eine positive Funktion im kulturellen Gedächtnis (Alexander
2002: 16-26). Auch die Gründung der Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte wurden von diesem positiven Geschichtsnarrativ getragen, wie insbesondere
der Präambel der UN-Charta zu entnehmen ist. Die Gräuel des Zweiten Weltkrieges wurden
so zum Gründungsverbrechen einer neuen Weltordnung.
Trotz des Schocks, den die Berichte und die Fotografien aus den Konzentrationslagern bei
den Beobachtern auslösten, kam es in der amerikanischen Öffentlichkeit zunächst nicht zur
Konstruktion eines kulturellen Traumas, weil die Negativität des Ereignisses sofort in einer
positiven Geschichtskonstruktion aufgehoben wurde. Oder, wie Alexander an anderer Stelle
schreibt: „What was a trauma for victims was not a trauma for the audience” (2003b: 48).
Dies traf unter anderem auch auf die jüdischen Organisationen in den Vereinigten Staaten zu,
die nach dem Krieg kein Interesse an einem Holocaust-Mahnmal zeigten.299 Das progressive
oder romantische Narrativ, das von dem glorreichen Sieg über die finstere Naziherrschaft
erzählte, wurde erst im Laufe der sechziger und siebziger Jahre von einer tragischen
Erzählung abgelöst, die das Versagen der Menschheit angesichts der Vernichtung der
europäischen Juden ins Zentrum rückte (Alexander 2002: 26-31). Während die romantische
Geschichtserzählung das Augenmerk auf den Triumph des Helden über das Böse lenkt,
thematisiert die tragische Erzählung das unverschuldete Leiden der Opfer. Erst die Einbettung
der Ermordung der europäischen Juden in eine tragische Erzählung ließ den Holocaust zu
einem kulturellen Trauma werden.
Die zentrale Vorrausetzung dafür, dass der Holocaust auch zu einem kulturellen Trauma
avancieren konnte, ist nach Alexander die Identifikation mit den Protagonisten (2003b: 51-54)
299
Unter anderem, weil man angesichts des – auch in Amerika grassierenden – Antisemitismus den Eindruck
vermeiden wollte, dass amerikanischen Soldaten für die Befreiung der europäischen Juden gestorben waren.
Aber auch im neu gegründeten Staat Israel hatte man zunächst seine Probleme mit den jüdischen Opfern des
Zweiten Weltkriegs, da sie nicht zu dem eigenen heroischen Gründungsmythos zu passen schienen.
320
– und dies schließt nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter mit ein.300 Während die
meisten Fotografien von KZ-Überlebenden ausgemergelte und entmenschlichte Körper
zeigten, vermochten es insbesondere die literarischen Erzählungen, den Opfern ein
menschliches Gesicht zu geben. Von durchschlagendster Wirkung war wohl das Tagebuch
der jungen Holländerin Anne Frank, das im Jahr 1949 von ihrem Vater als dem einzigen
Überlebenden der Familie herausgegeben wurde. Gerade dieser Bericht über die alltäglichen
Sorgen und Wünsche eines jungen Mädchens stellte dem Leser – in sehr viel stärkerem Maße
als die sogenannte „Lagerliteratur“ – Identifikationsangebote mit den Opfern des Holocausts
bereit, wodurch die Aufmerksamkeit von der Unmenschlichkeit des Massenmordes auf die
Menschlichkeit der Opfer (und damit auf die Willkür ihrer Ermordung) verschoben wurde.
Eine Schlüsselstellung in der Universalisierung des Holocausts spielte dann das gleichnamige
Fernsehdrama in den siebziger Jahren, welches die fiktive Geschichte einer jüdischen Familie
in Berlin erzählte.301
Alexander zeigt in seiner Rekonstruktion, dass die Identifikation mit den Tätern für die
Universalisierung des Holocausts ebenso wichtig war wie die Identifikation mit den Opfern
(2002: 34-39; 2003b: 60-62). Diesbezüglich muss dem Eichmann-Prozess in Jerusalem, der
sowohl in Deutschland als auch in den Vereinigten Staaten jede Menge Aufmerksamkeit
erregte, eine zentrale Bedeutung zugemessen werden. Das juristische Drama der Anklage und
Verurteilung des in Argentinien festgenommen Organisators der Judenvernichtung, Adolf
Eichmann, wurde von Millionen von Zeitungslesern und Fernsehzuschauern auf der ganzen
Welt verfolgt. Eichmann wurde im Laufe des Prozesses zum archetypischen Schreibtischtäter
stilisiert. Hannah Arendt (1986), die den Prozess als Journalistin begleitete, arbeitete in ihrer
einflussreichen Deutung des Prozesses jene „Banalität des Bösen“ heraus, die es ermöglichte,
in Eichmann eine Personifikation des Bösen, zugleich aber auch nur „einen von uns“, zu
sehen. Diese Täterdeutung war alles andere als unumstritten, konnte sich aber auf
sozialpsychologische Befunde stützen.
Kurz nach dem Beginn des Eichmann-Prozesses entwarf Stanley Milgram (1974) ein
Experiment, das über die Psychen von Tätern wie Eichmann Aufschluss geben sollte. Das
300
Die Einsicht, dass die Menschlichkeit der Protagonisten Voraussetzung des Mitleidens auf Seiten des
Publikums ist, findet sich auch schon in der Tragödientheorie des Aristoteles (2010: 37-41, Kapitel 13).
301
Zur Resonanz der Serie in den USA und Deutschland vgl. den materialreichen Sammelband von Friedrich
Knilli und Siegfried Zielenski (1982). Dort werden sowohl die Produktionskontexte der Serie, als auch ihre
Rezeption anhand von Quoten, Leserbriefen und öffentlichen Debatten untersucht. Die Arbeiten werden von
einer kritischen Haltung gegenüber der Kommodifizierung des Holocausts (inklusive marxistischer
Untertöne) geleitet, was ihrem analytischen Wert jedoch keinen Abbruch tut.
321
heute legendäre „Milgram-Experiment“, das an der Yale University in einem spezifischen
experimentellen Setting durchgeführt wurde, demonstrierte, dass ein Großteil der Probanden
den Anordnungen des Versuchsleiters Folge leistete und eine dritte Person bei angeblichen
Fehlern mit Stromschlägen zu strafen bereit war. Eine der Versuchspersonen erzählte seiner
Frau von dem Ausgang des Experiments, worauf diese ihm antwortete: „You can call yourself
Eichmann“ (Milgram 1974: 54). Diese Antwort lässt sowohl Rückschlüsse auf die Präsenz
von Eichmann im öffentlichen Diskurs als auch auf den Kontext der Rezeption der Ergebnisse
der Studie zu. Milgram hatte das Experiment vor dem Hintergrund des Holocausts und des
laufenden Eichmann-Prozesses entworfen – und vor diesem Hintergrund wurden die
Ergebnisse der Studie auch wahrgenommen. Das Experiment zeigte, dass die meisten
Menschen unter dem Einfluss einer (in diesem Fall: wissenschaftlichen!) Autorität zu
grausamen Akten der Gewalt fähig sind, was von Milgram auf die Planung und Durchführung
des Holocausts durch „ganz normale“ Deutsche übertragen wurde. Dank dieses Experimentes
brachte es Milgram zu großer Popularität und auf die Titelseite des Time Magazine. Das
Experiment ist heute zu einer Art sozialpsychologischen Ikone geworden und stößt sowohl in
der Wissenschaft als auch in der Populärkultur immer noch auf Resonanz .
Erst die Identifikation mit den Opfern und Tätern ermöglichte die Universalisierung des
Holocausts als einem globalen Symbol. Eine unvermeidliche Folge dieser Universalisierung
war allerdings, dass die Vereinigten Staaten und Israel die Kontrolle über die Verwendung
des Symbols verloren (Alexander 2002: 39-44; 2003b: 62-67). So reklamierten die
amerikanischen Ureinwohner gegenüber der amerikanischen Regierung einen „Native
American holocaust“, aber auch die Internierung von amerikanischen Staatsbürgern
japanischer Herkunft nach dem Angriff auf Pearl Harbor wurde mit der Unterbringung von
deutschen Juden in Konzentrationslagern verglichen. Im Zuge des Abu-Ghraib-Skandals
wurden die fotografischen Zeugnisse des Holocausts gar von einem arabischen Mitglied des
israelischen Parlaments zur Deutung der Missbrauchsfälle verwendet (7.2.1). In Deutschland
schließlich wurde das Gedenken an den Holocaust anlässlich der Massaker des
Jugoslawienkrieges beschworen und zur Legitimierung des militärischen Eingreifens von
Deutschland genutzt (vgl. Schwab-Trapp 1999). In ähnlicher Weise wie „Pearl Harbor“ und
„Hiroshima“ wurde so auch der Holocaust zu einem Code bzw. Sinnbild, das eine
Sinnstiftung in der Gegenwart vor dem Hintergrund einer kollektiv erinnerten Vergangenheit
ermöglicht. Der Holocaust ist mittlerweile fester Bestandteil eines globalen sozialen
Imaginären, das von Fotografien, Erzählungen, Museen, Denkmälern und Filmen getragen
322
wird.
Der Holocaust gilt heute als Paradebeispiel eines kollektiven bzw. kulturellen Traumas
(LaCapra 1994; Hartman 1996; Alexander 2009a; Brunner & Zajde 2011). Als Trauma sperrt
sich der Holocaust gegen seine Versprachlichung oder andere Formen der Darstellung, auch
wenn Formen der kulturellen Repräsentation für seine symbolische Vermittlung unerlässlich
sind (1.3.5). Selbst wenn man das Dogma der Nichtdarstellbarkeit des Holocausts, das an das
alttestamentarische Bilderverbot erinnert, nicht teilt, so deutet doch vieles darauf hin, dass die
Schwierigkeiten einer Repräsentation für das kulturelle Trauma des Holocausts als solches
konstitutiv sind. Leerstellen und Aussparungen kommen in den Darstellungen des Holocausts
eine besondere Rolle zu, da sie über das System der sprachlichen Zeichen und die
überlieferten Fotografien hinausweisen und dadurch an das Imaginäre appellieren. So sind es
gerade Erzählungen wie das Tagebuch der Anne Frank, welche die Gräuel der
Vernichtungscamps aussparen, oder aber Fotografien, beispielsweise von Schuhbergen oder
von den Toren von Ausschwitz, welche nicht die Opfer selbst zeigen und so im bloßen
Verweis auf das Unaussprechliche die Imagination des Betrachters befeuern.
Im Großen und Ganzen darf der Beitrag der Fotografien aus den Vernichtungslagern für
die Konstruktion des Holocausts als einem kulturellen Trauma gegenüber den Erzählungen
von Überlebenden und Opfern nicht überbewertet werden. So sind die meisten Fotografien
erst bei der Befreiung der Lager entstanden, weshalb sie die eigentliche Stärke ihres
Bildmediums, nämlich – in diesem Fall – die Realität der Todeslager authentisch
wiederzugeben, nicht ausspielen konnten (2.1.4). Des Weiteren erschwert die schiere Menge
an Fotografien (von denen es über eine Million gibt!) eine etwaige Ikonisierung – auch wenn
einzelne Bilder, wie beispielsweise jenes vom Jungen im Warschauer Ghetto, aus der schieren
Menge der Bilder hervorragen. Drittens ist nur wenigen Bildern jene ikonische Qualität zu
eigen, die einen solchen Prozess hätte befördern können. Bilder von Leichenbergen wecken
nicht in derselben Weise unser Interesse wie Geschichten von Opfern und Überlebenden. So
konnten die Bilder zwar im Rahmen des progressiven Narrativs die Gräuel der Naziherrschaft
anschaulich machen (vgl. Glasenapp 2007); ihren Status als säkulare Ikonen haben sie
allerdings erst dem Aufstieg des Holocausts zu einem kulturellen Trauma zu verdanken. Dies
heißt natürlich nicht, dass die Veröffentlichung der Bilder aus den Konzentrationslagern in
den letzten Kriegstagen ohne Folgen blieb. In den Vereinigten Staaten begann die
Veröffentlichung der Fotos im Rahmen einer Pressekampagne, die vom 9. April bis Anfang
Mai 1945 dauerte (Glasenapp 2007: 256-260). Die Fotos aus den Konzentrationslagern haben
323
maßgeblich dazu beigetragen, dass die Differenzierung zwischen den anständigen Deutschen
und verbrecherischen Nazis zunächst in den Hintergrund trat und die Deutschen als Gruppe
zunehmend negativ gesehen wurden (Casey 2001: 212f.).
6.2. Der Vietnamkrieg – Ein dreifaches amerikanisches Trauma
It has been over for a generation, and the Cold War world that shaped U.S. policy
has itself passed into history, but the Vietnam war still casts long shadows over
American life. It lingers in the national memory, hovering over our politics, our
culture, and our long unfinished debate over who we are and what we believe.
Arnold R. Isaacs, Vietnam Shadows (2000: IX)
Bis heute stellt der Vietnamkrieg einen Wendepunkt in der amerikanischen Geschichte dar.
Wie kein anderer Krieg hat er das Land gespalten und dadurch Konfliktlinien aufgeworfen,
die auch heute noch die zivilgesellschaftlichen Diskurse der Vereinigten Staaten bestimmen.
Jede militärische Intervention der Amerikaner muss sich seitdem gegenüber dem
militärischen und/oder moralischen Fiasko von Vietnam rechtfertigen. Dieser Vergleich
wurde insbesondere während des Irakkrieges von 2003 (6.5), dem ersten größeren
amerikanischen Einsatz von Bodentruppen seit Vietnam, bemüht – vor allem nachdem sich
der anfängliche Kriegsgrund als unbestätigtes Gerücht verflüchtigte, der schnelle militärische
Erfolg ausblieb und Skandale die amerikanischen Truppen heimzusuchen begannen. Auch die
Wahrnehmung der Vorgänge in Abu Ghraib, so eine These dieser Arbeit, wurde von der
gespaltenen Erinnerung an den Vietnamkrieg beeinflusst. Dies liegt unter anderem auch an
Seymour Hersh, der als junger Journalist das My-Lai-Massaker in Vietnam aufgedeckt hatte
(6.2.3) und, etwa 35 Jahre später, auch an der Enthüllung des Abu-Ghraib-Skandals
maßgeblich beteiligt war (8.1.2; 8.3.2). Hersh verkörpert die Referenz von Abu Ghraib auf
Vietnam sozusagen in Personalunion. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass die
kollektive Erinnerung an den Vietnamkrieg in den Vereinigten Staaten eine Schnittmenge
dreier verschiedener Traumadiskurse bildet, die jeweils ihre eigenen sozialen Trägergruppen
besitzen: das „Trauma der Opfer“ (6.2.1), das insbesondere von Veteranenorganisationen
gepflegt wird, das „Trauma des Scheiterns“ (6.2.2), das bei den Rechtskonservativen
dominiert, und das „Tätertrauma“ von Vietnam (6.2.3), das bis heute zum Kernbestand
linksliberaler Überzeugungen in den Vereinigten Staaten gehört.
324
6.2.1. Der Vietnamkrieg im amerikanischen Gedächtnis
Der Vietnamkrieg lässt sich als Produkt des Kalten Krieges verstehen. Die Staaten des
Warschauer Paktes, vereint unter dem Banner des Kommunismus und unter der Führung der
Sowjetunion, und die westliche Welt, die sich unter der Hegemonie der Amerikaner in der
Nato organisiert hatte, standen sich feindlich gegenüber. Auch das kommunistische China
wurde aufgrund dieses binären Klassifikationsschemas vom Westen als natürlicher
Verbündeter der Sowjetunion wahrgenommen. Wegen der Drohmacht der auf beiden Seiten
vorhandenen Atomwaffen, konnte es zu keiner direkten militärischen Auseinandersetzung
zwischen den Machtblöcken kommen. Die Erwartung einer atomaren Vergeltung, die auf den
atomaren Erstschlag erfolgt wäre, führte zur Verbreitung von apokalyptischen Narrativen – in
öffentlichen Diskursen wie auch in der Populärkultur, so z.B. in den James-Bond-Filmen oder
auch im Spielfilm The Day After (1983). Aus diesem Grunde beschränkten sich militärische
Auseinandersetzungen
zwischen
den
beiden
Machtblöcken
auf
sogenannte
„Stellvertreterkriege“. Das Gespenst des Kommunismus, das in den Augen der Amerikaner
die freie Welt bedrohte, musste auch auf scheinbaren Nebenschauplätzen wie in Korea und
Vietnam bekämpft werden. Dies legte zumindest die von Präsident Eisenhower 1954
proklamierte „Domino-Theorie“ nahe. Er vertrat die These, dass eine sozialistische
Revolution – in Form des Dominoeffekts – erst die gesamte Region erfassen und schließlich
auch die übrige Weltordnung destabilisieren würde. Diese Doktrin wurde schnell zu einem
Teil des amerikanischen Selbstverständnisses und des nationalen Imaginären. Auch hier liegt
ein apokalyptisches Narrativ zu Grunde, das nicht nur der Legitimation von äußersten
Maßnahmen diente, sondern auch die Ergreifung dieser Maßnahmen motivierte. Die
Attraktivität des binären Ost-West-Weltbildes liegt unter anderem in der Struktur von
politischen Diskursen, die über die Subsumierung vielfältiger Konflikte unter einen
Hauptantagonismus eine hegemoniale Ordnung herstellen (1.3.2; 4.3.1). Auch der militärische
Konflikt in Vietnam wurde vor diesem weltpolitischen Horizont gedeutet, statt ihn – wie
Kritiker anmahnten – als antikolonialistischen und nationalistischen Befreiungskampf zu
verstehen.
Diese apokalyptische Erzählung kann auch zur Erklärung des amerikanischen Eingreifens
in Vietnam herangezogen werden. Vietnam durfte nicht an die Kommunisten verloren gehen,
da dies, der Domino-Doktrin zufolge, in letzter Konsequenz das Ende der freien Welt
bedeutet hätte. Die Anwendbarkeit der Domino-Theorie und des binären Kalter-KriegSchemas war durchaus fraglich, hatte doch der vietnamesische Kommunismus seine Wurzeln
325
im Befreiungskampf gegen die französische Kolonialherrschaft und hielt zudem eine gehörige
Distanz zu Moskau und Peking. Das damals vorherrschende Weltbild ließ die amerikanische
Intervention in Vietnam als verständlich und zwingend erscheinen. Aber gerade diese
anfängliche Einhelligkeit ließ die Offenheit und Ambiguität des Krieges im amerikanischen
Gedächtnis noch stärker hervortreten:
The legacy of Vietnam is an unending topic. More than twenty-three years after the Fall of Saigon,
Vietnam remains an „unfinished war,“ a conflict that has not found a settled place in the history of the
United States. As Arnold R. Isaacs writes, the Vietnam War „lingers in the national memory, hovering
over our politics, our culture, and our long unfinished debate over who we are and what we believe.“
(Neu 2000b: 1)
Der Vietnamkrieg ist ein umkämpfter Signifikant, ein ambigues Objekt im Diskurs über
amerikanische Identität und Geschichte, das seiner narrativen Schließung harrt.302 Diese
Leerstelle, die sich durch symbolische Unterbestimmtheit auszeichnet, suggeriert etwas
Reales, an dem sich der Diskurs abarbeitet, ist aber zugleich auch Einfallstor für die
gesellschaftliche Imagination: Wie war es in Vietnam wirklich? Die Ambiguität des
historischen Objektes, das ungreifbar Reale des traumatischen Ereignisses, kann nicht
aufgehoben werden, ohne zugleich die Erzählung zu einem Ende und damit das Trauma zum
Verschwinden zu bringen: „On many levels and in many different ways, the process of
coming to terms with the Vietnam war continues to unfold“ (Neu 2000a: xi). Die öffentliche
Debatte, die Populärkultur und die Wissenschaft sind allesamt gesellschaftliche Bereiche, in
denen an der Fixierung und Öffnung der Bedeutung von „Vietnam“ gearbeitet wird.
Unmengen an belletristischer und wissenschaftlicher Literatur, populärer Kinofilme und
Dokumentarfilme ranken sich um den Vietnamkrieg. Wenige Jahre nach dem Krieg
entbrannte in der amerikanischen Öffentlichkeit ein neuer Kampf um Vietnam, diesmal um
die Deutungshoheit des Krieges, dessen Bedeutung nicht fixiert werden konnte (vgl.
McMahon 2002). Dies zeigt unter anderem die hitzig geführte Debatte um das VietnamMemorial in Washington, das dem kulturellen Trauma ein Denkmal setzte (Wagner-Pacifici
& Schwartz 1991; Neal 1998: 143f.). An Vietnam scheiden sich in Amerika nach wie vor die
302
Der Begriff des „ambiguen Objektes“ stammt aus einem Aufsatz des russischen Literaturtheoretikers Viktor
Šklovskij zu Sherlock Holmes, der leider bisher nicht ins Deutsche übersetzt wurde. In seiner Analyse der
Sherlock-Holmes-Romane stieß er auf rätselhafte Objekte, die den eigentlichen Kern der Erzählung
ausmachen und aufgrund ihrer anfänglichen Unbestimmtheit die Entfaltung des Plots vorantreiben (vgl.
Smith 2008a: 173; Shklovsky 1990/1925: 101-116). In ähnlicher Weise bestimmt Karin Knorr-Cetina den
Status von epistemischen Objekten, die sich durch einen unaufhebbaren Mangel an Sein auszeichnen (2001:
181). Das Objekt bleibt zwar epistemisch unbestimmt, ist aber auf eine pragmatische Weise hinreichend
bestimmt, um von unterschiedlichen Praktiken und Diskursen adressiert zu werden. „Vietnam“ fungiert in
ähnlicher Weise wie ambigue oder epistemische Objekte als eine Art diskursive Leerstelle, die für die
Ordnung des Diskurses konstitutiv ist.
326
Geister. Und sie tun dies in einer symptomatischen Weise, die auch die Diskurse über den
Irakkrieg von 2003 präfigurierte. Es lassen sich im amerikanischen Vietnamdiskurs drei
konkurrierende Großerzählungen unterscheiden, denen jeweils eine bestimmte Form des
kulturellen Traumas zu Grunde liegt.
Der Vietnamkrieg stellt für die amerikanische Identität wohl das traumatischste Ereignis
des 20. Jahrhunderts dar (Neal 1998: 129-146). Dies liegt unter anderem daran, dass die
kollektiven Wunden von Pearl Harbor – trotz seiner „Wiederholung“ am 11. September 2001
(6.4.1) – durch den nationalen Triumph von Hiroshima nahezu ausgelöscht worden sind.
Hingegen hat das kulturelle Trauma des Vietnamkrieges im Laufe der Zeit die von Giesen
beschriebenen Phasen gesellschaftlicher Traumatisierung durchlaufen (2004a; 1.3.5). Dem
traumatischen Ereignis folgte zunächst eine mehrjährige Latenzphase, die erst gegen Ende der
siebziger Jahre einer manifesten Beschäftigung mit der Geschichte wich und sich in
politischen Reden, wissenschaftlichen Arbeiten und popkulturellen Erzeugnissen303 äußerte:
The silence with which we greeted the veterans of that war was symptomatic of this collective repression
of what we had made of ourselves. How, then, are we to account for the ways that “Vietnam” has become
today an unavoidable word in American culture? (Berg and Rowe 1991: 2)
Dem respektvollen Schweigen, dem Zurückweichen vor dem Grauen, folgte die geschwätzige
Trauerarbeit der Diskurse. Doch warum übte Vietnam eine so nachhaltige Faszination auf das
amerikanische Publikum aus? Die Crux von Vietnam scheint darin zu bestehen, dass die
Erinnerung daran die nationale Identität, den geteilten kulturellen Hintergrund der Vereinigten
Staaten, gleich in dreifacher Weise in Frage stellt:
“Vietnam” now refers primarily to our wounds of war. It is almost as if following a “respectful silence,”
we have committed ourselves to the bittersweet work of mourning our loss: of war, our national
innocence, the lives of our sons and daughters. (Berg & Rowe 1991: 2)
Der Bezug zur kollektiven Identität der Vereinigten Staaten wird hier durch die Verwendung
der 1. Person Plural („we“ und „our“) deutlich gemacht. Die kollektive Erinnerung an
Vietnam dient damit zuallererst der nationalen Selbstfindung der Amerikaner. Anhand des
Zitates lassen sich zudem die drei konkurrierenden Großerzählungen des amerikanischen
Traumadiskurses aufzeigen. Als traumatisierende Erfahrung wurde von der breiten
Bevölkerung – vielleicht mit Ausnahme einiger Kriegsgegner – vor allem die militärische
Niederlage der bis dato unbesiegbaren Hightech-Armee der Vereinigten Staaten
wahrgenommen. Der Verlust der nationalen Unschuld (bzw. die Beschädigung des
303
Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Filme Deer Hunter (1987) und Apocalypse
Now (1979), die nicht nur das Genre des Vietnamfilms begründet haben, sondern auch eine stärkere
öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema begünstigten.
327
kollektiven Gewissens, wie Durkheim sagen würde) wurde vor allem von liberalen Kritikern
als Reaktion auf die von amerikanischen Soldaten begangenen Gräueltaten konstatiert. Später
fand auch die Trauer um die eigenen Opfer des Krieges einen Platz im kulturellen Gedächtnis
Amerikas.
Die Veteranen wurden auf eine dreifache Art und Weise Opfer des Krieges: Sie haben
selbst unter dem Krieg gelitten, sie mussten als Sündenböcke für den verlorenen Krieg
herhalten und wurden wohl auch von manchen Kriegsgegnern pauschal der Kriegsverbrechen
bezichtigt (vgl. Neal 1998: 140). Viele der Heimgekehrten litten unter einem „post traumatic
stress syndrome” (kurz: PTSS) – ein Sammelbegriff für psychische Erkrankungen, die auf ein
traumatisches Erleben zurückgeführt werden. Umgangssprachlich war auch vom sogenannten
„Vietnamsyndrom“ die Rede. Die Kriegserfahrung der Veteranen und ihr Leben nach der
Rückkehr wurde wenige Jahre nach dem Vietnamkrieg zum Gegenstand vieler
amerikanischer Filme und Serien. Ein Großteil der Produktionen folgt dem Genre des „Noble
Grunt” (Aufderheide 1990). In erster Linie besitzen diese Filme, für die Platoon (1986)
beispielhaft ist, eine romantische oder auch tragische Erzählstruktur, wobei die filmische
Darstellung der Realität des Krieges nicht einmal ansatzweise Rechnung trägt. So werden
überwiegend die Bodensoldaten in Vietnam gezeigt und die wenig heroischen
Bombardierungen aus der Luft in der Regel ausgeblendet. Etwaige moralische Verfehlungen
sind auf den Einzelnen zurechenbar und damit der kollektiven Schuld entzogen. Es gibt gute
Soldaten, wie die Helden der jeweiligen Erzählung, aber auch böse Soldaten.
Der Film Born on the Fourth of July (1989) zeigt Tom Cruise in der Rolle des Veteranen
Ron Kovic, der gelähmt und impotent aus dem Krieg heimkehrt und sich der
Antikriegsbewegung anschließt. Schon der Titel des Filmes, der eben nicht nur auf Kovics
Geburtstag, sondern auch auf den amerikanischen Nationalfeiertag verweist, muss als
Aufforderung verstanden werden, den Film als Parabel auf die kollektive Identität der
Vereinigten Staaten zu lesen. Das Schicksal des Protagonisten ist exemplarisch für das seiner
Nation. Es dominiert eine tragische Deutung der Vietnamerfahrung, die das Opfertrauma des
Veteranen mit dem nationalen Trauma des Scheiterns verschränkt: „The implied impotence of
all American males, symbolized by Kovic, is presented in the film as the Vietnam War‘s
greatest tragedy“ (Sturken 2002: 111). Das Motiv der Entmannung ist nicht nur aus diversen
mythischen und psychoanalytischen Traditionen bekannt, sondern findet sich auch auf den
Abu-Ghraib-Bildern wieder (7.3.1). Es spielt ebenfalls in Stanley Kubricks Vietnamfilm Full
Metal Jacket (1987) eine untergründige Rolle. So gibt es darin eine Szene, in der ein
328
weiblicher vietnamesischer Scharfschütze gleich mehrere amerikanische Soldaten ausschaltet.
Die Soldaten wie auch die Nation scheitern im Kampf gegen einen Feind, der ihnen eigentlich
hoffnungslos unterlegen sein sollte. Die Demütigung durch eine Frau beraubt sie ihrer
männlichen Potenz. Das „natürliche“ Symbol der Entmannung durch die Frau markiert hier
den Übergang vom Trauma der Opfer zu einem Trauma des Scheiterns.
6.2.2. Das „Vietnamsyndrom“ als nationales Trauma des Scheiterns
Das wohl bedeutendste und einflussreichste Trauma des Vietnamkrieges ging aus der
Wahrnehmung des Kriegsausgangs als militärische Niederlage hervor. Die militärische
Supermacht unterlag dem vietnamesischen David – im einzigen Krieg, den Amerika bis dato
verloren geben musste. Das brutale Faktum der Niederlage war unbestreitbar, selbst als das
Trauma noch latent war und nicht ausgesprochen werden durfte: „Nothing else about Vietnam
seemed to matter very much to Americans during the mid-1970s except the undeniable fact
that we had lost the war” (Berg & Rowe 1991: 1). Nicht nur die Soldaten oder die Armee,
sondern die Nation selbst hatte den Krieg verloren und scheiterte an ihrer Erwartungshaltung
gegenüber sich selbst. Der verlorene Krieg gab unter der Präsidentschaft von Jimmy Carter
den isolationalistischen Bestrebungen in der amerikanischen Politik wieder Auftrieb. Das
Trauma von Vietnam wurde im öffentlichen Raum erst manifest, als der republikanische
Präsidentschaftskandidat Ronald Reagan im Jahre 1980 in einer Wahlkampfrede auf dem
Veteranentreffen in Chicago eine Abkehr vom kollektiven Vietnam-Syndrom einforderte:
„For too long, we have lived with the ‘Vietnam Syndrome’”. Das Vietnam-Syndrom war
zunächst nur der Sammelbegriff für die Vielzahl an psychologischen Störungen der
heimkehrenden Soldaten, die sich auf die Belastungen des Kriegseinsatzes zurückführen
ließen. Reagan legte in seiner Rede nahe, dass es auch so etwas wie ein „nationales
Vietnamsyndrom“ gäbe, das sich durch ein mangelndes militärisches Selbstvertrauen und
unangebrachte moralische Schuldgefühle auszeichne. Reagan versprach in seiner Rede, das
beschädigte Selbstbild der Amerikaner und den Glauben an die historische Mission des
amerikanischen Volkes wiederherzustellen („a shining city upon a hill“, vgl. 2.2.5). Ferner
versicherte er seinem Publikum, dass der Vietnamkrieg nicht nur einem hehren Ziel gedient
hätte, sondern sogar hätte gewonnen werden können, wenn die Johnson- und die NixonAdministration mehr Einsatzwillen gezeigt hätten. Angesichts von nationalen Debakeln wie
etwa der missglückten Befreiung von amerikanischen Geiseln in Teheran war Reagans
symbolische Wiederherstellung der Größe Amerikas so überzeugend und verheißungsvoll,
dass er zum 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde. Aber erst sein
329
Nachfolger, George Bush Senior, erklärte nach über zehn Jahren im Siegestaumel des
Golfkriegs das nationale Vietnamsyndrom für beendet.
Der Historiker George Herring sieht in der „illusion of American omnipotence“, die ein
Teil des nationalen Selbstbildes und damit auch des kulturellen Hintergrundes sei (vgl. 2.2.5),
den Grund für die schockierenden Erfahrung des Scheiterns in Vietnam. Sie stehe auch im
Hintergrund des konservativen Geschichtsrevisionismus, der dogmatisch daran festhalte, dass
der Vietnamkrieg zu gewinnen gewesen wäre: „When failure occurs it must be our fault, and
we seek scapegoats in our midst: the poor judgment of our leaders, the media, the antiwar
movement“ (Herring 1991: 111f.). Dadurch wird das Scheitern in ein tragisches Narrativ
eingebettet, das es dem gescheiterten Helden erlaubt, sein positives Selbstbild zu wahren
(Giesen 2004c: 6f.). Der kollektive Zorn des amerikanischen Volkes traf nicht nur die
politischen Führer und die Antikriegsbewegung, sondern auch die heimkehrenden Veteranen,
die dadurch zum Objekt einer doppelten Viktimisierung wurden, da ihnen sowohl die
Kriegsbefürworter als auch die Kriegsgegner Vorwürfe machten.304 Auf Seite der
Konservativen wurde dieses tragische Narrativ zu einer Art medialen „Dolchstoßlegende“
ausgebaut (Paul 2005b: 85), nach der erst die Berichterstattung der liberalen Medien die
Antikriegsproteste angeheizt und so die siegreichen Truppen in Vietnam ihrer öffentlichen
Unterstützung beraubt habe. Dieser „Mythos Vietnam“ wurde allerdings nicht nur von
Konservativen gehegt und gepflegt; auch liberale Journalisten schrieben den Medien eine
wesentliche Rolle bei der Beendigung des Krieges zu (vgl. Paul 2005b; Klein 2007). Noch
Jahre später musste die relativ freie Berichterstattung über den Vietnamkrieg als Kontrastfolie
für die eingeschränkte bzw. gelenkte Berichterstattung im Golfkrieg von 1991 und im
Irakkrieg von 2003 herhalten.
Als entscheidender militärischer Wendepunkt im Vietnamkrieg wurde die sogenannte
„Tet-Offensive“ der Nordvietnamesen im Jahr 1968 wahrgenommen. Auch wenn die
Amerikaner und die Südvietnamesen diese groß angelegte Offensive abwehren konnten,
entpuppte sich dies bald als Pyrrhussieg für die Amerikaner. Die konservativen Falken, wie
z.B. der spätere Präsident George W. Bush, hielten im Rückblick an der Deutung fest, dass
304
Die Verachtung, die dem heimkehrenden Vietnamveteranen entgegenschlug, hat seinen popkulturellen
Niederschlag in dem ersten Rambo-Film First Blood (1982) gefunden. Jerry Lembcke (2000),
amerikanischer Soziologe und selbst ein Vietnamveteran, hat allerdings in einer Monographie den in
konservativen Kreisen weitverbreiteten „Mythos“, dass Kriegsgegner Veteranen bespuckt hätten, einer
wissenschaftlichen Kritik unterzogen. Ihm zufolge lassen sich für das sogenannte „spitting image“ kaum
empirische Belege finden. Der Mythos ist wohl eher dem phantasmatischen Wunschdenken von
Rechtskonservativen als der historischen Realität geschuldet.
330
die Tet-Offensive mit einer Niederlage für die nordvietnamesische Armee endete. Dennoch
folgte der Tet-Offensive der schrittweise Rückzug aller Truppen aus Nordvietnam. Das
Trauma des Scheiterns in Vietnam hatte zur Folge, dass die Vereinigten Staaten ihr
militärisches Engagement in den nächsten Jahren zurückfuhren. Das Pendel der öffentlichen
Meinung schwang wieder von der Unterstützung einer interventionistischen Politik zu einem
politischen Isolationismus. Die erste größere militärische Intervention nach Vietnam, der
Golfkrieg von 1991, kann vor dem Hintergrund des Scheiterns in Vietnam als Gelegenheit für
eine Revanche gelesen werden:
Indeed, in many ways, the Persian Gulf War at times seemed for the military (and for the rest of
American society) more about Vietnam than about Kuwait, oil, and Iraq. Those officers and noncoms
who had experienced the agony of Vietnam saw the Gulf War as an opportunity for redemption. (George
2000: 75)
Der militärische Triumpf im Nahen Osten sollte die Amerikaner von dem Trauma des
Scheiterns in Indochina erlösen. Das amerikanische Militär hatte derweil seine eigenen
Lehren aus dem Vietnamkrieg gezogen. So wurde im Golfkrieg von 1991 nicht nur eine
andere Militärstrategie verwendet, sondern erstmals auch eine aktive Bildpolitik betrieben
(6.3).
Dies
bedeutete
das
Ende
von
Laissez-faire
in
Sachen
amerikanischer
Kriegsberichterstattung. Dies lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass
Pressefotografien aus Vietnam zu Ikonen der Antikriegsbewegung wurden.
6.2.3. Das liberale Tätertrauma – My Lai und die Ikonen des Vietnamkrieges
In Kriegen wird organisierte oder staatliche Gewalt zur Erreichung von politischen Zielen
angewendet. Wir haben bereits gesehen, dass Gewalt eine Eigenlogik besitzt, die sich ihrer
instrumentellen Einhegung zu entziehen droht (3.1.4-5). Dies hat zur Folge, dass in liminalen
Zeiten und Räumen, insbesondere im Krieg und in Kriegsgebieten, mit Gewaltexzessen und
Gräueltaten gerechnet werden muss. Dies heißt nicht, dass Gewaltexzesse nicht auch
absichtlich provoziert oder sogar geplant werden können.305 In fast allen kriegerischen
Auseinandersetzungen gibt es aber nicht nur eine Grausamkeit des Kalküls, sondern auch eine
Grausamkeit der Gewalt um ihrer selbst willen. Die Erfahrung der Täterschaft führt nicht
immer zu einem individuellen Trauma, wie auch die Gräueltaten der eigenen Soldaten nicht
unbedingt zu einem kulturellen Trauma werden müssen – gerade wenn sie von dem Triumph
über den Feind überschattet werden. So führte die exzessive Anwendung militärischer Gewalt
im Zweiten Weltkrieg nicht zu einem kollektiven Trauma der Täterschaft bei den Alliierten.
305
Man denke nur an die Flächenbombardements und die Atombombenabwürfe im Zweiten Weltkrieg (6.1.2),
oder aber an die planmäßige Vernichtung der europäischen Juden (6.1.3).
331
Auch im Vietnamkrieg beschränkte sich das Tätertrauma auf den liberalen Diskurs und auf
jene Minderheit in der Bevölkerung, die ihre amerikanische Identität durch die Gräueltaten
ihrer Landsleute (und nicht so sehr durch die Niederlage oder die eigenen Verluste)
beschädigt sahen. Ungeplante Exzesse wie das My-Lai-Massaker konnten im hegemonialen
Diskurs als individuelle Verfehlungen abgetan werden, die keiner kollektiven Verantwortung
unterlagen, während der planmäßige Einsatz von Napalm und Agent Orange zunächst nicht
als grausam wahrgenommen wurde, sondern als legitimes Mittel im Kampf gegen den
Weltkommunismus galt.
Das Trauma auf Seiten der amerikanischen Linken und der Bürgerrechtsbewegung
resultierte nicht aus der militärischen Niederlage. Vielmehr wurde das amerikanische
Selbstverständnis als Champion des Guten durch den Verlauf des Krieges in Frage gestellt
(Neal 1998: 136-139). In dem Maße, wie der Auftrag, die südvietnamesische Demokratie zu
schützen, im liberalen Diskurs an Plausibilität verlor, wurde der Krieg nach dem mythischen
Vorbild von David und Goliath wahrgenommen. Aber neben den Sympathien, die dem
kleinen Land bald in seinem Kampf gegen die Supermacht zukam (gerade in Amerika gilt: im
Zweifel für den Underdog), spielten hier vor allem die amerikanischen Gräueltaten in
Vietnam eine gewichtige Rolle, da sie die moralische Überlegenheit und das „SaubermannImage“ Amerikas in Zweifel zogen. Der Kriegsschauplatz wurde zur Bühne grausamer Akte,
welche das Selbstverständnis der amerikanischen Armee erschütterten und bis heute noch die
Erinnerung an den Vietnamkrieg prägen.306 Dieses Tätertrauma hat sich insbesondere in das
amerikanisches Bildgedächtnis eingegraben. Die Ikonen des Krieges, beispielsweise das Foto
von jenem schreienden, nackten Mädchen, das durch den Napalmangriff auf das Dorf Trang
Bang starke Verbrennungen erlitten hatte, aber auch der Schnappschuss von der Erschießung
eines Vietcongs durch den südvietnamesischen General Nguyen Loan, sind auch über die
Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus bekannt geworden. Unter den Gräueltaten der
amerikanischen Armee ragt das My-Lai-Massaker hervor, das seine Wirkung ebenfalls
fotografischen Zeugnissen verdankt. Die Resonanz dieser Bilder – ähnlich wie im Fall der
Holocaust-Fotografien – war weniger ihrer ikonischen Qualität als ihrer narrativen Einbettung
geschuldet. Dennoch erwiesen sich die Fotografien als visueller „Beweis“ für die Gräueltaten
für die Skandalisierung von My Lai als unerlässlich.
Am 6. März 1968 stürmte ein Trupp amerikanischer Soldaten unter der Führung von
306
Zur Berichterstattung im Vietnamkrieg siehe insbesondere die Arbeiten von Gerhard Paul (2005b) und Paul
Knightley (1982: 342-400).
332
Lieutenant William L. Calley das vietnamesische Dorf My Lai und tötete innehrhalb weniger
Stunden mehrere Hundert Zivilisten, hauptsächlich Frauen und Kinder.307 Unter allen bis
heute bekanntgewordenen Gräueltaten der amerikanischen Armee in Vietnam ragt dieses
Massaker hervor. Der Sozialpsychologe Harald Welzer (2005) erklärt das Zustandekommen
des My-Lai-Massakers unter anderem über die Strukturierungsfunktion von Gewalt.
Amerikanische Soldaten in Vietnam operierten oftmals in einer Grauzone, in der nicht klar
zwischen Freund und Feind unterschieden werden konnte. Gewalt kann in solchen Situationen
als Klassifikationstechnik zur Anwendung kommen und so den Umgang mit kognitiver
Unsicherheit erleichtern: „Wenn jemand getötet wurde, dann war er Vietcong; Töten und
Definieren ist hier dasselbe“ (Welzer 2005: 225). Dass der Strukturierungsfunktion von
Gewalt im Vietnamkrieg eine besonders wichtige Bedeutung zukam, verdankte sich nicht nur
den generellen Schwierigkeiten eines Kriegs gegen eine Guerillaarmee, sondern auch
militärischen Institutionen wie dem „body count“. Der „body count“ maß die Anzahl der
getöteten Vietcongs und war vor allem nötig geworden, um den Erfolg und den Fortschritt im
Krieg gegen den unsichtbaren Feind zu symbolisieren. Allerdings förderte die Institution des
„body count“, insbesondere in Kombination mit der militärische Doktrin des „search and
destroy“ und der Einrichtung von „Free Fire Zones“, Exzesse der Gewalt. So konnten die
Amerikaner den „Krieg um die Herzen“ der vietnamesischen Bevölkerung nur schwer
gewinnen.
Die Armee begann erst nach über einem Jahr den Vorfall in My Lai einer internen
Untersuchung zu unterziehen. Aus Armeekreisen hatte der damals 32-jährige Journalist
Seymour Hersh von dieser Untersuchung erfahren. Es gelang ihm schließlich, den Anführer
des Soldatentrupps und Hauptverantwortlichen für das Massaker, Lieutenant Calley, für ein
Interview zu gewinnen. Am 13. November 1969 wurde Hershs Bericht über den Vorfall und
die Untersuchungen in 36 Zeitungen im ganzen Land veröffentlicht. Während das My-LaiMassaker in den folgenden Tagen viel internationale Aufmerksamkeit bekam, stieß die
Geschichte in den Vereinigten Staaten zunächst nur auf wenig Resonanz. Erst mit einem
weiteren Artikel von Hersh, der die Fotos des Militärfotografen Ronald L. Haeberle enthielt
und erstmals in der amerikanischen Tageszeitung Cleveland Plain Dealer erschien, schaffte
307
Es gibt unterschiedliche Angaben über die Opferzahlen. In seinem 1975 erstmals erschienenen Buch The
First Casualty – der Titel spielt auf die Wahrheit als erstes Kriegsopfer an – spricht Knightley von 90-130
Opfern (1982), neuere Untersuchungen legen die Zahl der Toten auf 504 Vietnamesinnen und Vietnamesen
fest. Unter den Toten waren nur drei junge Männer, der Rest bestand aus Frauen, Kindern und Alten.
Außerdem wurden viele Frauen vor ihrer Ermordung vergewaltigt (vgl. Welzer 2005: 220f.).
333
es die Story auf die Titelseiten. Trotz anfänglicher Zweifel an der Authentizität der
Fotografien und massiver Bedenken bezüglich ihrer unpatriotischen Wirkung auf das
Publikum wurden die Bilder von dem Magazin Life aufgekauft und weltweit publiziert. Das
öffentliche Interesse erreichte etwa drei Wochen nach der Veröffentlichung der Fotografien
seinen Höhepunkt, als das Time Magazine wie auch die Newsweek das My-Lai-Massaker zu
ihrem Titelthema machten. Das Time Magazine nannte die Vorfälle eine amerikanische
Tragödie („an American tragedy“), die Newsweek sprach von einem schockierenden
Einzelfall („A single incident in a brutal war shocks the American conscience“). In den
einflussreichen Medien wurde My Lai zu einem Einzelfall stilisiert und als Tragödie gerahmt
(vgl. Oliver 2006). Den beteiligten Soldaten, in erster Linie aber ihrem befehlshabenden
Offizier, wurde die Verantwortung für den Vorfall zugeschrieben, während die amerikanische
Armee als Institution von der Kritik ausgespart wurde. Als Calley schließlich wegen des
Mordes an Zivilisten zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde, begnadigte Präsident Nixon
ihn tags darauf zu einem Hausarrest. Auch der demokratische Gouverneur und spätere
Nachfolger Nixons, Jimmy Carter, äußerte seine Unzufriedenheit über die Verurteilung von
Calley. Diese Übereinstimmung der Führer der beiden politischen Lager kam nicht von
ungefähr – auch die amerikanische Bevölkerung stand mehrheitlich hinter Calley und äußerte
sich in Meinungsumfragen überwiegend kritisch zu seiner Verurteilung. Dreieinhalb Jahre
nach seiner Verurteilung war Calley wieder ein freier Mann. Trotz der medialen
Skandalisierung des Massakers und der scharfen Angriffen auf Calley von Seiten der Presse
gelang es dem öffentlichen Diskurs nicht, die kollektiven Emotionen gegen Calley zu
mobilisieren (vgl. Oliver 2006: 89-99). Calley wurde als guter Soldat und tragischer Held
gefeiert, der in einem schmutzigen Krieg unverschuldet Schuld auf sich geladen hatte. Der
Skandal um My Lai blieb unvollendet, weil sich die Empörung der Bevölkerung über den
Normverstoß und den Übeltäter in Grenzen hielt. Als klar wurde, dass der öffentliche Diskurs
kaum Rückhalt in der Bevölkerung besaß, passte sich dieser der Stimmung im Land an. Die
strafrechtlichen und politischen Folgen der Skandalisierung fallen daher im Vergleich zum
Abu-Ghraib-Skandal eher dürftig aus.
My Lai wurde im hegemonialen Diskurs als individuelle und vertretbare Verfehlung
wahrgenommen. Aber es gab auch einen Gegendiskurs, welcher die Schuld auf Seiten der
Regierung verortete und den systematischen Charakter des Vorfalls betonte. So beschuldigte
die Mutter eines beteiligten Soldaten bei einem Fernsehauftritt die Armee und die Regierung,
den Charakter ihres Sohnes verdorben zu haben: „I sent them a good boy and they made him a
334
murderer“ (zitiert nach Knightley 1982: 361). Heute würde wohl kaum jemand ernsthaft
bezweifeln wollen, dass My Lai kein Einzelfall war. Im Zuge der Skandalisierung wurde
deutlich, dass es schon vor My Lai vergleichbare Vorfälle gegeben hatte, über die entweder
nicht berichtet wurde oder deren Enthüllung kaum Aufmerksamkeit erregten.308 My Lai war
ein Stein des Anstoßes, der zwar keine Lawine der Entrüstung ins Rollen, aber dafür weitere
moralischen Verfehlungen der amerikanischen Armee ans Tageslicht brachte. Schon bald
konnte sich fast jeder Kriegsreporter eine amerikanische Gräueltat in Erinnerung rufen, und
auch Kriegsfotografen suchten nun zunehmend nach Motiven, die die dunkle Seite des
Krieges zeigten.
Warum wurde vor My Lai über diese Gräueltaten so wenig berichtet? Und warum
bekamen die vereinzelten Berichte so wenig Aufmerksamkeit? Obwohl es im Vietnamkrieg
offiziell keine Zensur gab, war der journalistische Diskurs von informellen Tabus durchzogen
und durch spezifische Regeln der Sagbarkeit strukturiert. Erst My Lai, so die These von
Phillip Knightley (1982: 362), hob diese Tabus und Sprechverbote über den Vietnamkrieg
auf. Doch warum gelang dies gerade der Berichterstattung über My Lai? Ohne Zweifel war
die Veröffentlichung der Bilder von entscheidender Bedeutung für das öffentliche Interesse an
My Lai. Obwohl die Fotografien von Haeberle nicht den sozialen und formalen Kriterien von
säkularen Ikonen genügten (vgl. 2.1.5), lieferten sie einen Beweis für die zivilen Opfer des
amerikanischen Einsatzes in Vietnam, die das Weltbild vieler Amerikaner bedrohten.
Außerdem konnten die Bilder und die Story von My Lai erst auf fruchtbaren Boden fallen, als
die Zustimmung der Bevölkerung zum Vietnamkrieg, die seit 1965 kontinuierlich sank, stark
genug gefallen war, um für die entsetzlichen Seiten dieses Krieges empfänglich zu sein. Als
der amerikanische Sender CBS in einer im August 1965 gesendeten Dokumentation
Niederbrennen eines Dorfes durch amerikanische Flammenwerfer zeigte, in dem sich noch
Frauen und Greise aufhielten, welche die Amerikaner um Schonung baten, wurde der Film
von wütenden Zuschauern als kommunistische Propaganda verurteilt (Knightley 1982: 363f.).
Das dominante soziale Imaginäre schützte damals noch phantasmatisch vor den Zumutungen
der Realität des Krieges. Erst durch eine Verschiebung im kulturellen Hintergrund konnte es
überhaupt zu einem traumatischen Schock kommen. Knightley zählt aber noch weitere
Gründe für die Skandalisierung des My-Lai-Massakers auf. Erstens wurde der Bericht von
einem Reporter geschrieben, der nicht vor Ort war und sich gerade deswegen über den Vorfall
308
So berichtete ein gewisser John Shaw am 6. August 1965 für das Time Magazine, dass vietnamesische
Kriegsgefangene von amerikanischen Soldaten aus Fenstern gestoßen worden seien (Knightley 1982: 362).
335
empören konnte (Knightley 1982: 365).309 Die Kriegsreporter in Vietnam waren derartige
Gräueltaten schlichtweg gewöhnt und maßen ihnen wohl keinen nennenswerten
Informationswert bei. Zweitens, war der Zeitpunkt der Veröffentlichung günstig, da sich
gerade die Stimmung im Land gegen den Krieg zu wenden begann. Das Jahr 1968 war ein
herber Rückschlag für die Siegeshoffnung der Amerikaner. Anfang des Jahres schafften es die
Vietcongs, die amerikanische Botschaft in Saigon zu erobern und 25 Tage besetzt zu halten.
Die Tet-Offensive der Vietcongs entpuppte sich zwar als militärischer Fehlschlag, übertraf
aber dennoch in ihrer Schlagkraft die schlimmsten Befürchtungen der amerikanischen
Öffentlichkeit und erzielte alleine schon dadurch einen performativ-symbolischen Effekt. Die
politisch-kulturelle Voraussetzung für den unbestreitbaren Erfolg der My-Lai-Story war ein
Wechsel des narrativen Genres, der durch den ausbleibenden militärischen Erfolg eingeleitet
wurde.
Der apokalyptische Kampf gegen die kommunistische Vorherrschaft nahm im Folgenden
eine tragische Wendung. Kritische Intellektuelle verurteilten die amerikanischen Soldaten als
Täter und stilisierten die Vietnamesen zu Opfern und Helden (Smith 2005: 219-222). Die
Fotografien von Haeberle waren für die Skandalisierung des My-Lai-Massakers, das diesen
Genrewechsel begünstigte, unabdingbar. Erst die Bilder verschafften den Berichten und
Vorwürfen die nötige Konkretheit und unmittelbare Evidenz. Damit gewannen sie eine große
Bedeutung für die Opposition gegen den Vietnamkrieg (Sontag 2003: 90f.). Zu Ikonen des
Vietnamkrieges wurden diese Bilder aber nicht. Dies mag zum Teil daran gelegen haben, dass
diese Bilder nicht für sich selbst sprachen, sondern auf einen erläuternden Text angewiesen
waren.310 Darüberhinaus waren die Bilder auch in formal-ästhetischer Hinsicht nicht
besonders interessant. Die abgebildeten Leichenhaufen sind zwar erschreckend, aber zu
eindeutig, um zu Ikonen der Kriegsfotografie zu werden (2.3.5). Die Fotografien von My Lai
waren nicht selbstredend, sondern illustrierend – und daher auf eine narrative Ergänzung
angewiesen. Die wahren Ikonen des Vietnamkrieges sprechen (scheinbar) für sich selbst. Sie
werden nicht erst durch eine Geschichte interessant, sondern fordern den Betrachter dazu auf,
selbst nach einer Geschichte zu suchen.
309
Ähnliches gilt für die Enthüllungen von Abu Ghraib, die von Joe Darby, einem Neuankömmling und
Außenseiter, aufgedeckt wurden (8.1.1).
310
Man denke nur an das Foto mit weinenden Frauen und Kindern, das seine Bedeutung erst dadurch erhält,
dass der Betrachter weiß, dass diese Frauen und Kinder kurz nach dem Foto ermordet wurden. Ähnliches gilt
für die auf den Fotos zu sehenden Leichen, denen nicht anzusehen ist, dass sie von den Amerikanern
ermordet wurden. Demgegenüber sind viele der Bilder von Abu Ghraib geradezu selbsterklärend.
336
“Nick” (Hu nh Công) Út, in der Nähe von Trang Bang, 8. Juni 1972.
Die hier zu sehende Fotografie stammt von dem vietnamesischen Fotografen “Nick” Ut.
Schon am Tag, nachdem sie aufgenommen wurde, erschien sie auf der Titelseite der New
York Times. Ein Jahr später erhielt der Fotograf dafür den Pulitzer-Preis.311 Am formalen
Bildaufbau fällt auf, dass ein nacktes Mädchen im Zentrum des Bildes steht: Kim Phuc Phan
Ti. Um sie herum sind andere Kinder zu sehen, die schreien und laufen, aber im Gegensatz
zur Hauptfigur angezogen sind. Im Bildhintergrund sind außerdem vier uniformierte Männer
zu erkennen, hinter denen sich eine Art Rauchwolke befindet. Das ursprüngliche, nicht
publizierte Foto zeigt noch einen weiteren Fotografen auf der rechten Seite des Bildes. Er
wurde nachträglich aus dem Foto geschnitten, um es authentischer und eindrücklicher zu
gestalten. Das nackte Mädchen und die schreienden Kinder auf dem Bild stellen den
Betrachter vor ein Rätsel: Fliehen die Kinder vor etwas? Etwa vor den uniformierten
Männern? Oder vor den Flammen? Und warum ist das Mädchen nackt? Es bedarf also eines
Narrativs, um die syntagmatische Offenheit des Bildes zu schließen (2.3.5). Die Kinder flohen
vor einem Napalm-Angriff und das Mädchen hatte sich die Kleider wegen des brennenden
Napalms vom Leib reißen müssen. Die Nacktheit des Mädchens ist entscheidend für die
Wirkung des Bildes. Sie verweist nicht nur auf die verheerende Wirkung des Napalms,
sondern unterstreicht auch die Unschuld und Hilflosigkeit des Opfers. Das Bild spielt
311
Eine ausführliche Analyse des Bildes, die unterschiedlichen Interpretationstechniken miteinander kontrastiert,
wurde von dem Kunsthistoriker Gerd Blum und den Philosophen Jörg R. J. Schirra und Klaus SachsHombach vorgenommen (2004).
337
darüberhinaus mit der Vorstellung, dass ein junges Mädchen im Krieg leicht Opfer sexueller
Gewalt werden kann. In seiner Ikonografie (2.1.1) bezieht sich das Bild auf ein
Schlüsselmotiv aus Edward Munchs Schrei (1893-1910). Der stumme Schrei des Mädchens
(aber auch des Jungen auf der linken Seite) lockt den Betrachter hinter die Oberfläche des
Bildes, weist aber gleichzeitig über dessen visuelle Textur hinaus und regt dadurch die
Vorstellungskraft des Rezipienten an. Angesichts dieser symbolischen Überbesetzung ist es
kein Wunder, das diese Fotografie zu einem Sinnbild für unschuldiges Leiden geworden
ist.312 Kim Phuc Phan Ti, das Mädchen auf dem Foto, leidet immer noch an den Folgen der
Verbrennungen. Sie wanderte 1992 nach Kanada aus, wo sie als eine Person des öffentlichen
Interesses bald zum Gegenstand einer Monographie (Chong 2000) und zur UNESCOBotschafterin wurde. Es ranken sich viele Legenden über die angebliche Beteiligung von
amerikanischen Truppen an dem Angriff auf ihr Dorf, der in Wirklichkeit von
südvietnamesischen Piloten geflogen wurde, wenn auch die Amerikaner das Napalm für den
Angriff zur Verfügung stellten. Nichtsdestotrotz fand sich später auch ein amerikanischer
Pilot, der angeblich die Napalmbombe abgeworfen hatte (Paul 2005c).313 Nicht nur die Rolle
des Opfers scheint eine identitätsstiftende Attraktivität zu haben, sondern offensichtlich auch
die Rolle des Täters. Ikonen fungieren in Diskursen als ambigue Objekte und Leerstellen, die
durch reale oder fiktive Erzählungen besetzt und ausgeschmückt werden können. Der
ikonische Status dieser Fotografie zeigte sich auch darin, dass sie zum Gegenstand
künstlerischer Nachahmung wurde314 – gerne auch zu aktuellen politischen Anlässen, wie
beispielsweise in einer amerikakritischen Zeichnung nach dem 11. September 2001 in der
französischen Presse, welche einige schreiende Kinder vor dem Hintergrund der brennenden
Twin Towers zeigt (zu sehen bei Chéroux 2011: 83).
312
Gerhard Blum (2004) weist in einer Kritik auf die Inadäquatheit einer rein formalästhetischen und
ikonographischen Betrachtungsweise des Bildes hin, wobei er zugesteht, dass formalästhetische Kriterien
und ikonographischen Motive für die Ikonisierung des Fotos von großer Bedeutung waren.
313
Wer sich für den Mythos des Mädchens und seine betrügerische Vereinnahmung interessiert, sollte die
folgenden Texte von Ronald N. Timberlake konsultieren:
http://www.gratitude.org/myth_of_the_girl_in_the_photo.htm; http://www.ndqsa.com/myth.html; letzter
Zugriff 13. Februar 2012.
314
So lässt der britische Graffitikünstler Banksy das schreiende Mädchen von amerikanischen popkulturellen
Figuren – Mickey Mouse und Ronald McDonald – an die Hand nehmen; der polnische Künstler Zbigniew
Libera stellte in seiner Fotografie Nepal (2003) die Szene mit lachenden Menschen nach.
338
Eddie Addams, Nguy n Ng c Loan exekutiert Nguy n V n Lém, 1. Februar 1968.
Eddie Addams Foto von der Erschießung eines mutmaßlichen Vietcongs durch einen
südvietnamesischen General stammt aus dem Jahr 1968 und ist ein klassischer
Schnappschuss. Was ist so faszinierend und zugleich verstörend an diesem Foto? Der
Offizier, der dem Vietnamesen kaltblütig aus nächster Nähe die Pistole an den Kopf hält, hat
möglicherweise schon abgedrückt, der Kopf des Opfers scheint schon dem Druck des Schalls
oder dem des Projektils nachzugeben, aber noch steht das Opfer – auch wenn es zum
Zeitpunkt der Aufnahme schon so gut wie tot war. Das Opfer befindet sich in einer seltsamen
Zwischenlage, zwischen Tod und Leben. Diesem ästhetisch-existenziellen Aspekt verdankt
das Bild wohl seine außerordentliche Popularität. Es sprengt die Dichotomie von Leben und
Tod. Ikonographisch knüpft das Bild damit an Robert Capas berühmte Fotografie aus dem
spanischen Bürgerkrieg an, deren Authentizität allerdings umstritten ist. Das punctum beider
Bilder, um es in den Worten von Roland Barthes (1985a) zu sagen, ist der Moment des
Erschossenwerdens, der die unüberbrückbaren Gegensätze von Leben und Tod symbolisch
zusammenführt. Bei beiden Bildern handelt es sich um sogenannte „about-to-die images“.
Barbie Zelizer (2005: 33) vertritt die These, dass zeitgenössische Massenmedien „about-todie“-Fotos den Fotografien von Toten vorzögen. Dieses Bildmotiv führe dazu, dass sich der
Betrachter mit dem Opfer identifiziere, was wiederum eine spezifische emotionale Reaktion
gegenüber dem Bild auslöse. Zelizer (2005: 33) klagt zudem, dass mit Hilfe dieses Motivs der
kognitive Prozess umgangen werde, der zu einer reflektierten und vernünftigen Reaktion auf
339
das Bild führen könne. In diese Klage mag man einstimmen oder auch nicht, entscheidend ist,
dass sich mit dieser kulturellen Form die emotionale Wirkung dieses Bildes erklären lässt.
Erwähnt sei noch ein letzter verstörender Aspekt des Bildes. Die Erschießung des hilflosen
Mannes findet scheinbar auf offener Straße statt und erweckt den Eindruck eines
willkürlichen und beiläufigen Tötens. Kein Urteilsspruch, kein Ritualisierung (z.B. das
Verbinden der Augen und/oder die Positionierung vor einer Wand), keine sichtbare
Zwangslage gibt dem abgebildeten Akt des Tötens einen verständlichen oder auch nur
ansatzweise legitimen Rahmen. Ein Bild, das eine Exekution mit einem Gewehr aus einer
angemessenen Distanz in einem Hinterhof nach einem „ordentlichen“ Schnellverfahren
nahelegen würde, würde nicht den gleichen Effekt erzielen.
6.3. Das Abu-Ghraib-Gefängnis und der Golfkrieg von 1991
A building or a place is not evil. The men who run it make it evil.
Abu Ghraib was supposed to be a modern, progressive institution.315
Abdul Kareem Hani, Erbauer und späterer
Insasse des Abu-Ghraib-Gefängnisses
Gebäude und Plätze sind nie an sich gut oder böse. Dem ersten Teil der Aussage des Erbauers
des Abu-Ghraib-Gefängnisses lässt sich nicht nur vor dem Hintergrund eines aufgeklärten
Moralverständnisses zustimmen, sondern gerade auch aus einer diskursanalytischen oder
kultursoziologischen Perspektive. Allerdings gehen dieser lebensweltliche common sense und
die kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise in der Bewertung der zweiten Behauptung von
Hani, nämlich dass es die Betreiber des Gefängnisses seien, die für den sakralen und
moralischen
Status
des
Gebäudes
ausschlaggebend
sind,
auseinander.
Für
eine
Kultursoziologie gibt es keine an sich guten oder schlechten Handlungen (3.1). Die
Unterscheidung zwischen „gut“ und „böse“ bzw. „heilig“ oder „dämonisch“ ist zwar ein
universelles Klassifikationsschema, unterliegt in ihrer Anwendung jedoch starken kulturellen
Variationen. Die Veränderung und Festschreibung der Bedeutung von „Gut“ und „Böse“
findet in öffentlichen Diskursen statt (3.3). Was hinter den Toren des Gefängnisses wirklich
315
„Shedding Light On a Symbol Of Iraqi Terror; Ex-Prisoners Describe Horrors, Call for Justice“, The
Washington Post, 6. Oktober 2003.
340
geschah, besitzt zunächst keine gesellschaftliche Relevanz, sondern gewinnt diese nur als
Repräsentation in der Öffentlichkeit. Das folgende Kapitel beschäftigt sich vor allem mit
frühen Darstellungen des Abu-Ghraib-Gefängnisses in westlichen Medien (6.3.2), um dann
zur Analyse der Rahmung des Golfkrieges von 1991 überzugehen (6.3.3). Zunächst sollen
aber die Grundzüge einer „sakralen“ Raumsoziologie diskutiert werden, wie sie Philip Smith
(1999) seiner Untersuchung der Transformation der Bastille zu Grunde gelegt hat.
6.3.1. Zur Sakralsoziologie des Raumes – Das Gefängnis
In seinem religions- und kultursoziologischen Spätwerk hat Émile Durkheim die qualitative
Bestimmtheit von Räumen in archaischen Religionen herausgearbeitet. Eine solche
Perspektive bricht fundamental mit der klassischen wissenschaftlichen Vorstellung vom
Raum als quantitativ-gleichförmigen Phänomen (2005/1912). Die Unterscheidung zwischen
„heiligen“ und „profanen“ Räumen ist allerdings kein Charakteristikum archaischer
Gesellschaften, sondern bestimmt auch die Raumwahrnehmung in modernen Gesellschaften.
Dies zeigt nicht nur die Thematisierung von Orten wie Pearl Harbor oder Ausschwitz in
Erinnerungsdiskursen, sondern auch das Verhalten und Handeln an diesen Orten. So legen wir
beispielsweise auf einem Friedhof ein anderes Verhalten an den Tag als in einer
Fußgängerzone. Auch das touristische Verhalten gegenüber Sehenswürdigkeiten zeugt von
einer sakralen Qualität von bestimmten Plätzen und Gebäuden (vgl. Giesen 2010: 199-210).
In gleicher Weise wirkt sich die unmittelbare Nähe zu einem Gefängnis eher negativ auf den
Wert einer Immobilie aus. Dies kann nur schwerlich auf rationale Sicherheitserwägungen
zurückgeführt werden, sondern ist durch die symbolische „Verschmutzung“ eines solchen
Ortes zu erklären. Das Abu-Ghraib-Gefängnis ist ein Paradebeispiel für die sakrale bzw.
dämonische Qualität von Orten (6.3.2), aber auch für die Schwierigkeit ihrer diskursiven
Neubesetzung (6.5.2).
Im Anschluss an Durkheim und Eliade unterscheidet Philip Smith zwischen vier
elementaren Formen des Raumes –„heilige“, „unheilige“, „profane“ und „liminale“ Orte
(1999: 16-22).316 Heilige Orte verkörpern die kollektive Identität und die Werte einer
316
Im Original handelt es sich um „sacred“, „profane“, „mundane“ und „liminal spaces“. Smith (1999: 21)
kritisiert nämlich an Durkheim, dass er die neutrale Kategorie des „Alltäglichen“ („mundane“) vernachlässigt
habe. Stattdessen fasst Smith „profane“ als Kategorie des negativen Heiligen auf. Diese Kritik an Durkheim
beruht allerdings auf einem Missverständnis, das womöglich der englischen Bedeutung des Begriffes
„profane“ geschuldet ist, die sehr viel stärker das Unheilige akzentuiert, als dies im Deutschen oder
Französischen der Fall ist. Das Profane bei Durkheim steht in der Tat für das Alltägliche, während das
„Profane“ im Sinne von Smith in den Formen des religiösen Lebens als „unreines Heiliges“ diskutiert wird
(Durkheim 2005/1912: 548-555; vgl. auch Hertz 2007).
341
Gesellschaft, während unheilige Orte eine Aura des Bösen umgibt, da sie für das Gegenteil
einer Gesellschaft, ihr konstitutives Außen (1.3.2), stehen. Allerdings sind zwischen dem
Heiligen und dem Dämonischen, die beide Erscheinungen des Außerordentlichen sind,
Übergänge und Wechsel leichter möglich als von diesen zum Profanem. Nicht zuletzt „Pearl
Harbor“ und „Ground Zero“ haben gezeigt, wie Orte traumatischer Ereignisse zu positiven
Gedenkstätten umgedeutet werden können. Während das Verhalten an sakralen und profanen
Orten durch Normen reglementiert und reguliert wird, werden diese Regeln an liminalen
Orten außer Kraft gesetzt. Als Beispiel eines liminalen Ortes, an dem auf einmal alles
möglich ist, nennt Smith (1999: 21) das Kalifornien der sechziger und siebziger Jahre – ein
Mekka der experimentierfreudigen „counter culture”. Es wäre allerdings angemessener, auf
das „Liminale“ als eigenständigem Typus zu verzichten, da Turner (2005) diesen Begriff
vornehmlich zur Charakterisierung des Heiligen und Kollektiven verwendet. Turners Begriff
des „Liminoiden“ (2009: 28-94), der auf das Individuelle und Spielerische abstellt, eignet sich
sehr viel besser zur Charakterisierung jenes „liminalen“ Typus von Raum, den Smith auch in
seiner Fallstudie über den place de la bastille verwendet (1999: 22-33). Während der
Französischen Revolution wurde die Bastille zu einem Symbol für das Ancien Régime und
nach dessen Sturz geschleift. Daraufhin wurde der Platz zu einem heiligen Erinnerungsort der
Republik, der sich allerdings – von liminalen (besser: liminoiden) Phasen unterbrochen –
einem fortschreitenden Prozess der Veralltäglichung, der noch bis in die Gegenwart reicht,
nicht entziehen konnte.
Für die folgende Untersuchung ist zunächst von Bedeutung, dass die Bastille – die noch
kein modernes Gefängnis, sondern eher ein Kerker war – zu einem negativen Symbol des
repressiven Staatsapparates und des politischen Souveräns wurde. Folgt man Foucault (2003),
so hat die moderne Disziplinarmacht, die sich unter anderem in Gefängnissen manifestiert, die
Macht des Souveräns abgelöst. An die Stelle der rituellen Marter im Namen des Königs trat
der medizinisch-pädagogische Diskurs der Disziplinierung. Foucaults Geschichte des Strafens
folgt dem Weber’schen Narrativ der „Entzauberung“, indem sie einen Übergang von der
sakralen Autorität des Fürsten zu einem technisierten und verwissenschaftlichten Strafvollzug
skizziert. Allerdings lässt sich das Gefängnis nicht ausschließlich als entzauberter Ort
begreifen, an dem eine unpersönliche Disziplinarmacht über austauschbare Menschen verfügt.
Aus einer kultursoziologischen Perspektive umschließt ein Gefängnis symbolisch „befleckte“
Gefangene, die durch hohe Mauern von der profanen Außenwelt getrennt werden. Mag
kriminelles Handeln auch im medizinisch-pädagogischen Diskurs als profane und
342
therapierbare Pathologie bestimmt werden, in der populären Imagination hat sich der
Straftäter gegenüber dem Kollektiv versündigt und hat dafür zu büßen. Der „unreine“ Häftling
wird für eine gewisse Zeit aus der gesellschaftlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Insofern
die Rechtsprechung im Namen des Volkes oder des Herrschers geschieht, repräsentiert das
Gefängnis auch das Kollektiv bzw. den Souverän. Unter bestimmten Umständen – vor allem,
wenn es um politische Gefangene geht – kann der Verweis auf die staatliche Souveränität
überhand nehmen. Allerdings kann die Staatsmacht auch als willkürlich und repressiv
gerahmt werden, was die Häftlinge zu unschuldigen Opfern oder idealistischen Märtyrern
werden lässt.317 Als Manifestation des Außerordentlichen und Heiligen ist Souveränität immer
ambivalent. Auch das Gefangenenlager in Guantanamo auf Kuba wurde nach dem AbuGhraib-Skandal zu einem umstrittenen Symbol der amerikanischen Souveränität im Krieg
gegen den Terror. Das Gefängnis ist ein Ort, an dem sich die Staatsmacht verdichtet und
sichtbar wird. In den öffentlichen Diskursen können Manifestationen der Staatsmacht
entweder als legitim gerahmt werden oder repressive Züge annehmen. Ein Gefängnis kann im
Diskurs als eine zivile Einrichtung beschrieben werden, mit der sich die ordentlichen
Staatsbürger nichtzivile Elemente vom Leibe halten. Findet eine symbolische Verunreinigung
der Haftanstalt statt, führt dies zu einem Legitimitätsverlust. Eine symbolische
Transformation kann sowohl durch romantische und tragische Narrative, aber auch durch
ironische und satirische Erzählformen erreicht werden (2.2.2). So verweist Smith in einer
neueren Arbeit auf den jüngeren amerikanischen Topos des „Country Club Prison“, der das
moderne Gefängnis als eine Farce zeichnet, wo es sich Gefangene auf Kosten der
Allgemeinheit gut gehen lassen (2008b: 85f.).
6.3.2. Zur Vorgeschichte des Abu-Ghraib-Gefängnisses
Ein Blick in die Medienlandschaft der achtziger Jahre zeigt, dass das Abu-Ghraib-Gefängnis
zuerst in Großbritannien zu einem Symbol des Schreckens wurde. In der westlichen Presse
wurde „Abu Ghraib“ zunächst einmal als Name eines Vororts von Bagdad bekannt, der
Anfang der achtziger Jahre wegen mehrerer Infrastrukturprojekte unter Beteiligung von
britischen Firmen, aber dann vor allem wegen der Zahlungsschwierigkeiten auf irakischer
317
So der Fall des Stammheim-Gefängnisses in der Nähe von Stuttgart, in dem viele RAF-Mitglieder ihre Strafe
zum Teil in „Isolationshaft“ absitzen mussten. Für Sympathisanten der RAF wurde diese Vollzugsanstalt zu
einem Symbol für den repressiven westdeutschen Staat als solchem, während der normale Bundesbürger die
Unterbringung der „Staatsfeinde“ im Hochsicherheitsgefängnis guthieß. Ein weniger umstrittener Fall ist
Nelson Mandela, der durch seine Haft auf der berüchtigten Robbers Island vor Kapstadt zu einem Volksheld
wurde.
343
Seite in die britischen Schlagzeilen geriet. Das Abu-Ghraib-Gefängnis hingegen wurde erst ab
der zweiten Hälfte der achtziger Jahre – und ebenfalls zunächst nur in britischen Zeitungen –
thematisiert. Mehrere britische Staatsangehörige wurden dort wegen des Verdachts auf
Beamtenbestechung (im Rahmen der erwähnten Infrastrukturprojekte) festgehalten. So wurde
beispielsweise am 25. Februar 1988 von der Freilassung des britischen Geschäftsmanns John
Smith nach acht Jahren Haft berichtet.318 In den Artikeln werden die Bestechungsvorwürfe
nicht bestritten, allerdings wird ein Zusammenhang zwischen den Verhaftungen im Irak und
der Verurteilung des Attentäters des früheren irakischen Premierministers durch britische
Gerichte gesehen. Der Verhaftung und Inhaftierung britischer Staatsbürger wurde damit eine
politische Rahmung gegeben. Schon damals stand das Abu-Ghraib-Gefängnis in einem
zweifelhaften Ruf:
Still in the notorious Abu Ghraib prison outside Baghdad is Ian Richter, 43, who was arrested in June
1986, given a 45-minute trial before a revolutionary court in February 1987, and sentenced to life
imprisonment on a charge of bribing officials.319
Gegen Ende der achtziger Jahre begann dann die britische Presse im Rahmen der
Berichterstattung über die eigenen inhaftierten Staatsbürger auch über irakische Übergriffe
auf die kurdische Bevölkerung („genocide“) sowie über Folterkammern („torture chambers“)
und Erschießungskommandos („firing squads“) im Abu-Ghraib-Gefängnis zu berichten.320
Neben der Inhaftierung und Ermordung von politischen Gefangenen stand insbesondere die
Verhaftung und Misshandlung von Angehörigen im Zentrum der Kritik,321 zumal auch
Amnesty International über die Erschießung von Kindern im Abu-Ghraib-Gefängnis berichtet
hatte.322 Es fällt auf, dass in der amerikanischen Presse das humanitäre Problem im Irak
weitgehend ignoriert wurde. In dem hier untersuchten Sample, das englischsprachige und
deutschsprachige Tageszeitungen umfasst, fand sich kein amerikanischer Artikel, in dem
„Abu Ghraib“ auch nur erwähnt wurde. Dies lag in erster Linie daran, dass der Irak in den
achtziger Jahren in den Vereinigten Staaten als progressives Regime und als natürlicher
Verbündeter gegen den Iran wahrgenommen wurde (vgl. Smith 2005: 101-104). Dies sollte
sich erst mit Husseins Einmarsch in Kuwait und dem Golfkrieg ändern.
318
„UK breaks Iraq prisoner linkage“, MidEast Markets, 7. März 1988.
319
„British ‚tact’ fails to work on Iraqis“, The Independent (London), 14. Februar 1989.
320
„Who can stop the tyrants?“, Herald, 20. September 1988.
321
„Prisoners of Conscience. Brothers held since childhood: Hadi Mohammad and Hussain al-Hakim“ The
Independent, 20. Februar 1989.
322
„Stop abuse of children, Iraqis urged“, The Globe and Mail (Canada), 1. März 1989.
344
6.3.3. Abu Ghraib und der Golfkrieg von 1991
In den achtziger Jahren war Abu Ghraib für die Amerikaner kein Thema, und auch über den
irakischen Herrscher Saddam Hussein wurde in der amerikanischen Presse noch überwiegend
positiv geurteilt. Schließlich befand sich der Irak im Krieg mit dem Iran, der nach dem Sturz
des Schahs und der Geiselnahme in der amerikanischen Botschaft in Teheran zu einem
Feindbild der Amerikaner avancierte. Aufgrund der binären Struktur symbolischer Ordnungen
und dem Prinzip der Äquivalenz gilt: Der Feind des Feindes wird in der Regel als Freund
wahrgenommen. Im Gegensatz zum islamisch-fundamentalistischen Iran wurde der Irak in
der amerikanischen Presse der achtziger Jahre als säkulares und fortschrittliches Land
gerahmt.323 Dies änderte sich erst mit der Invasion Kuwaits durch den Irak im August 1990.
Zwar schloss George Bush Senior eine militärische Intervention zunächst kategorisch aus,
änderte seine Meinung aber später.
Bei der Entscheidung für einen militärischen Eingriff spielten natürlich auch geopolitische
Erwägungen eine wichtige Rolle, die allerdings ihrerseits auf veränderte kulturelle
Rahmenbedingungen zurückzuführen sind. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der
bipolaren Weltordnung, die zugleich eine symbolische Ordnung war, galt es, die militärische
Vormachtstellung der Vereinigten Staaten auszubauen. Dies war allerdings nur schwer
möglich, solange die Amerikaner noch unter der Niederlage in Vietnam litten. Eine
erfolgreiche Intervention bot nicht nur die Möglichkeit, auf die Machtverhältnisse im Nahen
Osten Einfluss zu nehmen, sondern auch das militärische Selbstbewusstsein der Amerikaner
zu stärken. Eine rationale Erklärung der Kriegsvorbereitungen im narrativen Modus des „lowmimesis“ (2.2.1) – nach dem Muster „Blut für Öl“ – wurde vor allem von den Kriegsgegnern
bemüht. Aber auch in den Politikwissenschaften dominierte eine „realpolitische“ Erklärung
des militärischen Engagements der Amerikaner im Irak (z.B. Münkler 2003: 29-94). So
berechtigt die Spekulation über die „tatsächlichen Kriegsgründe und Motive“ auch sein mag,
möglich wurde der militärische Eingriff erst durch kulturelle Narrative, die in der
Öffentlichkeit auf Resonanz stießen. In modernen liberalen Demokratien kann der Kampf
323
Philip Smith bezeichnet dieses narrative Skript als „romance of modernization“ (2005: 102). Seine
Wirksamkeit lässt sich anhand der amerikanischen Reaktionen auf drei Ereignisse aufzeigen: Erstens wurde
der zufällige Beschuss eines amerikanischen Kriegsschiffes durch die irakische Armee von vielen Befragten
fälschlicherweise dem Iran in die Schuhe geschoben; 43% der Befragten äußerten zudem den Wunsch, der
Irak möge den Konflikt mit dem Iran für sich entscheiden (und nur 8% sprachen sich für das Gegenteil aus).
Zweitens wurde in amerikanischen Zeitungen, die über die Gasangriffe gegen die kurdische Bevölkerung im
Norden des Iraks berichteten, Zweifel gegenüber der Richtigkeit der Anschuldigungen geäußert. Drittens
reagierte die amerikanische Regierung mit Kritik auf das israelische Bombardement eines irakischen
Kernkraftwerkes im Jahr 1981 (Smith 2005: 103f.).
345
über die öffentliche Meinung zu Krieg und Frieden nicht mit Hilfe nüchterner und
zweckrationaler Interessenabwägungen gewonnen werden, sondern nur durch eine emotionale
und wertrationale Argumentation, die sich der mächtigen Symbole des zivilgesellschaftlichen
Diskurses zu bedienen weiß.
Im Zuge der symbolischen Mobilmachung im Vorfeld des Krieges wurde Saddam Hussein
in den amerikanischen Diskursen als machtgieriger Diktator dargestellt und seine Invasion
Kuwaits mit Hitlers Einmarsch in Polen verglichen. Im Hintergrund dieses Vergleichs stand
das Versagen der Appeasement-Politik der Alliierten an der Schwelle zum Zweiten
Weltkrieg. Damit war der Boden für eine apokalyptische Deutung des Konfliktes bereitet. So
galt es nunmehr, einen größenwahnsinnigen Diktator zu stoppen, bevor dieser die Region und
damit die ganze Welt destabilisieren konnte. Es waren zunächst britische Zeitungen, die
Saddam Hussein beschuldigten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben,
und den Vergleich mit den Gräueln der Naziherrschaft heraufbeschworen:
Let me deal here with the related accusation: that Saddam Hussein committed crimes against humanity.
We will, if required, call before this Tribunal a pitiful array of Kurdish men and women who will describe
the horrors of Halabja and other towns where invisible and deadly gases struck down fathers fleeing with
their sons in their arms, mothers suckling their babies; we will detail the tens of thousands forced to
abandon their homes; and we will give you the long list of those who believed it when Saddam Hussein
offered an amnesty, and returned to Iraq. Those we cannot produce. They are dead, murdered by the
dictatorial regime Saddam Hussein built around himself. 324
Diese drastische Schilderung der Vorfälle im Irak macht deutlich, wie die Konkretheit der
Imagination in öffentlichen Diskursen als Waffe eingesetzt werden kann. Nicht bloß
Menschen, sondern Väter, Söhne und Mütter fielen der unsichtbaren Bedrohung zum Opfer.
Die Giftgasangriffe, die auf Befehl Saddam Husseins im August und September 1988 gegen
die kurdische Minderheit im Irak durchgeführt wurden, stellten einen direkten Bezug zum
Holocaust und der Verwendung von Giftgas in den Konzentrationslagern her. Im Jahr der
Angriffe wurde die Richtigkeit und Authentizität der Berichte von kurdischen Überlebenden
und Flüchtlingen von der amerikanische Presse noch angezweifelt (Smith 2005: 103). Erst mit
der Invasion Kuwaits gewann der Giftgasangriff auf die Kurden in der amerikanischen
Öffentlichkeit rückwirkend an Plausibilität. Das gegen Zivilisten eingesetzte Giftgas und der
kriegerische Überfall auf den kleineren Nachbarn verdichteten sich im Diskurs zu einem
Symbol, das den Vergleich mit Hitlerdeutschland geradezu herausforderte und seine
diskursive Wirksamkeit steigerte. Nicht nur Hussein wurde durch den Vergleich mit Hitler zu
324
„The trial of Saddam Hussein; The tyrant who offended against Islam. John Bulloch for the prosecution“, The
Independent, 21. Oktober 1990.
346
einem Symbol des radikalen Bösen, auch das Abu-Ghraib-Gefängnis wird in dem Artikel als
repressives Instrument eines Diktators gerahmt:
We will produce for you those found by the Allied forces in the prison of Abu Ghraib: those who have
tongues will tell you of what went on there; some do not. Those who can see will describe the daily
executions, the beatings, the electric shocks; some can no longer see. They will tell of the „crimes“ for
which they were committed to this awful place: a whispered comment about the excesses of Saddam
Hussein’s son Uday, who will later face a charge of murder; a joke about the men who ran the Ba’ath
party as an instrument of terror and a source of wealth; a curse at the mention of the dictator’s name.325
Die Charakterisierung von Saddam Hussein als blutrünstiger Diktator begann zwar in
Großbritannien, griff aber bald auf die Vereinigten Staaten und den Rest der liberalen
westlichen Welt über, die sich in Abgrenzung zur irakischen Diktatur positionierten.326 Der
zivilgesellschaftliche Diskurs basiert auch hier auf einer binären Struktur (4.3.2), die
historische und zeitgenössische Oppositionen zu Äquivalenzketten aneinanderreiht:
Konzentrationslager, Gulags und Abu Ghraib verweisen in diesem symbolischen System
ebenso aufeinander wie Hitler, Stalin und Hussein. So ist zu lesen, dass Saddam Hussein ein
großer Bewunderer von Stalin sei und seine Folterknechte ihr Handwerk bei der rumänischen
Securitate gelernt hätten.327 Die öffentliche Mobilmachung für den Golfkrieg spinnt ein Netz
von Bedeutungen, in dem Saddam Hussein, das irakische Regime und das Gefängnis von Abu
Ghraib mit negativ besetzten Symbolen verwoben und so affektiv aufgeladen werden.328 Für
die Legitimierung des Krieges spielten allerdings auch – teils sorgfältig orchestrierte –
Performanzen eine große Rolle. Insbesondere die Anhörung der 15-jährigen Nayirah asSabah, die am 10. Oktober 1990 auf ABC von etwa 53 Millionen Amerikanern gesehen
wurde (Kunczik 2007: 25), ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Sie berichtete unter
Tränen, dass irakische Soldaten in einem kuwaitischen Krankenhaus Säuglinge aus den
Brutkästen gerissen und auf den Boden geschmissen hätten – eine auf den ersten Blick
authentische Performanz der „Zeugin“, die möglicherweise kriegsentscheidend war, wobei
gegenüber der Person und dem Wahrheitsgehalt ihrer Aussage nach dem Krieg große Zweifel
laut wurden.329 Das diese extreme Symbolik ein unmenschliches und grausames Bild von den
325
„The trial of Saddam Hussein“
326
Zum „Hitler narrative“ von Saddam Hussein in der amerikanischen Öffentlichkeit vergleiche die detaillierten
Ausführungen von Philip Smith (2005: 105-109).
327
„Prison city where torture is common“, The Times, 22. August 1992.
328
Eine Analyse der Moralisierung des Golfkriegsdiskurses in der deutschsprachigen Presse unter besonderer
Berücksichtigung des „Hitler“-Motivs findet sich bei Stefan Schnallenberger (1999).
329
So deckte die New York Times im Januar 1992 auf, dass es sich bei dem jungen Mädchen nicht um eine
Krankenschwester, sondern um die Tochter des Kuwaitischen Botschafters gehandelt habe, die zum
347
irakischen Invasoren zeichnete, versteht sich von selbst.
Philip Smith hat in seiner kultursoziologischen Analyse des Golfkrieges von 1991 gezeigt
(2005: 99-153), dass der amerikanische Diskurs in kürzester Zeit den irakischen Herrscher
Saddam Hussein von einem antikolonialistischen Volkshelden in einen verbrecherischen
Diktator verwandelte.330 Der Angriff auf die staatliche Souveränität von Kuwait stellte eine
Analogie zum Einmarsch deutscher Truppen in Polen dar, und Hussein wurde zu einem neuen
Hitler, zu einem größenwahnsinnigen Tyrannen, der um jeden Preis gestoppt werden musste.
Nach dem erfolgreichen Kriegseinsatz erklärte der amtierende Präsident George H. Bush,
Vater des späteren Präsidenten George W. Bush, am 1. März 1991 das nationale Trauma des
Scheiterns für überwunden: „The Vietnam syndrome is over“. Der Triumph der
amerikanischen Armee (und ihrer Verbündeten) stieß jedoch nur auf eine begrenzte Resonanz
in der amerikanischen Bevölkerung, was sich nicht zuletzt darin zeigte, dass Bush Senior aus
seinem militärischen Triumph kein politisches Kapital schlagen konnte. Zur Erklärung dieses
Befundes lassen sich mehrere Gründe anführen. Erstens wurde der militärische Triumph der
Amerikaner von der wirtschaftlichen Schwäche der Vereinigten Staaten überschattet. Bill
Clinton konnte trotz des militärischen Triumphes seines Konkurrenten mit dem griffigen
Slogan „It’s the economy stupid“ diesem die Gunst der amerikanischen Wähler abspenstig
machen.
Zweitens lässt sich mit Smith (2005: 121-124) argumentieren, dass der tragische
Misserfolg von George Bush Senior an einer „genre inflation“ gelegen habe: In dem Maße,
wie Saddam Hussein zu einer absoluten Personifikation des Bösen stilisiert wurde, war es
moralisch unvertretbar, sich an das begrenzte UN-Mandat, das nur die Befreiung von Kuwait
gestattete, zu halten. Das Ziel des Militärschlags konnte eigentlich nur noch der Sturz von
Saddam Hussein und die Befreiung des irakischen Volkes sein. Es wäre eine „genre
deflation“ vonnöten gewesen, um die hochgeschraubten Erwartungen der amerikanischen
Öffentlichkeit der Resolution des UN-Sicherheitsrates anzupassen. Den unvollendeten Krieg
Zeitpunkt der Invasion vermutlich nicht einmal im Land war. Michael Kunczik (2007: 25f.) geht in einer
Arbeit über Public Relations in Kriegszeiten sowohl auf den Einfluss dieser Performanz als auch auf die
Rolle der PR-Firma Hill and Knowlton bei der Vorbereitung dieser Performanz ein (vgl. auch MacArthur
1993: 65-82).
330
Der Held und der Täter, die sich beide durch eine Überschreitung der alltäglichen Ordnung auszeichnen,
liegen als liminale Figuren nahe beieinander, worauf insbesondere Bernhard Giesen in seinen Arbeiten
immer wieder hingewiesen hat (2004c; 2010: 67-87). Die jeweilige Zuordnung kann sozial variieren („One
man’s terrorist is another man’s freedom fighter“), aber auch einem zeitlichen Wandel (vom Saulus zum
Paulus) unterliegen.
348
des Vaters wird zwölf Jahre später sein Sohn zu Ende zu bringen versuchen. Dass der
militärische Triumph am Golf nicht die ganz großen kollektiven Gefühle wecken konnte, lag
aber auch, und dies ist der dritte und letzte Punkt, an der neuen Bildpolitik der Amerikaner,
die eine Konsequenz aus den Erfahrungen des Vietnamkrieges war (Paul 2007: 114-120). Der
High-Tech-Krieg wurde ausschließlich mit Luftstreitkräften und Raketen geführt. Die
militärischen Operationen wurden für das Fernsehen als „chirurgische Eingriffe“ inszeniert
(vgl. auch Virilio 1993). Die Bilder des Golfkrieges von 1991 zeigten ein Feuerwerk am
Bagdader Himmel, den Abschuss von Marschflugkörpern und den Anflug von ferngesteuerten
Raketen aus deren Kameraperspektive. Der Krieg in den Medien hatte – überspitzt formuliert
– weder Opfer noch Soldaten. In den Bildern steckte zu wenig Heroismus, als dass der
militärische Triumph die Wiederwahl von Georg Bush Senior hätte sichern können. Daraus
zogen das amerikanische Militär und die Republikaner eine wichtige Lehre: Anlässlich des
Irakkrieges von 2003 fand abermals eine ikonische Wende in der amerikanischen Bildpolitik
statt, die auf eine Re-Heroisierung des Kampfgeschehens abzielte (Bredekamp 2005; Paul
2007) .
In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre rückten dann wieder die mutmaßlichen
Menschenrechtsverletzungen in Abu Ghraib ins Licht der Öffentlichkeit. So auch in der
deutschen Presse, wo sich ein Artikel der FAZ mit der Verschlechterung der
Menschenrechtssituation in den arabischen Ländern befasste: „So sollen im März 1996 im
Gefängnis von Abu Ghraib bei Bagdad 500 Häftlinge hingerichtet worden sein.“331 Ein
Menschenrechtsbericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1998, in dem schwere
Anschuldigungen gegen das irakische Regime erhoben wurden, wurde schnell zu einem
gemeinsamen Referenzpunkt der verschiedenen nationalen Diskurse. Zur Jahrtausendwende
schien es dann wieder ruhiger um den Irak zu werden. Lediglich der Bericht eines ehemaligen
Mitglieds des irakischen Sicherheitsdienstes im britischen Observer ist hier noch
erwähnenswert.
Dort
ist
zum
einen
von
willkürlichen
Verhaftungen
und
Massenerschießungen (2000 an einem einzigen Tag) die Rede;332 zum anderen schildert der
Artikel aber auch Erpressungstechniken, die auf die familiäre Ehre der Erpressten zielten, wie
z.B. die Androhung von Vergewaltigungen weiblicher Familienmitglieder oder die Preisgabe
331
„Schwere Verstöße gegen Menschenrechte“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Juli 1997.
332
„Saddam’s executioner tells of slaughter in jail ‘cleansing’. An ex-member of the security service in Baghdad
has given chilling details of how he helped kill countless prisoners. Foreign affairs editor Peter Beaumont
reports“, The Observer, 3. Dezember 2000.
349
kompromittierender Fotos.333 Dem Artikel zufolge seien diese Techniken nicht nur zur
Erpressung politischer Gegner, sondern auch zur Kontrolle der Staatsbediensteten verwendet
worden. Hier bekommen wir schon einen Vorgeschmack auf jene explosive Mischung von
Ehre, Scham, Sexualität und Fotografie, die auch im Abu-Ghraib-Skandal eine große Rolle
spielen sollte (7.3).
6.4. Der 11. September 2001 und der Krieg gegen den Terror
America and its allies are waging today a war against terrorism. This is said to be
necessary and rational, a means to attain the end of safety. Is the war against terrorism
only this, or even primarily this? No for it rests on fantasy as much as on facts.
Jeffrey C. Alexander, The Meanings of (Social) Life (2003a: 3)
Der 11. September 2001 stellt nicht nur eine welthistorische Zäsur dar, sondern bildet auch
den Auftakt zum Krieg gegen den Terror, dessen heiße Phase wohl mit dem Crash der
Lehman Brothers im September 2008, spätestens aber mit der Tötung von Osama bin Laden
im Mai 2011 ein Ende fand. Der 44. Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Hussein (sic!)
Obama, strich bei seinem Amtsantritt im Januar 2009 die Bezeichnung „Global War on
Terrorism“ aus dem offiziellen Sprachgebrauch der amerikanischen Regierung. An die Stelle
des weltweiten Krieges gegen den Terrorismus trat eine neue Großerzählung, die „globale
Finanzkrise“, in der individuelle, institutionelle und nationale Akteure, sei es als notorische
Spekulanten oder unmoralische Gläubiger, sei es als unschuldige Opfer oder heroische Retter,
neue Rollen spielten. Obwohl sich der Krieg gegen den Terror im Rückblick als überraschend
kurzes historisches Intermezzo erwies, ist seine Berücksichtigung als zeitgeschichtlicher
Kontext für eine Analyse des Abu-Ghraib-Skandals unabdingbar. Die Missbrauchsfälle von
Abu Ghraib, die sich an ihre Enthüllung anschließenden Diskurse und die mannigfaltigen
Konsequenzen des Skandals lassen sich nur vor dem Hintergrund des 11. Septembers
angemessen verstehen und erklären. Dieser Arbeit liegt die These zu Grunde, dass der AbuGhraib-Skandal den eigentlichen Wendepunkt, den Anfang vom Ende des Krieges gegen den
333
Hier stellt sich natürlich die Frage, inwieweit der Bericht mit seinen kulturspezifischen Techniken der
Demütigung eine Orientalisierung der Iraker betreibt. Wären westliche Familienväter nicht auch mit
kompromittierenden Fotos und der drohenden Vergewaltigung ihrer Kinder erpressbar und kontrollierbar?
Warum sollte es dann den irakischen Vätern primär um die Familienehre gehen?
350
Terror, markiert. Aus diesem Grund ist eine selektive Berücksichtigung des 11. Septembers
und seiner Folgen unbedingt erforderlich. Die Schwerpunkte der folgenden Untersuchung
werden auf dem politischen und rechtlichen „Ausnahmezustand“ (6.4.2) sowie auf der
Folterdebatte und der amerikanische Populärkultur liegen (6.4.3.).
6.4.1. Der 11. September 2001 als Schock und Wiederholung
Die tatsächliche Bedeutung des 11. Septembers lässt sich nicht aus vermeintlich „objektiven“
oder „harten“ Fakten herleiten (vgl. Smith 2005: 160f.). Der Angriff auf das World Trade
Center muss vielmehr als Medienereignis und terroristische Performanz verstanden werden,
deren Erfolg im Wesentlichen von der Produktion von Fernsehbildern bzw. von der Resonanz
des amerikanischen und auch globalen Publikum abhing (so Alexander 2004). Man hätte ihn
prinzipiell auch als kriminellen Akt einstufen können, dem bedauerlicherweise circa
dreitausend Menschen zum Opfer gefallen waren und der Sachschäden in Milliardenhöhe zur
Folge hatte. Das wäre eine alltägliche, profane Sichtweise auf die Anschläge gewesen –
gemäß dem narrativer Modus, den Smith als „low mimesis” bezeichnet (2005: 23f.; 2.2).
Nichtsdestotrotz wäre eine solche Rahmung in hohem Grade unwahrscheinlich gewesen, da
Manhattan und das World Trade Center als Symbole einer westlich dominierten Weltordnung
und amerikanischen Hegemonie galten. Ohne Zweifel stellt New York als größte
amerikanische Stadt, als Tor zu den Vereinigten Staaten und als Sitz der Vereinten Nationen
ein „heiliges Zentrum“ (vgl. Shils 1975) der amerikanischen Gesellschaft und der westlich
geprägten Weltgesellschaft dar. Der terroristische Gewaltakt wurde so nicht nur als
vorsätzlicher Mord an Tausenden von Unschuldigen, sondern auch als Angriff auf die
amerikanische Nation und die freie Welt interpretiert und entfesselte dementsprechend
gewaltige symbolische Energien.
Die symbolische Sprengkraft und mediale Aufmerksamkeit, die dem Anschlag zukamen,
wurde von den Terroristen antizipiert. Wir wollen hier nicht so weit gehen wie Richard
Schechner (2009), der den Anschlag als „avantgardistische Kunst“ zu deuten versuchte.
Unbestreitbar scheint jedoch, dass der 11. September als performativer Akt verstanden
werden muss (Alexander 2004): Die Terroristen inszenierten ein Gewaltspektakel für ein
globales Publikum.334 Der performative Charakter von terroristischen Anschlägen, ihre
334
Schechner hat vermutlich Recht, dass der Zeitpunkt des Anschlags und der zeitliche Abstand zwischen den
Einschlägen der Passagierflugzeuge weder rein zufällig war, noch gewählt wurde, um möglichst viele
Menschen zu töten, sondern vielmehr das Publikum der terroristischen Performanz maximieren sollte (2009:
1824). Der Anschlag erfolgte zu Beginn des news cycle in den USA, während der Abstand zwischen den
351
öffentliche Sichtbarkeit, die auf ihre Vorbereitung und Durchführung im Geheimen folgt,
muss als konstitutives Merkmal des modernen Terrorismus angesehen werden (Giesen 2010:
211-219). Der 11. September war für die amerikanische Öffentlichkeit ein Schock. Er stellte
viele Hintergrundannahmen des globalen Imaginären in Frage, unter anderem die
Unverwundbarkeit der Vereinigten Staaten als globaler Supermacht, die Sicherheit von
Bürgern in liberalen Demokratien und die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks nicht
ganz unberechtigte Hoffnung auf ein „Ende der Geschichte“ (z.B. bei Fukuyama 1992).335
Allerdings wich der anfängliche Schock bald Demonstrationen nationaler und internationaler
Solidarität (Alexander 2004; Tiryakian 2005).
Eine wichtige Vorlage für die amerikanische Wahrnehmung des 11. September 2001 stellt
der legendäre Angriff auf Pearl Harbor dar, der zum Kriegseintritt der USA in den Zweiten
Weltkrieg führte (6.1.1). Trotz des endgültigen militärischen und moralischen Triumphes im
Zweiten Weltkrieg blieb der erste Militärschlag einer feindlichen Macht gegen die eigenen
Streitkräfte auf amerikanischem Territorium als traumatisches Ereignis in kollektiver
Erinnerung. Die Ereignisse des 11. September 2001, die den ersten Angriff auf
amerikanischem Festland markierten, mussten in vielerlei Hinsicht als „déjà-vu“ (Chéroux
2011), insbesondere aber als eine „Wiederholung“ des Angriffs auf Pearl Harbor erscheinen
(Hartwig 2011). Zahlreiche Zeitungen in den USA, aber beispielsweise auch in Kanada,
titelten unmittelbar nach den Anschlägen „Infamy“, „New day of infamy“ oder aber „second
Pearl Harbor“ (Chéroux 2011: 55-60; Hartwig 2011: 16f.). Diesem Vergleich wurde nicht
zuletzt durch die Instrumentalisierung von Flugzeugen durch die Selbstmordattentäter
Vorschub geleistet (Smith 2005: 161), da sie die kollektive Erinnerung an die KamikazeAngriffe japanischer Piloten aus dem Zweiten Weltkrieg (hierzu Neal 1998: 72f.) wachriefen.
Die Tatsache, dass der 11. September vor dem Hintergrund Pearl Harbors interpretiert wurde,
verdankte sich nicht alleine dem gesellschaftlichen Geschichtswissen um dieses Ereignis,
sondern war auch in weiten Teilen seiner Popularisierung durch den gleichnamigen
Hollywoodfilm geschuldet. Pearl Harbor feierte am 25. Mai 2001 Premiere und avancierte,
trotz schlechter Kritiken, zum Kassenschlager. In diesem Film kommen beim Angriff auf
Pearl Harbor sogar Kamikaze-Piloten zum Einsatz, was zwar historisch falsch ist, aber seine
Stimmigkeit darin besitzt, dass Klischees des sozialen Imaginären bedient werden.
Einschlägen kurz genug war, um Abwehrmaßnahmen zu vereiteln, aber lang genug, um eine LiveÜbertragung des zweiten Einschlags zu zeigen.
335
Zu den unterschiedlichen Interpretationen, die der 11. September 2001 im In- und Ausland erfahren hat, vgl.
Jan Philipp Reemtsma (2005: 100, insbesondere Fußnote 157).
352
Aber nicht nur historische Formate, die das kollektive Gedächtnis medial transportieren und
reproduzieren, prägten die Rezeption von 9/11, sondern gerade auch fiktionale Formate wie
etwa das Science-Fiction-Genre. So soll der Finanzkorrespondent des amerikanischen Senders
NBC am Abend des 11. Septembers gesagt haben: „Honestly, it was like a scene out of
‘Independence Day’“.336 Die Fernsehbilder der einstürzenden Hochhäuser waren nicht nur
schockierend, sondern rührten auch an ein den Zuschauern wohlvertrautes Imaginäres. Die
Bilder des kollabierenden World Trade Centers „zitieren“ nicht nur die gewaltige Zerstörung
in Independence Day (1996), sondern auch die Schlussszene von Fight Club (1999). Der
Literaturwissenschaftler Michael C. Frank (2010) unterscheidet zwei Modi der Bedeutung der
Popkultur für 9/11. Einerseits erleichtern die popkulturellen Hintergrundschemata die
Einordnung des außerordentlichen Ereignisses und tragen damit zur Bewältigung der durch
den 11. September ausgelösten Krise bei. Andererseits können popkulturelle Referenzen die
Unsicherheit des Publikums sogar noch verstärken, indem sie beispielsweise die Bedrohung
durch terroristische „aliens“ (im Sinne von „Fremden“) mit der durch Außerirdische
gleichsetzen. W.J.T. Mitchell (2011) und Philipp Sarasin (2004) vertreten die These, dass das
Phantasma des Bioterrors, das durch Filme wie Outbreak (1995) populär geworden war, die
Rezeption der Anschläge und die Reaktion auf sie maßgeblich beeinflusst habe. Wenige
Minuten nach dem Anschlag auf das World Trade Center wurde die Suche nach Bakterien
und Viren, das heißt nach Spuren eines bioterroristischen Angriffs, eingeleitet (Sarasin 2004:
13). Die Anthrax-Anschläge im Gefolge des 11. Septembers kamen daher alles andere als
unerwartet, sondern fügten sich vielmehr in einen bereits bestehenden kulturellen Hintergrund
ein (Sarasin 2004: 34-47).
Aber auch „Hiroshima“ spielte bei der Wahrnehmung von 9/11 eine große Rolle (vgl.
Smith 2005: 160; Dower 2010: 151-161), was sich nicht zuletzt in der Benennung des
Trümmerfeldes, das der Zusammensturz des World Trade Centers hinterließ, manifestierte:
„Ground Zero“ bezeichnete ursprünglich den Detonationsort einer Atombombe (Dower 2010:
157). Damit wird der mögliche terroristische Einsatz von Massenvernichtungswaffen, seien
sie nun biologischer oder atomarer Natur, symbolisch vorweggenommen. Möglicherweise
verbirgt sich hinter den Rauchwolken, die auf den Bilder vom 11. September 2001
dominieren (Chéroux 2011: 24-33), ein Verweis auf den atomaren Schlag gegen Hiroshima.
Der Rückgriff auf Symbole und Schemata aus dem Zweiten Weltkrieg findet sich ebenfalls in
336
Johnson, Steve: „Struggling to Convey Tragedy“, in: Chicago Tribune, 12. September 2001.
http://articles.chicagotribune.com/2001-09-12/news/0109120178_1_tower-channels-cable/2; letzter Zugriff
am 5. April 2012.
353
der Wortschöpfung „Islamofaschismus“ – ein Begriff, der in den Vereinigten Staaten, aber
auch in Deutschland, rege Verbreitung fand. Wie schon „Pearl Harbor“ zuvor, so wurde auch
„9/11“, so die Kurzformel des Ereignisses, bei der es sich zugleich um eine Anspielung auf
die Notrufnummer in den Vereinigten Staaten handelt, zu einem symbolischen Code.
9/11 zeichnet sich durch ein apokalyptisches Narrativ aus, das die Vereinigten Staaten und
mit ihnen die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, durch den Terrorismus in ihren
Werten und ihrer Existenz gefährdet sah (vgl. Smith 2005: 160-166). Die Trauer um die Opfer
wurde schnell von Heldenerzählungen überlagert, die vom unerschrockenen Einsatz der
Feuerwehrmänner oder vom beherzten Eingreifen der Passagiere des abgestürzten UnitedAirline-Fluges 93 handelten. Die symbolische Verletzung von 9/11 forderte eine angemessene
symbolische Vergeltung: Präsident Bush rief den „Global War on Terrorism“ aus.337 Als
außerordentliches Ereignis ließ 9/11 außergewöhnliche Maßnahmen erforderlich und
gerechtfertigt erscheinen. Der Krieg gegen den Terror signalisierte einen globalen
Ausnahmezustand, der Präventivkriege und Folter legitimierte, sollten sie sich als die einzigen
Mittel erweisen, künftige Anschläge zu verhindern. Im Folgenden soll auf einige wenige
Aspekte der Wirkungsgeschichte des 11. Septembers 2001 eingegangen werden. Zunächst
wird es um die politischen Maßnahmen und rechtlichen Umdeutungen des Folterverbots im
Krieg gegen den Terror gehen. Danach ist dem Einfluss von 9/11 in der Folterdebatte
nachzugehen und deren Wechselwirkung mit der amerikanischen Populärkultur zu umreißen.
6.4.2. Amerikanische Sicherheitspolitik nach dem 11. September 2001
Eine erste große Reaktion des amerikanischen Gesetzgebers auf den Anschlag erfolgte Ende
Oktober mit dem sogenannten „USA PATRIOT act“(“Uniting and Strengthening America by
Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism Act of 2001”),
der mit überwältigender Mehrheit von den beiden Häusern des Kongresses verabschiedet
wurde. Er erweiterte die Befugnisse der Regierung in Sachen Terrorismusbekämpfung und
sollte so die Arbeit der Geheimdienste erleichtern. Die Kehrseite des Erlasses war allerdings
eine Einschränkung von amerikanischen Bürgerrechten sowie Erschwernisse bei der Einreise
337
Die Bezeichnung „War on Terror“ bzw. „Global War on Terrorism“ ist im amerikanischen Kontext durchaus
ambivalent. Einerseits trägt die Verwendung des Wortes „War“ im amerikanischen Diskurs inflationäre
Züge. So rief der Präsident Johnson den „War on Poverty“ aus, und seit Nixon befinden sich die Vereinigten
Staaten in einem „War on Drugs“. Andererseits geht mit der Verwendung von „War“ auch eine gewisse
symbolische Ermächtigung einher. So nahmen die USA den Krieg gegen die Drogen zum Anlass, um in Südund Mittelamerika militärisch zu intervenieren. Gemeinsames Merkmal aller drei Kriege scheint die Tatsache
zu sein, dass sie nicht zu gewinnen sind.
354
von Nichtbürgern. Noch im selben Monat wurde von der Regierung das Office of Homeland
Security gegründet, das verschiedenste Aktivitäten zur Terrorabwehr koordinieren sollte. Im
folgenden Jahr wurde das OHS zu einem Ministerium für Heimatschutz ausgebaut, das bis
heute mit etwa 200 000 Beschäftigten die drittgrößte staatliche Behörde in den Vereinigten
Staaten darstellt. Die vom 11. September ausgelösten Reformen schlugen sich nicht nur in
neuen Institutionen wie dem Patriot Act oder dem Department of Homeland Security nieder,
sondern führten auch zu einer rechtlichen Neuinterpretation der Notstandsbefugnisse des USPräsidenten. Die neokonservativen Kräfte in der Regierung nutzten den 11. September, um
ihrer Vision einer starken „unitary executive“ (hierzu Hasian 2007; Skowronek 2008;
Calabresi & Yoo 2008) näher zu kommen. In geheimen Memoranda, die im Zuge des Abu
Ghraib-Skandals ans Licht der Öffentlichkeit gelangten, wurden die gesetzlichen
Rahmenbedingungen zur Terrorbekämpfung von den Anwälten der amerikanischen
Regierung sehr großzügig ausgelegt. Nur zwei Wochen nach dem 11. September schrieb der
Justizbeamte John Yoo im Auftrag der Regierung ein Memorandum, das dieser schrankenlose
Macht in Sachen Terrorismusbekämpfung zugestand:
Neither statue, however, can place any limits on the President’s determinations as to any terrorist threat,
the amount of military force to be used in response, or the method, timing, and the nature of the response.
These decisions, under our Constitution, are for the President alone to make. (2005/2001: 24)
Das apokalyptische Narrativ des Krieges gegen den Terror führte zu einer überaus
großzügigen Neuauslegung der Befugnisse und Pflichten des amerikanischen Präsidenten. So
wurde dem Präsidenten nicht nur das Recht zugestanden, Militäroperationen gegen
mutmaßliche Terroristen und die sie beherbergenden Staaten einzuleiten, sondern auch gegen
Staaten, die eine vergleichbare Bedrohung darstellten. Als eine derartige Bedrohung wurde
später der Irak gerahmt, der von der amerikanischen Regierung und von der Öffentlichkeit des
Besitzes von Massenvernichtungswaffen verdächtigt wurde (6.5).338 Aber nicht nur das Amt
des Präsidenten wurde nach 9/11 neu interpretiert, sondern auch der Status von inhaftierten
Terroristen, die weder als Kriminelle, noch als Kriegsgefangene eingestuft wurden. Eine
Verfügung des Präsidenten (Bush 2005/2001) und mehrere Memoranda (Philbin & Yoo
2005/2001; Yoo & Delabunty 2005/2002; Bybee 2005/2002a) führten den Status des
ungesetzlichen Kombattanten ein („unlawful combatant“), dem weder das Recht auf
Anfechtung der Inhaftierung durch ein ordentliches juristisches Verfahren (habeas corpus),
noch den Schutz durch die Genfer Kriegskonventionen zugestanden wurde. Der ungesetzliche
Kombattant stellt nicht nur eine Zwischenlage gegenüber dem Kriminellen und dem
338
Außerdem wurden dem irakischen Präsidenten Beziehungen zur Terrororganisation Al-Quaida nachgesagt.
355
feindlichen
Soldaten
dar,
sondern
nimmt
auch,
wenn
man
Giorgio
Agambens
Argumentationslinie vom homo sacer der römischen Antike bis zu den Häftlingen von
Guantanamo folgt (2004, 2007/1995), auch eine Stellung zwischen Leben und Tod ein. Der
ungesetzliche Kombattant, so die Anwendung der Theorie auf den Krieg gegen den Terror,
darf ungestraft gefoltert und getötet werden (Žižek 2005: 118f.). Die Zwischenlage des
ungesetzlichen Kombattanten entpuppte sich damit als Gegenstück zu jenem rechtlichen
Ausnahmezustand, der die politische Souveränität der Vereinigten Staaten verkörperte und
stärkte (Butler 2005: 69-120).
In einem der vielen Memoranda an den amerikanischen Präsidenten Bush wurde das
allgemeine Folterverbot durch die fragwürdige Unterscheidung zwischen „Folter“ und
„verschärften Vernehmungstechniken“ („enhanced” bzw. „harsh interrogation techniques”)
umgangen. Der Verfasser des Memorandums, Jay S. Bybee, vertrat nicht nur die Position,
dass die Verwendung verschärfter Vernehmungstechniken rechtlich unproblematisch sei,
sondern war auch der Meinung, dass ein striktes Verbot der Folter angesichts des Krieges
gegen den Terror möglicherweise verfassungswidrig sein könnte:
Further, we conclude that under the circumstances of the current war against al Qaeda and its allies,
application of Section 2340A [welche nach dem amerikanischen Recht die Anwendung von Folter
außerhalb der Vereinigten Staaten unter Strafe stellt, W.B.] to interrogations may be unconstitutional.
Finally, even if an interrogation method might violate Section 2340A, necessity or self-defense could
provide justifications that would eliminate any criminal liability. (2005/2002b: 214)
Das Memorandum bedient sich einer doppelten Strategie, die eine Entsprechung zum
öffentlichen Diskurs über Folter hat. Auf der einen Seite wird der symbolisch beschmutze
Begriff der Folter zur Charakterisierung der eigenen Handlungen gemieden und begrifflich
dergestalt enggeführt, dass er nur noch auf wenige Handlungen anwendbar ist. Auf der
anderen Seiten werden aber auch Ausnahmen vom Folterverbot in Anspruch genommen und
durch apokalyptische Szenarien gerechtfertigt. Einerseits wird das bestehende Recht gebeugt
und die Verwendung von Wörtern wie „Folter“ den bestehenden Erfordernissen angepasst,
andererseits wird mit der Transgression der rechtlichen Normen gespielt und die symbolische
Kraft dieser Überschreitung genutzt. Das auf der Insel Kuba gelegene Gefangenenlager in
Guantanamo Bay, das im Januar 2002 den Betrieb aufgenommen hatte, wurde durch seine
exterritoriale Zwischenlage – als Teil des amerikanischen Territorium außerhalb der
nationalen Rechtsprechung – zum Signum dieses Ausnahmezustandes. Hier zeigt sich der von
der Bush-Administration in Anspruch genommene Vorrang des Politischen gegenüber dem
356
Recht am deutlichsten.339 Guantanamo Bay wurde zu einem Symbol für die neuen Richtlinien
zur Handhabung der Gefangenen. So wurden hier insbesondere verschärfte Verhörtechniken
eingeführt, die im Krieg gegen den Terror als notwendig erachtet und dementsprechend auch
angewendet wurden. Der außerordentliche Status des Gefangenenlagers in Guantanamo Bay
war der Öffentlichkeit von Anfang an bekannt und über eine lange Zeit weithin akzeptiert,
obwohl sich das Lager und das, was sich darin abspielte, jeder öffentlichen Kontrolle
entzog.340 Das „Ticking-Bomb-Phantasma“ (6.4.3), das unter anderem in Fernsehserien und
Filmen Verbreitung fand, schloss diese Wissenslücke. Es rechtfertigte die Existenz von
Guantanamo, indem es dem Publikum eine Vorstellung und Erzählung davon bot, was in
Guantanamo (und anderswo) getan werden musste, um das amerikanische Volk und die
zivilisierte Welt vor der Bedrohung des Terrorismus zu schützen. Erst die Bilder von Abu
Ghraib und, in deren Gefolge, auch die kleineren Skandale um Guantanamo (z.B.
Koranschändungen), stellten dieses Phantasma in Frage. An seine Stelle im sozialen
Imaginären traten die grotesken Misshandlungen von Abu Ghraib, die fortan die Imagination
von Folter und Verhören bestimmen sollten (10.4).
Wie lässt sich diese Neuauslegung des Rechts nun aber erklären? Im Folgenden soll die
These plausibilisiert werden, dass die Memoranda – auch wenn sie erst im Zuge des AbuGhraib-Skandals veröffentlicht wurden – symptomatisch für einen allgemeineren Wandel im
sozialen Imaginären der Vereinigten Staaten sind. Es wäre zu kurz gedacht, wenn man den
Patriot Act oder die Memoranda alleine aus den partikularen Interessen der amerikanischen
Regierung (z.B. Machterweiterung) heraus erklären würde. Zum einen kommt den kulturellen
Formen, die partikularen Interessen den Anschein von Allgemeinheit und damit auch
Legitimität verleihen, im öffentlichen Diskurs eine entscheidende Bedeutung zu. Zum
anderen wäre es verfehlt, wenn man den Politkern unterstellen wollte, dass sie zum Schock
von 9/11 ein rein instrumentelles Verhältnis gehabt hätten. Die politischen und rechtlichen
Konsequenzen des 11. Septembers sind nur vor dem Aufstieg des apokalyptischen Narrativs
verständlich, das keineswegs auf die amerikanische Regierung beschränkt war, sondern auch
in den Massenmedien, der Öffentlichkeit und in akademischen Kreisen propagiert wurde.
339
Der Vorrang des Politischen wurde von Carl Schmitt begründet (2002). Über seinen Schüler Leo Strauss, der
Schmitts ursprüngliche Fassung der Theorie kritisierte und weiterentwickelte (Meier 1998; Binder 2009: 194196), gelangte sein Denken in die Vereinigten Staaten, wo es das konservative Denken, insbesondere im
Krieg gegen den Terror, stark beeinflusste (vgl. Norton 2004; Scheuerman 2006).
340
Der Name des ursprünglichen Lagers Camp X-Ray (Röntgenstrahl), das im April 2002 in Camp Delta
überführt wurde, mutet in dieser Hinsicht schon fast paradox an: Was der Durchleuchtung der Terroristen
dienen sollte, entpuppte sich als Black-Box, deren Inneres dem öffentlichen Blick verborgen blieb.
357
Dasselbe gilt in abgeschwächtem Maße für andere Länder wie Großbritannien oder
Deutschland, wo ebenfalls die Bürgerrechte eingeschränkt wurden und offen über weitere
Schritte der Terrorismusbekämpfung (wie den Abschuss von Passagierflugzeugen)
nachgedacht wurde.341
6.4.3. Terror und Folter im öffentlichen Diskurs und in der populären Imagination
Nach dem 11. September 2001 war die Diskussion über die Anwendung von Folter auf einmal
kein Tabu mehr, sondern geradezu ein Modethema. Die mögliche Legitimität der Folter trat
aus dem Bereich des Unsagbaren in den Bereich des Sagbaren – eine tiefgreifende
Verschiebung des Diskurses, ein Wandel des kulturellen Hintergrundes, der die manifesten
Veränderungen auf der Aussagenebene übersteigt. Noch am 5. November 2001 erschien im
amerikanischen Magazin Newsweek ein Artikel von Jonathan Alter, der Folter als Mittel der
Terrorismusbekämpfung öffentlich verteidigte.342 Innerhalb des apokalyptischen Rahmens,
der durch die Terroranschläge vom 11. September aufgespannt wurde, gewann das
sogenannte „Ticking-Bomb-Szenario“, das bis dato vor allem in Seminaren zur praktischen
Philosophie diskutiert wurde, an Plausibilität. Das zu verhindernde Worst-Case-Szenario, das
sich des amerikanischen und globalen Imaginären bemächtigte, bestand in der Möglichkeit
eines atomaren Terrorschlags.343 Auch in akademischen Kreisen wurde das Ticking-BombSzenario als Argument für die Rechtfertigung des Einsatzes oder gar der Institutionalisierung
341
In Deutschland nutzten konservative Denker die Gunst der Stunde, um im Rückgriff auf den politischen
Theoretiker Carl Schmitt die Souveränität des Staates zu stärken. So argumentierte der Jurist Otto
Depenheuer, dass der Terrorismus die „totale Infragestellung der eigenen politischen Existenzform“ darstelle,
weswegen denn auch der Terrorist „staatstheoretisch“ als „Feind“ anzusehen sei und damit „außerhalb des
Rechts“ stehe (2008). Vgl. auch Andrea Dernbach: „Der Ernstfall in der Normallage. Schäubles juristischer
Vordenker Otto Depenheuer erklärt, wie sich der Staat gegen Terror wehren muss“, Tagesspiegel, 23.
September 2007.
342
Alter, Jonathan: „Time to Think about Torture. It’s a New World, and Survival May well Require Old
Techniques that Seemed out of the Question“, Newsweek, 5. November 2001; vgl. auch „Borderless Network
of Terror, Bin Laden Followers Reach Across the Globe“, Washington Post, 23. September 2001; Bowden,
Mark: „The Dark Art of Interrogation“, Atlantic Monthly, Oktober 2003, 51-76.
343
Aus der Sozialpsychologie wissen wir, dass bei Worst-Case-Szenarien die Wahrscheinlichkeit des Eintretens
von Ereignissen gegenüber deren negativ empfundenen Konsequenzen in den Hintergrund treten (Sunstein
2007: 97-133). Statt einer nüchternen Analyse der Situation werden in diesen Fällen emotionale Faktoren
bestimmend. Gegenüber diesen sozialpsychologischen Studien, die ihre Probanden mit fiktiven Beispielen
und festen Wahrscheinlichkeitsangaben konfrontieren, muss allerdings geltend gemacht werden, dass die
Wahrscheinlichkeit von Ereignissen von konkreten Akteuren weder subjektiv noch objektiv auch nur
annähernd bestimmt werden kann – oder für wie wahrscheinlich halten Sie einen atomaren Terroranschlag in
den nächsten 2 Jahren? In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass die narrative Plausibilität eines
Ereignisses seiner wahrgenommenen Wahrscheinlichkeit vorausgeht.
358
von
Folter
verwendet.
Selbst
liberale
Autoren,
die
der
Folter
eher
skeptisch
gegenüberstanden, konnten die Einwände gegen den Absolutheitsanspruch des Folterverbotes
nur schwerlich von der Hand weisen. So plädierte selbst der liberale Rechtsprofessor und
Politiker Michael Ignatieff, der zwischenzeitlich auch Oppositionsführer im kanadischen
Parlament gewesen ist, in seinem Buch Lesser Evils (2004) und in einem gleichnamigen
Artikel in der New York Times für eine offene Debatte über die mögliche Anwendung von
Folter.344 Im öffentlichen Diskurs schien sich die Vorstellung von einer „Ökonomie der
Folter“ (Weitin 2007; vgl. auch Wisnewski & Emerick 2009: 16-55) durchzusetzen. Selbst
Folterskeptiker wie Ignatieff gaben bereitwillig zu, dass das Folterverbot einen Preis habe und
damit einem Kalkül der Abwägung unterliege. Aus einer kultursoziologischen Perspektive
bedeutet dies, dass die Folterfrage aus der Sphäre des Heiligen der Gesellschaft, ihrer Werte,
in die Welt des Profanen gerückt wurde. Auf einmal war die Menschenwürde gefolterter
Terroristen diskutier- und verrechenbar.
Insbesondere der Beitrag des liberalen Rechtsgelehrten Alain Dershowitz (2002), der sich
für eine Institutionalisierung der Folter aussprach, wurde ein zentraler Bezugspunkt der
Folterdebatte. Im Rückgriff auf das Ticking-Bomb-Szenario versuchte Dershowitz die
Unverzichtbarkeit von Folter als Mittel im Kampf gegen den Terror zu begründen.
Darüberhinaus sprach er sich dezidiert für eine Legalisierung von Folter aus, um sie unter
rechtlicher Kontrolle zu halten. In seinem Buchkapitel „Should the Ticking Bomb Terrorist
Be Tortured“ (2002: 131-163) lassen sich vier Kunstgriffe aufzeigen, mit deren Hilfe er seine
Leser zu überzeugen versucht. Erstens bedient sich Dershowitz hypothetischer Fälle, die die
narrative Struktur des Ticking-Bomb-Szenarios besitzen, was einerseits die Dringlichkeit und
Unabweisbarkeit der Folterfrage unterstreicht, sie aber andererseits in ein ökonomisches
Kalkül überführt. Zweitens verweist Dershowitz auch auf reale Fälle angeblich erfolgreich
durchgeführter Folterverhöre (2002: 137). Dies ist nötig, um seine Leser davon zu
überzeugen, dass Folter, wenn schon nicht in allen, so doch in einigen Fällen, funktioniert.345
344
„Lesser evils“, New York Times, 2. Mai 2004. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels – das Buch
war bereits erschienen – entpuppte sich als ein schlechtes Timing für Ignatieff, da nur vier Tage zuvor die
Bilder von Abu Ghraib an die Öffentlichkeit gekommen waren (vgl. 10.4.1).
345
Stephanie Athey (2007) hat sich Dershowitzs Referenzfall, den 1995 auf den Philippinen gefolterten
Pakistani Abdul Hakim Murad, näher angeschaut. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Faktenlage weder zu
der Annahme berechtige, dass die Anwendung von Folter alternativlos gewesen sei, noch die Behauptung zu
erhärten vermag, dass durch die im Verhör gewonnen Informationen Anschläge auf den Papst Johannes Paul
II und elf amerikanische Fluglinien verhindert werden konnten. Murad wurde noch Monate nach der Abreise
des Papstes von philippinischen Spezialisten gefoltert.
359
Drittens zeichnet er ein geradezu klinisch sauberes Bild von Folter. So schlägt Dershowitz
beispielsweise vor, sterilisierte Nadeln unter die Fingernägel der Terroristen zu schieben
(2002: 144). Damit arbeitet er einem sozialen Imaginären entgegen, das mit dem Wort
„Folter“ weitaus Schlimmeres verbindet, so z.B. Verstümmelungen, Vergewaltigungen und
Scheinexekutionen. Dieses bereinigte Bild der Folter senkt den subjektiven Preis, der für ihre
Institutionalisierung zu entrichten ist. Bei Dershowitz kommen neben dem bereits bekannten
Ticking-Bomb-Szenario und der klinischen Verharmlosung von Folter auch noch andere
Erzähltechniken
zur
Anwendung.
So
flechtet
er
in
seine
Argumentation
eine
autobiographische Erzählung ein, die den jungen Autor als einen Foltergegner portraitiert
(Dershowitz 2002: 139-142). Aber eine Konfrontation mit den Realitäten des Terrorismus in
Israel führen letztendlich zu seiner Konversion zum Folterbefürworter. Der Leser identifiziert
sich schon aufgrund der narrativen Struktur mit dem Protagonisten und Autor und wird auch
demselben Bekehrungsprozess unterworfen. Diese narrative Form, die auch aus dem
deutschen Bildungsroman bekannt ist, wird von der Literaturwissenschaftlerin Susan R.
Suleiman als „apprenticeship story“ bezeichnet und eignet sich in besonderer Weise, um
ideologische Inhalte zu vermitteln (1983: 74-84). Der Soziologe Robert Wuthnow hat gezeigt,
dass sich die religiöse Rhetorik der Evangelikalen derselben Technik bedient, um ihr
Publikum für sich einzunehmen und auf den „rechten Pfad“ zu führen (1988: 328-333).
Darüberhinaus lässt sich an Dershowitzs schriftstellerischer Tätigkeit aufzeigen, wie sich
wissenschaftliche, öffentliche und popkulturelle Diskurse wechselseitig durchdringen. In
seinem Roman von 1999, Just Revenge, der 2001 unter dem Titel Anwalt der Gerechtigkeit
auf Deutsch erschien, gibt es eine Szene, in welcher der Held der Geschichte von dem Mann,
der seine Familie ermordet hat, durch Androhung und Anwendung von Gewalt ein Geständnis
erzwingt (vgl. Rejali 2007: 546).
Es ist kein Zufall, dass literarische Imagination und wissenschaftliche Argumentation oft
Hand in Hand gehen. Beide speisen sich aus dem individuellen und sozialen Imaginären.
Deswegen kann es kaum verwundern, dass 9/11 unter anderem auch einen Einfluss auf die
Darstellung von Folter in der amerikanischen Populärkultur hatte, und von dort wieder auf
akademische und insbesondere Rechtsdiskurse wirkte. Die Beziehung zwischen 9/11 und der
Populärkultur geht in beide Richtungen. So beeinflusste das Motiv der „Terrorist Aliens“
(Frank 2010) nicht nur die Wahrnehmung von Terroristen, sondern auch die fiktionale
Darstellung von Außerirdischen. In der Science-Fiction-Serie Battlestar Galactica (20042009), die an die gleichnamige Serie aus den siebziger Jahren anknüpft, treiben auf einmal
360
feindliche Außerirdische als Schläfer in menschlicher Gestalt unter den Menschen ihr
Unwesen.346 Nicht zuletzt aufgrund seiner Wirkungen auf die Populärkultur erwies sich der
11. September 2001 als kulturelle Zäsur (Poppe et al. 2009) – vor allem, aber keineswegs
ausschließlich, in den Vereinigten Staaten.
Paradebeispiel für den populärkulturellen Einfluss von 9/11 ist natürlich die Serie 24
(2001-2010), die das Ticking-Bomb-Szenario als dramaturgischen Motor verwendet hat.347
Daneben haben auch noch andere Serien und Filme sowie der öffentliche Diskurs dazu
beigetragen, dass der Mythos des Terroristen und der tickenden Bombe in Amerika (aber auch
in Deutschland) zu einem festen Bestandteil des sozialen Imaginären wurde. Das Motiv der
tickenden Bombe als dramaturgisches Mittel zur Erzeugung von Spannung war schon lange
vor dem 11. September aus unzähligen Actionfilmen und Fernsehserien bekannt. Während es
im klassischen Narrativ der tickenden Bombe zunächst nur darum geht, dass die Bombe durch
den Helden rechtzeitig entschärft wird, stellt das nach dem 11. September 2001 populär
gewordene Ticking-Bomb-Szenario ein Sonderfall dieses Narrativs dar. Hier muss nämlich
erst ein Terrorist durch den Helden gefoltert werden, bevor die Bombe entschärft werden
kann, da der genaue Aufenthaltsort der Bombe unbekannt und nicht durch andere Mittel in
Erfahrung zu bringen ist. Somit kann nur noch das Foltern des Bösewichtes die drohende
Apokalypse verhindern. Stephen Holmes bringt die Figur des folternden Helden mit der
Formel der „torturer/savior-fusion“ (2006: 128) auf den Punkt. Der Folterer als Heilsbringer
wurde nach dem 11. September zu einem integralen Bestandteil der amerikanischen
Populärkultur, am bekanntesten wohl in Gestalt von „Jack Bauer“ aus der Serie 24.
Der heldenhafte Folterer lässt sich darüberhinaus auch als eine spezifische Manifestation
des gesetzesbrechenden Helden („law-defying hero“) deuten, der in der amerikanischen
Populärkultur weit verbreitet ist (vgl. Holmes 2006). In den Vereinigten Staaten nehmen
Selbstjustiz und auch der Vigilantismus eine bedeutende Rolle im sozialen Imaginären ein,
was nicht zuletzt in den unzähligen Western und Hollywood-Action-Filmen deutlich wird, in
denen sich der Held auf eigene Faust an seinen Gegenspielern rächt. Der kulturelle
346
Für eine eingehende Analyse von Battlestar Galactica, welche die Bezüge zum 11. September und zum
Krieg gegen den Terror gut herausarbeitet, vgl. den deutschsprachigen Beitrag von Sascha Seiler (2009). Es
liegt außerdem ein englischsprachiger Sammelband von C. W. Marshall und Tiffany Potter über diese Serie
vor (2008). Möglicherweise verdankt die Serie ihren kommerziellen Erfolg, der sie von der Menge
gescheiterter Remakes deutlich abhebt, diesen aktuellen Bezügen.
347
Aufgrund ihrer innovativen Erzähltechniken (z.B. Split-Screen), aber auch wegen ihrer moralischen und
politischen Implikationen, wurde die Serie zum Gegenstand mehrerer wissenschaftlicher Studien (so z.B.
Burstein & De Keijzer 2007; Peacock 2007; Weed 2008).
361
Hintergrund der Vereinigten Staaten enthielt bereits Repräsentationen des gesetzesbrechenden
Helden, sodass deren Anwendung auf die Folterfrage nach 9/11 nahe liegend erschien.
Paradigmatisch wird der „law-defying hero“ durch den Cowboy, aber auch durch den
Polizisten Callahan in Dirty Harry (1971) verkörpert. Im ersten Teil von Dirty Harry kommt
es zu einer Folterszene, wo der sympathische Callahan unverzagt auf den sadistischen und
psychopathischen Antagonisten einprügelt, um den Aufenthaltsort eines entführten jungen
Mädchens herauszufinden. Leider vergebens – der Antagonist kann ihm nur noch den Weg
zur Leiche des Mädchens weisen. Die visuelle und dramatische Darstellung der einzelnen
Charaktere ist für die Wirkung der Erzählung, die moralische Bewertung der Handlung und
die emotionale Reaktion des Publikums von großer Bedeutung. So kann der Zuschauer
angesichts des körperlichen Einsatzes von Callahan kaum anderes als Befriedigung
empfinden – Mitleid für den psychopathischen Antagonisten ist nahezu ausgeschlossen.
Die Folterdebatte machte auch vor Deutschland nicht halt. Bereits vor dem 11. September
2001 gab es in Deutschland einzelne Juristen, die angesichts eines hypothetischen TickingBomb-Szenarios für eine Legalisierung von Folter plädierten.348 Aufwind erhielt die Debatte
durch die Anschläge auf das World Trade Center und einen Entführungsfall, der strukturell
Ähnlichkeiten zu der oben diskutierten Szene aus Dirty Harry besitzt. Der Frankfurter
Millionärssohn Jakob von Metzler wurde im September 2002 von dem Jurastudenten Magnus
Gaefgen entführt. Nach erfolgter Lösegeldübergabe stand Gaefgen zunächst unter
Beobachtung der Polizei und wurde dann – ohne die Polizei zu dem Aufenthaltsort des
Jungen geführt zu haben – festgenommen. Im Verhör durch die Polizeibeamten weigerte sich
Gaefgen zunächst, über den Aufenthaltsort des Entführungsopfers Auskunft zu geben.
Schließlich wurde ihm auf Anweisung des stellvertretenden Polizeipräsidenten Wolfgang
Daschner mit Folter gedroht, worauf Gaefgen den Aufenthaltsort des Opfers preisgab, von
dem er allerdings schon wusste, dass es nicht mehr lebte. Der „Fall Daschner“ löste in
Deutschland eine öffentliche und eine rechtliche Debatte über die Zulässigkeit der
sogenannten „Rettungsfolter“ bzw. „selbstverschuldeten Rettungsbefragung“ aus (Reemtsma
2005; Trapp 2006; Görlich 2007; Lamprecht 2009). Seine Brisanz gewann der Fall
„Daschner“ allerdings erst vor dem Hintergrund des 11. Septembers 2001. Die Vorstellung
348
Während Niklas Luhmann (2008/1993) in einem Vortrag in Heidelberg im Jahre 1991 das Ticking-BombSzenario in erster Linie verwendete, um sein Publikum zu provozieren und auf die Form der „tragic choice“
als einer Paradoxie aufmerksam zu machen, nimmt der Jurist Winfried Brugger das Beispiel Luhmanns als
Ausgangspunkt, um eine rechtliche Ausnahme für das Folterverbot einzufordern. Bei einer
Podiumsdiskussion am 28. Juni 2001 in Berlin, also noch vor dem 11. September, sprach sich Brugger in
einer Debatte mit Kollegen für eine Einschränkung des Folterverbots aus (Grimm et al. 2002).
362
einer Abwägung zwischen der Würde möglicher Opfer und der Würde der Täter schlug sich
auch in einer Neukommentierung des Grundgesetzes nieder (hierzu Weitin 2007). Allerdings
blieb auch diese Debatte nicht unbeeinflusst von den Geschehnissen von Abu Ghraib und den
berechtigten Zweifeln an dem Heldennarrativ von Daschner (10.4).
6.5. Der Irakkrieg von 2003 und die Transformation von Abu Ghraib
We don’t want the smoking gun to be a mushroom cloud.
Condoleezza Rice, nationale Sicherheitsberaterin, über die
atomare Bedrohung durch den Irak, 8. September 2002
Der historische Überblick über den Vorlauf und die Voraussetzungen des Abu-GhraibSkandals soll nun mit einigen Ausführungen zum Irakkrieg 2003 beschlossen werden. Wir
haben gesehen, dass die symbolische Mobilmachung für den Golfkrieg 1991 mit einer
Inflationierung des narrativen Genres einherging. Saddam Hussein wurde zur apokalyptischen
Bedrohung des Weltfriedens stilisiert, indem er in eine Reihe mit Diktatoren wie Hitler und
Stalin gestellt wurde. Allerdings erlaubte das UN-Mandat nur die Befreiung von Kuwait und
die Errichtung einer Flugverbotszone im südlichen Irak. Saddam Hussein blieb auch nach der
Erfüllung der Kriegsziele an der Macht. Der Irak blieb für die Amerikaner ein „unfinished
business“. Was George H. Bush begann, sollte nun sein Sohn, George W. Bush, zu Ende
bringen. Diese Möglichkeit bot sich vor dem Hintergrund des 11. Septembers 2001, der einer
möglichen Bedrohung des amerikanischen Volkes durch Massenvernichtungswaffen zu neuer
Plausibilität verhalf. Am 29. Januar 2002 sprach Präsident Bush erstmals von einer „axis of
evil“, zu der er die Staaten Irak, Iran und Nordkorea zählte. Ihren Regierungen wurde
vorgeworfen, terroristische Aktivitäten zu unterstützen und Massenvernichtungswaffen zu
besitzen bzw. deren Besitz anzustreben. Vor dem Hintergrund des apokalyptischen Narrativs
in der amerikanischen Öffentlichkeit und den erweiterten Befugnissen des Präsidenten, die
sich in den post-9/11-Memoranda niederschlugen, schienen diese Vorwürfe bereits ein
militärisches Eingreifen der Vereinigten Staaten zu rechtfertigen (6.4.1) Der Begriff der
„Achse des Bösen“ verwies natürlich auf die Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg, womit an
den unumstrittenen Triumph gegen das ultimative Böse angeknüpft und ein romantischer Sieg
über die Mächte der Finsternis in Aussicht gestellt wurde.
363
Im Jahr 2002 begann sich der Streit mit dem Irak wegen des angeblichen Besitzes von
Massenvernichtungswaffen zuzuspitzen. Schon bald war die symbolische Aufrüstung in
vollem Gange. In amerikanischen und britischen Zeitungen wurden Listen mit den im AbuGhraib-Gefängnis durchgeführten Exekutionen und den dort angewandten Foltertechniken
veröffentlicht. Am 11. Oktober 2002 erteilte der US-Kongress dem Präsidenten die
Vollmacht, notfalls auch ohne UN-Mandat in den Irak einzumarschieren. Daraufhin begann
auch Saddam Hussein mit der symbolischen Mobilmachung. Am 20. Oktober 2002 erließ er
eine Generalamnesie, von der nur „Zionisten“ und „amerikanische Spione“ ausgenommen
waren.349 Diese symbolische Geste war in erster Linie an das eigene Volk gerichtet und diente
wohl der Abschwächung innerer Konflikte gegenüber der äußeren Bedrohung.350 In der
internationalen Presse wurde Abu Ghraib immer wieder als das größte Gefängnis im Irak und
als Symbol der Schreckensherrschaft von Saddam Hussein beschworen:
At the Abu Ghraib prison, a sprawling compound on the desert floor 20 miles west of Baghdad that has
become a notorious symbol of fear among Iraqis for its history of mass executions and allegations of
torture, the heavy steel gates gave way under the crush of a huge crowd of relatives who rushed to the jail
within an hour of the amnesty broadcast.351
Die Strategie, sich der Gunst des Volkes durch Amnestien und massenhafte Freilassungen zu
versichern, sollte auch später von den Amerikanern im Abu-Ghraib-Skandal angewendet
werden. Schon lange bevor der Krieg einsetzte, war das Abu-Ghraib-Gefängnis bereits eine
Ikone unter den irakischen Gefängnissen („notorious“). Dies wird im Anfang des Berichts von
David Pratt über die Verschwundenen im Irak besonders deutlich: „It was last October when I
got my first ever glimpse of the infamous Abu Ghraib prison.“352 Der Artikel macht auf das
Schicksal jener aufmerksam, die auch nach der jüngsten Generalamnestie im Irak
verschwunden geblieben sind. Das Abu-Ghraib-Gefängnis wird in den Artikeln häufig mit
den sowjetischen Gulags353 und den Konzentrationslagern des Dritten Reiches verglichen,
349
„Iraq’s jails empty as Saddam makes the grand gesture“, Financial Times (London), 21. Oktober 2002.
350
Zur Amnestie als hoheitlichem Gnadenakt und befohlenem Vergessen vgl. Paul Ricoeur (2004: 690-696).
351
„Threats and responses. The great escapes; Hussein and Mobs Virtually Empty Iraq’s Prisons“, The New
York Times, 21. Oktober 2002.
352
„If the West is so worried about Saddam Hussein’s human rights record, why has it ignored Iraq’s
‘disappeared’?“, The Sunday Herald, 5. Januar 2003; vgl. auch „The moral maze; Tony Blair says: We have
a duty to oust Saddam Hussein because he is a bloodthirsty tyrant who has slaughtered hundreds and
thousands of his own people. True or false?“, The Sunday Herald, 23. February 2003.
353
„Iraq’s gulag offers tale of terror. Butcher’s hooks evidence of mass hangings under Saddam“, The
International Herald Tribune, 27. Januar 2003. Vgl. auch „The World; How Many People Has Hussein
Killed?“, The New York Times, 26. Januar 2003. Peter Worthington will sogar ausgerechnet haben, dass die
Anzahl der von Saddam Hussein getöteten Personen im Verhältnis zur irakischen Gesamtpopulation der
364
was Saddam Husein wieder in die ansteckende Nähe von Stalin und Hitler rückte.354 „Abu
Ghraib“ wurde zum Symbol für die Menschenrechtsverletzungen unter dem Regime von
Saddam Hussein. Es ergänzte die anderen Kriegsgründe, insbesondere die Suche nach
Massenvernichtungswaffen.355
Obwohl der amerikanische Kongress dem Präsidenten schon im Oktober 2002 die
Genehmigung erteilte, notfalls auch ohne UN-Resolution gegen den Irak militärisch
vorzugehen, bemühten sich die Amerikaner zunächst um eine breitere internationale
Unterstützung. So hielt Colin Powell am 5. Februar 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat eine
Power-Point-Präsentation, welche den Rat von der Existenz von Massenvernichtungswaffen
im Irak überzeugen sollte (vgl. Paul 2005a: 34-40).356 In der Präsentation wurde undeutlichen
Satellitenbildern durch erläuternde Beschriftungen eine Aussagekraft verliehen, die weder die
Bilder noch die Aussagen für sich selbst genommen besaßen. Zudem wurde auf
Visualisierungen zurückgegriffen, die verdeutlichen sollten, dass es sich bei den auf den
Satellitenbildern erkennbaren Trucks in Wirklichkeit um mobile Labors zur Herstellung
biologischer und chemischer Waffen handelte. Der Erfolg von Powells Performanz wurde je
nach Publikum unterschiedlich bewertet. Nicht nur in den Vereinigten Staaten und in
Großbritannien
wurde
Colins
Präsentation
als
Beweis
für
die
Existenz
von
Massenvernichtungswaffen gefeiert (Smith 2005: 170), sondern auch in Teilen der deutschen
Presse (Paul 2005a: 38f.; siehe aber Schweizer & Vorholt 2004: 37f.). Die Authentizität von
Powells Performanz verdankte sich nicht nur der Anschaulichkeit des Bildmaterials, sondern
wurde auch durch sein eigenes Image unterstrichen, da er nicht zu den neokonservativen
Falken im Umfeld von Bush gezählt wurde. Trotz dieses performativen Erfolges gelang es
den Amerikanern und ihren Verbündeten nicht, die anderen Mitglieder des Sicherheitsrates
und ihre Experten von der unmittelbaren Bedrohung durch den Irak zu überzeugen. Ein
Größenordnung der stalinistischen Säuberungen entsprach: „Saddam. The Butcher of Baghdad“, The Toronto
Sun, 9. Februar 2003.
354
„Abu Ghraib“ wird nicht nur als Sitz des berühmten Gefängnisses erwähnt, sondern auch als Standort einer
Waffenfabrik, in der Inspektoren nach Massenvernichtungswaffen gesucht haben, sowie einer
Kindermilchfabrik, in der Hussein schon vor 1991 Massenvernichtungswaffen produziert haben soll. Auch
diese Kontexte tragen zur unheilvollen Aufladung des Namens bei. Vgl. „Crimes and Saddam“, The Times
(London), 28. März 2003; „A Baghdad ‘Roots’ Story“, The Washington Post, 25. Juli 2003.
355
„Iraq’s canvas of cruelty“, The Daily Telegraph (Sydney), 17. Mai 2003.
356
Die Power-Point-Präsentation von Colin Powell ist im Internet verfügbar:
http://www.jonathanboutelle.com/a-failure-to-disarm-colin-powells-2003-ppt-on-slideshare; letzter Zugriff
am 13. September 2011. Eine kritische Analyse dieser Sicherheitsratssitzung als „Gremium unverbindlicher
Selbstdarstellung“ findet sich bei Wolfgang Sofsky (2003: 62).
365
Missgeschick stellte allerdings Powells Performance in ein schlechtes Licht: Im Vorfeld der
Veranstaltung wurde eine Kopie von Picassos Gemälde Guernica, das sich in einem Vorraum
des Sitzungsaals befand, auf Wunsch der Amerikaner verhängt (vgl. Schweizer & Vorholt
2003; Paul 2005a), was paradoxerweise die Aufmerksamkeit auf das Bild lenkte und in
seinem ikonischen Status als Antikriegsbild bekräftigte. Gerade die Bemühungen um eine
Verhüllung des Bildes erregten eine große mediale Aufmerksamkeit, die die „Powell-PointPräsentation“ fragwürdig erscheinen ließ. Am 19. März war es dann so weit: Die Alliierten
griffen den Irak – auch ohne eine erweiterte Resolution – erst aus der Luft, dann auch mit
Bodentruppen an. Während der Kriegshandlungen wurden immer wieder amerikanische und
europäische Reporter in Bagdad verhaftet und im Abu-Ghraib-Gefängnis untergebracht.357
6.5.1. Der Bilderkrieg – Zur Transition und Performanz von Souveränität
Der Irakkrieg von 2003 lässt sich, wie schon der Afghanistankrieg, als ein Versuch der
Bewältigung der traumatischen Erfahrung von 9/11 begreifen, aber er stellt auch eine
Fortsetzung des unvollendeten Golfkrieges von 1991 dar. Georg W. Bush oblag es, die
Mission seines Vaters zu vollenden, wofür eine Bodeninvasion vonnöten war. Wie Smith
(2005: 160-166) in seiner Analyse des Irakkrieges überzeugend darlegt, war die treibende
narrative Rahmung des Krieges eine „apokalyptische“. So ging es in erster Linie darum, die
Bedrohung der freien Welt durch Massenvernichtungswaffen abzuwehren. Allerdings gab es
noch einen zweiten narrativen Strang im amerikanischen Diskurs, der als „romantisch“
bezeichnet werden kann: Eine Heldengeschichte von der Befreiung des irakischen Volkes aus
den Fängen des bösen Diktators. Nach der Invasion der Alliierten wurde im Irak nach Indizien
für die Existenz von Massenvernichtungswaffen oder Beziehungen zu Al-Quaida, und im
Abu-Ghraib-Gefängnis nach Belegen für die Menschenrechtsverletzungen des Regimes
gesucht – zumindest für Letzteres ließen sich Beweise finden.358 Obwohl weder
Massenvernichtungswaffen noch Verbindungen zu Al-Quaida gefunden worden waren und
sich das apokalyptische Szenario somit als nichtig entpuppte, konnte doch zumindest am
357
„Freed journalists describe Iraqi prison horrors“, in: The Washington Times, 3. April 2003. Ironischerweise
spiegelt sich hier der Status der Inhaftierten in Guantanamo und der späteren Gefangenen im Irak wieder.
Vgl. auch „A nation at war. Survivors; Journalists Tell of a Prison Filled With Screams“, The New York
Times, 3. April 2003; „Freed journalists describe Iraqi prison horrors“, in: The Washington Times, 3. April
2003.
358
„Aftereffects. Prison Graveyard; Threat Gone, Iraqis Unearth Hussein’s Nameless Victims“, The New York
Times, 25. April 2003. Vgl. auch „Prison graveyard tells a tale of brutality in Saddam’s Iraq: Only numbers
mark plots: Executions continued until a week before the invasion“, in: National Post (Canada), 23. April
2003.
366
romantischen Narrativ der „Operation Iraqi Freedom“ festgehalten werden. Allerdings
versetzte der Abu-Ghraib-Skandal dieser letzten positiven Rechtfertigung des Krieges,
nämlich der Befreiung des irakischen Volkes von seinen Unterdrückern, einen symbolischen
Todesstoß, da die Fotografien aus dem Gefängnis die Befreier als die neuen Unterdrücker
porträtierten, die einfach die Nachfolge von Husseins Schergen angetreten hatten.
Während im Golfkrieg von 1991 das Bild eines hochtechnisierten Krieges gezeigt und
gezeichnet wurde, änderte sich die Bildstrategie der Amerikaner im Irakkrieg 2003
grundlegend (Paul 2007). Die Zensur wurde entschärft, und den militärischen Einheiten
wurden sogar Pressefotografen („embedded photographers“) zugeteilt (Paul 2005a: 68-91;
Rid 2007: 151-171). Mit dieser neuen Bildpolitik verfolgte die US-Armee im Wesentlichen
zwei Ziele: Einerseits war es, so Horst Bredekamp, „das Ziel, durch eine teilnehmendmitkämpfende Präsenz das Kampferlebnis in einen neuen Heroismus zu überführen“ (2005:
5); andererseits ging es auch darum, eine Kumpanei zwischen Reportern und Soldaten zu
fördern, die eine Selbstzensur der Reporter wahrscheinlich machte. Allerdings blieben Bilder
von toten US-Soldaten und Särgen nach wie vor strengstens verboten.
Robin Wagner-Pacifici zeigt in ihrem Buch The Art of Surrender (2005), dass für die
Beilegung von Konflikten eine Dekomposition von Souveränität der unterlegenen Seite
notwendig ist. Diese kann nur performativ erzielt werden. In vielen modernen Kriegen kommt
es gar nicht mehr zum Akt der Kapitulation, weswegen diese durch eine einseitige
Inszenierung ersetzt werden muss. Gerade am Irakkrieg von 2003 lässt sich die Inszenierung
und Visualisierung eines Souveränitätswechsels ausgesprochen gut aufzeigen (vgl. Weiß
2009). So wurde Saddam Husseins Palast, ebenfalls in dem Bagdader Vorort Abu Ghraib
gelegen, nach seiner Eroberung demonstrativ für ein Treffen der alliierten Generäle
genutzt.359 Natürlich hätte man sich auch außer Landes oder aber auf einem Flugzeugträger
treffen können. Dies wäre vermutlich einfacher, sicherer und zielführender gewesen. Der
performative Effekt dieser Versammlung wäre dann allerdings ausgeblieben. Das Treffen im
Palast des ehemaligen Despoten demontierte dessen Souveränität und signalisierte zugleich
die militärische Kontrolle über das Kriegsgebiet. Auch einfache amerikanische Soldaten
ließen sich in den besetzten Palästen des Diktators ablichten (Paul 2005a: 97-100; Weiß 2009:
82-85). Die Inszenierung des Triumphes setzte sich dann in der Demontage von
Herrschaftssymbolen des Regimes fort (Sofsky 2003: 130-136). Hervorzuheben ist der
359
„A Nation at war. Postwar planning; U.S. Generals Meet in Palace, Sealing Victory“, The New York Times,
17. April 2003.
367
gefilmte Sturz einer Statue Saddam Husseins (Paul 2005a: 101f.; Weiß 2009: 85-88). Man
versuchte, die Demontage der Herrschaftssymbole als ein Werk des irakischen Volkes
darzustellen. Allerdings griffen die amerikanischen Soldaten der „empörten Menge“ dabei
kräftig unter die Arme. Dabei wurde der Kopf der Statue vor ihrem Sturz mit einem
Sternenbanner verhüllt, was als performative Fehlleistung gewertet werden muss, da sie das
Narrativ vom spontanen Ausbruch des Volkszorns unglaubwürdig erscheinen ließ. Das
Sternenbanner suggerierte nicht nur einen Irak unter amerikanischer Besatzung, sondern
stellte auch einen ikonographischen Vorgriff auf die verhüllten Häftlinge von Abu Ghraib dar.
Auch die bewusste Erniedrigung von Saddam Hussein nach dessen späterer Festnahme, deren
Bilder um die Welt gingen, kann als eine Fortsetzung des „symbolischen Tyrannenmords“, als
eine „Entmythisierung“ des einstigen Herrschers gedeutet werden (Weiß 2009: 88-90).
Einen vorläufigen Höhepunkt erfuhr die Inszenierung des kriegerischen Triumphes aber in
der sogenannten „Top-Gun-Rede“ von George W. Bush, bei der er sich als Kriegsheld in
Szene setze (vgl. Dörner 2009): Am 1. Mai 2003 landete Bush in voller Fliegermontur in
einem Kampfflugzeug auf dem Flugzeugträger „Abraham Lincoln“. Dort erklärte er vor
versammelter Mannschaft und der Weltöffentlichkeit vor einem Siegesbanner („Mission
Accomplished“) die Hauptkampfhandlungen für beendet. Allerdings kam es aber auch nach
dem
proklamierten
Ende
des
Kampfgeschehens
immer
wieder
zu
bewaffneten
Auseinandersetzungen und Anschlägen. Die sorgfältig orchestrierte Performanz von Bush
wurde im Rückblick zu einer gescheiterten Performanz, da die narrative Rahmung des
Krieges als einem triumphalen Sieg des Guten über das Böse angesichts des zunehmenden
Widerstands zu einer Farce zu verkommen drohte (6.5.3).
6.5.2. Imagewechsel – Abu Ghraib als amerikanisches Militärgefängnis
Nach der Eroberung Bagdads dauerte es nicht lange, bis das Abu-Ghraib-Gefängnis von den
amerikanischen Befreiern/Besatzern wieder in Betrieb genommen wurde. Allerdings geriet
die Anlage samt den dort stationierten Truppen und Gefangenen in der zweiten Hälfte des
Jahres 2003 immer wieder unter feindlichen Beschuss.360 Für viele Iraker wurde das AbuGhraib-Gefängnis zu einem Symbol für die verhassten Besatzer, während die Amerikaner
angesichts des aufkeimenden Widerstandes sichtlich nervös wurden. Am 18. August
360
„After the war. Combat; G.I. Killed and 6 Are Wounded in Stepped-Up Attacks“, The New York Times, 17.
Juli 2003; „Attacks in Iraq Might Be Signs of New Tactics“, in: The New York Times, 18. August 2003; „The
struggle for Iraq. Casualties; Car Bombing Outside U.N. Mission in Baghdad Kills at Least One and Injures
Others“, in: The New York Times, 22. September 2003.
368
erschossen amerikanische Truppen versehentlich einen palästinensischen Kameramann, der
vor den Toren des Abu-Ghraib-Gefängnis für die Nachrichtenagentur Reuters filmte. Der
verantwortliche Soldat gab zu Protokoll, die Kamera fälschlicherweise für einen
Raketenwerfer gehalten zu haben. Die Ermittlungen gegen den Soldaten wurden daraufhin
eingestellt. Zunehmend wurde in den westlichen Medien auch von der Willkür berichtet, die
Amerikaner bei der Festnahme von Verdächtigen hätten obwalten lassen. So wurde ein
Exiliraker nur drei Tage nach seiner Rückkehr in die befreite Heimat festgenommen und ohne
Angabe von Gründen über einen Monat lang festgehalten.361
Eine geglückte Transformation von Souveränität ist immer auch eine Frage der Performanz
– dies betrifft sowohl den irakischen Staat als auch das Gefängnis von Abu Ghraib. Nachdem
Abu Ghraib als amerikanisches Militärgefängnis wiedereröffnet wurde, lud die Militärführung
eine Gruppe westlicher Journalisten ein, um den Wandel des Gebäudes vor Ort zu bezeugen.
Robert Fisk von der britischen Zeitung Independent schildert in einem Artikel vom 17.
September 2003, also wenige Tage vor den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib, den
vermeintlichen Wandel mit ironisch-skeptischen Untertönen:
No pictures of the prisoners, we were told. Do not enter the compound. Do not go inside the wire. Of the
up to 800 Iraqis held here, only a handful are “security detainees” – the rest are “criminal detainees” – but
until now almost all of them have lived out here in the heat and dust and muck. Which is why the
Americans were so pleased to see us at Saddam’s vile old prison yesterday: things are getting better. […]
In the newly painted cells there are blankets and toothpaste, toothbrush, soap and shampoo for every man,
neatly placed for them – and for us, I suspect – on their prison blankets. Even the jail canteen has been refloored with new tiles. 362
Das Gebäude wurde oberflächlich renoviert, nicht zuletzt um den Reportern und der
Öffentlichkeit jenen tiefgreifenden moralischen Wandel zu signalisieren, den das Gefängnis
durchlaufen habe. Allerdings war diese Performanz nur begrenzt erfolgreich, da Fisk die
Künstlichkeit der Inszenierung zum Thema macht und damit ihre Authentizität untergräbt. So
beschreibt er die Führung durch das Gefängnis als theatralische Inszenierung für die Reporter
(2.3.3),
die
nur
begrenzt
die
wirklichen
Zustände
wiedergespiegelt
habe.
Die
Oberkommandierende des Gefängnisses, General Janis Karpinski, die sich später auch für den
Abu-Ghraib-Skandal zu verantworten hatte (8.5.1), versuchte das Gefängnis von seiner besten
Seite zu präsentieren, aber musste sich auch einigen kritischen Nachfragen stellen:
[…] she had a little difficulty at first in recalling that there was a riot at the jail in May in which US troops
used “lethal force” when protesting prisoners threw stones and tent-legs at American military policemen.
361
„Families live in fear of midnight call by US patrols“, in: The Times (London), 9. Juli 2003.
362
„Saddam’s vilest prison has been swept clean, but questions remain“, in: The Independent (London),
September 17, 2003.
369
The troops killed a teenage inmate. But she was remarkably frank on other events: such as the fact that
the Americans in Abu Ghraib are attacked four out of every seven nights with mortar shells, small arms
and rocket-propelled grenades. That’s 16 times a month. And that’s a lot of attacks.363
Der Artikel macht also deutlich, dass es schon in den ersten Wochen nach der
Wiedereröffnung des Gefängnisses problematische Zwischenfälle, ja sogar Todesfälle,
gegeben hat, die aber so gut wie keine Beachtung in der westlichen Öffentlichkeit fanden. Er
thematisiert auch die Gefahr für Leib und Leben, der die amerikanischen Soldaten in Abu
Ghraib Tag für Tag ausgesetzt waren. Im Fortgang wird über die 800. Militärpolizei-Brigade
berichtet, die für die Pflege („caring“) und Bewachung („guarding“) der Gefangenen
verantwortlich war. General Karpinski, die im Interview erwähnt, dass sie vor ihrem Einsatz
im Irak das Gefangenenlager in Guantanamo Bay für einige Tage besucht habe („but had not
brought any lessons learnt there to Baghdad”), bestätigt auch die Anwesenheit des
militärischen Geheimdienstes in Abu Ghraib. Allerdings betont sie mit Nachdruck, dass die
Militärpolizei bei den Verhören selbst nicht anwesend gewesen sei. Zur 800. MP-Brigade
gehörten, wie die Öffentlichkeit bald erfahren sollte, auch die Täter von Abu Ghraib. Das
Lager wurde allerdings nicht ausschließlich von Angehörigen des amerikanischen Militärs
betrieben. Nach einigen Interviews stellte sich heraus, dass ein Großteil des irakischen
Personals schon unter Saddam Hussein in Abu Ghraib beschäftigt war:
Then came the head doctor of Abu Ghraib prison, Dr Majid. When I asked him what his job was when
Saddam used the place as a torture and execution centre, he replied that he was, um, the head doctor of
Abu Ghraib prison. Indeed, half his staff were running the medical centre at Abu Ghraib under the
Saddam regime. […] The new Iraqi prison guards at Abu Ghraib have been trained in human rights –
including two, it turned out, who had been police officers under the Saddam regime.364
Der Reporter gibt seiner Beunruhigung über die personelle Kontinuität im Gefängnis einen
unmissverständlichen Ausdruck. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die Transformation des
Abu-Ghraib-Gefängnisses als oberflächlich. So übernahmen die Amerikaner nicht nur das
Gebäude, sondern auch weite Teile des ehemaligen Mitarbeiterstabes, der in direkter oder
indirekter Verbindung zu den Gräueltaten des ehemaligen irakischen Diktators stand. Die
„Unreinheit“ des Hussein-Regimes drohte auch hier auf die amerikanischen Truppen
überzugreifen. Die kosmetischen Veränderungen können auch nicht über institutionellen
Mängel und den fehlenden Schutz für die Gefangenen hinwegtäuschen:
But there was something just a little too neat about all this. Against Saddam’s cruelty, any institution
looks squeaky clean. Yet there’s a lot about Abu Ghraib that doesn’t look as clean as the new kitchens.
There is still no clear judicial process for the supposed killers, thieves and looters behind the razor wire.
363
„Saddam’s vilest prison has been swept clean, but questions remain“
364
„Saddam’s vilest prison has been swept clean, but questions remain“
370
[…] There was no mention, until we brought it up, of the mortar attack that killed six of the prisoners in
their tents last month. The Americans had sent psychologists to talk to the prisoners afterwards and found
that the inmates believed – surprise, surprise – that the Americans were using them as human shields. And
you can just imagine what those same prisoners feel in their tents on four out of every seven nights when
the mortar shells explode again around the old jail. Which is one reason, of course, General Karpinski
wants to get her prisoners into their spanking new cells.365
Selbst die Opfer unter den Gefangenen, die die Angriffe auf das Gefängnis forderten, wurden
von den Gefangenen nicht den Aufständischen, sondern den Amerikanern zugerechnet. Die
Zustände in dem überfüllten Gefängnis stellten nicht nur für die Gefangenen, sondern auch
für die Soldaten ein großes Problem dar. Erst nach der Gefangennahme von Saddam Hussein
und kurz vor der Bekanntgabe der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib kündigte das
amerikanische Militär die Freilassung von 9.000 bis 13.000 irakischen Gefangenen an. Dieser
Akt muss sowohl instrumentell als auch symbolisch verstanden werden. Einerseits waren die
Gefängnisse maßlos überfüllt und die Entlassung der Gefangenen schuf die bitter benötigte
Entlastung.366 Andererseits muss die Entlassung der Gefangenen auch als ein performativer
Versuch verstanden werden, die eigene Souveränität als Besatzungsmacht zu unterstreichen
und die Popularität bei den Irakern zu steigern. Die Amerikaner wendeten ironischerweise
dieselbe Technik des hoheitlichen Gnadenaktes an, mit der schon Saddam Hussein im Vorfeld
des Irakkrieges sein Volk auf seine Seite ziehen wollte.
6.5.3. Mission not accomplished – Irak, ein zweites Vietnam?
Wir haben gesehen, dass die apokalyptische Bedrohung Amerikas (und der sogenannten
„freien Welt“) durch Massenvernichtungswaffen aus dem Arsenal von Saddam Hussein der
narrativen Rahmung und Legitimation des Irakkrieges diente. Nach dem Krieg wurden im
Irak allerdings keine Massenvernichtungswaffen gefunden, womit das apokalyptische Motiv,
das die irakische Bedrohung in die Nähe von 9/11 und dem Ticking-Bomb-Szenario rückte, in
der Öffentlichkeit an Plausibilität und Bedeutung verlor. Enthüllungen über vermeintlich
aufgehübschte („sexed up“) Geheimdienstberichte brachten das apokalyptische Narrativ dann
vollends zu Fall (vgl. Michalski & Gow 2007: 145-151). Nachdem sich die apokalyptische
Rahmung des Krieges verflüchtigt hatte, blieb nur noch die romantische Erzählung von der
Befreiung des irakischen Volkes, die dem Militäreinsatz den Namen „Operation Iraqi
365
„Saddam’s vilest prison has been swept clean, but questions remain“
366
Diese Überfüllung wurde nicht nur in den Untersuchungsberichten zu Abu Ghraib als wichtigste systemische
Ursache der Missbrauchsfälle aufgeführt (Taguba 2005/2004: 423; Schlesinger 2005/2004: 944f.); auch
Philip Zimbardo misst den situativen Gegebenheiten in Abu Ghraib eine entscheidende Bedeutung bei (2007:
332-337).
371
Freedom“ gab, als legitimierender Rahmen übrig. Trotz der symbolischen Inszenierung des
Sieges der Alliierten über das Regime von Saddam Hussein („Mission Accomplished“) kam
es immer wieder zu Kämpfen mit Aufständischen. Damit geriet die erzielte „Befreiung“ des
irakischen Volkes in diskursive Nöte. Die Alliierten wurden mehr und mehr als Besatzer des
Iraks wahrgenommen. Während des ersten halben Jahres nach Kriegsende fielen mindestens
10.000 irakische Zivilisten den alliierten Streitkräften zum Opfer.367 Aber auch die
Besatzungsmächte wurden mit steigenden Verlusten konfrontiert, was darauf hindeutete, dass
man zunehmend die Kontrolle verlor. Die Truppen der Alliierten befanden sich zum
Zeitpunkt der Veröffentlichung der Fotografien von Abu Ghraib in einer schwierigen Lage.
Am 6. Oktober 2003 griff das Time Magazine auf das bekannte Bild von Bush in
Fliegermontur zurück, titelte aber „Mission not accomplished“:
Time, 6. Oktober 2003
In einem Artikel des Time Magazine mit dem Titel „Iraq is Not Vietnam, But…“ wurde schon
Mitte 2003 darauf hingewiesen, dass Vietnam nicht nur der populärkulturelle Referenzpunkt
der im Irak stationierten amerikanischen Soldaten sei, sondern dass der Konflikt im Irak auch
in anderer Hinsicht an das nationale Trauma des Vietnamkrieges erinnere: Die sich
abzeichnende Dauer des Einsatzes, seine immensen Kosten, die täglichen Verluste durch
Guerillaangriffe und die Popularitätsprobleme der amerikanischen Truppen bei der irakischen
Bevölkerung weckten unschöne Erinnerungen.368 Am 19. April 2004, wenige Tage vor der
367
„Another Day in the Bloody Death of Iraq; at least 10,000 Iraqi Civilians have been gunned down since the
end“, in: Independent on Sunday (London), 21. September 2003.
368
Karon, Tony: „Iraq is Not Vietnam But…“, Time, 24. Juni 2003.
372
Enthüllung der Abu-Ghraib-Fotografien, titelte auch das deutsche Magazin Der Spiegel: „Die
Falle Irak. Bushs Vietnam“. Die narrative Legitimationskrise und der militärische Misserfolg
im Irak bereiteten den Boden, auf dem die Enthüllungen von Abu Ghraib ihre Wirkung
entfalten konnten. Der Skandal kam zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, da die
Vereinigten Staaten nun auch die moralische Oberhoheit zu verlieren drohten. Dabei waren
die Missbrauchsfälle alles andere als unvorhersehbar. Schon im Juli 2003 klagte Amnesty
International die Vereinigten Staaten wegen ernst zu nehmender Menschenrechtsverletzungen
in Abu Ghraib und anderenorts an. Die Sprecherin von Amnesty, Judit Arenas Licea,
kritisierte sowohl die Rechtfertigung des Krieges als auch
das Verhalten der
Besatzungsmacht:
„We are disappointed that human rights were used as an excuse to go to war in Iraq and now the human
rights of Iraqis are being violated,” she said yesterday, condemning conditions at, among other sites,
Saddam Hussein’s once notorious Abu Ghraib prison.369
Diese Kritik ging nicht nur dem Skandal fast um ein Jahr voraus, sondern wurde auch drei
Monate vor den berüchtigten Missbrauchsfällen geäußert. Offensichtlich sah man weder auf
Seiten der Armee noch auf Seiten der Regierung einen dringenden Handlungsbedarf. Die
Berichte von Amnesty International schafften es nicht, die öffentliche Meinung zu
mobilisieren. Erst die Bilder von Abu Ghraib wurden von der Armee ernst genommen. Erst
ihre Veröffentlichung sorgte für eine kollektive Empörung, welche die amerikanische
Regierung in Erklärungsnöte brachte und in eine narrative Krise stürzte.
369
„US guilty of rights abuses, says Amnesty“, The Australian, 22. Juli 2003.
373
7. Die Skandalfotos – Interpretation, Rekonstruktion, Rezeption
Das folgende Kapitel bildet ein Kernstück dieser Arbeit, da hier eine Auseinandersetzung mit
den Abu-Ghraib-Bildern erfolgt, die im Zentrum des Skandals standen (8.1). Ohne eine
eingehende Analyse der Bilder sind sowohl die performative Gewalt in Abu Ghraib als auch
der durch die Fotografien angestoßene Diskurs nicht angemessen zu verstehen. Es folgt
zunächst der Versuch einer ikonologischen Interpretation der einschlägigen Skandalbilder
(7.1-3) – ein Wagnis, das in der umfangreichen Literatur zu Abu Ghraib bisher noch nicht
unternommen wurde. Auch wenn es den Anschein hat, dass zu den Bildern von Abu Ghraib
schon fast alles einmal irgendwo gesagt wurde, verfolgt diese Interpretation nicht nur die
Absicht, altbekannte Deutungen mit den Bildern zu konfrontieren und zu überprüfen, sie zu
sammeln und zu systematisieren, sondern auch in Auseinandersetzung mit den Bildern neue
Lesarten zu entwickeln und soziologisch fruchtbar zu machen. Die Interpretation der Bilder
von Abu Ghraib ist in dieser Arbeit kein Selbstzweck, da sie einerseits – unter
Berücksichtigung
bereits
vorhandener
Erklärungsansätze
–
eine
handlungsmäßige
Rekonstruktion der Vorfälle in Abu Ghraib ermöglichen soll (7.4), andererseits aber auch jene
bildlichen Elemente erfassen will, die für die öffentliche Rezeption der Fotografien
entscheidend waren (7.5).
Die hier vorgenommene Interpretation der Fotografien als mediale Artefakte (2.1.4) muss
dabei einerseits von der Analyse auf der Ebene ihrer Produktion im Rahmen eines
erniedrigenden Gewaltrituals (3.3.) und andererseits von der Analyse auf der Ebene ihrer
öffentlichen Rezeption als säkulare Ikonen (2.1.5) eines Medienrituals unterschieden werden.
Weil die Fotografien von den Tätern selbst stammen, können sie als Dokumente einer
Handlungs- und Folterpraxis aufgefasst und analysiert werden, wobei die Anfertigung einer
Fotografie als „Bildakt“ (im Sinne von Bredekamp 2010) in diesem Fall selbst einen Akt der
Demütigung darstellt. Als Produkte einer sozialen Praxis lassen sie Rückschlüsse auf situative
und kulturelle Faktoren zu, die im Produktionsprozess selbst wirksam waren. Die öffentliche
Rezeption verweist ebenfalls auf einen kulturellen Hintergrund (1.2-3), vor dem diese Bilder
erst ihre Wirkung entfalten konnten. Zwischen den Deutungsmustern, die Rückschlüsse auf
die Produktion der Fotografien ermöglichen, und jenen Motiven, die bei der Rezeption der
Bilder eine Rolle gespielt haben, gibt es eine Schnittmenge, wenn auch die beiden
Einzelmengen nicht koextensiv sind. Erst einmal sollen durch eine Interpretation der
wichtigsten Skandalbilder diese kulturellen Muster zu Tage gefördert werden (7.1-3). Im
374
Anschluss daran folgt der Versuch einer Generalisierung dieser Befunde, die auf die jeweilige
Bezugsebene – Produktion (7.4) oder Rezeption (7.5) – zugespitzt werden soll.
Im Zentrum der Analyse stehen Bilder, die am 28. April 2004 in der amerikanischen
Nachrichtensendung 60 Minutes erstmals gezeigt worden waren und anschließend weltweit
reproduziert und rezipiert wurden (8.1.2). Daneben sollen aber auch noch weitere Bilder
hinzugezogen werden, die vom New Yorker am 3. Mai 2004 veröffentlicht wurden. Im Laufe
des Skandals wurde offenbar, dass die US-Armee über mehrere tausend Fotografien mit
belastendem Material verfügte, die allerdings nur von Militärangehörigen und einigen
Mitgliedern des US-Kongress eingesehen werden konnten. Aus diesem Bildreservoir tauchten
zu Beginn des Jahres 2006 hunderte neuer Fotos im Internet auf, die den Skandal noch einmal
aufs Neue entfachten.370 Eine vollständige Sammlung der bisher veröffentlichten Fotografien
samt Kommentaren findet sich im Archiv des amerikanischen Internetmagazins salon.com,
das in dieser Arbeit auch als Bildquelle verwendet wurde. Die überwältigende Mehrheit der
Bilder ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Arbeit immer noch unter Verschluss –
trotz Obamas Wahl zum amerikanischen Präsidenten (10.5.3).371
7.0.1. Zur Methode – Ikonologie als kulturwissenschaftliche Bildhermeneutik
Im Folgenden soll es um eine Rekonstruktion der Bedeutung der Abu-Ghraib-Fotografien
gehen. Um die kulturelle Einbettung sozialen Handelns am empirischen Material sichtbar
machen können, benötigt man eine leistungsfähige Interpretationstechnik. Ausgangspunkt
dieser methodischen Überlegungen ist die Ikonologie Panofskys (1955, 1964), die sich in den
letzten Jahren unter Soziologen einer wachsenden Beliebtheit erfreut (2.1.1). Die
Transformation
der
kunstgeschichtlichen
Interpretationstechnik
in
eine
sozialwissenschaftliche Methode ist dabei weniger dramatisch, als es zunächst den Anschein
haben könnte. Das für die Ikonologie charakteristische dreistufige Interpretationsverfahren
370
Die Bilder sind mit Zeitangaben versehen und chronologisch angeordnet; einige wurden aus ethischen
Erwägungen zensiert: http://www.salon.com/news/abu_ghraib/2006/03/14/introduction, letzter Zugriff 21.
Mai 2011.
371
Für die folgenden Interpretationen, die sich auf ein halbes Dutzend der bereits veröffentlichten Bilder
beschränken, stellt dies kein grundsätzliches Problem dar. In den einzelnen Fotografien treten neben der
Besonderheit des Falles auch allgemeine, kulturelle Strukturen zu Tage – wie der Vergleich zwischen den
Bildern zeigen wird. Trotz der unterschiedlichen Bildmotive ist die Konvergenz zwischen den einzelnen
Bildern beachtlich. Philip Gourevitch, der einen Dokumentarfilm über Abu Ghraib gedreht hat (10.2.3), hat
darauf hingewiesen, dass uns neue Fotografien nichts sagen würden, was wir nicht ohnehin schon wüssten
(10.5.3). Dem ist aus einer kultursoziologischen Perspektive beizupflichten. So handelt es sich bei den
verschiedenen Bildern letztendlich um Variationen, denen ein- und dieselben Muster zu Grunde liegen.
375
stammt nämlich ursprünglich aus der Kultur- und Wissenssoziologie von Karl Mannheim
(1964, 2009). Es handelt sich dabei um eine genuin soziologische Methode, die Panofsky für
die Kunstgeschichte adaptierte hatte und die in den letzten Jahren wieder auf Umwegen in die
Soziologie zurückgekehrt ist.372 Eine an die Arbeiten von Mannheim und Panofsky
anknüpfende Bildhermeneutik (vor allem Bohnsack 2009) eignet sich in besonderer Weise für
kultursoziologische Fragestellungen, da sie einen Zugang zu den kulturellen Mustern
verspricht, die auch der Produktion und Rezeption der Abu-Ghraib-Bilder zu Grunde lagen.
Die Ikonologie von Panofsky, die bereits in den Ausführungen zum Bild-Begriff vorgestellt
wurde (2.1.1), stellt die methodische Grundlage für die folgenden Interpretationen dar,
weswegen
es
lohnend
erscheint,
noch
einmal
detaillierter
auf
das
dreistufige
Interpretationsverfahren einzugehen.
Die vorikonographische Interpretation erschließt dem Interpreten die Ebene des
„Phänomensinn“ (Panofsky 1964). Hier kann noch einmal zwischen dem „Sachsinn“, der
gegenständlichen Wahrnehmung des Dargestellten, und dem „Ausdruckssinn“, der
Expressivität der dargestellten Personen, unterschieden werden. In ähnlicher Weise wie schon
das gegenständliche Sehen eine Bewusstseinsleistung in Anspruch nimmt (2.1.3), die einen
vorintentionalen Hintergrund voraussetzt, stellt auch das Erkennen von Gegenständen auf
Bildern eine vorrausetzungsvolle Leistung dar, welche auf die ikonische Differenz und die
Vertrautheit mit bestimmten Darstellungstechniken angewiesen bleibt (2.1.1). Auch der
menschliche Körper, der schon für sich genommen ein bildliches Ausdrucksmedium darstellt
(2.1.2), muss zunächst einmal in seiner bildlichen Darstellung identifizierbar sein, bevor
dieser Darstellung ein psychisches Innenleben zugeschrieben werden kann (2.2.5). Der
Ausdrucksinn des Bildes trägt damit der Tatsache Rechnung, dass Mimik, Gestik und Haltung
der dargestellten Personen immer auch als Repräsentationen innerer Zustände gedeutet
werden. Die vorikonographische Beschreibung des Bildes ist keine bloße Beschreibung
dessen, „was auf dem Bild zu sehen ist“, sondern schon selbst eine Interpretation von
Techniken und Stilen der Darstellung, die immer relativ zu einem kulturellen Hintergrund
sind. Die vorikonographische Beschreibung gehört – als Explikation der impliziten Leistung,
372
Der häufig erhobene Vorwurf, dass Soziologen, die eine anspruchsvolle Bildhermeneutik betreiben wollten,
allenfalls schlechte Kunstgeschichte produzierten, entpuppt sich damit als völlig absurd. Die Ikonologie von
Panofsky ist nur ein Spezialfall der dokumentarischen Methode Mannheims, eines kultursoziologischen
Interpretationsverfahrens par excellence. Allerdings muss jenen Bildsoziologen, die nur künstlerisch
wertvolle Fotografien oder Gemälde analysieren, vorgehalten werden, dass diese Interpretationen nur
Rückschlüsse auf einen begrenzten Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit zulassen, wohl aber umso mehr über
den (bildungsbürgerlichen) Habitus des jeweiligen Interpreten offenbaren.
376
die jeder „normale“ Betrachter eines Bildes von alleine erbringt – zum Kerngeschäft der
Kunstgeschichte, die Techniken und Stile der gegenständlichen (und nichtgegenständlichen)
Darstellung einer vergleichenden Untersuchung unterziehen kann. In der Fotografie scheint
die Bedeutung von Techniken und Stilen in den Hintergrund zu treten, da sich die
mechanische Produktion der Fotografie zunächst einmal grundlegend von der handwerklichen
Arbeit eines bildenden Künstlers unterscheidet. Dieser „Objektivität“ der Darstellung
verdankt das fotografische Medium seine eigentümliche Transparenz und seinen
naturalistischen Stil (2.1.4). Allerdings gibt es auch bei Fotografien stilistische Unterschiede
in der gegenständlichen Darstellung des Bildinhalts, die sich unter anderem in der
Perspektive, der Schärfe und der Belichtung des Bildes äußern.
Die ikonographische Interpretation geht über die vorikonographische Beschreibung hinaus,
indem sie die den „Bedeutungssinn“ des Bildes freilegt, der sich aus der Verwendung
konventioneller Zeichen und historisch überlieferter Bildmotive speist. Panofsky (1964) geht
es in erster Linie um Motive, die sich auf die Intention des Künstlers zurückführen lassen.
Von einer wirkungsgeschichtlichen oder rezeptionsästhetischen Perspektive kommend lassen
sich aber auch noch Motive hinzunehmen, die erst für den Rezipienten eine Bedeutung gehabt
haben können. Während die ikonographische Analyse schon lange zum Kernbestand
kunstgeschichtlicher Methoden gehört, stellt die von Panofsky vorgeschlagene ikonologische
Interpretation eine bedeutsame Erweiterung dar: Der Wissenschaftler kann nämlich, im
Anschluss an die vorhergehenden Interpretationsschritte, nach dem „objektiven“ oder
„latenten“ Sinngehalt eines Bildes, seinem „Dokumentsinn“ (Mannheim 1964) oder
„Wesenssinn“ (Panofsky 1964) fragen. Dieser letzte Schritt ist nicht nur für die
Kunstgeschichte, sondern für alle Kulturwissenschaften von höchster Bedeutung, da hier das
Kunstwerk als „kulturelles Symptom“ einer Epoche, Gruppe oder Kulturkreisen gelesen wird.
Während sich die Ikonographie auf den Inhalt des Bildes bezieht, zielt die Ikonologie auf
seinen kulturellen Hintergrund, seine innere „Struktur, an deren Aufbau, Charakter, Herkunft,
Umgebung und Lebensschicksal in gleicher Weise mitgearbeitet haben“ (Panofsky 1964:
93).373 Diese letzte Stufe der Interpretation ist der Schlüssel zur Weltanschauung, einem
kulturellen System, in das jede Handlung und natürlich auch jedwede fotografische Praxis
eingebettet ist. Der ikonologische Gehalt eines Bildes verweist auf den Habitus des
373
Panofsky zufolge liegt jedem Kunstwerk, wie auch jeder anderen „Lebensäußerung“, ein „wesensmäßiger
Gehalt“ zu Grunde, nämlich „die ungewollte und ungewusste Selbstoffenbarung eines grundsätzlichen
Verhaltens zur Welt, das für den individuellen Schöpfer, die individuelle Epoche, das individuelle Volk, die
individuelle Kulturgemeinschaft in gleichem Maße bezeichnend ist“ (1964: 93).
377
Bildproduzenten (2.1.1). Der Habitus als kultureller Hintergrund und Erzeugungsprinzip des
Handelns dokumentiert sich nicht nur im klassischen Kunstwerk, sondern auch in den
sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie (Bourdieu 1983a: 17; vgl. 2.1.4).
Ralf Bohnsack (Bohnsack 2007, 2009) hat die ikonologische Methode von Panofsky um
einige wichtige Elemente erweitert, die teils seiner Arbeit mit Fotografien und teils seiner
Rezeption neuerer Kunsttheorien geschuldet sind. So macht es bei fotografischen Bildern
Sinn, zwischen einem „abbildenden“ und einem „abgebildeten Bildproduzenten“ zu
unterscheiden. Nicht nur der Fotograf mit seiner Kamera, sondern auch die fotografierte
Person ist an der Entstehung des fotografischen Bildes beteiligt – was einerseits dem
Bildcharakter des menschlichen Körpers (2.1.2), andererseits aber dem mechanischen
Abbildungsverhältnis der Fotographie geschuldet ist (2.1.4). Dies trifft schon auf einfache
Schnappschüsse zu, tritt aber mit besonderer Deutlichkeit zu Tage, wenn die abgebildeten
Personen – wie die Soldaten in Abu Ghraib (7.2-3) – für die Kamera posieren. Darüberhinaus
unterscheidet Bohnsack (2007) in seinen allgemeinen Ausführungen zur dokumentarischen
Methode zwischen einem „intendierten Ausdrucksstil“ und einem „habitualisierten Stil“.
Während es sich bei dem intendierten Ausdrucksstil um ein strategisch platziertes Image
handelt (2.1.3), kommt im habitualisierten Stil der unbewusste und vorintentionale
Hintergrund zum Ausdruck (1.2-3). Diese Unterscheidung lässt sich sehr gut auf die
Interpretation von Fotografien übertragen. Die Pose vor der Kamera zeigt den intendierten
Ausdrucksstil eines Menschen, der sich auf eine bestimmte Weise in Szene zu setzen
versucht.
Dieser
intendierte
Ausdruckstil
operiert
mit
gesellschaftlich
etablierten
Bedeutungen, die einer ikonographischen Interpretation zugänglich ist. Auf der Ebene der
ikonologischen Interpretation wird jedoch auch der nichtintendierte, habitualisierte Stil einer
Performanz
vor
der
Kamera
sichtbar,
der
als
Ausdruck
einer
Gruppenkultur,
Schichtzugehörigkeit oder geschichtlichen Epoche gelesen werden kann. So kann sich in
Fotografien eine Spannung zwischen intendiertem und nichtintendiertem Ausdrucksstil
manifestieren, beispielsweise wenn eine Pose verunglückt oder sich eine Performanz durch
eine unbeabsichtigt mitgeteilte Information desavouiert – wie dies bei den in Abu Ghraib
entstandenen Aufnahmen der Fall war (7.3.4). Schließlich erweitert Bohnsack das dreistufige
Modell von Panofsky noch um Elemente der „ikonischen Interpretation“ nach Max Imdahl
(2006), mit denen auch die formalen Aspekte der Bildkomposition, z.B. die Linienführung
oder die szenische Anordnung, die der gegenständlichen Darstellung auf dem Bild
vorausgehen, in den Blick genommen werden können. Diese drei Erweiterungen der
378
Basismethode sollen auch in den folgenden Interpretationen berücksichtigt werden.
Die hier vorgenommene Interpretation der Bilder soll unter anderem jene kulturellen
Muster sichtbar machen, die die Täter von Abu Ghraib angeleitet haben könnten. Dabei
werden auch Interpretationen der Bilder herangezogen, die im öffentlichen und im
akademischen Diskurs diskutiert wurden. Damit kommt zugleich die Rezeption der Bilder ins
Blickfeld, die einen Zugang zu den kulturellen Hintergründen der Interpreten eröffnet. In
einer rezeptionsästhetischen Erweiterung der Theorien von Panofsky und Bohnsack hat
Burkhard Michel (2006) darauf hingewiesen, dass Bilder ambigue Elemente und Leerstellen
aufweisen, bei deren Deutung und Füllung der jeweilige Habitus bzw. kulturelle Hintergrund
des Rezipienten eine wichtige Rolle spielt. Damit erfüllt der Rückgriff auf die bereits
bestehenden Bildinterpretationen hier einen doppelten Zweck: Einerseits wird durch sie die
intersubjektive Geltung der hier vorgenommenen Deutungen ausgewiesen, andererseits fallen
sie selbst in den Gegenstandsbereich dieser Arbeit. Die Interpretation der Bilder, deren
Grundstock in einer Gruppendiskussion gelegt wurde,374 erfolgte nach der dreistufigen
Methode von Panofsky bzw. nach dem vierstufigen Verfahren von Bohnsack. Allerdings
wurde bei der Darstellung der Ergebnisse zu Gunsten einer sachlichen Kohärenz und einer
narrativen Stringenz auf eine sklavische Imitation dieses Interpretationsschema verzichtet.
7.1. Interpretation I – Die Ikone des Skandal
Of all the photographs of American soldiers tormenting Iraqi prisoners
in the Abu Ghraib prison one alone has become the icon of the abuse.
Sarah Boxer, Journalistin375
Von allen Fotografien aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis ist die „hooded figure“ oder der
„Kapuzenmann“ wohl das bekannteste und einflussreichste Skandalbild (Abb. 1). Es gehört
zu einer Serie von sechs Fotografien, die am 4. November 2003 zwischen 21:45 und 23:15
374
Dank gebührt an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich den drei anderen Mitgliedern des „soziologischen
Quartetts“, nämlich Heike Kanter, David Pachali und Susanne Friedel, die sich Anfang 2007 in der
damaligen Berliner Wohnung des Verfassers zu einer äußerst ergiebigen Interpretationssitzung einfanden.
375
„Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal”, The New York Times, 13. Juni 2004.
379
entstanden sind.376 In dem im August 2004 veröffentlichten Fay-Jones-Report wird das
dazugehörige Ereignis als zehnter Zwischenfall (von insgesamt 44) aufgeführt und
folgendermaßen geschildert:
Six Photographs of DETAINEE-15, depict him standing on a box with simulated electrical wires attached
to his fingers and a hood over his head. These photographs were taken between 2145 and 2315 on 4
November 2003. DETAINEE-15 described a female making him stand on the box, telling him if he fell
off he would be electrocuted, and a “tall black man” as putting the wires on his fingers and penis. From
the CID investigation into abuse at Abu Ghraib it was determined SGT J. Davis, SPC Harman, CPL
Graner, and SSG Frederick, 372 MP CO, were present during this abuse. DETAINEE-15 was not an MI
Hold and it is unlikely MI had knowledge of this abuse. (2005/2004: 1079).377
Abbildung 1: 4. November 2003, 23:01
376
Vgl. die Bilder 17-22 auf http://www.salon.com/news/abu_ghraib/2006/03/14/chapter_4/slideshow.html;
letzter Zugriff: 10. Juni 2011.
377
Zur Rekonstruktion des Tathergangs auf Basis von Täterinterviews vgl. Gourevitch und Morris (2009:
186ff.)
380
Auf dem Bild ist ein Gefangener zu sehen, der mit verhülltem Gesicht und verkabelten
Händen auf einer Kiste steht. Das Opfer gab zu Protokoll, dass er Stromschlägen erhalten
würde, sollte er von der Kiste herunterfallen. Der Bericht enthält nicht nur eine knappe
Beschreibung des Bildes, sondern gibt darüber hinaus auch Informationen preis, die nicht
direkt aus dem Bild ersichtlich werden. So erfährt man etwas über die Täter, aber auch, dass
ein Stromkabel am Penis des Mannes befestigt wurde – ein unsichtbares Detail, das auf die
symbolische Kastrationsandrohung einer späteren Bildinterpretation verweist (7.3.1). Der
Bericht enthält außerdem eine klare Schuldzuweisung, wobei die Military Intelligence (MI),
der amerikanischen Militärgeheimdienst, explizit von jeglicher Beteiligung oder auch nur
Mitwisserschaft ausgenommen wird. Von all diesen Fakten, die zum Teil auch dem
öffentlichen Diskurs über die Bilder zur Verfügung standen,378 ist zunächst aus methodischen
Gründen Abstand zu nehmen. Das kontextspezifische Vorwissen muss zunächst im
phänomenologischen Sinne „eingeklammert“ werden. Erst nachdem der Eigenlogik der Bilder
Genüge getan wurde, ist es wieder schrittweise bei der Interpretation zu berücksichtigen.
7.1.1. Vorikonographische Beschreibung und ikonische Interpretation
Die vorikonographische Beschreibung richtet sich auf den gegenständlichen Inhalt eines
Bildes, während bei der ikonischen Interpretation nach Imdahl (Imdahl 2006) und Bohnsack
(2009) die formalen Bildstrukturen in den Blick genommen werden. Zunächst soll mit einer
knappen Beschreibung des Bildinhaltes begonnen werden. Im Vordergrund ist eine mit
schwarzem Stoff behängte Gestalt zu sehen. Die Hände, die Füße und der zwischen Umhang
und Kapuze aufblitzende Hals lassen einen menschlichen Körper erkennen – ohne diese
kleinen Details könnte es sich auch um eine Vogelscheuche handeln. Auf der rechten Seite
des Bildes sind Leitungen zu sehen, die vom Fußboden ausgehend in einem „schwarzen
Fleck“ zwischen Decke und Wand münden. An den Fingern der menschlichen Gestalt sind
Kabel oder Drähte befestigt, die in den Hintergrund des Bildes führen, wo sie auf die
Leitungen treffen. Der Verhüllte steht mit leicht angewinkelten Füßen auf der schmalen Kiste,
die sich auf einem grauen Betonboden befindet, der das untere Viertel des Bildhintergrundes
378
Dass dem Gefangenen mit Elektroshocks gedroht worden war, wurde schon bei der Erstausstrahlung der
Bilder auf CBS bekannt gegeben und auch in den ersten Zeitungsberichten aufgegriffen. Vgl. „U.S. Tries to
Calm Furor Caused by Photos; Bush Vows Punishment for Abuse of Prisoners“, The Washington Post, 1.
Mai 2004.
381
einnimmt. Für die formale Struktur des Bildes sind die beiden horizontalen Linien im
Hintergrund, die von links nach rechts leicht ansteigen, von zentraler Bedeutung, da sie die
Instabilität der Szene verstärken. Darüberhinaus wird die Bildkomposition von der
angedeutete Kreuz- und Dreiecksform der schwarzgewandeten Gestalt bestimmt. Die
Horizontale des Kreuzes, die leicht nach unten hängenden Arme, messen den mittleren
Bildteil fast vollständig aus, während die Achse Kiste/Kapuze die Vertikale bildet, die in den
unteren und oberen Bildteil hineinragt. Dies tun auch die Leitungen, welche sich vom Boden
aus senkrecht über die Wand bis an die Decke erstrecken. Durch die Vertikale des Kreuzes
und der Leitungen im Hintergrund sticht das leichte Hängen der Arme und die Schräge der
horizontalen Hintergrundlinien besonders ins Auge. Zusammen mit der spitz zulaufenden
Kapuze bilden die Arme eine ikonisch bestechende Dreiecksform (die mit Podest und Körper
an einen nach oben gerichteten Pfeil erinnert). Während das Hängen der Arme einen Eindruck
von Schwäche vermittelt, was schon in den Bereich des Ausdruckssinn gehört, verstärkt die
Schräge im Hintergrund die Instabilität des szenischen Arrangements.
Auf Bildern, die menschliche Körper zeigen, muss neben dem Sachsinn des Bildes auch
noch der Ausdrucksinn des Körperbildes berücksichtigt werden. Die Gestalt auf dem Bild
wirkt auf den ersten Blick skurril. Warum sollte sich ein Mensch in diesem Aufzug in die
abgebildete Position begeben und sich dabei auch noch ablichten lassen? So verwundert es
kaum, dass Slavoj Žižek das Arrangement auf dem Foto auf den ersten Blick für eine art
performance hielt:
Als ich zum ersten Mal das bekannte Foto des nackten Gefangenen sah, der, den Kopf mit einer
Schwarzen Kapuze bedeckt und die Gliedmaßen mit Stromkabeln versehen, in einer lächerlich
theatralischen Pose auf einem Stuhl steht, dachte ich zunächst, es handele sich um ein künstlerisches
Ereignis in Lower Manhattan.379
Schließt man als Betrachter aufgrund des mitgelieferten sozialen Kontextes das Vorliegen
einer freiwilligen Performanz aus, so bleibt eigentlich nur noch die Möglichkeit, dass der
Abgebildete gezwungen wurde, sich in diese Position zu begeben. Offensichtlich befindet sich
der Gefangene in einer von seinen Peinigern inszenierten Situation, in der er – durch
Drohungen gezwungen – das Gleichgewicht auf dem schmalen Paket halten soll. Bei den
Drähten, die von den Fingern zu den Leitungen in der Wand gehen, könnte es sich um
Stromkabel handeln, was nahe legt, dass das Opfer jederzeit Stromschläge bekommen
379
„Die Amerikaner kontrollieren gar nichts! Nicht mal sich selbst! Warum Comical Ali recht behalten hat:
einige Überlegungen über Abu Ghraib und das Unbewusste in der Popkultur“, Berliner Zeitung, 23. Juni
2004. Im Original: „Between Two Deaths. The Culture of Torture“, London Review of Books, 3. Juni 2004.
382
könnte.380 Die Bedrohung durch Stromschläge erinnert an ein in manchen amerikanischen
Bundesstaaten nach wie vor eingesetztes Hinrichtungswerkzeug, den elektrischen Stuhl,
weswegen es auch wenig überrascht, dass dieses Motiv auch bei der Rezeption der Bilder eine
Rolle spielte (7.1.3). Die Kapuze, bei der es sich im Übrigen um einen zweckentfremdeten
Schlafsack handelte, raubt dem Opfers nicht nur Sicht und Orientierung, sondern
beeinträchtigt auch seinen Gleichgewichtssinn. Dies erleichterte es den Soldaten, sich die
Willfährigkeit des verunsicherten Opfers zu erzwingen.381 Aus der Perspektive des Opfers
kommt die sensorische Deprivation bei gleichzeitigem Ausgeliefertsein an die Täter einem
Verlust von Welt und einer Erfahrung von Ohnmacht gleich – nicht unähnlich dem
„unmaking of the world“, das Elaine Scarry (1985) zufolge durch extreme Schmerzen
herbeigeführt werden kann. Die Daueranwendung dieser Verhörtechnik kann zu
Halluzinationen und Psychosen führen. In der Perspektive des Täter nimmt die Verhüllung
dem Opfer sein menschliches Antlitz und damit den körperbildlichen Ausdruck seiner
Personalität (vgl. 2.1.2-3). Durch die Technik des „hooding“, die übrigens im Zuge des
Skandals von der Armee in Abu Ghraib verboten wurde,382 wird das Opfer entmenschlicht
und entindividualisiert. Das Opfer präsentiert sich dem Täter nunmehr als ein bloßes „Ding“.
Die nackten Füße, die offenen Handflächen und der entblößte Hals sind das einzige, was wir
vom Körper des Gefangenen sehen. Die ausgestreckten Arme führen zu einer offenen
Körperhaltung, die in anderen Kontexten als Begrüßung oder Segen interpretiert werden
könnte, hier aber die Verletzbarkeit des Körpers zur Schau stellt. Die Darstellung bewegt sich
damit im Spannungsfeld zwischen der weitgehenden Verhüllung des Opfers und seiner
existenziellen Nacktheit.
7.1.2. Die Rolle des Fotographen und die Ikonographie der Inszenierung
Von der Fotografie lässt sich auf einen Fotografen schließen, bei dem es sich um einen der
380
Allerdings war das Drohmittel des Elektroschocks, zumindest laut dem offiziellen Bericht, nicht durch eine
entsprechende Aktionsmacht gedeckt. Bei den Drähten handelte es sich lediglich um Attrappen, die
allerdings nichtsdestotrotz dem Aufbau einer Drohkulisse dienlich waren.
381
Das amerikanische Verteidigungsministerium hat sowohl die Verhüllung („Hooding during transport &
interrogation“) und die Täuschung („Deception“) von Gefangenen, als auch die Drohung mit den Ängsten
der Gefangenen („Inducing stress by use of detainee’s fears“) als Verhörtechniken für den Gebrauch in
Guantanamo und Afghanistan ausdrücklich gestattet (vgl. die Memos 16-21 in Greenberg & Dratel 2005:
223-237, aber auch die Liste auf Seite 1239). Nicht alle diese Techniken waren auch für die
Militärgefängnisse im Irak freigegeben. Dennoch fand eine regelrechte „Migration“ von Foltertechniken in
den Irak statt (vgl. Schlesinger 2005/2004: 911; siehe auch 8.5.2).
382
„Early signs were given secondary priority“, USA Today, 10. Mai 2004.
383
Täter handeln könnte. Ja, es muss sogar von einer Komplizenschaft zwischen Kamera und
Täter ausgegangen werden, die durch das Medium der Fotografie begünstigt wird: Wer
fotografiert, beobachtet. Wer beobachtet, greift zunächst einmal nicht ein. Der Fotograf bringt
sich auf Distanz zur Welt und dokumentiert diese, statt sie zu verändern.383 Wer in einer
Situation, in der Menschen gedemütigt werden, zur Kamera greift, statt dem Opfer zu Hilfe zu
eilen, macht sich selbst schuldig. Dass der Habitus des Täters und des Fotografen in diesem
Bild zusammenfallen, zeigt sich unter anderem daran, dass diese abgebildete Situation nicht
nur inszeniert wirkt, sondern vermutlich auch mit Blick auf das Foto arrangiert wurde. Damit
dreht sich das Verhältnis von Theorie und Praxis, Urbild und Abbild, Ursache und Wirkung
um. Die antizipierte Fotografie wird zur Ursache dieser spezifischen Form von Folterpraxis.
Die Kamera wird produktiv, so dass von einer reinen Dokumentation der Wirklichkeit nicht
mehr die Rede sein kann.384
Inwiefern handelt es sich nun bei der fotografisch dokumentierten und inszenierten Szene
aber um eine Form der Erniedrigung oder gar der Folter? Zunächst ist einmal festzuhalten,
dass das Opfer von den Tätern in seiner Position fixiert und auf eine völlige Passivität
reduziert wird, während seine Peiniger über seinen Körper absolut verfügen können. Die
Situation des Opfers wurde ihm von seinen Peinigern auferlegt. Aufgrund von Schmerz- oder
gar Todesdrohungen sah es sich gezwungen, diese Position einzunehmen und in dieser zu
auszuharren. Diese Haltung fordert vom Opfer äußerste Anstrengungen, sie führt zu
Ermüdung und verursacht Schmerzen. In der Abweichung der Arme von der idealtypischen
Kreuzform kommt die Anstrengung und Ermüdung des Opfers zum Ausdruck. Eine genauere
Untersuchung bringt die perfide Logik der Situation zum Vorschein. Es geht hier nicht darum,
dem Gefangenen durch die Anwendung äußerlicher Gewalt Verletzungen zuzufügen.
Vielmehr verlegt die hier angewandte Technik die Gewalt in den Körper des Gefangenen, der
sich die Schmerzen selbst zufügt. Die Drohung der Anwendung äußerster Gewalt mobilisiert
Ängste, welche das Opfer dazu antreiben, in einer Stellung zu verharren, welche ihm
andauernde Qualen verursacht. Wolfgang Sofsky beschreibt anschaulich, wie sich durch
383
Der „Bildakt“ (Bredekamp 2010) selbst muss auch als wirksame Handlung aufgefasst werden, die in die Welt
eingreift und Fakten schafft. Gerade das Beispiel des Abu-Ghraib-Skandals zeigt, das Bildakte gravierende
Konsequenzen nach sich ziehen können (vgl. Bredekamp 2010: 227f.).
384
Dieser grundlegende Wandel – vom Gewaltakt zum Bildakt – ist insbesondere im Krieg gegen den Terror
offensichtlich geworden (Bredekamp 2010: 224ff.). Die symbolische Wirkung der Anschläge von Terroristen
sind auf die Augen der Weltöffentlichkeit und Kameras angewiesen. Es werden Inszenierungen geschaffen,
um im Bilde gesehen zu werden, so z.B. bei der Inszenierung des Triumphes im Irak (6.5.1) oder der
Enthauptung des amerikanischen Soldaten Nick Berg (vgl. Bredekamp 2005, siehe auch 8.4.3).
384
dauernden Schmerz „das Selbstverhältnis des Menschen“ verändert, von der „Zerstörung der
subjektiven Welt“ über das „Zerbrechen des leiblichen Selbstbezugs“ bis hin zur nackten
Verzweiflung:
Ein tiefer Riss zerspaltet die Mitte der Person. Der angstvolle, gequälte Leib wird selbst zum Feind, zum
inneren Feind des Menschen. Er widersetzt sich jeder Anstrengung des Willens. Die Kraft zum Handeln
ist dahin. Der Verzweifelte kann nicht mehr, so sehr er zu wollen versucht. Er verzweifelt an sich selbst,
an seinem Leib. In dieser Ohnmacht besteht die physische Grundlage des negativen Selbstverhältnisses,
das wir Verzweiflung nennen. (Sofsky 1996: 77)
In der Folter wird die Wurzel, in der physische und personale Integrität zusammenlaufen,
gekappt. In der hier gezeigten Foltertechnik wird die Verzweiflung, die den eigenen Körper
zum Feind macht, noch einmal gesteigert. So muss der Gefangene den Anweisungen seiner
Wärter Folge leisten, wenn ihm Leib und Leben lieb ist. Es werden vermutlich Drohmittel
verwendet, um ihn zur Anwendung von Gewalt gegen sich selbst zu motivieren; sein ihm
verbliebener Wille, seine Kraft zu Handeln wird nicht völlig zerstört, sondern gegen ihn
gewendet; kurz: er ist gezwungen, sich selbst Schmerzen zuzufügen, um noch größerer Pein
oder gar dem Tod zu entgehen. Die abgebildete Situation folgt einer Logik des Panoptismus,
wie sie von Michel Foucault in Überwachen und Strafen herausgearbeitet wurde (2003: 251294): So kann auch unser Gefangener seine Wächter und Peiniger nicht sehen, während er für
diese durchaus sichtbar und überdies verwundbar ist. Aber er weiß um diese seine
Sichtbarkeit und Verwundbarkeit. Da er die Wächter nicht sehen kann, ist deren Anwesenheit
nicht unbedingt erforderlich. Der Gefangene kontrolliert sein Verhalten, als ob er von außen
gesehen werden würde.385 Die Androhung von Gewalt genügt, um das Opfer in eine Situation
zu zwingen, in der es sich selber diszipliniert und Schmerzen zufügt.386 Die abgebildete
385
Dieses besondere Arrangement, welches die Bestrafungs- und Überwachungsinstanz in den Körper des
Delinquenten verlagert, kommt bei Foucault in der architektonischen Gestalt von Benthams Panopticon
besonders prägnant zum Ausdruck. Dessen Hauptwirkung besteht in der „Schaffung eines bewussten und
permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht
sicherstellt“, wodurch ein Machtverhältnis entsteht, „welches vom Machtausübenden unabhängig ist; die
Häftlinge sind Gefangene einer Machtsituation, die sie selber stützen“ (2003: 258). Allerdings ist auch dieses
Machtverhältnis nicht freischwebend, da nicht alleine die potenzielle Anwesenheit des Wächters für die
Kontrolle des Gefangenen erforderlich ist, sondern diese Macht von Zeit zu Zeit auch demonstriert werden
muss, um die Glaubwürdigkeit des Kontrollszenarios aufrechtzuerhalten.
386
Während der fremdinduzierte Schmerz dem Glauben Vorschub leistet, dass der Körper das Gefängnis der
Seele sei, lässt der selbstinduzierte Schmerz moderner Foltertechniken die Seele als das Gefängnis des
Körpers erscheinen. Diese Verlagerung der Macht in die Körper der Subjekte und die damit einhergehende
Selbstdisziplinierung ebendieser hält Foucault – entgegen der verbreiteten These von der Humanisierung des
Strafvollzugs – für einen Grundzug der Moderne (2003; hierzu kritisch Joas 2008). Zumindest im Falle der
modernen Folter ist man geneigt, Foucault zuzustimmen: Techniken, welche die Marter in den Körper des
Opfers legen, sind keineswegs humaner als direkte Formen der Gewaltanwendung.
385
Technik gehört als „stress position“ zum Standardrepertoire der modernen Folter.387 Ihre
Anwendung hat das amerikanische Verteidigungsministerium im Dezember 2002 für die
Dauer von bis zu vier Stunden für zulässig erklärt (Greenberg & Dratel 2005: 223-237,
1239).388 Die Fotografie nimmt in unserem Fall die Außenperspektive der Wächter und
Peiniger ein. Sie verweist damit auf den inneren Blick, den der Gefangene auf sich selbst
richten muss. Dieser bekommt zwar nicht mit, ob er gesehen oder fotografiert wird, in seiner
Haltung – er muss relativ bewegungslos auf einer kleinen Kiste verharren, um nicht von
dieser herunterzufallen – ähnelt er aber dennoch jemandem, der sich in eine fotografische
Pose begibt.. Die erzwungene Selbstdarstellung des Opfers ist eine Inszenierung der Täter.
Die Haltung des Gefangenen erscheint nicht nur künstlich wie eine Pose, sondern wirkt auch,
nicht zuletzt aufgrund seiner Kostümierung, lächerlich. Der Lächerlichkeit preisgegeben, wird
das Opfer erniedrigt und seiner personalen Würde beraubt, die gerade in der autonomen
Selbstdarstellung des Individuums zum Ausdruck kommt (3.2). Allerdings zeigt die
Rezeption des Bildes, dass gerade die Haltung des Opfers an ikonographische Vorbilder
anknüpfte und dadurch seine inhärente Würde zum Ausdruck bringen vermochte.
7.1.3. Zur ikonographischen und ikonologischen Analyse der kulturellen Muster
In den bisherigen Ausführungen fand schon der ein oder andere Vorgriff auf ikonographische
und ikonologische Aspekte des Bildes statt. Im folgenden Abschnitt sollen einige Bildmotive
aus der christlichen Ikonographie, der amerikanischen Populärkultur und dem arabischislamischen Kulturkreis beleuchtet werden, die sowohl die Produktion als auch die Rezeption
dieses Bildes beeinflusst haben. Kulturelle Muster, die für die Produktion der jeweiligen
Bilder bedeutend (und das heißt vor allem: ursächlich wirksam) gewesen sein könnten,
müssen von solchen unterschieden werden, die nur für den Rezipienten eine Bedeutung
gewinnen können, wenn auch Überschneidungen durchaus möglich sind. An der Produktion
von Körperbildern ist in der Regel nicht nur der abbildende Fotograf, sondern auch die
387
Der iranisch-amerikanische Politikwissenschaftler Darius Rejali (2007) hat in seiner Monografie über das
Verhältnis von Folter und Demokratie den historischen Wandel der Foltertechniken als Entwicklung von der
sichtbaren Folter, die auf einer direkten Anwendung von Gewalt beruht, hin zur „invisible torture“, die
insbesondere auf „stress positions“ zurückgreift, eindrücklich beschrieben. Der Begriff „Stress“ drückt diese
neuartige Belastung, die aus der Internalisierung von Macht und Gewalt resultiert, angemessen aus. Die
sogenannten „stress positions“ verursachen Stress, weil sie den Körper gegen sich selbst aufbringen.
388
Dem Memorandum vom 27. November 2002, in dem der Gebrauch sogenannter „counter-resistance
techniques“ genehmigt wurde, fügte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld noch eine handschriftliche
Notiz hinzu, die nach der Veröffentlichung der Memo für einen kleinen Skandal sorgte: „However, I stand
for 8-10 hours a day. Why is standing limited to 4 hours? D.R.“ (Greenberg & Dratel 2005: 236f.).
386
abgebildete Person beteiligt (2.1.4). Aber in unserem Fall ist das Opfer fast vollständig zum
Werkzeug des Täters geworden, da es seiner Selbstdarstellung – und damit auch seiner Würde
(3.2) – beraubt wurde. Es lassen sich zwei Gruppen von Bildmotiven unterscheiden:
Einerseits religiöse Motive, die hier als erstes zu behandeln sind, andererseits popkulturelle
Motive, deren Resonanzen in der populären Imagination der Vereinigten Staaten daran
anschließend nachzugehen ist. Auf die Frage, warum gerade dieses Bild zur Ikone des
Skandals wurde, gibt die Journalistin Sarah Boxer eine vielschichtige Antwort:
Why this image above all the rest? It is far from the most violent, but easily the most graphic. You need
less than a second’s glance to know exactly what it is. The triangle of the hood silhouettes sharply against
the hot pink or chartreuse background of a fake iPod ad. Andy Warhol himself could not have done
better. It holds its own on murals meant to be read from far away. It plays well against the Statue of
Liberty. It suggests Christ on the cross. And, best yet, the hooded figure in the photograph is on a
pedestal. It is already an icon.389
Boxer macht darauf aufmerksam, dass die Figur aufgrund ihrer schwarzen, dreiecksförmigen
Silhouette eine ikonische Prägnanz und Qualität besitzt, die ihren Wiedererkennungswert
sichert und für künstlerische Nachahmungen attraktiv macht (9.4). Neben der ironischen
Bemerkung, dass die Figur schon für sich genommen eine Ikone sei, weil sie auf einem
Podest stehe, verweist Boxer auf ikonographische Motive, die für die kulturelle Resonanz des
Bildes von großer Bedeutung waren – allen voran das Motiv des gekreuzigten Christus. Der
Bildtheoretiker W.J.T. Mitchell ging der christlichen Symbolik des Bildes, die in der
Rezeption des Bildes nachhallte, in einem Zeitungsartikel nach:
Why has this image become the icon of the moment and possibly a historical marker? It’s what we used
to call a “Christ figure” evoking a long history of images that unite figures of torture and sacredness or
divinity. This is not the crucified or resurrected Christ, but a figure from the Passion plays, the staging
and humiliation of Jesus.390
Während sich Mitchell hier noch gegen die Lesart des Bildes als einer Kreuzigungsszene
ausgesprochen hatte, wurde diese in seinen späteren Arbeiten zum selben Thema ausdrücklich
mit einbezogen (2011: 150-157). Obgleich es unwahrscheinlich ist, dass die Soldaten das
Christus-Motiv bei der Inszenierung der Pose des Gefangenen bewusst aufgriffen, wissen wir,
das die Fotografin des Bildes, Sabrina Harman, nach eigenen Angaben an Jesus Christus
dachte, als die den Auslöser ihrer Kamera betätigte (vgl. Mitchell 2011: 114). Damit muss
dem kulturellen Muster auch eine ursächliche Wirksamkeit an der Produktion der Fotografie
zugestanden werden. An der allgemeinen christomimetischen Deutung des Bildes besteht
389
„Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal”, The New York Times, 13. Juni 2004.
390
„Echoes of a Christian symbol. Photo reverberates with the raw power of Christ on cross“, Chicago Tribune,
27. Juni 2004.
387
wenig Zweifel, wenngleich sich die einzelnen Lesarten in ihren Details unterscheiden. So
spricht der Kunsthistoriker Gerd Blum im Bezug auf das Foto von einer „imago pietatis“, den
Darstellungen des sogenannten „Schmerzensmann“, „in denen die abwärts in einem Winkel
von 45 Grad abgespreizten Arme einer frontalen Leidensfigur zu einem in der christlichen
Kunst hundertfach wiederholten Motiv geworden sind“ (2004: 32). Was die Resonanz des
Kreuzigungsmotives noch verstärkte, war die Ausstrahlung von Mel Gibsons Film The
Passion of the Christ (2004) im Vorfeld des Skandals.391 Auch Steve Caton liest die Bilder
von Abu Ghraib vor dem Hintergrund von The Passion und zitiert folgende Passage aus
einem iranischen Blog: „[This] theatrical play features ‚The passion of the Christ‘ in Abu
Ghraib prison, performed simultaneously in many other prisons in the region“ (2006: 121).
Dieses Zitat zeigt unter anderem, dass das kulturelle Motiv der Kreuzigung keineswegs auf
christlich geprägte Gesellschaften beschränkt ist, sondern mittlerweile auch zum
popkulturellen Bildervorrat der Weltgesellschaft gehört. Allerdings unterscheidet sich die
christliche Rezeption dieses Motivs von jener in der arabischen Welt. Während die christliche
Botschaft des Bildes in den Vereinigten Staaten subversiv gegen seine Produzenten und
seinen Entstehungszusammenhang gewendet wurde, erscheint sie in dem Blogbeitrag als eine
Fortsetzung des militärischen und kulturellen Imperialismus eines christlich geprägten
Westens.
Es gibt jedoch noch weitere religiöse Deutungsmöglichkeiten. Im islamischen Kontext
lässt sich die Verhüllung des Opfers auf zwei Weisen interpretieren: Sie kann zum einen als
Inszenierung einer weiblichen Verschleierung und damit als Erniedrigung des männlichen
Opfers gelesen werden (Petchesky 2005: 313), zum anderen aber auch als imitatio des
verschleierten Propheten Mohammed (Mitchell 2011: 158, vgl. auch die achte Abbildung in
der Mitte des Buches), was, wie auch im christlichen Fall, auf eine Sakralisierung des Opfers
hinauslaufen würde.392 Eine weitere Deutung mit religiösen Konnotationen zieht die Bilder
Francisco de Goyas von der Inquisition in Spanien heran. Nur zwei Tage nach der
Veröffentlichung der Abu-Ghraib-Fotos wies der Kritiker Jeff Sharlet auf die Ähnlichkeit des
Abu-Ghraib-Bildes mit einer Zeichnung des spanischen Malers hin,393 was auch von anderen
391
Mitchell spricht von eine „uncanny coincidence“, welcher die Araber und Muslime auf eine subversive
Weise in die Position von Jesus Christus rücke (Mitchell 2011: 155f.).
392
Mitchell zufolge stellt der „hooded man“ eine Synthese aus den drei semitischen Weltreligionen dar, die im
„Global Holy War on Terror“ eine Rolle spielen (2011: 158f.).
393
„Pictures from an Inquisition“, The Revealer, 30.4.2004.
http://www.therevealer.org/archives/revealing_000355.php; letzter Zugriff am 12.12.2009.
388
Beobachtern bemerkt wurde (Blum 2004: 32f.; Eisenman 2007: 12-16).394 Aber auch ohne
expliziten Verweis auf Goya fand das Motiv vielfach Erwähnung, beispielsweise bei Smith,
der von einer „Inquisition-like figure“ spricht (2008b: 161), oder bei Philip Kennicott, der nur
wenige Tage nach der Veröffentlichung des Bildes in der Washington Post über eine
mögliche Bedeutung des Inquisitionsmotivs spekulierte:
Is it an accident that the man in the hood, arms held out as if on a cross, looks so uncannily like
something out of the Spanish Inquisition? That they have the feel of history in them, a long, buried, ugly
history of religious aggression and discrimination?395
Sowohl Sharlet und auch Kennicott bedienen sich des Inquisitionsmotivs, um Parallelen
zwischen der religiösen Verfolgung im Mittelalter und dem religiösen Eifer des Krieges
gegen den Terror aufzuzeigen. Diese unheimliche Vertrautheit mit den Bildmotiven, die sich
auf ein unerwartetes Wiedererkennen zurückführen lässt, trifft auch auf die anderen,
„amerikanischeren“ Deutungsmustern zu, wie beispielsweise Halloween, der Ku-Klux-Klan
oder der elektrische Stuhl. Philip Gourevitch und Erol Morris lenken unsere Aufmerksamkeit
auf die karnevalesken und gespenstischen Züge der fotografierten Gestalt: „It is an image of
carnival weirdness: this upright body shrouded from head to foot; those wires; that pose; and
the peaked hood that carries so many vague and ghoulish associations“.396 Sie wirkt wie eine
der Lächerlichkeit preisgegebene „Vogelscheuche“,397 oder wie ein dunkles Gespenst, das die
„böse Natur“ des Gefangenen zum Ausdruck bringen soll.398 So besehen lässt sich die Gestalt
394
Der Kunsthistoriker Stephen Eisenman warnte allerdings eindringlich vor einer Überbewertung dieser
oberflächlichen Übereinstimmungen, da den Bildern von Goya eine völlig andere Absicht („purpose“) zu
Grunde gelegen habe (2007: 13f.). Stattdessen schlägt er vor, dieses und die anderen Bilder von Abu Ghraib
als vor dem Hintergrund einer Wiederkehr der abendländischen Pathosformel zu deuten, die eine
Identifikation mit den Opfern auf den Bildern erschwerten. Seinen Einwänden ließe sich allerdings
entgegenhalten, dass die Bedeutung eines Kunstwerks sich nicht alleine auf die Intention des Künstlers
reduzieren lässt (dies gilt auch für kulturelle Artefakte wie die Abu-Ghraib-Bilder, die im strengen Sinne
natürliche keine Kunstwerke sind).
395
„A Wretched New Picture Of America; Photos From Iraq Prison Show We Are Our Own Worst Enemy“,
The Washington Post, 5. Mai 2005.
396
Gourevitch, Philip, & Morris, Errol: „Exposure. The woman behind the camera in Abu Ghraib”, The New
Yorker. 24. März 2008.
397
Man könnte an die „scarecrow“ aus The Wizard of Oz denken oder aber an den gleichnamigen Antagonisten
aus Batman. Oder sogar an die Figur des Batman selbst, worauf Aleida Assmann einmal hingewiesen hat.
398
Hier sind die Ausführungen von Karl Rosenkranz zum Gespenstischen als einer ästhetischen
Erscheinungsform des Bösen instruktiv (2007: 316-331). Das Gespenstische oder der „Widerspruch, dass das
Tote dennoch lebendig sein solle“ (2007: 316f.), weist zudem Ähnlichkeiten mit Agambens Figur des „homo
sacer“, dessen „nacktes Leben“ an der Grenze von Leben und Tod angesiedelt ist (2007/1995). Žižek vertritt
im Anschluss an Agamben die These, dass sich die Gefangenen im Krieg gegen den Terror „zwischen zwei
Toden“ befinden, „Between Two Deaths. The Culture of Torture“, London Review of Books, 3. Juni 2004;
389
als eine Verkörperung des Gespensts des Terrors deuten, das seit dem 11. September 2001 die
Vereinigten Staaten heimsucht. In der populären Imagination hatte der islamistische
Terrorismus – wenn man einmal von Osama bin Laden absieht – kein Gesicht. In der
Verhüllung des Gesichtes wird dem Opfer nicht nur die eigene Persönlichkeit aberkannt,
sondern es bekommt zugleich das Aussehen eines anonymen Feindes verpasst, der als solcher
notwendig gesichtslos bleiben muss. In der Inszenierung des Opfers als einem Gespenst
materialisiert sich die ungreifbare Bedrohung des Terrors. Die Stilisierung des Gefangenen zu
einer Figur des Bösen wird von seiner hilflosen und lächerlichen Stellung auf dem Paket
konterkariert. Diese eigentümliche Inszenierung kann als ein ritualisiertes Verlachen des
Bösen gedeutet werden – nicht umsonst erinnert die Gestalt an das amerikanische Fest des
Halloween, das vier Tage vor dieser Szene auch von den Soldaten in Abu Ghraib gefeiert
wurde.399 Die Inszenierung des Gefangenen auf dem Foto lässt sich damit auch in den
Kontext der mittelalterlichen Tradition des „Grotesken“ (vgl. Bachtin 1996) oder der
modernen Gattung der „Karikatur“ stellen (vgl. Rosenkranz 2007: 361-399). Die narrative
Entsprechung dieser Bildmotive ist die „Satire“, welche die Protagonisten sowohl schwach als
auch bösartig erscheinen lässt. Die Mitglieder der 800th MP Brigade, zu der die Täter von
Abu Ghraib gehörten, nannten die anonymen Gefangenen der CIA „ghost detainees“.400 In der
Retrospektive stellt das Gespenstermotiv einen Vorgriff auf die Debatte um „ghost detainees“
und die Geheimgefängnisse der CIA dar (9.1.2), die aus den Enthüllungen von Abu Ghraib
resultierte. Das Motiv des Gespensts findet sich auch im Titel des Dokumentarfilms Ghosts of
Abu Ghraib (2007; vgl. 10.2.2) sowie in dem Theaterstück The God of Hell wieder.401 Die
Abu-Ghraib-Bilder, so schien es vielen Beobachtern, wurden selbst zu Gespenstern, die
Klaus Madlek spricht in Bezug auf Abu Ghraib und Guantánamo gar von einem „Zwischen-Raum des
Untoten“ (2008: 259-261).
399
In seinem jüngsten Buch, das sich eingehend mit den Abu-Ghraib-Bildern beschäftigt, verweist Mitchell auf
eine Halloween-Party, die am 31. Oktober in Abu Ghraib stattfand und zeigt ein Foto eines amerikanischen
Soldaten mit einem aufgemalten Hakenkreuz auf der Stirn, das am Abend der Party geschossen wurde (2011:
110, vgl. auch die dritte Abbildung in der Mitte des Buches). In diesem Zusammenhang erscheint es nur
konsequent, dass in der Herbst-Ausgabe des amerikanischen Satiremagazin The Stranger (2004) auch Kinder
in Abu-Ghraib-Halloween-Kostümen, unter anderem die Ikone des Skandals und Lynndie England mit Leine
(7.3.3),
abgebildet
wurden.
Vgl.
http://www.thestranger.com/seattle/2004s-scariest-halloweencostumes/Content?oid=23399; letzter Zugriff am 27. Februar 2012.
400
„Secret World of U.S. Interrogation; Long History of Tactics in Overseas Prisons Is Coming to Light“, The
Washington Post, 11. Mai 2004.
401
Aus einer Besprechung des Stücks: „The hooded specter of the tortures at Abu Ghraib, for instance,
materializes in Emma’s and Frank’s living room.“ In: “That’s No Girl Scout Selling Those Cookies”, The
New York Times, 17. November 2004.
390
Amerika auch noch viele Jahre nach dem Skandal heimsuchen sollten (vgl. Holzer 2006:
14).402
Die Kopfbedeckung und der Umhang des Gefangenen wecken allerdings auch
Assoziationen an den berüchtigten Ku-Klux-Klan. Die Kostümierung der Gestalt wirkt fast
wie ein (fotografisches) Negativ der weißen Kutte der rassistischen Untergrundorganisation.
Dieses Motiv kommt auf einem in Bagdad anzutreffenden Wandgemälde des irakischen
Künstlers Sallah Edine Sallat zum Ausdruck (Mitchell 2011: 103f., vgl. auch 9.4.1; Apel
2005: 96). Darauf ist eine Freiheitsstatue in einem Ku-Klux-Klan-Kostüm zu sehen, die mit
dem rechten Arm, in dem sie normalerweise die Fackel der Freiheit hoch hält, einen
Stromschalter bedient, der über die Kabel zu dem verkabelten Gefangenen als schwarzem
Gegenstück der weißen Ku-Klux-Klan-Statue führt.403 An das hier auch aufscheinende Motiv
der „electrocution“ knüpft Philip Smith an, der in einer Analyse des Diskurses über den
elektrischen Stuhl eine weitere Lesart des Bildes andeutet: „The connection [of the electric
chair] with torture was repeated in the Abu Ghraib prison scandal” (2008b: 161). Smiths
zufolge hat die „böse“ Aura des elektrischen Stuhls die amerikanische Rezeption der
Fotografie maßgeblich beeinflusst und mit dazu beigetragen, dass gerade dieses Bild zur
Ikone des Skandals wurde. Diese These lässt sich mit einer Szene aus der ersten Staffel der
Fernsehserie Prison Break (2005-2009) stützen, wo ein irakischer Gefangener mit schwarzer
Kapuze und Umhang auf einer Art von elektrischem Stuhl gefoltert wird (10.3.1). Die
Deutung des Bildes vor dem Hintergrund des elektrischen Stuhls lässt sich durch die
kulturelle Resonanz dieses Motives in der amerikanischen Populärkultur plausibilisieren.
Allerdings, und dies war für den ikonischen Status des Bildes wohl entscheidender (2.1.5),
erschöpft sich die Bedeutung dieses Fotos nicht in einem einzelnen Motiv. Aufgrund seiner
ikonischen Prägnanz und seiner ikonographischen Vielschichtigkeit eignet sich der „hooded
man“ in besonderer Weise für künstlerische Nachbildungen. Bezüglich der ikonologischen
Interpretation des Bildes lässt sich zunächst festhalten, dass die Grausamkeit moderner
Foltermethoden und die Demütigung von Folteropfern in dieser Fotografie ihren bildlichen
Ausdruck erhält. Für die Rezeption des Bildes und seine Inthronisierung als Ikone des
Skandals erwies sich aber insbesondere die Ambivalenz des Bildes als entscheidend: Das Bild
zeigt einerseits die schiere Ohnmacht des Gefangenen, schafft es aber andererseits auch, das
402
Z.B. „Regarding the Torture of Others“, The New York Times, 23. Mai 2004.
403
Ein digital verändertes Bild der Freiheitsstatue (diesmal schwarz verhüllt), das die Fernsehzuschauer an Abu
Ghraib erinnern sollte, wurde schon im Mai 2004 in Anti-Bush-Werbespots der Bürgerrechtsgruppe
MoveOn.org eingesetzt, vgl. „Producers decided not to use abuse images in ad“, USA Today, 24. Mai 2004.
391
abgebildete Opfer im Rückgriff auf die christliche Ikonographie zu sakralisieren und dessen
unverlierbare Würde zum Ausdruck zu bringen. Die Indexikalität der Fotografie verbürgt,
dass die hier dokumentierte Szene von dieser Welt ist. Zugleich weist das Bild aber über sich
selbst hinaus: Dem anonymen Opfer wird eine exemplarische Bedeutung zugesprochen, die es
zu einem zeitlosen Zeugnis der Würde des Menschen und ihrer Gefährdungen werden lässt.
7.2. Interpretation II – Die menschliche Pyramide
Brutal, roh und barbarisch wie sie ist, offenbart die Folterung
selbstbewusst (auch dort wo sie dies unbewusst tut) ihr Wesen.
Elaine Scarry, Die Struktur der Folter (1992: 60)
In der Nacht vom 7. zum 8. November hatten mehrere Soldaten zwischen 23:15 und 00:24
insgesamt 29 Fotografien gemacht, von denen einige ebenfalls am 28. April von CBS gezeigt
wurden und anschließend für weltweites Aufsehen sorgten. Auf diesen Bildern sind mehrere
nackte Gefangene zu sehen, die körperlich misshandelt, übereinander gestapelt und zu
sexuellen Handlungen gezwungen werden. Die Köpfe der Gefangenen sind auf den Fotos –
wie bei dem oben analysierten Bild – von Kapuzen bzw. Tüten bedeckt. Allerdings kann man
hier auf mehreren Bildern die Gesichter einiger grinsender amerikanischen Soldaten
erkennen, die auf den Fotos mit den Gefangenen posieren. Im Fay-Jones-Report wird diese
mitternächtliche Bestrafungsaktion, die später unter dem Titel „night shift of Tier 1“
(Schlesinger 2005/2004: 909) bekannt werden sollte, als elfter Zwischenfall angeführt:404
Twenty-nine photos taken between 2315 and 0024, on 7 and 8 November 2003 depict seven detainees
[…] who were physically abused, placed in a pile and forced to masturbate. […] CID statements from
PFC England, SGT J. Davis, SPC Sivits, SPC Wisdom, SPC Harman, DETAINEE-17, DETAINEE-01,
and DETAINEE-16 detail that the detainees were stripped, pushed into a pile, and jumped on by SGT J.
Davis, CPL Graner, and SSG Frederick. They were photographed at different times by SPC Harman, SPC
Sivits, and SSG Frederick. The detainees were subsequently posed sexually, forced to masturbate, and
“ridden like animals.” CPL Graner knocked at least one detainee unconscious and SSG Frederick
punched one so hard in the chest that he couldn’t breathe and a medic was summoned. SSG Frederick
initiated the masturbation and forced the detainees to hit each other. PFC England stated she observed
SSG Frederick strike a detainee in the chest during these abuses. The detainee had difficulty breathing
and a medic, SOLDIER-01, was summoned. SOLDIER-01 treated the detainee and while in the Hard Site
404
Eine Schilderung der Nacht auf Basis von Interviews mit den Tätern, welche die eigentümliche Stimmung
und soziale Dynamik der Nacht zwischen „rasender Gewalt und clownesker Heiterkeit“ einzufangen
versucht, findet sich bei Gourevitch und Morris (2009: 199ff.).
392
observed the “human pyramid” of naked detainees with bags over their heads. SOLDIER-01 failed to
report this abuse. These detainees were not MI Holds and MI involvement in this abuse has not been
alleged nor is it likely. SOLDIER-29 reported seeing a screen saver for a computer in the Hard Site that
depicted several naked detainees stacked in a “pyramid.” She also once observed, unrelated to this
incident, CPL Graner slap a detainee. She stated that she didn’t report the picture of naked detainees to
MI because she did not see it again and also did not report the slap because she didn’t consider it abuse.
(Fay & Jones 2005/2004: 1079)
Die Gefangenen wurden zusammengepfercht, die Soldaten ritten auf ihnen wie auf Tieren und
zwangen sie, sich gegenseitig zu schlagen. Einer der Gefangenen wurde von einem Soldaten
bewusstlos geprügelt und ein weiterer so schwer getroffen, dass er Probleme mit dem Atmen
bekam und ein Sanitäter gerufen werden musste. Der Sanitäter gab später zu Protokoll, dass er
bei der Behandlung des Gefangenen auch Zeuge der auf mehreren Bildern festgehaltenen
„human pyramid“ geworden sei.405 Er habe darin allerdings keine Veranlassung gesehen, den
Vorfall zu melden. Das gleiche gilt für einen an den Missbrauchsfällen unbeteiligten
Soldaten, der ein Bild der „human pyramid“ als Bildschirmschoner auf einem der örtlichen
Computer identifizierte. Offensichtlich wurden derartige Vorfälle nicht als Normverletzung
wahrgenommen – oder unter den Soldaten bestand eine stillschweigende Übereinkunft, solche
Normverletzungen nicht den Vorgesetzten zu melden. Die „night shift on Tier 1“ spielte im
Abu-Ghraib-Skandal eine herausragende Rolle, zum einen weil die hier entstandenen Bilder
wegen ihrer pornographischen Bezüge ein großes Aufsehen erregten, zum anderen aber weil
sie die alleinige Grundlage der Verurteilung der sieben im Zuge des Abu-Ghraib-Skandals
angeklagten Soldaten waren (8.4.1). Auch an diesem Zwischenfall waren, dem Bericht
zufolge, keine Angehörigen des militärischen Geheimdienstes beteiligt. Zunächst sollen die
beiden bekanntesten Bilder der „human pyramid“ in Augenschein genommen werden, bevor
dann zu den eigentlichen Dokumenten sexueller Erniedrigung übergegangen wird (7.3).
7.2.1. Die Pos(s)e – Touristen und Großwildjäger
Auf zwei Bildern sind die nackten Körper von sieben Gefangenen zu sehen, die zu einem
amorphen Fleischberg aufeinandergestapelt wurden. Dahinter posieren jeweils ein Soldat und
eine Soldatin. Beide Bilder lassen sich in eine obere Hälfte, in der die Soldaten posieren, und
405
Der Begriff der „Pyramide“ wurde schon zu Beginn des Skandals, also vor der Veröffentlichung des
Berichts, in der Öffentlichkeit verwendet, so z.B. “U.S. Tries to Calm Furor Caused by Photos; Bush Vows
Punishment for Abuse of Prisoners”, The Washington Post, 1. Mai 2004; “Deborah Norville Tonight 21:00”,
MSNBC, 3. Mai 2004. In einem CNN-Bericht ist von einer “pyramid of shame” die Rede, wobei sich Scham
und Schande hier nicht auf die irakischen Opfer, sondern auf die amerikanischen Soldaten beziehen, vgl. “US
apologies for treatment of Iraqi prisoners have made little difference in Middle East perceptions”, CBS
Evening News (18:30), 7. Mai 2004.
393
eine untere Hälfte, die durch die Körper der Gefangenen ausgefüllt wird, unterteilen.
Insbesondere bei dem zweiten Bild ist diese Unterteilung aufgrund des Hochformats
besonders gut zu erkennen (Abbildung 3). Die Perspektive ist auf beiden Bildern durch den
Fluchtpunkt am Ende des Flures geprägt. Im ersten Bild läuft dieser, auch wenn die Soldatin
im Bildmittelpunkt steht, auf den stehenden Soldaten zu (Abbildung 2), im zweiten Bild läuft
er zwischen den Köpfen der Soldaten zusammen. Im Zentrum der Bilder stehen die Soldaten,
nicht die misshandelten Gefangenen.
Abbildung 2: 7. November 2003, 23:50
Im Hintergrund des ersten Photos ist hinter einem Gitter ein hell erleuchteter Flur zu sehen,
während rechts an der Wand die Kleider der Gefangenen liegen. Der männliche Soldat auf
dem Bild trägt neben seiner Armeekleidung eine Brille, eine schwarze Mütze sowie
türkisfarbene Gummihandschuhe. Er lächelt und posiert für die Kamera, indem er seine Arme
vor der Brust verschränkt und mit dem Daumen seiner rechten Hand nach oben zeigt. Die
Soldatin nimmt eine gebückte Haltung ein, als ob sie hinter den Gefangenen knien würde.
394
Auch sie lächelt in die Kamera und hält, was auf den ersten Blick schwer zu erkennen ist,
ihren linken Daumen über dem Rücken des obersten Gefangenen nach oben. Die Soldaten
sind in einer vertikalen Linie über den Gefangenen angeordnet. Die Gesichter der Gefangenen
sind nicht zu erkennen, da ihnen olivgrüne Tüten über die Köpfe gestülpt wurden. Die
Gefangenen stützen sich gegenseitig ab, um das Gleichgewicht zu halten, ihre
Bewegungsfreiheit ist daher massiv eingeschränkt.
Abbildung 3: 7. November 2003, 23:51
Auf dem zweiten Foto ist die menschliche Pyramide von hinten zu sehen. Im Hintergrund des
Fotos ist die andere Seite des Ganges zu sehen, die dunkler ist, da sie nur von einigen
Neonröhren beleuchtet wird. Eine Tür auf der linken Seite des Ganges ist geöffnet. Der
Fluchtpunkt liegt genau zwischen den Köpfen der Soldaten, deren Oberkörper von einem
395
Quadrat, welches durch die Wand am Ende des Ganges gebildet wird, eingerahmt werden.
Die
in
Abbildung
3
zu
sehenden
entblößten
Hinterteile
sind
nicht
weniger
entindividualisierend als die grünen Plastiktüten auf den Köpfen der Gefangenen. Allein der
Gefangene, der links untern im Bild zu sehen ist, ist auch auf anderen Bildern eindeutig
wiederzuerkennen, da auf seinem rechten Oberschenkel der Schriftzug „RAPEIST“ zu lesen
ist.406 Beide Bilder haben gemeinsam, dass auf ihnen die gestapelten Körper zu einem
Fleischberg verschmelzen, der eine Zuordnung der einzelnen Gliedmaßen erschwert. Die
einzelnen Gefangenen gehen in der amorphen Masse unter, was sie ihrer Individualität
beraubt. Wer individuell dargestellt wird, sind die Soldaten.
Eines der verbreitetsten Motive in der Rezeption der menschlichen Pyramide ist die
„Orgie“, was wohl der Tatsache geschuldet ist, dass hier mehrere nackte Körper
aufeinanderliegen. Eine weitere Assoziation, die vor allem im amerikanischen Diskurs
verbreitet war, ist die Pyramide als eine aus dem Bereich des Cheerleading bekannte Figur.
Azmi Bishara, ein arabisches Mitglied des israelischen Parlamentes, verglich die menschliche
Pyramide hingegen mit den Leichenbergen auf den Fotos von der Befreiung der
Konzentrationslager.407 Wir sehen, dass die Deutung des Körperhaufens je nach kulturellem
Hintergrund und sozialem Kontext variiert. Eine allgemeinere Deutung, die einen Schlüssel
für die Ikonologie der Bilder darstellen könnte, lässt sich über die Figur des „Grotesken“
herstellen. Nach Mikhail Bachtin (1995) lässt sich das Groteske als jene ästhetische Form
verstehen, in der Körpergrenzen verschwinden und existenzielle Gegensätze ineinander
übergehen. Das Groteske stellt somit eine ästhetische Doublette des – ebenfalls von Bachtin
untersuchten – karnevalesken Treibens dar, in dem alle sozialen Unterschiede aufgehoben
oder gar zeitweilig in ihr Gegenteil verkehrt werden. Auch die Grenzbereiche der Sexualität
und der Körperausscheidungen sind hier ein beliebtes Thema. Bachtin konstatiert aber einen
406
Man beachte die falsche Rechtschreibung des Wortes „rapist“ (zu Deutsch: „Vergewaltiger“). Dem mit der
Aufschrift gezeichneten Gefangenen wurde von den Soldaten vorgeworfen, einen minderjährigen Mithäftling
vergewaltigt zu haben. Die Einschreibung der Straftat in den Körper des Beschuldigten zeigt nicht nur, dass
der menschliche Körper ein materieller Trägern von Bild und Schrift sein kann (vgl. 2.1.2), sondern ist
darüberhinaus auch von kulturtheoretischem Interesse. So ist die Einschreibung einer Straftat schon aus der
Bibel bekannt (man denke nur an das Kainsmal) und hat in Kafkas Strafkolonie eine fantastische literarische
Ausarbeitung erfahren. Nach Foucault ist es die „Ordnung des Diskurses“, die sich in die Körper einschreibt
(2003) – wenngleich hier oberflächlich und orthografisch falsch.
407
Aus der palästinensischen Zeitung Al-Hayat Al-Jadida. Eine englische Übersetzung findet sich in „Reaction
and Counter-Reaction to the Abu Ghureib Abuses in the Arab Media“, The Middle East Research Institute,
Special Dispatch Series No. 718; vgl. http://www.memri.org/report/en/0/0/0/0/0/0/1135.htm; letzter Zugriff
am 27. Februar 2012.
396
Verfall des Grotesken in der Moderne, von dem nur noch die „reine Negativität“ übrig
geblieben sei. Der Eindeutigkeitswahn der Moderne habe allen Ambivalenzen den Garaus
gemacht (vgl. auch Bauman 1991). Das Groteske taucht zwar immer wieder auf, so etwa im
Kunstsystem in Form der Abject-Art, darin zeigt sich aber erst recht die moderne
Vereinseitigung des Grotesken. Auch die Bilder der menschlichen Pyramide dokumentieren
dieses moderne Verständnis des Grotesken. Die individuellen Soldaten triumphieren über den
Menschenhaufen; Macht und Ohnmacht, Leben und Tod, Triumph und Erniedrigung werden
fein säuberlich getrennt. Während das Groteske und die sexuellen Ausschweifungen im
Karneval von allen Anwesenden freiwillig angenommen werden, wurden diese Handlungen
den Opfern auf dem Bild aufoktroyiert.
Mit der Figur des Grotesken besitzen wir nun den Schlüssel zur ikonologischen
Interpretation nicht nur der menschlichen Pyramide, sondern auch der Ikone des Skandals.
Das moderne Groteske repräsentiert das Unreine und Böse, das konstitutive Außen einer
Gruppe oder Gesellschaft. Es eignet sich daher gut zur Inszenierung von Feindbildern. Diese
Bilder sind zugleich furchterregend und lächerlich. Der besiegte Feind wird im Akt des
Lachens und Fotografierens noch einmal unterworfen. Das Groteske erfüllt eine Funktion
innerhalb eines Erniedrigungsrituals (3.3.3), aber in seiner Form verweist es zugleich auf den
weltanschaulichen Hintergrund der modernen Gesellschaft.408
Die Soldaten posieren auf den Bildern wie auf Urlaubsphotos, weswegen die Fotografien
an touristische Souvenirs erinnern, wie auch im öffentlichen Diskurs mehrmals bemerkt
wurde.409 Zwischen dem Fotografen (dem abbildenden Bildproduzenten) und den beiden
Soldaten (den abgebildeten Bildproduzenten), herrscht offensichtlich Komplizenschaft und
Eintracht. Der Menschenhaufen zu Füßen der Soldaten lässt sich nicht wirklich als autonomer
Bildproduzent begreifen, da die sieben Gefangenen hier nicht als eigenständige Personen
erscheinen, sondern sich der Inszenierung der Soldaten zu fügen haben. Die Gefangenen
stützen und behindern sich wechselseitig. Nicht alleine die Androhung von Gewalt, sondern
auch das Arrangement minimiert ihren Bewegungsspielraum – und damit die Möglichkeit,
sich als autonomes Selbst auszudrücken. Die Gefangenen sind hier nicht einmal Statisten,
sondern Requisiten einer Inszenierung der Soldaten. Zwischen dem Fotografen und den
408
Diese ikonologische Interpretation beruht auf der Annahme, dass der abgebildete Gefangenenmissbrauch als
rituelle Demütigung verstanden werden kann, die Grenzen zieht und Gemeinschaft stiftet (3.3.3-4).
409
Z.B. „Tourists and Torturers“, The New York Times, 11. Mai 2004; „The McCain Choice“, The Washington
Post, 21. Mai 2004; „My Life as a Guard“, The New York Times, 7. Mai 2004. Zum touristischen Blick vgl.
außerdem die Ausführungen von Bernhard Giesen in den Zwischenlagen (2010: 199-210)
397
beiden Soldaten gibt es eine Übereinstimmung in der Intention wie auch im Habitus – nichts
auf den Fotos lässt auf das Gegenteil schließen (was bei einer subversiven oder ironischen
Fotografie der Fall gewesen wäre). Der Fotograf und die abgebildeten Peiniger arbeiten Hand
in Hand. Die Kamera wird damit zu einem weiteren Folterinstrument, einem Werkzeug der
Demütigung. Die fotografische Aufnahme dieser Szene ist keineswegs zufälliger Natur und
das macht sie in unseren Augen besonders verwerflich:
Intrinsic to the perpetration of this evil is the shamelessness of photographing it. The pictures were taken
as souvenirs and made, some of them, into postcards; more than a few show grinning spectators, good
churchgoing citizens as most of them had to be, posing for a camera with the backdrop of a naked,
charred, mutilated body hanging from a tree. The display of these pictures makes us spectators, too.
(Sontag 2003: 91)
Was Susan Sontag anlässlich einer New Yorker Ausstellung über „photographs of black
victims of lynching in small towns in the United States between 1890s and the 1930s“
festgestellt hat, trifft auch auf diese beiden Fotografien zu. Auch sie wurden zum privaten
Vergnügen aufgenommen, erfuhren dann eine öffentliche Verbreitung und wurden nach dem
Skandal in einem New Yorker Museum ausgestellt (vgl. 9.4). Im amerikanischen Diskurs zu
Abu Ghraib wurde oft auf diese Ähnlichkeit zu den Lynching-Bildern hingewiesen (Apel
2005; Mitchell 2011), unter anderem von Sontag selbst.410 Auch angesichts des Stils der
Bilder gewinnt man leicht den Eindruck, dass sich hier amerikanische Touristen mit einer
fremdländischen Sehenswürdigkeit ablichten lassen, wenn auch diese Erklärung die Spezifik
der Gestik und der Pose unberücksichtigt lässt. Es fällt die performative Demonstration von
Macht auf, wie sie höchstens auf den Urlaubsfotos eines Großwildjägers zu finden wären. Die
geballte Faust mit dem erhobenen Daumen ist ein Zeichen des Triumphes, der getanen Arbeit.
Die Deutung der Fotografien als Trophäen darf nicht außer Acht gelassen werden,
insbesondere da sie eine Kontinuität in der Geschichte der Kriegsfotografie darstellt (Holzer
2006). Als Trophäen erfüllen Kriegsfotografien eine doppelte Funktion: Einerseits halten sie
vergangene Momente des Triumphes fest, andererseits sollen sie auch den Träger bzw.
Produzenten gegen künftiges Unheil wappnen (apotropäische Funktion). Die Fotografien
waren persönliche Souvenirs, aber sie wurden auch als Bildschirmschoner verwendet und den
Kollegen als Trophäen gezeigt – bis sich einer von ihnen an seinen Vorgesetzten wandte
(8.1.1).
410
So beispielsweise in „Regarding the Torture of Others“, New York Times, 23. Mai 2004; andere Journalisten
kamen ihr aber zuvor, z.B. „Abu Ghraib, and America‘s Past“, The New York Times, 16. Mai 2004.
398
7.2.2. Die Gummihandschuhe – Folter als purifizierendes Ritual
Schauen wir uns allerdings die Hände des männlichen Soldaten genauer an, so fällt auf, dass
er auf beiden Bildern türkisfarbene Gummihandschuhe trägt. Gummihandschuhe können
einerseits dem Schutz des Arbeitsgegenstandes vor einer Verunreinigung durch den Arbeiter,
andererseits aber auch dem Schutz der Arbeiter vor einer Verunreinigung durch infektiöses
oder ätzendes Material dienen. In diesem Bild trifft Letzteres zu: Die Gummihandschuhe
markieren die Grenze zwischen dem „reinen“ Körper des Amerikaners und den „unreinen“
Körpern der Gefangenen. Die Verwendung der Handschuhe dient dem Schutz vor Gefahr und
ist zugleich ein Ausdruck von Professionalität. Lässt sich die hier abgebildete Form der
Gewalt und Erniedrigung als ein Ritual begreifen, so handelt es sich bei den Handschuhen um
Paraphernalia.
Durkheim (2005/1912) definierte das Ritual bekanntlich über die Unterscheidung zwischen
dem
„Heiligen“
und
dem
„Profanen“.
Einerseits
liegt
Ritualen
immer
ein
Klassifikationssystem zu Grunde, andererseits muss die Grenze zwischen dem Heiligen und
dem Profanen immer wieder durch Rituale gezogen werden (2.3.2). Neben dem Heiligen, das
sich durch starke, positiv bewertete und kollektive Emotionen auszeichnet, und dem Profanen,
das den Bereich des Gemäßigten, Alltäglichen und Individuellen umfasst, führt Durkheim den
Begriff des „unreinen Heiligen“ ein, der in derselben Weise wie das „reine Heilige“ starke
und kollektive Emotionen hervorruft, die aber negativ bewertet werden (2005/1912: 408f.,
548-555).411 Dieser Doppelcharakter des Heiligen zeigt sich unter anderem im lateinischen
Wort sacer, das sowohl „heilig“ als auch „verflucht“ bedeuten kann. Mary Douglas (1991) hat
im Anschluss an Durkheim Klassifikationssysteme und Rituale untersucht, über die das Reine
und das Unreine voneinander unterscheiden werden. Das Unreine wird bei ihr gerade darüber
definiert, dass es wie das Heilige im profanen Klassifikationssystem einer Gesellschaft keinen
Platz findet (vgl. auch Giesen 2010: 187-198). Douglas hat außerdem – in bester
durkheimianischer Manier – auf die Kontinuität von religiösen Formen in säkularen
Gesellschaften hingewiesen, bei denen der Schmutz an die Stelle des Unreinen getreten ist
und sich die religiösen Gebote in hygienische Vorschriften verwandelt haben.
411
Es gibt nicht nur die Ambivalenz des Heiligen als Anziehendem und Abstoßendem, als mysterium faszinans
und mysterium tremendum (Otto 1987/1917), sondern auch ein Heiliges mit negativem und eines mit
positivem Vorzeichen (vgl. auch Hertz 2007). Beide Dimensionen sind voneinander unabhängig. Das Böse
und die Sünde können in gleicher Weise erschreckend und anziehend sein wie das Heilige und die Tugend.
Darstellungen von Gewalt in den Medien oder moralischen Verfehlungen in Skandalen werden nicht selten
zu einem Spektakel, das auch die Sensationslust der Zuschauer befriedigen kann.
399
Auch Folter lässt sich als ein Gewaltritual beschreiben, bei dem der Körper und die Seele
des Folteropfers die Stelle des heiligen bzw. unheiligen Objekts einnehmen (3.3.4). Der
Gefolterte ist – je nach Perspektive – eine Verkörperung des Bösen oder ein heiliger Märtyrer.
In ähnlicher Weise wie herkömmliche Rituale durch kollektiven Bezug auf das reine Heilige
Solidarität stiften, dient liminale Gewalt und auch Folter der Herstellung von Solidarität
zwischen den Tätern in Abgrenzung von ihren Opfern (vgl. Giesen 2010: 134-136). Wenn die
Täter davon ausgehen, dass sie sich in der Ausübung der Folter im Einklang mit den Normen
und Werten ihrer Gesellschaft befinden, so wird auch die Identifikation mit der übrigen
Gesellschaft verstärkt. Stephen Holmes argumentiert mit Blick auf Abu Ghraib, dass eine
rituelle Perspektive auf Folter gegenüber einem instrumentellen Folterverständnis mehr
Plausibilität besäße:
The claim that torture is meant to intimidate the victims’ community and reassure the community of the
perpetrators cannot easily verified or falsified. But it certainly makes more sense of the observable facts
than the principal alternative, namely that torture was employed and has proved acceptable because of its
utility in extracting information necessary to prevent future calamities. (Holmes 2006: 131)
Die Analyse der beiden Bilder nährt den Verdacht, dass diese Zeugnis und Produkt eines
Gewaltrituals sind. Die aufeinandergestapelten nackten und entindividualisierten Opfer stehen
für das amorphe und schmutzige Böse. Sie liegen als Haufen auf dem Boden, das heißt dort,
wo sonst nur der Müll liegt.412 Der männliche Soldat vollzieht ein Reinigungsritual und bannt
damit das Böse. Die Handschuhe schützen den amerikanischen Saubermann vor einer
Kontamination mit dem Unreinen, während die Tüten über den Köpfen der Gefangenen die
Soldaten vor dem Antlitz ihrer Opfer, ihrer Menschlichkeit und dem eigenen Mitleid
schützen. Darüber hinaus verkörpern die Gummihandschuhe das medizinisch-professionelle
Ethos der Folter, das jedoch von der übrigen Darstellung karikiert wird (7.2.4). Der Terror
muss auf Armlänge vom amerikanischen Körper ferngehalten werden, der Krieg gegen den
Terror darf nicht im eigenen Land, sondern muss woanders geführt werden. Nicht nur gegen
Afghanistan und Irak, sondern auch im Gefängnis von Abu Ghraib oder in Guantanamo Bay.
In den beiden nächsten Abschnitten soll nun die Pose der Soldaten, insbesondere aber die
Geste des erhobenen Daumens, einer detaillierten Untersuchung unterzogen werden.
7.2.3. „Thumbs up“ als Geste des Triumphs und der Dominanz
Hans Belting (2006) hat wiederholt auf die Bildlichkeit des menschlichen Körpers
hingewiesen, die zum einen in der Pose, zum anderen aber in der Gestik und Mimik zum
412
„Müll“ ist eine beispielhafte Verkörperung des Unreinen, die aus dem Klassifikationssystem der Gesellschaft
fällt, da Müll weder heilig noch nützlich ist (Giesen 2010: 187-198).
400
Ausdruck kommt (2.1.2). Eine Geste oder Gebärde ist eine einzelne Körperbewegung, in der
Regel mit dem Arm ausgeführt, die auch als kommunikatives Zeichen verwendet werden
kann, wenn sie über eine hinreichend bestimmte Bedeutung verfügt. Die Mimik bezieht sich
hingegen auf die Form der Gesichtszüge, die in erster Linie dem emotionalen Ausdruck
dienen. Oft reichen Gestik und Mimik aus, um Ablehnung oder Zustimmung zu signalisieren,
während für die nonverbale Übermittlung komplexerer Inhalte eine eigens ausgearbeitete
Gebärdensprache benötigt wird. Aby Warburg (2000) hat sich in seinem Bildatlas Mnemosyne
um die Entschlüsselung der „Bildersprache der Gebärde“ bemüht. Mit dem Begriff der
„Pathosformel“ bezeichnet Warburg prägnante Gesten, in denen der Geist ihrer Epoche zum
Ausdruck kommt und die sich von der Antike über die Renaissance zum Teil bis in die
Gegenwart gehalten haben.413 So erblickte Warburg in den Darstellungen eines dionysischen
Taumelzuges wie auch in den Abbildungen eines imperialen Triumphzuges einen typischen
Ausdruck des römischen Geistes, den „Triumph der Existenz“ in seiner „erschütternden
Gegensätzlichkeit“:
In beiden Symbolen Massenbewegung in der Gefolgschaft eines Herrschers; aber während die Mänade
das im Wahnsinn zerrissene Böcklein zu Ehren des Rauschgottes schwingt, liefern römische Legionäre
die abgeschnittenen Köpfe der Barbaren dem Caesar wie einen fälligen Tribut im geordneten Staatswesen
ein (wie denn auch der Kaiser auf den Reliefs als Vertreter kaiserlicher Fürsorge für seine Veteranen
gefeiert wird). (2000: 4)
Die Schilderung des 1929 verstorbenen Warburg, der selbst von jüdischer Herkunft war,
erinnert uns heute an den „Triumph des Willens“, die Parteiaufmärsche der NSDAP und den
Völkermord an den europäischen Juden, der wenige Jahre später folgen sollte. Sie kann
allerdings auch Assoziationen an die wahllosen Verhöre von amerikanischen Soldaten
wecken, die ihren Vorgesetzten um jeden Preis Informationen zu beschaffen hatten, oder aber
an die gefilmte Enthauptung des Amerikaners Nicholas Berg durch islamische
Fundamentalisten (8.4.2). Weiter heißt es bei Warburg:
Freilich das Colosseum, wenige Schritte vom Konstantinsbogen, erinnert den Römer des Mittelalters und
der Renaissance unerbittlich daran, dass der menschenopfernde Urtrieb im heidnischen Rom seine
Kultstätte erzwungen hatte, und bis auf den heutigen Tag bleibt Roma die unheimliche Doppelheit des
Siegerkranzes des Imperators und der Märtyrer. (2000: 4)
In einer ähnlichen Weise bestimmen nicht nur die Bilder stürzender Saddam-Statuen (6.5.1),
sondern auch die Abu-Ghraib-Fotos unser Bild von den Vereinigten Staaten von Amerika. Es
413
Eine Interpretation der Abu-Ghraib-Bilder im Lichte der antiken Pathosformel von Warburg findet sich bei
Stephen Eisenman (2007), der allerdings zu vorschnell von der Pathosformel auf eine Ineffektivität der
Bilder schließt. W.J.T. Mitchell kritisiert diese voreiligen Folgerungen wie auch Eisenmans unzutreffende
Beobachtung, dass die Abu-Ghraib-Bilder die abgebildeten Leiden durch die Darstellung „schöner Körper“
ästhetisieren (2011: 116).
401
soll im Folgenden nun jene Geste des „thumbs up“, die auch auf den hier analysierte Bildern
zu sehen ist und die an die Gladiatorenkämpfe im Colosseum erinnert, als Pathosformel in
ihrer geschichtlich gewordenen Bedeutung entschlüsselt werden. In alten wie auch neueren
„Sandalenfilmen“ über römische Gladiatoren darf die Symbolik des erhobenen Daumens
nicht fehlen. Das Publikum, welches sich an dem blutrünstigen Spektakel ergötzt, signalisiert
dem siegreichen Kämpfer mit dem erhobenen Daumen, dass er das Leben des unterlegenen
Kämpfers schonen soll, während der nach unten zeigende Daumen seinen Tod verlangt. In der
historischen Wirklichkeit wie auch in der Fiktion gebührte die Entscheidung über Tod und
Leben dem höchsten Würdenträger im Stadion, der aber dem Einfluss des Publikums
ausgesetzt war.
Anthony Corbeill (2004) kommt in seiner neueren Studie über Gestik und Mimik des alten
Roms zu dem Schluss, dass der erhobene Daumen keinesfalls die Schonung des
Unterlegenen, sondern vielmehr sein Todesurteil bedeutete.414 Ihm zufolge rührt die
symbolische Macht des Daumens von seiner Sonderstellung gegenüber den anderen Fingern
her, die der menschlichen Hand erst die Macht des Greifens verleiht und sie so zu einem
vielseitigen Werkzeug macht. Allerdings war die herausragende symbolische Bedeutung des
Daumens in der Antike eine römische Besonderheit, die den Griechen beispielsweise
unbekannt war. Die Geste des erhobenen Daumens kann unter anderem als Imitation einer
Erektion angesehen werden – für seine Verwendung als sexuelle Metapher führt Corbeill eine
Vielzahl von Beispielen an (2004: 49ff.).415 Darüberhinaus war die Stellung der Finger und
des Daumens in der römischen Rhetorik von großer Bedeutung.416 Immer wieder fungierte der
414
Corbeill geht davon aus, dass die Geste sowohl ein kulturelles System als auch der Schlüssel zu einer
bestimmten Kultur darstellt. Seiner Analyse liegen drei Annahmen zu Grunde: Gesten sind niemals rein
willkürlich, sondern besitzen einen natürlichen Ursprung („mimetic principle”); die Bedeutung von Gesten
ist über Raum und Zeit hinweg relativ stabil ist („gestural continuity”); auf Dauer setzt sich eine einheitliche
Bedeutung derselben Geste in verschiedenen Kontexten durch („gestural economy”).
415
In dieser Hinsicht entsprach der erhobene Daumen dem schon damals gebräuchlichen ausgestreckten
Mittelfinger. So konnte ein homosexueller Mann im alten Rom sein sexuelles Interesse an einem anderen
Mann signalisieren, indem er sich mit dem Mittelfinger am Kopf kratzte (Corbeill 2004: 1). Der erhobene
Daumen konnte zudem in beleidigender Absicht verwendet werden und hatte darüberhinaus eine
apotropäische Funktion, wie sie auch den Abu-Ghraib-Bildern als Trophäen zugeschrieben werden kann:
„Originally representing the erect phallus, the gesture conveys simultaneously a sexual threat to the person
toward whom it is directed and an apotropaic means of warding off unwanted elements of the more than
human“(2004: 6).
416
Dies lässt sich insbesondere an der folgenden Empfehlung eines gewissen Capito aufzeigen: „[R]epresent
this finger as exhibiting a kind of moral superiority, as well as a physical one, since, unlike the rest of the
hand, the thumb disdains rings and other forms of luxurious ornamentation”; zu finden bei Macrobius, hier
zitiert nach Corbeill (2004: 43).
402
Daumen als Symbol von Macht und Männlichkeit, weswegen der erhobene Daumen bei den
Römern auch als feindliche Geste verwendet werden konnte (infestus pollux). Die
entgegengesetzte Bedeutung hatte der auf die geschlossene Faust gelegte Daumen, welcher
freundliche Absichten, einen guten Willen oder Gnade signalisierte. Die aus Amerika
stammende Geste des „thumbs up“ und das in Deutschland gebräuchliche „Daumendrücken“
lassen sich, so Corbeill, auf diese beiden Gesten zurückführen. Zwar wird das amerikanische
„thumbs up“ nicht unbedingt als feindliche Geste gebraucht und interpretiert, aber die
Demonstration von Macht spielt dabei immer noch eine wichtige Rolle. Durch den erhobenen
Daumen signalisiert man, dass alles unter der eigenen Kontrolle ist, während es beim
„Daumendrücken“ immer um das unverfügbare Andere geht, wo einem nur noch das Glück
und die Götter helfen können.
Der erhobene wie auch der gedrückte Daumen sind beides Pathosformeln im Sinne
Warburgs, welche über zweitausend Jahre tradiert wurden und dabei auch einige
Veränderungen mitgemacht haben. In gewisser Weise enthält schon die Geste des gestreckten
Daumens die von Warburg konstatierte Ambivalenz, da in ihr zugleich der imperiale Gestus
des römischen Reiches wie auch die Gräuel der Märtyrertode und Gladiatorenkämpfe ihren
Ausdruck finden. Die Pathosformel des gestreckten Daumens hat einen weiten Weg
zurückgelegt, bis sie sich in den Vereinigten Staaten als „thumbs up“ etablierte. In Europa
hatte sie ihre Bedeutung weitestgehend verloren – wenn man von Italien absieht, wo sich ein
anstößiger Gebrauch der Geste noch bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein hatte halten
können – bis dieser schließlich durch das amerikanische „thumbs up“ verdrängt wurde. Auch
die amerikanisch dominierte, globale Medienkultur trug ihren Teil zur weltweiten Verbreitung
des „thumbs up“ bei. Dennoch ist diese Geste in keiner Kultur so verwurzelt wie in der
amerikanischen, was sich an den Reaktionen der amerikanischen Medien auf die Abu-GhraibBilder ablesen lässt.417 Bereits die CBS-Nachrichtensendung am 28. April 2004 erwähnte
diese Geste beim Namen, „thumbs up“, und brachte damit die kollektive Abscheu darüber
zum Ausdruck, dass die Täter von Abu Ghraib diese uramerikanische Geste in diesem
scheußlichen Zusammenhang gebrauchten.418 Die deutsche Presse hingegen sprach nur von
„grinsenden“ Soldaten und schenkte der Geste keine besondere Aufmerksamkeit.
417
Vgl. z.B. „Bush Voices ‚Disgust‘ at Abuse of Iraqi Prisoners“, The New York Times, 1. Mai 2004; „Interview
With One of Doctors Seeing Thomas Hamill in Landstuhl; Interview With Brigadier General Janis
Karpinski“, American Morning (7:00), CNN, 4. Mai 2004.
418
Lässt man in einer Internetsuchmaschine nach Bildern des „thumbs up“ suchen, so wird man auf Bilder von
amerikanischen Präsidenten, Stars und Familien stoßen.
403
Nun können wir der Frage nachgehen, was die uramerikanische Geste des „thumbs up“ auf
den beiden Photographien bedeutet. Zunächst einmal bringt diese Geste die Sozialisation der
Soldaten der amerikanischen Kultur zum Ausdruck. Die Geste verweist damit auch auf jene
amerikanischen Normen und Werte, die auf den Bildern augenscheinlich mit Füßen getreten
werden. Diese Spannung erklärt auch die Aufmerksamkeit, die dieser Geste gewidmet wurde,
wie auch das starke Abgrenzungsbedürfnis gegenüber den Tätern. Man entrüstete sich
darüber, dass sich die Missetäter womöglich noch für gute Amerikaner hielten. Die Soldaten
drohten, mit ihrer Selbstdarstellung die amerikanische Kultur zu kontaminieren, weswegen
der Medienskandal als Selbstvergewisserungsprozess (Wo stehen wir?) und Reinigungsritual
(Ihr gehört nicht zu uns!) von größter Wichtigkeit war (8.2). Nicht nur die Folter der Soldaten,
sondern auch der Skandal lässt sich so als ein öffentliches Ritual des Umgangs mit dem
Unreinen (5.2.2), als Entsorgung des „toxic social spill from Abu Ghraib“ (Mestrovic 2006),
begreifen. Das Abu-Ghraib-Gefängnis wurde im Diskurs selbst zu einem schmutzigen Ort des
Bösen, in dem erst die Schergen von Saddam Husein ihr Unwesen trieben (6.3) – und jetzt die
schwarzen Schafe der amerikanischen Armee.
7.2.4. Heroische Selbststilisierung oder das scheinbare Heldentum
Der erhobene Daumen auf den Bildern konnte als „thumbs up“ und damit als traditionsreiche
Geste des Triumphs entschlüsselt werden. Nun ist von der Bedeutung dieser Geste auf die
„Pose“, das heißt auf die Haltung des gesamten Körpers, überzugehen. Posen sind körperliche
Nachahmungen von inneren und äußeren Bildern, die einem intersubjektiv geteilten
Bildvorrat entspringen. Ein „poser“ ist im Englischen jemand, der so tut, als ob (vgl. die
theatralische Performanz, 2.3.3). Die Pose verweist auf eine Darstellung, die kein natürlicher
und unmittelbarer Ausdruck ist. Für das Bildmedium der Fotografie ist sie geradezu
charakteristisch (2.1.4). Die Gestalt des Gefangenen auf der ersten Abbildung, die
Assoziationen zu einer Vogelscheuche oder zu einem Gespenst zulässt, mutet schon wie eine
Pose an, obwohl das Opfer durch disziplinierende Maßnahmen seines Ausdrucksvermögens
beraubt wurde und so nur passiv zur Bildproduktion beitrug. Bei einer Pose im eigentlichen
Sinne handelt es sich hingegen um eine bewusste Selbstdarstellung, welche dem „intendierten
Ausdrucksstil“ bei Bohnsack entspricht (7.0.1). Daneben lassen sich aber oft auch noch
Elemente eines unintendierter Ausdruckstil beobachten, welche die Bemühungen, die sich
dem intendierten Stil zuordnen lassen, konterkarieren und zunichtemachen können.
Doch zunächst einmal wieder zu dem erhobenen Daumen, der als körperliches Symbol
eine volle Kontrolle über die Situation signalisiert. „Unter Kontrolle“ sind die gestapelten
404
Gefangenen, die der Macht der Wärter unterworfen sind. Die verschränkten Arme des
Mannes auf der zweiten Abbildung stellen ebenfalls eine Machtdemonstration dar, die unter
Umständen auch bedrohliche Züge annehmen kann. Wenn man die Arme vor einem Gegner
verschränkt, baut man sich vor diesem auf und legt es auf eine Konfrontation an. Die
Schultern hängen nicht herab und der Oberkörper wirkt breiter. In Kombination mit der Geste
des „thumbs up“ und dem Grinsen im Gesicht des Soldaten fällt jedoch der Aspekt der
Bedrohung weg – es wird signalisiert, dass schon alles unter Kontrolle ist. Die Pose des
Soldaten – verschränkte Arme, erhobener Daumen – steht also für Stärke und getane Arbeit.
Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Handschuhe, mit denen der Soldat zupacken kann,
ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen.419 Der Mann steht zwar auf der zweiten
Abbildung noch hinter bzw. über der Frau, die bei den Gefangenen kniet und ihren Daumen
über den Haufen hält, aber es kann ihr eigentlich nichts passieren, weil die Arbeit, fein
säuberlich gestapelt, schon vom Mann geleistet wurde. Der erhobene Daumen der Frau, der
als solcher nicht sofort zu erkennen ist, wirkt eher spielerisch. Mit Leichtigkeit scheint sie
über den besiegten Feind, der zu ihren Füssen liegt, zu verfügen. Dies alles wurde vom
Fotografen und seinem Apparat bereitwillig dokumentiert. Während auf der zweiten
Abbildung ein hierarchisches Verhältnis zwischen Mann und Frau herrscht, ist deren
Beziehung auf der dritten Abbildung von partnerschaftlicher Natur. Sie legen sich gegenseitig
den Arm um die Schultern und geben mit ihrer freien Hand ein „thumbs up“. Die Pose steht
für gutes Teamwork, wobei das Produkt dieser Arbeit zu Füssen der Soldaten liegt. Aber auch
hier hat der Mann die Handschuhe an und erweckt damit den Eindruck, die eigentliche Arbeit
geleistet zu haben. Diese Zurschaustellung der eigenen Macht und Stärke, der geleisteten
Arbeit, entspricht der narrativen Figur des „Helden“ (vgl. Giesen 2004c: 15-44; 2010: 76-80).
So können wir uns auch Herakles mit verschränkten Armen, geballten Handschuhen und
erhobenen Daumen vorstellen, nachdem er gerade den Stall des Augias ausgemistet hat.
Genauso mussten die sich auf den Bildern in Szene setzenden „Helden“ in jenem dreckigen
Gefängnis von Abu Ghraib mit dem „Abschaum“ fertig werden.
Die Soldaten auf beiden Photographien, insbesondere aber der Mann, nehmen die Pose
eines Helden an. In den Darstellungen kommt keine Ironie zum Ausdruck, so dass davon
ausgegangen werden muss, dass diese Selbstdarstellung auch dem Selbstbild der Soldaten
entsprach. Dieser intendierte Ausdruckstil, die Selbstinszenierung als Held, gehört zum
419
Dadurch weckt das Bild Assoziationen zum „problem of dirty hands“ (Walzer 1973, 2004), das nach dem 11.
September 2001 im Folterdiskurs vermehrt diskutiert wurde.
405
Habitus der abgebildeten Soldaten. Darüberhinaus kommt aber auch ein Widerspruch
zwischen Wesen und Erscheinung zum Ausdruck: Der intendierte Ausdruckstil wird nämlich
– unintendiert – von der abgebildeten Szenerie konterkariert. Die gestapelten Gefangenen
befinden sich in einer Situation äußerster Hilflosigkeit und Erniedrigung. Gefangene in einem
Gefängnis zu misshandeln ist – zumindest für uns Betrachter – ein Ausdruck institutioneller
Machtverhältnisse, aber sicherlich keine Demonstration von persönlicher Stärke. Helden
müssen sich im Kampf gegen würdige und ebenbürtige Gegner beweisen. Davon ist aber auf
diesen Bildern nichts zu merken. Wir haben es also nur mit einem scheinbaren Heldentum zu
tun, das eine oberflächliche Betrachtung der Bilder sofort entlarvt. Von diesem „scheinbaren
Heldentum“ des Folterns ist noch das „unscheinbare Heldentum“ zu unterscheiden, wobei es
im Folgenden auf die strukturelle Beziehung zwischen diesen beiden Formen ankommt.
7.2.5. Die Rhetorik des Bösen und das unscheinbare Heldentum
„Gut“ und „böse“ als Codierung der Moral zu verwenden, erscheint heute nicht mehr jedem
zeitgemäß. Beide Kategorien umwabert noch die Aura des „Heiligen“ bzw. des „Unheiligen“,
während es in der modernen, säkularisierten Moral vielmehr um moralisch richtiges und
moralisch
verwerfliches
zivilgesellschaftlichen
Handeln
Diskurse
geht.
moderner
Trotzdem
bedienen
Demokratien
dieser
sich
auch
die
simplifizierenden
Schematisierung, wie insbesondere die Studien von Alexander und Smith zeigen (4.3.2). Mit
der kulturellen Figur des Helden geht oft eine Rhetorik des Bösen einher, wie sie nach dem
11. September 2001 wieder verstärkt Einzug hielt (Silverstone 2007: 56-79), die wiederum
vorzugsweise in apokalyptische Narrative eingebettet ist (2.2.2). Für die Interpretation der
Skandalbilder muss diese Rhetorik des Bösen als ein Element des kulturellen Hintergrundes
in Betracht gezogen werden, da sie für die Täter von Abu Ghraib handlungsleitend gewesen
sein könnte. Durch das Ritual der Folter und ihre Selbstinszenierung als Helden haben die
Täter zugleich eine Grenze zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“, dem „Reinen“ und dem
„Unreinen“, den „zivilisierten Menschen“ und dem „Abschaum“, gezogen. Die Figur des
Helden und die Rhetorik des Bösen gehören zu ein- und derselben Weltanschauung, zu
demselben kulturellen System; in ihnen dokumentiert sich ein- und derselbe kollektive
Habitus; und beide entsprechen dem imperialen Gestus der Vereinigten Staaten von Amerika.
Die Publikation der Skandalbilder und die Berichterstattung über Abu Ghraib hat, folgt man
Roger Silverstone, diese Weltanschauung nachhaltig beeinflusst:
There is another side to this of course. One is dramatically revealed, shamefully revealed, in the
puncturing of everyday mediated space, even during the long-running misery generated by the war in
406
Iraq, by the publication of pictures of the torture of Iraqi prisoners in the prison Abu Ghraib. And that is
the presence of evil within. I refer to the otherness of ourselves. Such images break the illusion of virtue
which US and western culture (as indeed all cultures, to some extent) need to preserve themselves. It is an
illusion that is sustained through the projection of evil onto the stranger and its denial to the neighbor or
to the self. Such images as these, circulated with such horror and shame, are there to constrain, at the very
least, the hubris of the imperial powers in Iraq. [...] They fracture the singularity of dominant media
representation, provide an arguably necessary caution, and in doing so they express a certain constancy in
western art and culture. (2007: 57f.)
Indem sie an tradierte kulturelle Muster anknüpfen, brechen diese Bilder zugleich mit dem
Selbstverständnis des amerikanischen Publikums (8.2.1). Silverstone charakterisiert die
gesellschaftliche Externalisierung des Bösen als eine phantasmatische, aber auch konstitutive
Bedingung von Gesellschaften, die allerdings auch pathologische Züge annehmen kann. Die
Abu-Ghraib-Bilder durchbrachen diesen phantasmatischen Schirm, ihre Kommentierung in
den Massenmedien zeigt eine Verkehrung der verkehrten Welt der Folterer: Aus glorreichen
Helden wurden Schurken, aus potenziell bösartigen Terrorverdächtigen unschuldige Opfer.
Wer das Böse im Anderen bekämpft, entdeckt es auf einmal in sich selbst. Diese Erkenntnis
macht Reinigungsrituale erforderlich: Die Quelle des Bösen muss identifiziert und aus der
Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Erst dann ist es möglich, an der Unterscheidung
zwischen „gut“ und „böse“, aber auch an der Tugend der eigenen Armee, festzuhalten – auch
wenn sich einmal ein paar Schurken unter die tadellosen Soldaten gemischt haben sollten.
Stephen Holmes argumentiert in seinem Essay über „Folter im Krieg gegen den Terror“,
dass diese nicht als instrumentelle Verhörtechnik, sondern vielmehr als symbolische
Vergeltung für den 11. September verstanden werden muss (2006). Im Zusammenhang mit
der gesellschaftlichen Akzeptanz der Folter spielt in der amerikanischen Kultur die
Vorstellung eines leisen, unscheinbaren Heldentums („quiet heroism”) eine wichtige Rolle.
Im Zuge der Anschläge vom 11. September 2001 gelangte der heldenhafte Folterer und das
korrespondierende Ticking-Bomb-Narrativ im amerikanischen Diskurs und in der populären
Imagination zu großer Beliebtheit (6.4.3). Unscheinbar oder „leise“ müssen die Folter und
auch der Folterer vor allem deshalb bleiben, weil Folter nun einmal mit der öffentlichen
Moral und der rechtlichen Ordnung liberaler Gesellschaften unvereinbar ist:
The ticking time bomb fable also suggests the quiet heroism of those who, defying moral norms and legal
conventions, chose torture. They sacrifice their scruples for the greater good. They follow the ethics of
responsibility instead of the ethics of conscience. Those who torture (or approve the torture of) prisoners,
according to the implicit storyline, are protecting their fellow Americans from mass death by nuclear
incineration. […] And the once-scorned torturer now appears as a potential savior. This torturer/savior
fusion does not seem all that remote from the self-image of those who support the current U.S. policies of
harsh interrogation. This heroic self-image seems pervasive even though none of the prisoner abuse in
Abu Ghraib, for example, could have contributed in any way to the safety of Americans back home.
(Holmes 2006: 128)
407
Der heroische Folterer ist das dramaturgische Korrelat zum Ticking-Bomb-Narrativ und wird
in beispielhafter Weise durch Jack Bauer in 24 verkörpert (6.4.3; 10.3.2). Die kulturelle Figur
des grenzüberschreitenden, oft im Verborgenen wirkenden, aber zugleich Gerechtigkeit
verkörpernden Helden knüpft an unzählige Muster aus der amerikanischen Populärkultur
an.420 Die gesellschaftliche Anerkennung, die jene für sich in Anspruch nehmen können, die
Gesetze übertreten und Menschen foltern, ist der Schlüssel zur Heldenpose der Folterer von
Abu Ghraib. Allerdings war diese Performanz in der Öffentlichkeit zum Scheitern verurteilt.
Die Pose wirkte selbstgerecht, deplatziert und dadurch obszön, so dass selbst gestandene
Folterbefürworter von den Bildern aus Abu Ghraib erschüttert waren und sie aufs Schärfste
verurteilten (8.2; 10.4). Vor dem Hintergrund des kulturellen Musters des unscheinbaren
Heldentums lassen sich die Missbrauchsfälle auch als intentionale Überschreitungen erklären;
oder, wie es im Fay-Jones-Report lapidar heißt: „Soldiers knew they were violating the
approved techniques and procedures“ (Fay & Jones 2005/2004: 991). Wenn die
Überschreitung moralischer und rechtlicher Normen ein kulturelles Legitimationsmuster
besitzt, wenn Grausamkeit und Skrupellosigkeit im Krieg gegen den Terror zum Ausweis von
Loyalität wird, ist auch davon auszugehen, dass militärische Vorgaben überschritten oder
nicht eingehalten werden. Obwohl die Soldaten von Abu Ghraib nicht unter dem
unmittelbarem Zwang, Informationen zu beschaffen, gehandelt haben, ist von einem kausalen
Einfluss dieses kulturellen Musters auszugehen – selbst wenn letztendlich niederere Motive
wie die Lust am Foltern ausschlaggebend gewesen sein oder die Soldaten am Ende doch auf
Befehl gehandelt haben sollten.
420
In der amerikanischen Medienkultur wird Selbstjustiz oft positiv bewertet, da sie tief im amerikanischen
Mythos verwurzelt ist, insbesondere im sogenannten „frontier myth“. Man denke nur an die Superhelden des
amerikanischen Comics oder aber an die rauen Helden des amerikanischen Westens. Auch der Sheriff fällt in
diese Kategorie, weil er das Gesetz in einer gesetzlosen Welt verkörpert, statt ein unpersönlicher Vollstrecker
des Gesetzes zu sein. In den Serien der neunziger Jahre, wie etwa Knight Rider (1982-1986) und A-Team
(1983-1987), dominieren Helden, die sich entweder außerhalb des rechtlichen Systems bewegen oder sogar
von der Staatsmacht verfolgt werden. Ein jüngeres Beispiel dieser Figur ist der sympathische Serienkiller
Dexter (2006-), der Bösewichte, die „a way to beat the system“ gefunden haben, auf grausame, aber
professionelle Weise umbringt. Die Formulierung „taking out the garbage“ fungiert als Euphemismus für
eine gerechte Tötung. Die Adressierung seiner Opfer als „Müll“ weckt Assoziationen an die menschliche
Pyramide und an Folter als Gewaltritual im Umgang mit dem Unreinen, welches die Gesellschaft bedroht.
Auch die „normalen“ Kollegen von Dexter, der bei der Polizei arbeitet, überschreiten immer wieder die
Grenzen des Rechts und bekommen dafür die Sympathien des Publikums.
408
7.3. Interpretation III – Sexualität, Erniedrigung und Folter
Wir bilden junge Männer aus, um auf Menschen Bomben
abzuwerfen, aber ihre Kommandeure wollen ihnen nicht erlauben,
‚Ficken’ auf ihre Flugzeuge zu schreiben, weil das obszön ist.
Colonel Walter E. Kurtz421
Im Folgenden soll noch auf drei weitere Fotografien eingegangen werden, die im Rahmen der
berüchtigten „night shift“ aufgenommen wurden. Zwei von ihnen zeigen Gefangene, die zu
sexuellen Handlungen genötigt werden. Auf der vierten Abbildung ist ein Gefangener zu
sehen, der zur Masturbation gezwungen wird, während auf der fünften Abbildung ein “blow
job“ zwischen zwei Männern nachgestellt wird. Die sechste Abbildung zeigt schließlich eine
Soldatin, die einen der Gefangenen an einer Hundeleine hält. Auch hier setzte sich eine
sexuelle Deutung als „Domina“ durch, die es angemessen erscheinen lässt, alle drei Bilder
unter dem Gesichtspunkt „Sexualität und Folter“ abzuhandeln. Eine sexuelle Konnotation
schwingt zwar auch auf dem Foto mit, das die menschliche Pyramide aus nackten Gefangenen
zeigt; in den folgenden Bildern wird jedoch explizit auf sexuelle Gesten und Posen
zurückgegriffen. Der Bereich der Sexualität scheint sich zur Erniedrigung von Menschen in
besonderer Weise zu eignen, weswegen zunächst kurz auf das Verhältnis von Sexualität und
sozialer Ordnung eingegangen werden soll (3.1).
Die Kontrolle von sexuellen Handlungen war schon immer ein zentraler Bestandteil von
Gesellschaftsordnungen. Sexualität ist nicht nur für die biologische Reproduktion der Gattung
(nach wie vor) unabdingbar, sondern dient darüberhinaus auch als Mechanismus, über den
soziale und emotionale Bande zwischen Individuen geknüpft und gefestigt werden können
(Collins 2004: 223-257). Sexualität kann aber auch leicht zu einer anomischen Kraft werden,
sodass sie konditioniert und codiert werden muss, um ihrer gesellschaftlich Herr zu werden.
Ähnlich wie die „rohe Gewalt“ scheint auch die „nackte Sexualität“ außerhalb der
Gesellschaft zu stehen und damit die soziale Ordnung zu bedrohen. Die Sexualität gehört
nicht in den profanen Bereich des gesellschaftlichen Lebens, sondern ist mal heilig und rein,
mal unrein und schmutzig. Das Interaktionsritual des Geschlechtsverkehrs findet in der Regel
zwischen zwei Individuen in geschützten, geschlossenen Räumen unter Ausschluss
potenzieller Dritter statt. Aus der Würde des Menschen folgt nach heutigem Verständnis auch
das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Wahrung der sexuellen Identität (3.2; 4.1.4).
421
Die fiktive Figur eines abtrünnigen amerikanischen Offiziers in Coppolas Apocalypse Now (1979).
409
Während das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung eher den Aspekt der Freiheit betont, so ist
die sexuelle Identität an ein Selbstbild geknüpft, dessen Verletzung in modernen
Gesellschaften als entwürdigend gilt. Es gibt aber auch heute noch sexuelle Praktiken, die
gesellschaftlich nicht toleriert und oft auch strafrechtlich verfolgt werden.422 Hier findet das
Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und die eigene sexuelle Identität seine Schranke in der
allgemeinen Idee des normativ Richtigen und der Würde des Menschen, über die sich der
Einzelne nicht hinwegsetzen darf. Während früher auch Homosexualität in den verfemten
Bereich der Unzucht und Sodomie fiel, gilt dies heute beispielsweise immer noch für den
Geschlechtsverkehr mit Tieren.
Schon bei der menschlichen Pyramide fiel uns die Nacktheit der Opfer ins Auge.
Erzwungene Nacktheit gibt den Körper schutzlos den Blicken anderer preis. Sie macht einen
Körper nicht nur verwundbarer gegenüber Gewalt, sondern darüber hinaus auch zum
Gegenstand sexuellen Begehrens. Nacktheit wird in vielen Kulturen dem Bereich äußerster
Intimität zugeordnet und über die Emotion der Scham kontrolliert. Nicht umsonst versuchten
einige der Gefangenen auf den folgenden Bildern, ihre Blöße zu verdecken. Nacktheit ist in
der Regel an liminale Räume und Zeiten gebunden, wie die Sexualität unterliegt sie sozialen
Restriktionen und Konditionen. Der Umgang mit Nacktheit erfordert Takt und nicht selten die
Beachtung bestimmter Rituale und Normen. Gerade im jüdisch-christlich-muslimischen
Kulturkreis, aber nicht nur dort, galt die Nacktheit des Menschen lange als etwas, dessen er
sich nach dem Sündenfall schämen musste. Die Geburtsstunde der Moral, die Erkenntnis des
Guten und des Bösen, fällt damit zusammen, dass sich Adam und Eva ihrer Nacktheit bewusst
wurden, sich ihrer schämten und ihre Blöße bedeckten. Der nackte, natürliche Körper des
Menschen wurde in der philosophischen Tradition lange Zeit als „animalisch“ bezeichnet und
damit abgewertet. Erst wenn seine natürliche Lebensgrundlage gesichert und zugleich
überwunden werde, könne der Mensch als freies, geistiges und moralisches Wesen in
Erscheinung treten. In der Nacktheit kommt zugleich die Verwundbarkeit unserer Existenz
zum Ausdruck – vor allem wenn das Gesicht, der eigentliche Ausdruck der Individualität,
verhüllt bleibt. Erst innerhalb der Kultur kann dem nackten Körper wieder eine neue
Bedeutung zukommen, wie etwa in der Freikörperkultur.
Das „removal of clothing“ gehörte im amerikanischen Krieg gegen den Terror zu den
422
In Deutschland und einigen amerikanischen Bundesstaaten gilt beispielsweise das Verbot des sexuellen
Verkehrs zwischen nahen Verwandten, der sogenannte Inzest, während in Frankreich und anderen Staaten, in
denen der code Napoléon einen großen Einfluss auf die Gestaltung der Rechtsordnung hatte, der Inzest nicht
strafbar ist – ohne das gesellschaftsschädigende Auswirkungen bekannt geworden wären.
410
Verhörtechniken der zweiten Kategorie, die das Verteidigungsministerium im Dezember 2002
– zumindest für Guantanamo Bay – ausdrücklich erlaubt hatte (vgl. Greenberg & Dratel 2005:
223-237). Es war dabei durchaus beabsichtigt, die zwangsentkleideten Opfer Scham
empfinden zu lassen – in der Hoffnung, dass diese sich dann als kooperativ erweisen würden,
um ihre Kleider zurückzubekommen. Nacktheit wurde also als Machtmittel eingesetzt, um
unkooperatives Verhalten zu sanktionieren. Obwohl in den offiziellen Dokumenten explizit
hervorgehoben wird, dass alle Verhörtechniken die humane Behandlung der Gefangenen nicht
gefährden dürften, zeigen nicht zuletzt die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib, dass
erzwungene Nacktheit leicht zu demütigenden Situationen führt.423 Der Fay-Jones-Report
befasst sich mit der unautorisierten Ausbreitung der Verhörtechnik der erzwungenen
Nacktheit von Afghanistan und Guantanamo Bay in den Irak und nach Abu Ghraib. Die
beiden Offiziere verurteilen die Technik zwar nicht prinzipiell, bewerten jedoch ihre
unintendierten Folgen durchaus kritisch:
The use of clothing as an incentive (nudity) is significant in that it likely contributed to an escalating “dehumanization” of the detainees and set the stage for additional and more severe abuses to occur. (Fay &
Jones 2005/2004: 1025)
Die Nacktheit der Gefangenen machte ihre Körper gegenüber sexuellen und gewalttätigen
Angriffen verwundbar und bereitete die Bühne („set the stage”) für die späteren Übergriffe.
Die beiden Autoren verwenden hier – etwas verzagt – ein „slippery slope“- bzw.
Dammbruchargument, wie es auch in der Post-Abu-Ghraib-Folterdebatte eine Rolle spielte
(10.4). Die durch Nacktheit herbeigeführte Demütigung der Gefangenen in Abu Ghraib mag
für sich noch nicht problematisch gewesen sein, allerdings begünstigte sie weitere Formen
Erniedrigung und des Missbrauchs.
7.3.1 Erzwungene Masturbation und symbolische Kastrationsandrohung
In der abendländischen Tradition, aber auch in anderen Kulturen, wurde Masturbation lange
Zeit als „verfemter Teil“ (Bataille 2001) der Sexualität ausgegrenzt.424 Wenn man einmal von
religiösen oder medizinischen Argumenten absieht, kann das Verbot der Masturbation
soziologisch dadurch erklärt werden, dass eine Sexualität, die mit sich selbst ausgelebt wird,
423
Allerdings ließe sich gegen eine derartige Verwendung von Nacktheit als einer Verhörtechnik einwenden,
dass erzwungene Nacktheit in systematischer Weise die Selbstachtung ihrer Opfer verletzt – und damit auch
ihre Würde und Menschlichkeit.
424
Man denke nur an den Paragraphen über die „wollüstige Selbstschändung“ (§7) aus der Tugendlehre in Kants
Metaphysik der Sitten. Bataille zufolge ist alle Sexualität „pervers“, die „von der Genitalität losgelöst ist“
bzw. nicht der Fortpflanzung dient (2001: 12; ; vgl. auch 1986)
411
nicht mehr als Quelle der Solidarität für soziale Beziehungen zur Verfügung steht. Auch wenn
in den letzten Jahrzehnten die Schädlichkeit der Masturbation widerlegt wurde und
Masturbation auch nicht mehr als „wollüstige Selbstschändung“ (Kant), sondern als integraler
Bestandteil des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung gefasst wird, darf nicht unterschätzt
werden, dass in christlichen und muslimischen Kontexten der Akt der Masturbation noch
immer als „unrein“ bzw. „pervers“, als eine Sünde wider Gott und als moralische Verfehlung
gilt.
Abbildung 4: November 2003, 00:14
Auf der vierten Abbildung ist eine Soldatin und eine Reihe nackter Gefangener mit
olivgrünen Plastiktüten auf ihren Köpfen zu sehen. Im Bildhintergrund liegen auf der rechten
Seite die Kleider der Gefangenen an einer Wand, während links oben ein Gitter am Ende des
Ganges zu erkennen ist. Es fällt auf, dass Gefangenen im Hintergrund des Bildes – vor Scham
– ihre Blöße bedeckt halten. Einer der Gefangenen steht im Vordergrund des Bildes. Er ist aus
der Reihe seiner Mitgefangenen hervorgetreten und vollzieht (oder inszeniert) mit seiner
rechten Hand den Akt der Masturbation. Die linke Hand der Soldatin zeigt den erhobenen
Daumen, während an ihrer rechten Daumen und Zeigefinger gespreizt sind, wobei der
gestreckte Zeigefinger auf das Glied des Mannes zeigt; ihr Blick ist auf die Kamera gerichtet.
Der Bildmittelpunkt liegt zwischen der Soldatin und dem vorgetretenen Gefangenen,
gemeinsam bilden sie die szenische Einheit des Fotos. Die Geste der rechten Hand kann
zunächst als ein „thumbs up“ gelesen werden, zusammen mit der linken Hand könnte sie aber
auch nur Teil einer komplexeren Geste sein und so eine zusätzliche Bedeutung annehmen.
Die Geste der linken Hand kann als ein indexikalisches Deuten verstanden werden, aber auch
412
als Androhung einer „Entmannung“425, da ihr linker Zeigefinger wie eine Waffe auf das Glied
des Mannes gerichtet ist, während die rechte Hand einen imaginierten Abzug betätigt. Es ist
von entscheidender Bedeutung, dass die Kastrationsandrohung durch eine Frau in Szene
gesetzt wird.426 Was aber ist ihr Sinn? Einerseits geht es um die Demütigung des Gefangenen,
die mit seiner symbolischen Entmannung einhergeht, andererseits bildet die Geste der
Entmannung mit der Masturbation des Gefangenen eine Einheit, die – so die These – als
Bestrafung der Masturbation gelesen werden kann. Einige Interpreten glauben auf diesen
Bildern zu erkennen, dass die Soldaten ihre „sexuell verklemmten“ muslimischen Gefangenen
einer westlichen Sexualtherapie unterzogen hätten.427 Dieser Gedanke, dass also auf die
„Befreiung“ des irakischen Volkes die sexuelle „Befreiung“ der Gefangenen erfolgt sei, ist so
abstrus, dass er intellektuell schon wieder reizvoll erscheint. Wie dem auch immer sein mag –
er hält eine Konfrontation mit dem empirischem Material nicht stand.
Die Rede von einer Bestrafung des angedeuteten Masturbationsakts durch die Soldatin
scheint zunächst wenig Sinn zu machen, da der Gefangene auf dem Bild offensichtlich zu
diesem Akt gezwungen wurde. Und doch erfährt diese Deutung eine unerwartete Bestätigung
durch die Äußerungen der Soldaten selbst: Einer Zeugenaussage zufolge kommentierte der
Soldat Charles Graner die erzwungene Masturbation mit folgenden Worten: „Schauen Sie
mal, was die Viecher machen, wenn man sie für zwei Sekunden alleine lässt“ (zitiert nach der
deutschen Übersetzung in Gourevitch & Morris 2009: 210). In der Aussage von Graner
kommt eine Form der Erniedrigung zum Ausdruck, die an die öffentliche Zurschaustellung
von Sexualität geknüpft ist.428 Des Weiteren muss konstatiert werden, dass die
425
Die Kastration ist ein aus zahllosen Mythen und der Psychoanalyse bekanntes Motiv. Gaia entmannt Uranos
mit Hilfe ihres Sohnes Kronos, um diesen für sein sexuelles Verlangen zu bestrafen und seinen ungehemmten
Zeugungstrieb zu stoppen. Sigmund Freud hat das Motiv der Kastrationsangst in seiner Psychoanalyse
verwendet, wobei die Bedrohung dort in erster Linie vom Vater ausgeht, da dieser die Herrschaft und das
sexuelle Monopol für sich beansprucht.
426
Man versuche nur einmal in Gedanken, die Soldatin auf dem Bild durch einen männlichen Soldaten zu
ersetzen. Es wird einem sofort klar, dass in diesem Bild die Frau nicht ohne weiteres durch einen Mann
vertreten werden kann. Die Geste hätte sofort eine andere Wirkung und käme uns noch unpassender vor.
427
Vor allem Slavoj Žižek ( „Die Amerikaner kontrollieren gar nichts! Nicht mal sich selbst! Warum Comical
Ali recht behalten hat: einige Überlegungen über Abu Ghraib und das Unbewusste in der Popkultur“,
Berliner Zeitung, 23. Juni 2004), aber auch Albrecht Koschorke (2007) und Judith Butler (2008)
sympathisieren mit einer therapeutischen Deutung dieser Szene als einem Initiationsritual in die moderne
Sexualkultur.
428
Den Anhängern einer griechischen Philosophenschule wird nachgesagt, dass sie alle ihre Geschäfte wie die
Hunde in der Öffentlichkeit verrichtet haben sollen – daher auch der Name „Kyniker“ (von kynos, der Hund).
Der kynische Philosoph Diogenes soll sogar öffentlich onaniert haben.
413
Masturbationsakte auf den Bildern nur schwerlich als Initiationsrituale gedeutet werden
können (3.3.2). Im Gegensatz zu den Mitgliedern einer „fraternity” wartete auf die
Gefangenen nämlich keine Aufnahme in eine Gruppe, sondern nur Gelächter und Verachtung.
Das Motiv der Masturbation diente vielmehr der ritualisierten Demütigung der Gefangenen
(3.3.3), da mit seiner Hilfe die Opfer als barbarisch und animalisch in Szene gesetzt werden
können. Diese Gleichsetzung der Gefangenen mit Tieren, die in Graners Bemerkung zum
Ausdruck kommt, ist nicht nur demütigend und entmenschlichend, sondern könnte auch die
Hemmung der Soldaten für weitere Akte der Grausamkeit gegenüber den Gefangenen gesenkt
haben.429 Vor dem Hintergrund dieser Interpretation stellt nicht primär die erzwungene
Masturbation des Gefangenen, sondern die symbolische Kastrationsandrohung der Soldatin
eine „zivilisierende“ Maßnahme dar.
7.3.2. Die Inszenierung von Homosexualität
Auch homosexuelle Handlungen werden in vielen Gesellschaften als „unrein“ behandelt und
damit abgewertet. Dies lässt sich möglicherweise darauf zurückführen, dass Homosexualität,
auch wenn sie innerhalb sozialer Beziehungen durchaus partnerschaftliche Solidarität stiften
kann, keinen Beitrag zur biologischen Reproduktion der Gemeinschaft leistet. So
einleuchtend
dieses
kultursoziologischen
evolutionäre
Perspektive
Argument
lässt
sich
auch
ein
erscheinen
anderes
mag,
Argument
aus
einer
vorbringen:
Homosexualität, insbesondere unter Männern, ist wider die Kultur, weil sie die binäre
Klassifikation der Geschlechter unterläuft, während heterosexuelle Praktiken diese stützen.
Dafür spricht, dass in vielen Gesellschaften nicht der homosexuelle Akt als solcher als
verwerflich gilt, sondern alleine die sexuelle Unterwerfung eines Mannes gegenüber einem
anderen Mann.430 Der penetrierte und „verweiblichte“ Mann widersetzt sich dem
Klassifikationsschema der Gesellschaft und widerspricht traditionellen Konzepten von
Männlichkeit. Ähnlich wie die Masturbation, so wurde auch die Homosexualität – zumindest
in den liberalen, westlich orientierten Gesellschaften – erst in den letzten Jahrzehnten unter
Berufung auf die Werte der sexuellen Selbstbestimmung und Identität normalisiert und
legalisiert. Allerdings gilt Homosexualität in vielen konservativen und religiösen Kreisen – in
429
Eine Abwandlung des Milgram-Experiments, bei der die Probanden das Opfer der Stromschläge als „nice“
beziehungsweise als „animal“ gelabelt wurden, führte dazu, dass Letztere stärkere Stromschläge bekamen
(Zimbardo 2004: 31f.).
430
So beispielsweise in amerikanischen Gefängnissen (Duerr 1993: 269-273), aber zum Teil auch im arabischmuslimischen Kulturraum (Patai 2002: 134f.).
414
den Vereinigten Staaten, aber auch in der arabischen Welt – nach wie vor als „Krankheit“,
„moralische Verfehlung“ und „Sünde wider die Natur“.
Abbildung 5: 7. November 2003, 23:57
Auf der fünften Abbildung sehen wir zwei nackte Gefangenen mit Plastiktüten über dem
Kopf. Der Gefangene auf der linken Seite kniet unter einem Mitgefangenen und hat seine
Arme auf seine Oberschenkel gelegt. Der Gefangene auf der rechten Seite hält den Kopf des
Mitgefangenen an seinen Unterleib. Ohne Zweifel wird auf diesem Bild eine sexuelle
Handlung in Szene gesetzt. Den Hintergrund bildet die Wand eines Gangs, auf der rechten
Seite ist eine geschlossene Tür zu sehen. Vor der Wand stehen zwei weitere Gefangene, von
denen sich der eine den offensichtlich schmerzenden Unterleib, der andere, sichtbar
verzweifelt, seinen gesenkten Kopf hält. Die erzwungene Inszenierung sexueller Handlungen
zwischen den Männern stellt nicht nur einen Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung des
Einzelnen, sondern darüberhinaus auch auf die sexuelle Identität heterosexueller Männer dar.
Erschwerend kommt hinzu, dass der homosexuelle Verkehr zwischen Männern im
traditionellen Islam als besonders „unrein“ und moralisch verwerflich angesehen wird.
Dasselbe gilt allerdings für die amerikanische Armee, in der homosexuelle Männer ebenfalls
stigmatisiert werden.
415
Heteronormativität ist immer noch ein zentrales kulturelles Merkmal westlicher wie auch
nichtwestlicher Gesellschaften. Insbesondere an den gebräuchlichen Schimpfwörtern wird
deutlich, dass normative Abweichungen sexuell konnotiert und sexuelle Abweichungen
moralisch stigmatisiert werden können. Andrés Nader (2003) hat gezeigt, dass kurz nach dem
11. September 2001 in der amerikanischen Armee, der Presse und vor allem im Internet mit
der „sexuellen Konstruktion des Feindes“ begonnen wurde – beispielsweise durch
Karikaturen, die die Penetration von Osama bin Laden durch das Empire State Building
zeigen. Diese imaginative und fiktive Konstituierung des Feindes als „unmännlich“ und
homosexuell schlägt auf dem Bild in eine reelle Inszenierung um. Die Verwendung dieses
sexuellen Motivs ist gerade kein pathologischer Einzelfall, sondern eine in den meisten
Kulturen verständliche Form der Erniedrigung. Dies wurde dadurch möglich, dass
Homosexualität in den Klassifikationsschemata vieler Gesellschaften lange Zeit keinen Platz
hatte und folglich als unreine Aberration galt. In den skandalösen Akten der Soldaten
kommen kulturelle Muster zum Ausdruck, welche nicht nur in der amerikanischen
Gesellschaft verbreitet sind, sondern nahezu in allen Gesellschaften anzutreffen sind (man
denke an das deutsche Schimpfwort „Schwuchtel“). Skandalös ist, dass die Soldaten diese
kollektiven Schemata und Phantasien mit den ihnen zur Verfügung stehenden Gewaltmitteln
zu realisieren suchten.
Im amerikanischen Diskurs zu Abu Ghraib wurde diskutiert, inwieweit die offene
Sexualität und die Verbreitung von Pornographie in der amerikanischen Gesellschaft eine
Mitschuld an den Missbrauchsfällen getragen habe.431 Selbst für wissenschaftliche Autoren
wie Paul A. Taylor (2007) sind die Bilder von Abu Ghraib nicht nur Teil einer rituellen
Demütigung der Opfer, sondern auch Ausdruck einer pornographischen Gesellschaft. Diese
Reaktion ist zwar vor dem puritanischen Hintergrund der amerikanischen Gesellschaft
verständlich, kann aber leicht in die Irre führen. So muss zwar der Tatsache Rechnung
getragen werden, dass in Beschreibungen der Bilder immer wieder von „Pornographie“ die
Rede ist, aber es muss zwischen zwei Verwendungsweisen des Begriffes unterschieden
werden. Zum einen kann der Begriff auf einer ikonographischen Ebene auf die
pornografischen Inhalte der Bilder angewendet werden, beispielsweise auf die Nacktheit der
Gefangenen und die Inszenierung sexueller Handlungen. Zum anderen kann der Begriff auch
ikonologisch auf die Produktion und Rezeption der Bilder bezogen werden. Anton Holzer
431
Sonntag, Susan: „Regarding the torture of others“, The New York Times, 23. Mai 2004; „Religious Leaders
See Broad Lessons for American Society in the Abuse of Iraqi Prisoners Grappling With the Morals On
Display in Abu Ghraib“, The Washington Post, 29. Mai 2004.
416
(2006: 19-21) zufolge ist das Verschwimmen zwischen Pornographie und Folter für die Bilder
von Abu Ghraib charakteristisch, während sich ihr Verhältnis zum Betrachter durch Schaulust
und Voyeurismus auszeichnet. Die Frage, inwieweit es sich bei den Bildern von Abu Ghraib
um Pornographie handele, ist nicht nur im amerikanischen Diskurs heiß diskutiert worden
(8.3.2-3), sondern auch für die Rekonstruktion des Vorfalls von großer Bedeutung.
Ferrel M. Christensen hat in einer Arbeit über Pornographie vorgeschlagen, diese über
ihren sexuellen Inhalt und ihren Zweck, sexuelle Gefühle zu erregen oder zu befriedigen, zu
definieren (1990: 1f.).432 Legt man diese Definition zu Grunde, muss den Bildern wohl das
Prädikat „pornographisch“ abgesprochen werden. So hatten die Macher dieser Bilder aller
Wahrscheinlichkeit nach nicht im Sinn, das sexuelle Begehren der Betrachter erregen oder gar
befriedigen zu wollen. Dies wird vor allem an der distanzierten Rolle der abgebildeten
Soldaten deutlich, die sich an den sexuellen Akten nicht beteiligen, sondern sich mit einem
erhabenen Lächeln, das von allen Anzüglichkeiten frei ist, von den sexualisierten Gefangenen
abgrenzen. Das gleiche lässt sich über die Rezeption der Bilder sagen, da sich im öffentlichen
Diskurs keine Äußerungen finden, in denen die Bilder unmittelbar als eine Quelle einer
sexuellen Erregung zum Ausdruck kommen.433 Dementsprechend ist es irreführend, von einer
„pornographic function“ der Bilder zu sprechen, selbst wenn man sie einer „political
function“ unterordnet (Apel 2005: 93). Nicht nach der pornographischen Funktion der Bilder,
sondern nach der Funktion der pornographischen Motive auf den Bildern ist zu fragen. So
kann man sehr wohl von einer pornographischen Ikonographie der Fotografien sprechen, für
die vermutlich auch pornographische Bilder als Vorbilder gedient haben.434 Die Funktion der
pornographischen Motive, so die These, besteht alleine darin, die Gefangenen zu erniedrigen
und eine Grenze zwischen den reinen Soldaten und den unreinen, „perversen“ Gefangenen zu
ziehen. Aus einer liberalen Moralperspektive ist nicht die pornographische Nachstellung einer
432
Das „Obszöne“ ist hier kein hinreichendes Kriterium für Pornografie. Eine pornografische Darstellung kann
obszön wirken, wie auch die Zurschaustellung von Reichtum obszön sein kann. Das Obszöne ist vielmehr
eine Darstellung, die aus dem Rahmen fällt oder fehl am Platz ist.
433
Wenn man einmal von den Äußerungen des rechts-konservativen Radiomoderators Rush Limbaugh absieht
(8.3.3). Aber auch Limbaugh ließ sich nicht von den sexuellen Akten der nackten Männern erregen, sondern
von den amerikanischen Soldatinnen auf den Bildern, die er „babes“ nennt; vgl. The Rush Limbaugh Show, 3.
Mai 2004, http://cloudfront.mediamatters.org/static/pdf/limbaugh-20040503.pdf; letzter Zugriff am 19.
Februar 2012.
434
Die Fotografien von Abu Ghraib lassen sich durchaus im Lichte der medialen Veränderungen im Bereich der
Pornographie betrachten, zu denen die Digitalisierung und das Internet geführt haben. Nicht umsonst
erinnern die Fotos und auch die Videos von Abu Ghraib an die Verbreitung sogenannter „Snuff-Videos“.
Ebenso ist davon auszugehen, dass diese Bilder selbst wieder in die Produktion derartiger Videos einflossen.
417
Masturbation oder des Oralverkehrs zwischen Männern als solche problematisch, sondern
allein die erzwungene Inszenierung sexueller Akte, die in das Recht auf sexuelle
Selbstbestimmung eingreift. Die Gefangenen auf den Bildern werden zu einem Verhalten
gezwungen, welches ihrem Selbstbild zuwiderläuft. Und dass sie dazu gezwungen werden,
widerspricht der moralischen Ordnung der Gesellschaft.
7.3.3. Die Soldatin als Domina – Entmannung und Entmenschlichung
In die bisherige Diskussion über Sexualität und Erniedrigung in Abu Ghraib fügt sich noch
eine weitere – und neben der Ikone des Skandals die wohl bekannteste – Fotografie aus Abu
Ghraib ein. Seinen ikonischen Status hat das Bild sicherlich seiner implizit sexuellen
Symbolik zu verdanken, ohne das darauf, wie auf den letzten beiden Abbildungen, ein
expliziter sexueller Akt, zu sehen wäre. Es ist etwa zwei Wochen vor der berüchtigten „night
shift“ entstanden; die Szene wird von dem Internetmagazin Saloon.com auf den 24. Oktober,
von den Verfassern des Fay-Jones-Berichts aber erst auf den Tag danach, datiert:
Three photographs taken on 25 October 2003 depicted PFC England, 372 MP CO, holding a leash which
was wrapped around an unidentified detainee’s neck. Present in the photograph is SPC Ambuhl who was
standing to the side watching. PFC England claimed in her initial statement to CID that CPL Graner had
placed the tie-down strap around the detainee’s neck and then asked her to pose for the photograph. There
is no indication of MI involvement or knowledge of this incident. (Fay & Jones 2005/2004: 1078)
Abbildung 6: 24. Oktober 2003, 20:16
418
Auf dem Foto ist eine junge Soldatin zu sehen, die einen Gefangenen an einer Art Leine hält
und dabei in die Kamera blickt. Auf der linken Bildseite ist noch ein weiterer Soldat zu sehen,
der an einer Wand lehnt und relativ teilnahmslos auf den Gefangenen schaut. Der Gefangene,
der auf dem Boden kauert und auch in Richtung Kamera zu blicken scheint,435 stützt sich mit
seiner linken Hand ab. Durch die straff gespannte Leine entsteht zudem der Eindruck, dass
der Gefangene über den Boden gezogen würde. Ikonografisch erinnert diese Szenerie
zunächst an das Domina-Motiv, ruft aber auch Bilder von Haustieren in Erinnerung, die von
Herrchen oder Frauchen an der Leine geführt werden. Einerseits geht es um ein Motiv der
Herrschaft, das an die binäre Unterscheidung von Frau und Mann anknüpft, zum anderen aber
um Entmenschlichung, die bei der Unterscheidung von Mensch und Tier ansetzt. In beiden
Deutungen lässt sich diese Inszenierung als rituelle Erniedrigung des Gefangenen verständlich
machen. Im öffentlichen Diskurs wurde insbesondere die erste Deutung stark gemacht, was in
erster Linie an der unterstellten Bedeutung der Mann/Frau-Differenz für die arabische Kultur
liegen dürfte:
But the image plays very heavily in the Middle East, particularly the idea of a woman holding a man on a
leash. The degradation of the male is a powerful symbol. In many ways, it reflects the way Americans and
certainly foreigners will see this episode. It went too far. And that simple picture, that man with the
woman on a leash, is a powerful image that just won’t go away.436
Wohl aus diesem Grund wurde dieses Foto auch von einem Maler in Form eines
Wandgemäldes in Teheran kopiert (Apel 2005: 88; 9.4.1) und in Theateraufführungen
aufgegriffen (9.4.2). Indem der Gefangene in dieser Inszenierung zu einem Tier degradiert
wird, wird seinem schmutzigen und unreinen Charakter noch einmal performativ Ausdruck
verliehen.437 Diese Gleichsetzung der Gefangenen mit Tieren auf diesem Bild ist wahrlich
kein Einzelfall. So wurden während der berüchtigten „night shift“ auf den Gefangenen wie
auf Tieren geritten (7.2), aber auch in Guantanamo wurde, wie sich später herausstellte, die
Gleichsetzung oder gar Inferiorität gegenüber Tieren systematisch betont. Ein Artikel des
Time Magazine gibt einen Ausschnitt aus dem Tagebuch eines Verhörspezialisten in
Guantanamo Bay vom 20. Dezember 2002 wieder:
435
Saloon.com hat sämtliche Bilder retuschiert, um damit die Identität und Würde der Opfer zu wahren.
436
Deborah Norville Tonight (21:00), MSNBC, 11. Mai 2004.
437
Zur Rolle der „Bestialität“ in Abu Ghraib vgl. den Beitrag von Colleen Glenney Boogs (2008). Die Autorin
geht auf die Symbolik des Tieres als Verkörperung des Unreinen mit Bezug auf den amerikanischen
Hintergrund näher ein und argumentiert unter anderem, dass in der Rezeption der Bilder die Bestialisierung
der Gefangenen in eine Bestialisierung der Täter als „viehisch“ und „unmenschlich“ umgeschlagen sei (278).
419
Told detainee that a dog is held in higher esteem because dogs know right from wrong and know how to
protect innocent people from bad people. Began teaching the detainee lessons such as stay, come and bark
to elevate his social status to that of a dog. Detainee became very agitated.438
Die Resonanz dieser Erzählung verdankt sich unter anderem ihrem Bezug auf die AbuGhraib-Bilder. Solche Parallelen trugen dazu bei, dass der „toxic spill“ von Abu Ghraib auf
Guantanamo überschwappte (vgl. Mestrovic 2006).
Alle bisherigen Performanzen weisen eine sexuelle Dimension auf. Auf der Ikone des
Skandals ist die sexuelle Dimension nicht sofort ersichtlich, aber von dem Militärbericht
wissen wir, dass Drähte an dem Penis des Mannes befestigt waren (7.1). So hatte man es also
auch in diesem Fall mit einer Art symbolischen Entmannung zu tun, wie sie dann auf der
vierten Abbildung tatsächlich sichtbar wurde. Bei der menschlichen Pyramide spielte das
groteske Motiv der Orgie eine wesentliche Rolle (7.2), während in der Interpretation der
letzten drei Fotografien deutlich eine pornografische Ikonographie zu Tage trat. Trotzdem
wäre es verfehlt, die Bilder von Abu Ghraib als typisch amerikanische Pornographie
(Limbaugh,
Sontag)
zu
bezeichnen
oder
von
den
Missbrauchsfällen
als
einer
„pornographischen Missionierung“ (Koschorke 2007: 188f.) der Gefangenen zu sprechen. So
ist davon auszugehen, dass sowohl die Akte als auch die Bilder nicht primär der sexuellen
Erregung und Befriedigung der Soldaten gedient haben. Vielmehr scheint es den Soldaten bei
diesen Bildern in erster Linie um die Erniedrigung der Gefangenen gegangen zu sein. Das
Sexuelle und das Animalische liegen auf den Bildern nahe beieinander, da sie beide als
unreine Symbole fungieren, welche die Inferiorität der Gefangenen zum Ausdruck bringen
sollten. Ein letztes Missverständnis, das bei vielen Interpreten zu finden ist, ist die
Gleichsetzung der auf den Bildern zu sehenden Formen der Erniedrigung mit der rituellen
Form der Erniedrigung in Initiationsritualen (3.3.2). Trotz der frappierenden Ähnlichkeit
zwischen den Missbrauchsfällen und Initiationsritualen erfüllte die Erniedrigung in Abu
Ghraib einen anderen Zweck: Es ging nicht primär um eine temporäre Unterwerfung unter die
Autorität der Gruppe, an deren Ende die Aufnahme in die Gruppe steht, sondern um die
dauerhafte Unterwerfung und Abwertung der Gefangenen, ihrem rituellen Ausschluss aus der
menschlichen Gattung. Die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib müssen – wie auch die
Folterpraxis im Allgemeinen – als spezifische Form der rituellen Demütigung verstanden
werden (3.3.3-4).
438
Zagorin, Adam und Michale Duffy: „Inside the Interrogation of Detainee 063“, Time, 20. Juni 2005.
420
7.4. Rekonstruktion – Folter als rituelle Demütigung
It is the photographs that gives one the vivid realization
of what actually took place. Words don’t do it.
Donald Rumsfeld, vor dem
Verteidigungsausschuss des Senats439
Auf Basis der bisherigen Interpretation der Bilder und unter Heranziehung weiterer
Datenquellen sollen im Folgenden unterschiedliche Erklärungsansätze der Missbrauchsfälle
diskutiert werden. Dabei bleibt zunächst zu klären, warum die Bilder und Vorfälle überhaupt
als erklärungsbedürftig wahrgenommen wurden. Der Schlüssel hierzu findet sich, so die
These, ebenfalls in den Bildern und ihrer Rezeption. In der Erstausstrahlung der Fotografien
aus Abu Ghraib in der amerikanischen Nachrichtensendung 60 Minutes kommentierte der
Nachrichtensprecher diese als „shocking“ (7.5.1; 8.1.3). Dieser Schock findet seine bildliche
Entsprechung in dem syntagmatischem Bruch innerhalb die Bilder, die lächelnde
amerikanische Soldaten und „Mädchen“ bei der Misshandlung ihrer Gefangenen zeigen, oder
auch in den Leerstellen von einzelnen Bildern, wie beispielsweise bei der Ikone mit ihrem
bizarr kostümierten Gefangenen (7.1). Die syntagmatische Offenheit der Bilder führt
letztendlich zu der Frage, wie amerikanische Soldaten anderen Menschen so etwas antun
konnten, oder, wie das Time Magazine am 17. Mai 2004 titelte: „How did it come to this?“.
Nachdem der Nachrichtensprecher die Schockwirkung der Bilder angesprochen hatte,
stand ihm der amerikanische General Mark Kimmitt Rede und Antwort. Er verurteilte die
abgebildeten Vorfälle scharf, betonte aber zugleich, dass es sich nur um Einzelfälle handele,
mit denen die überwiegende Mehrheit der Soldaten nichts zu tun habe. Schon mit der ersten
Ausstrahlung der Abu-Ghraib-Bilder trat die Dialektik zwischen der Offenheit der Bilder und
den Versuchen einer diskursiven Schließung zu Tage. Auch die Armee versuchte, die Vorfälle
in ihren Untersuchungsberichten über eine Pathologisierung der Täter und deren mangelnde
Kontrolle durch Vorgesetzte zu erklären (8.5.2) – und damit die Bilder ihrer Brisanz zu
berauben. Diese Auslegung wurde nicht nur von der militärischen Führung propagiert,
sondern auch von der amerikanischen Regierung übernommen. Einen prägnanten Ausdruck
fand sie in der Redewendung „just a few bad apples“ (8.3.1).
Die mutmaßlichen Täter verteidigten sich vor Gericht gegen diese Anschuldigungen mit
der Behauptung, dass sie nur auf Befehl von Offizieren und Geheimdienstangehörigen
439
„Rumsfeld Speaks Before Senate Armed Services Committee on Abuse in Iraqi Prison“, CNN Live
Event/Special (11:30), 7. Mai, 2004.
421
gehandelt hätten (8.5.1). Allerdings erschien diese Verteidigung der Öffentlichkeit alles
andere als glaubwürdig, was nicht zuletzt dem grotesken und pornographischen Charakter
jener Bilder, die während der sogenannten „night shift“ entstanden waren, geschuldet war
(7.2-3). Zwar gab es in den Untersuchungsberichten der Armee durchaus auch Hinweise
darauf, dass die Soldaten in Abu Ghraib von ranghöheren Offizieren oder Angehörigen des
militärischen Geheimdienstes zu Übergriffen ermuntert worden seien, allerdings traf dies
nicht auf die Vorfälle während der „night shift“ zu, die später im Zentrum des
Gerichtsverfahrens stehen sollte. Genauso wenig ließ sich durch dieses Narrativ der groteske
Exzess, der auf den Fotografien zu sehen war, verständlich machen. Gerade die Lust am
Missbrauch, die die Täter auf den Bildern von Abu Ghraib so schamlos zur Schau stellten
(7.5.1), passte so gar nicht zu dem Bild des Befehlsempfängers, das die Verteidigung zu
zeichnen versuchte.
7.4.1. Individualistische, situative und sozialpsychologische Erklärungsansätze
Für die Rekonstruktion der Vorfälle in Abu Ghraib sind neben den Bildern der Täter vor
allem die Untersuchungsberichte der amerikanischen Armee eine wertvolle Quelle (vgl. auch
8.5.2). Von allen Armeeberichten setzte die Untersuchung von Paul T. Mikolashek
(2005/2004) am stärksten auf eine individualistische Erklärung der Vorfälle. Darin wird der
Gefangenenmissbrauch den Tätern als intentionale Verfehlung angelastet, wobei auch das
Versagen der einzelnen Vorgesetzten bei der Einhaltung der geltenden Regeln angemahnt
wird (2005/2004: 632). Der Bericht von Antonio Taguba (2005/2004), der bereits vor dem
Ausbruch des Skandals angefertigt wurde, wies darüberhinaus auf systemische Probleme in
Abu Ghraib hin: ein Klima des Missbrauch, an dessen Entstehung auch der
Militärgeheimdienst beteiligt war, der die einfachen Soldaten zu Verhörzwecken eingesetzt
und zu Misshandlungen ermuntert haben soll.
Der Bericht von Anthony R. Jones und George R. Fay (2005/2004) befasst sich von allen
Armeeberichten am detailliertesten mit den tatsächlichen Vorfällen in Abu Ghraib. Es werden
hier 44 Zwischenfälle aufgeführt, die in die Zeit vom 25. Juli 2003 bis zum 6. Februar 2004
fallen und an denen insgesamt 27 Soldaten und Zivilisten beteiligt gewesen sein sollen –
wobei es von den meisten dieser Vorfälle keine Fotos gibt. Diese Zahlen schüren einen
berechtigten
Zweifel
Erklärungsansätzen.
an
Der
dem
Bad-Apple-Narrativ
Fay-Jones-Report
und
unterscheidet
den
individualistischen
zwischen
„intentionalen
Misshandlungen“, die den beteiligten Akteuren moralisch angelastet wurden, und
„unabsichtlichen
Normverletzungen“,
die vermutlich
422
im
guten
Glauben
an
die
Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns begangen wurden (2005/2004: 1004f.). Die
unintendierten Verstöße führen die Autoren auf eine Fehlinterpretation der geltenden Doktrin
zurück, für die das mangelhafte Training der Soldaten und damit ein institutionelles Versagen
verantwortlich gemacht wird. Die intentionalen Misshandlungen in Abu Ghraib werden in
erster Linie durch die individualpsychologischen Pathologien der Täter erklärt.
Im Vordergrund der Untersuchung stehen vor allem die intentionalen Verfehlungen, die
auf die „moralische Korruption“ der Täter zurückgeführt werden – eine Erklärung, die mit der
Rahmung der Täter als „bad apples“ im konservativ-hegemonialen Diskurs übereinstimmte
(8.3.1). So ist im Bericht von den Tätern als einer „small group of morally corrupt soldiers“
(2005/2004: 989) die Rede. Neben den Tätern hatte aber auch die Führung der in Abu Ghraib
stationierten 205th MI Brigade und der 800th Military Police Brigade Verantwortung für die
Vorfälle zu übernehmen, da sie es versäumt habe, die Befehlskette und damit „discipline and
leadership“ aufrechtzuhalten. Wie schon Taguba kommen auch Fay und Jones zu dem
Schluss, dass auch der militärische Geheimdienst nicht völlig unbeteiligt an den Vorfällen
war: “Some MI personnel encouraged, condoned, participated in, or ignored abuse. In a few
instances, MI personnel acted alone in abusing detainees” (2005/2004: 1105). In dem Bericht
lassen sich also durchaus Hinweise auf ein Klima des Missbrauchs finden, wie auch Stjepan
Mestrovic und Ronald Lorenzo (2008), die dafür den durkheimianischen Begriff der
„Anomie“ gebrauchen, in ihrer soziologischen Analyse des Fay-Jones-Reports hervorheben.
Im Großen und Ganzen kamen diese situativen Faktoren in dem Bericht jedoch entschieden
zu kurz.
Der von Verteidigungsminister Rumsfeld in Auftrag gegebene Final Report of the
Independent Panel, der unter der Leitung des ehemaligen Außenministers und Generals James
Schlesinger (2005/2004) angefertigt wurde, sollte, wie der Name schon sagt, die Debatte um
die Missbrauchsfälle endgültig zum Abschluss zu bringen. Im Schlesinger-Report ging man
allerdings weiter als in den Vorgängerberichten, da hier der anomischen Situation vor Ort, vor
allem aber auch der sozialen Dynamik von Gewalt und Erniedrigung, eine höhere Bedeutung
für
die
Erklärung
der
Missbrauchsfälle
beigemessen
wurden.
Die
intentionalen
Misshandlungen werden hier nicht mehr alleine auf individuelle Pathologien zurückgeführt,
sondern erstmals sozialpsychologisch erklärt. Mit dieser Deutung der Missbrauchsfälle knüpft
der Schlesinger-Report an die Ergebnisse des berüchtigten Stanford-Prison-Experiments an,
das in dem Bericht auch explizit diskutiert wird (2005/2004: 970f.). Für dieses Experiment,
das zu Beginn der siebziger Jahre stattfand, wurden studentische Versuchspersonen per Zufall
423
auf zwei Gruppen, Gefangene und Wärter, aufgeteilt (Haney et al. 1973). Den Wächtern
wurden weitreichende Befugnisse über die Gefangenen eingeräumt. Schon nach wenigen
Tagen waren die Misshandlungen der Gefangenen durch ihre Aufseher jedoch so gravierend,
dass das Experiment abgebrochen werden musste. Das Experiment wurde weithin als ein
Beweis dafür interpretiert, dass nicht individualpsychologische, sondern vor allem situative
Faktoren – in welchem Kontext auch immer – für Gefangenenmissbrauch ausschlaggebend
seien.
Philip Zimbardo, Sozialpsychologe und ehemaliger „Gefängnisdirekter“ während des
Stanford-Prison-Experiments, wurde nach dem Abu-Ghraib-Skandal von einem der
Verteidiger des ranghöchsten angeklagten Soldaten als Gutachter in das Gerichtsverfahren
bestellt. In einer neueren Monographie versuchte Zimbardo (2007), die aus dem GefängnisExperiment gewonnenen Einsichten und seine Einblicke in das Gerichtsverfahren für eine
Analyse der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib fruchtbar zu machen. Die (liberale)
Grundthese des Buches lautet, dass Menschen nicht aufgrund bestimmter psychologischer
Dispositionen, sondern aufgrund bestimmter situativer Konstellationen zu Tätern werden.
Zimbardo (2007: 324-329) berichtet an einer Stelle, wie er aus Zufall ein Zeuge der
Erstausstrahlung der Abu-Ghraib-Bilder wurde.440 Dem anfänglichen Schock wich bald das
Gefühl, etwas Vertrautes auf den Fotos wiederzuerkennen: Die Bilder von Abu Ghraib
erinnerten ihn an die schlimmsten Szenen des Stanford-Prison-Experiments (2007: 328).
Zimbardo wäre kein Sozialpsychologe, wenn er sich in seiner Analyse auf die Ähnlichkeiten
in der Ikonographie beschränkt hätte. Für ihn war diese Ähnlichkeit keine zufällige
Übereinstimmung, da beiden Missbrauchsfällen eine gemeinsame Erklärung zu Grunde liege,
nämlich jene soziale Dynamik von Gewalt und Erniedrigung, die in bestimmten Situationen
gedeihen und die Handlungsintentionalität der Akteure mitreißen kann. Der moralisierenden
Erzählung von den „schlechten Äpfeln“ setzt Zimbardo eine „good apple, bad barrel“-Theorie
entgegen (8.3.2). Die anomische Situation im Abu-Ghraib-Gefängnis und die einfache
Unterscheidung zwischen Soldaten und Gefangenen habe schon ausgereicht, um eine soziale
Dynamik in Gang zu bringen, die in den Bildern von Abu Ghraib gegipfelt habe.
7.4.2. Neoinstitutionalistische und kulturwissenschaftliche Erklärungsansätze
Das Beispiel von Zimbardo zeigt, dass die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib auch eine
440
Es scheint symptomatisch für den ikonischen Status der Bilder zu sein, dass im Diskurs immer wieder davon
die Rede ist, wann jemand die Bilder zum ersten Mal gesehen hat oder ob er gar bei deren Erstausstrahlung
dabei war. Auch anlässlich von 9/11 wurde immer wieder erzählt, wo und wie man das Ereignis erlebt hat.
424
gewisse Faszination auf Wissenschaftler ausübten – nicht zuletzt, weil sich hier eine
Gelegenheit bot, selbst einmal im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen. Aber nicht nur
wissenschaftliche „Stars“ nahmen sich des öffentlich diskutierten Themas an. Gerade weil das
Thema in aller Munde war und die Öffentlichkeit vor Rätsel stellte, bot es sich als
wissenschaftliches „Puzzle“ geradezu an. Trotzdem ist die sozial- und kulturwissenschaftliche
Literatur zur Erklärung der Missbrauchsfälle – im Vergleich zu der Aufmerksamkeit, die den
Bildern
geschenkt
wurde –
relativ
überschaubar.
Im
Folgenden
sollen
weitere
Erklärungsansätze, die über das bisher Diskutierte hinausgehen, näher untersucht werden.
Susan C. Monahan und Beth A. Quinn (2006) versprechen eine neoinstitutionalistische
Erklärung der Misshandlungen von Abu Ghraib jenseits von „bad apples” und „weak
leaders”. In ihrem Aufsatz ziehen sie einen provokanten Vergleich zwischen den
Missbrauchsfällen in Abu Ghraib und einem alltäglicheren Fall von „organizational
deviance“, nämlich der Anfertigung von Praktikumszeugnissen in amerikanischen
Architekturbüros durch die Praktikanten selbst. Die Autoren argumentieren, dass es sich beim
Verfassen von Praktikumszeugnissen durch die Praktikanten um einen klassischen Fall einer
Entkopplung von formaler Organisationstruktur und tatsächlicher Organisationspraxis
handele. Als „Mythos“ und „Zeremonie“ verkörpere die formale Struktur die Einbettung der
Organisation in einen kulturellen Hintergrund, der nach außen hin Legitimität für die
Organisation und ihre Praktiken bereitstelle, aber der tatsächlichen Praxis in Organisationen
oft zuwiderlaufe (Meyer & Rowan 1977). So wird im Falle der Praktikumszeugnisse so getan,
als ob es sich um eine Evaluation der Leistung des Praktikanten durch den Vorgesetzten
handele; die Anfertigung der Zeugnisse wird allerdings an die Praktikanten delegiert, die sich
mit der von ihnen geleisteten Arbeit vermutlich auch besser auskennen als ihre Vorgesetzten.
Monahan und Quinn beschreiben diese Entkopplung von formaler Struktur und abweichender
Praxis als einen Mechanismus der Effektivitätssteigerung von Organisationen, die mit
widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert werden. Ihnen zufolge lässt sich diese Einsicht
auch auf die Misshandlungen in Abu Ghraib übertragen, wobei sich die beiden Autoren
weniger auf die prominent gewordenen Missbrauchsfälle beziehen, sondern das allgemeine
Organisationsklima in den Blick nehmen, unter dessen Einfluss auch weniger spektakuläre
Abweichungen gedeihen konnten (Monahan & Quinn 2006: 375). In dieser neoinstitutionalistischen Erklärung spielen die Skandalbilder keine Rolle, da sie von den
universellen Spannungen, denen alle Organisationen unterliegen, nur ablenken. In Teilen kann
sich eine solcher Erklärungsansatz auf Befunde im Schlesinger-Report stützen, die von
425
Mestrovic folgendermaßen auf den Punkt gebracht wurden:
In sociological vocabulary, the Schlesinger Report is stating that in addition to the apparently formal,
rational-legal interrogation techniques approved by the U.S. Army, there existed a “folk culture“ of
informal, charismatic, and unofficial interrogation techniques not formally approved by the U.S.
Army and that variations of both formal and informal techniques “migrated” and “circulated” vis-a-vis
Army posts in GITMO, Afghanistan, and Iraq. In addition, the formal, rational-legal interrogation
techniques of the U.S. Army changed rapidly. Some of these techniques mutated into what was later
recognized as abuse. (Mestrovic 2006: 10f.)
Auch die Verfasser des Schlesinger-Reports gehen von einem Gegensatz zwischen formalen
Vorschriften und Praktiken einerseits und den informellen Praktiken einer inoffiziellen „folk
culture“ andererseits aus. Allerdings wird hier nicht erklärt, warum es zur Entstehung dieser
„folk culture“ kam, während Monahan und Quinn (2006) davon ausgehen, dass sich der
Rückgriff auf inoffizielle Praktiken auf die intentionale Steigerung der Effektivität von
Verhörmethoden zurückführen lasse – was im Hinblick auf Abu-Ghraib-Bilder nicht wirklich
plausibel erscheint. Die auf den Bildern zu sehenden Gefangenen wurden erniedrigt, aber
nicht verhört – ihre Erniedrigung war somit Selbstzweck. Die Entkopplung von formaler
Organisationskultur und informeller Praxis beschreibt zwar die institutionellen Bedingungen
der Möglichkeit dieser Missbrauchsfälle, greift aber in ihrer instrumentellen Deutung
entschieden zu kurz. In der neoinstitutionalistischen Erklärung taucht Kultur nur als
legitimitätsstiftende Instanz auf der Ebene der Organisation auf, wird aber nicht für eine
Erklärung des abweichenden Verhaltens herangezogen. Das Konzept der „folk culture“, das
bei Schlesinger und Mestrovic eine Rolle spielt, hat demgegenüber den Vorzug, dass es ein
Schlaglicht auf die kulturellen Bedingungen der Missbrauchsfälle wirft.
Im Gegensatz zu den bisher diskutierten Ansätzen nehmen kulturwissenschaftliche
Erklärungsversuche den ikonischen Gehalt und die vielschichtigen Motive der Fotografien
ernst. Sie suchen den Schlüssel zur Erklärung der Missbrauchsfälle in kulturellen Mustern, die
in den Bildern zu Tage treten, aber auch dem Handeln der Täter zu Grunde gelegen haben
könnten. Indem sie die Missbrauchsfälle in Beziehung zu der Kultur einer Gesellschaft setzen,
gehen sie über eine Konzeption von Kultur als einem Mythos formaler Organisationen oder
einer lokal begrenzten „folk culture“ hinaus. Kultur wird hier als kultureller Hintergrund des
Handelns, als präskriptives vorintentionales Modell auf der Ebene der Akteure, der
Organisation und der Gesellschaft sichtbar. Kulturalistische Erklärungen der Missbrauchsfälle
finden sich nicht nur bei professionellen Kulturwissenschaftlern, sondern wurden auch von
öffentlichen Intellektuellen verwendet.
In der intellektuellen Auseinandersetzung um die Bilder, die in hohem Grade politisiert
war, kann man einen rechten und einen linken Flügel unterscheiden (8.3.2-3), die zwar in der
426
Sache selbst überraschend oft zu einer Übereinstimmung, letztlich aber zu entgegengesetzten
Bewertungen kamen. Den Radiosprecher Rush Limbaugh, ein typischer Vertreter des rechten
Flügels, bezeichnete die Bilder als „klassische amerikanische Pornographie“ und verglich die
abgebildeten
Demütigungen
mit
den
Initiationsritualen
an
amerikanischen
Eliteuniversitäten.441 Die pornographische Deutung der Bilder erfüllt bei Limbaugh im
Wesentlichen zwei Funktionen. Einerseits diente sie ihm als kulturalistische Erklärung der
Missbrauchsfälle: Die Soldaten seien über die Medien und das Internet einer Flut von
Pornographie ausgesetzt, die sich in der Inszenierung pornographischer Szenen in Abu Ghraib
niedergeschlagen habe. Andererseits nutzte er dieses Motiv, um die Harmlosigkeit der
Missbrauchsfälle zu unterstreichen: So warnte er davor, das Leben der beteiligten Soldaten
wegen solcher „Bubenstreiche“ zu ruinieren und wegen des Skandals auf die nötige Härte im
Kampf gegen den Terror zu verzichten. So deutete Limbaugh die im Zuge der
Skandalisierung entstandene Empörung als Symptom einer „Feminisierung des Landes“.
Auch wenn Limbaugh den Status der Bilder als säkulare Ikonen vehement bestritt, unterstrich
er doch mit seiner ständigen Thematisierung ihre ikonische Bedeutung. Auf diese Weise tat er
den Linken mit seinen Äußerungen einen großen Gefallen, weil er ihnen ein gutes Feindbild
abgab und seine provokanten Sprüche ständig zitiert wurden. Slavoj Žižek zog aus einer
vergleichbaren Interpretation den entgegengesetzten Schluss: Die Bilder zeigten ein spezifisch
amerikanisches „Theater der Grausamkeit“ und seien als ein Ausdruck der obszönen
Unterseite der amerikanischen Gesellschaft zu lesen. In den Bildern von Abu Ghraib, so Žižek
in Anschluss an Rumsfeld und Lacan, komme das „unbekannte Bekannte“, das „Wissen, das
sich selbst nicht weiß“, das Unterbewusste der amerikanischen Gesellschaft, zum
Ausdruck.442
Limbaugh rechtfertigte den Gefangenenmissbrauch mit dem – in seinen Augen durchaus
verständlichen – Bedürfnis der Soldaten, sich in ihrem harten Jobs doch ein wenig zu
amüsieren und sich dadurch einen emotionalen Ausgleich zu verschaffen. In diese
Verharmlosung reiht sich der Vergleich mit den Initiationsritualen nahtlos ein: „This is no
441
The Rush Limbaugh Show, 3. Mai 2004, http://cloudfront.mediamatters.org/static/pdf/limbaugh20040503.pdf; 10. Mai 2004, http://cloudfront.mediamatters.org/static/pdf/limbaugh-20040510.pdf; letzter
Zugriff am 19. Februar 2012.
442
„Die Amerikaner kontrollieren gar nichts! Nicht mal sich selbst! Warum Comical Ali recht behalten hat:
einige Überlegungen über Abu Ghraib und das Unbewusste in der Popkultur“, Berliner Zeitung, 23. Juni
2004; vgl. auch „Between Two Deaths. The Culture of Torture“, London Review of Books, 3. Juni 2004.
427
different than what happens at the Skull and Bones initiation an we’re going to ruin people’s
lives over it, and we’re going to hamper our military effort, and then we are going really
hammer them because they had a good time“.443 Der Hinweis auf das „fraternity hazing“, das
heißt auf die erniedrigenden Initiationsrituale in amerikanischen Studentenverbindungen und
Geheimgesellschaften (3.3.2), wurde auf Seiten der Linken, unter anderem von Susan Sontag
und auch von Slavoj Žižek, dankbar aufgenommen. Žižek geht soweit zu behaupten, dass der
Gefangenenmissbrauch eine Initiation der Gefangenen in die amerikanische Kultur darstelle.
Auch Albrecht Koschorke (2007) sieht in jenem „paradoxen Zwang zur Lust“ eine Initiation
bzw. Sozialisation der Gefangenen in die amerikanische Gesellschaft. Eine solche Deutung,
so provokant und plausibel sie auf den ersten Blick auch erscheinen mag, verwechselt – dies
kann nicht oft genug wiederholt werden – den demütigenden Ausschluss aus der
Gemeinschaft mit einem erniedrigenden Initiationsritual.
In ähnlicher Weise sieht Judith Butler in den „orchestrated scenes of sexual and physical
humiliation“ von Abu Ghraib eine Zivilisierungsmission am Werke (2008: 16). Ausgerechnet
die amerikanische Armee, die sich Butler zufolge durch einen Männlichkeitskult und durch
Homophobie auszeichnet, habe sich auf den Bildern als sexuell progressive Kultur („sexually
progressive culture“) inszeniert – und damit einen gewagten Vergleich zwischen der Folter in
Abu Ghraib und der Sexualpolitik westlicher Nationalstaaten, die ihren muslimischen
Einwanderern eine Toleranz gegenüber Pornographie und homosexuellen Praktiken aufnötige,
gezogen (Butler 2008: 17). Dieser – in hohem Grade politisch motivierten – Interpretation
von Butler muss hier widersprochen werden. Die vorliegende Interpretation der Bilder legt
nahe, was auch durch die Äußerungen der Soldaten gestützt wird, nämlich dass die
Missbrauchsfälle von Abu Ghraib als performative Akte der Demütigung verstanden werden
müssen, an deren Ende gerade nicht die Missionierung und die Aufnahme in die eigene Kultur
steht (3.3.3). So stellten die Soldaten nicht ihre sexuelle Fortschrittlichkeit gegenüber den
Gefangenen zur Schau, sondern ihre physische und moralische Überlegenheit.
7.4.3. Folter in Abu Ghraib als rituelle Demütigung und performative Inszenierung
Die hier im Vorfeld diskutierten Ansätze tragen alle auf ihre Weise zu einer integrativen
Erklärung der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib bei. Die individualpsychologischen Ansätze
können zumindest etwas zur Klärung der herausragenden Rolle einzelner Beteiligter
443
Zitiert nach Sontag, Susan: „Regarding the Torture of Others“, New York Times, 23. Mai 2004.
428
beitragen, auch wenn sie aus einer soziologischen Perspektive unzureichend sind.444 Die
sozialpsychologische Erklärung hilft bei dem Verständnis der sozialen Dynamik von
Erniedrigungen und wirft – zusammen mit dem neoinstitutionalistischen Ansatz – ein Licht
auf situationelle und institutionelle Einflüsse in Abu Ghraib. Die kulturwissenschaftlichen
Ansätze haben allerdings den Nachteil, dass sie oft einzelne Motive willkürlich herausgreifen
und zu Erklärungen verabsolutieren. Sie begnügen sich in der Regel mit einer steilen,
provokanten These, ohne den geringsten Versuch, die Wirksamkeit dieser kulturellen Muster
auch im Handlungshintergrund der Akteure auszuweisen – geschweige denn soziale
Mechanismen zu benennen. Darüberhinaus können viele kulturalistische Thesen nicht einmal
die erforderliche interne Konsistenz gewährleisten. Der Armee eine homophobe und
misogyne Kultur zu unterstellen und sie dann zur selbsternannten sexuellen Avantgarde zu
erklären (Butler 2008: 16f.), ist nicht nur mit dem empirischen Material unvereinbar, sondern
erfüllt auch nicht die basalen Ansprüche auf interne Konsistenz von Handlungserklärungen.
Im Folgenden soll die kultursoziologische Erklärung der Missbrauchsfälle in eine
Konzeption der Folter als ritueller Demütigung eingebettet werden (3.3.3-4). Kulturellen
Faktoren wie Rassismus, Pornographie oder eine Kultur der Schamlosigkeit sind einerseits im
Handlungshintergrund an der Auslösung von Handlungsimpulsen beteiligt, andererseits
formen sie auch die performative Gestalt einer Handlung. Die Bedeutung kultureller Muster
kann über ihren (nicht immer intentionalen) Gebrauch als Symbole in einem
Erniedrigungsritual verständlich gemacht werden. Eine strategische Betrachtung des
Gefangenenmissbrauchs in Abu Ghraib greift zu kurz – zu deutlich sind seine rituellen
Aspekte, seine theatralischen Züge und sein Charakter als soziale Performanz (2.3.2-4).
Zunächst einmal kurz zu den situativen Faktoren und ihrer kulturellen Bedeutung.
Entscheidend ist hierbei, dass die Situation nicht nur Opportunitäten zur Misshandlung bot,
sondern auch ein Klima des Missbrauchs schuf, das sich auf den vorintentionalen
Handlungshintergrund der Soldaten auswirkte. Zieht man zunächst einmal die externe
Umwelt des Gefängnisses in Betracht, so lassen sich zwei externe Stressfaktoren
444
Der mutmaßliche Rädelsführer der Tätergruppe, Charles Graner, war vor seiner Zeit im Irak im
amerikanischen Strafvollzug tätig und ist dort mit bestimmten Praktiken und dem dazugehörigen mindset
sozialisiert worden. Während Philipp Zimbardo für die Erklärung von Täterschaft sein sozialpsychologisches
Modell verwendet, erklärt er den „whistle-blower“ von Abu Ghraib, Joe Darby, in individualpsychologischer
Manier und aufgrund von Persönlichkeitsmerkmalen, die seine Resistenz gegenüber situationellen Einflüssen
ausmachten, zum Helden (2007: 330f., 444-487). Allerdings war Darby nie direkt an den Missbrauchsfällen
beteiligt, weswegen seine Rolle als Außenseiter zur Erklärung seines Handelns in Betracht gezogen werden
muss (8.1.1).
429
identifizieren. Einerseits ist dies die ständige Bedrohung durch Angriffe von außen sowie
potenzielle Aufstände im Inneren, andererseits aber der Druck, von Gefangenen
Informationen gewinnen zu müssen. Beide Stressfaktoren fanden ihren Ausdruck in der
Performanz der Soldaten, so beispielsweise in der fiktionalen Erzeugung von Macht, in der
apotropäischen (sprich: unheilabwehrenden) Verwendung von Gesten wie dem „thumbs up“
oder auch in der Anfertigung und Präsentation der Bilder als Trophäen. Dieser Stress hat
maßgeblich zu einer Situation beigetragen, die mit Durkheim als „anomisch“ bezeichnet
werden kann (vgl. Mestrovic & Lorenzo 2008). Die Auflösungserscheinungen der sozialen
Ordnung reichten bis in die Definition der Situation durch die Akteure. Sowohl die
institutionellen Hierarchien als auch der normative Rahmen des Handelns waren in Abu
Ghraib nicht mehr klar absteckbar. Soziale und institutionelle Kontrollmechanismen konnten
nicht mehr greifen. Die Entkopplung von Organisations- und Handlungsebene war keiner
Effektivitätssteigerung geschuldet, sondern der Verselbständigung von Abu Ghraib als einer
anomischen Handlungssphäre. Das anomische Klima in Abu Ghraib führte zu einer
kognitiven und normative Desorientierung der Soldaten. Dies trug dazu bei, dass man sich
mimetisch an dem Handeln anderer Akteure orientierte und auch auf ordnungsstiftende
Rituale und Performanzen zurückgriff.
Die an den Missbrauchsfällen beteiligten Soldaten bilden eine kleine Gruppe
Gleichgesinnter (peer group), die nicht nur einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund
aufweist, sondern auch eine eigentümliche Dynamik besitzt. Gerade in Anbetracht der
anomischen Umstände im Gefängnis muss davon ausgegangen werden, dass die jeweilige
Gruppe für die einzelnen Akteure die zentrale soziale Referenz darstellte. Heimat und Familie
waren fern, während die direkten Vorgesetzen offensichtlich wenig Orientierung und
Vorgaben für das eigene Handeln gaben. So war man letztlich vor allem auf die Anerkennung
seiner Kollegen angewiesen, die zugleich ein Publikum für die eigenen Performanzen
darstellten. Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass die Inszenierungen und die
Fotografien zunächst nur für ein überschaubares, und nicht für ein beliebiges Publikum
gedacht waren. Die Bilder wurden an Kollegen weitergegeben, die derselben Einheit oder
zumindest dem näheren Umfeld angehörten. Der performative Sinn des Fotografierens
bestand hier nicht darin, vergängliche Momente für die spätere Erinnerung festzuhalten,
sondern in der rituellen Überhöhung des tristen Gefängnisalltags. Das Fotografieren selbst
gab dem Augenblick seine besondere Weihe. In ähnlicher Weise wird die Fotografie auch für
die Herstellung von gelungenen Urlaubserlebnissen verwendet – und dient erst in einem
430
zweiten Schritt der Vergegenwärtigung vergangener Erlebnisse. Die Bilder fungierten
natürlich auch als Trophäen, die eine apotropäische Funktion besaßen, und von deren
Verbreitung sich die Soldaten die Anerkennung ihrer Kollegen versprachen (zumindest
Charles Graner, der die Bilder dem „whistle-blower“ Joe Darby gab; vgl. 8.1.1).
Darüberhinaus diente die rituelle Demütigung der Gefangenen, zu der auch das Fotografieren
selbst gehörte, der Binnenintegration der Gruppe in einem schlecht integrierten, anomischen
institutionellen Umfeld. Das Fotografieren war in diesem Fall aber zugleich auch
eidemütigender Bildakt, der die Entwürdigung der Gefangenen nicht nur abbildete, sondern
zugleich auch potenzierte.
Man wird der sozialen und kulturellen Dynamik der Folter in Abu Ghraib nicht gerecht,
wenn man sie nur als ein Ritual der Überhöhung und Vergemeinschaftung beschreibt. Im
Wechselspiel von Performer und Publikum haben wir zudem ein charakteristisches Merkmal
der sozialen Performanz (2.3.4). In den Folterkammern von Abu Ghraib gab es kein
unbeteiligtes Publikum, sondern einen fortwährenden Rollentausch zwischen den Soldaten,
während die Inhaftierten als Requisiten der Inszenierung in den ihnen zugewiesenen Rollen
gefangen blieben. Die einen photographierten, andere wiederum posierten für die Kamera,
während sich außenstehende Dritte an dem Spektakel ergötzten (oder auch innerlich auf
Distanz gingen). So wie im griechischen Dithyrambus auf die Improvisation des Performers
die Antwort des Chors erfolgte, bekamen die Performer in Abu Ghraib ein unmittelbares
Feedback ihrer Peergroup. Die von Zimbardo (2007) skizzierte soziale Dynamik einer
fortschreitenden Erniedrigung und Entmenschlichung der Opfer muss durch eine kulturelle
Dynamik einer Logik des Überschreitens und des wechselseitigen Übertreffens mit Einfällen
ergänzt werden. Die materiellen Manifestationen dieses sozialen Prozesses sind Bilder, die
uns in ihrer Skurrilität und Abscheulichkeit erschrecken. Sie sind Produkte einer sich
steigernden Grausamkeit, einer Überschreitung der Überschreitung und der internen Rivalität
um Anerkennung. In dieser Dynamik spielten natürlich einzelne Personen wie der
„ringleader“ Charles Graner, die aufgrund ihrer Persönlichkeit und Vorgeschichte eine große
Autorität in der Gruppe besaßen, eine entscheidende Rolle. Die Studien und die Interviews
mit den anderen Beteiligten lassen kaum einen Zweifel daran, dass Graner der soziometrische
Star der Gruppe war. Graner war ein Charismatiker, der es schaffte, Frauen wie auch Männer
für sich einzunehmen. Darüberhinaus hatte er Erfahrungen im amerikanischen Strafvollzug
gesammelt, die ihm auch einen „fachliche“ Autorität gegenüber seinen „peers“ einräumten.
Wie die Interpretation der Skandalbilder gezeigt hat, schöpften die Soldaten für ihre
431
Performanzen aus einem gemeinsamen Fundus, der sich aus der amerikanischen Alltagskultur
(Halloween,
„thumbs
up“
und
Pornographie),
der
amerikanischen
Populärkultur
(Heldendarstellungen) und dem christlichen Hintergrund der Vereinigten Staaten speist.
Selbst wenn die christliche Ikonographie bei der Inszenierung des Kapuzenmanns nicht
bewusst Pate stand, wissen wir von der Fotografin, dass sie Jesus Christus vor Augen hatte,
als die den Auslöser ihrer Kamera betätigte (vgl. Mitchell 2011: 114, siehe auch 7.1). Damit
ist das christomimetische Muster nicht nur für die Rezeption, sondern auch schon für die
Produktion der Bilder von Bedeutung gewesen.
Gemeinsam ist den Bildern die performativ erzeugte symbolische Differenzierung
zwischen den Soldaten und den Häftlingen, bei der auf vorgängige Klassifikationsschemata
und rassistische Stereotypen zurückgegriffen wurde. Zwar wäre es auch prinzipiell möglich
gewesen, dass der Einsatz einzelner Motive auch strategischen Erwägungen hätte geschuldet
sein können, z.B. der vermeintlichen kulturellen Schwäche der Araber gegenüber sexueller
Erniedrigung, aber eine solche rationale Verwendung von Symbolen ist angesichts der Bilder
eher unwahrscheinlich. Die Bildmotive waren dem Zweck bzw. der Funktion untergeordnet,
eine soziale Grenzziehung vorzunehmen. Dafür musste auf die in der Gruppe verbreiteten
kulturellen Muster zurückgegriffen werden. Wir haben es also mit dem Ritual einer
Kleingruppe zu tun, die darin ihre Weltanschauung reproduziert und kreativ artikuliert hat.
Halten wir fest: Nicht nur die situativen Bedingungen haben in Abu Ghraib die Bühne für
die Performanz von Demütigung und Folter bereitet, auch der kulturelle Hintergrund war
maßgeblich an der Ausgestaltung der Performanzen beteiligt. In einem anomischen Umfeld
sorgten die Rituale der Demütigung für klare Grenzziehungen und trugen zur sozialen
Integration der Kleingruppe bei. Des Weiteren muss die soziale und performative Dynamik
des Gruppenhandelns berücksichtigt werden, um die Steigerung des Missbrauchs in Abu
Ghraib zu erklären. Jenseits von instrumenteller Orientierung und ritueller Grenzziehung
generierten die Performanzen in Abu Ghraib einen Sinnüberschuss, der nicht nur den anderen
Tätern Anschlussmöglichkeiten bot, sondern auch die Rezipienten der Bilder vor Rätsel
stellte.
432
7.5. Rezeption – Die Rückkehr des Realen und die Imagination von Folter
You see the photographs and you get a sense of it
and you cannot help but be outraged.
Donald Rumsfeld, vor dem
Verteidigungsausschuss des Senats445
Wir haben gesehen, dass der ikonische Gehalt der Abu-Ghraib-Bilder, der in den
vorangegangenen Interpretationen gewonnen wurde (7.1-3), für eine kultursoziologische
Erklärung der Missbrauchsfälle fruchtbar gemacht werden kann (7.4.3). Die Bilder sind nicht
nur für die Rekonstruktion der Vorfälle in Abu Ghraib von großer Bedeutung, sondern waren
auch für die kollektive Empörung über die Missbrauchsfälle ausschlaggebend. Ohne die
Bilder hätte es – ähnlich wie bei dem Massaker von My Lai (6.2.3) – einen Abu-GhraibSkandal nie gegeben. Sabine Sielke zufolge, ist die ikonische Bedeutung der Fotografien
ihrem enthüllenden Charakter geschuldet:
[Unbeabsichtigt laufen sie Sturm] gegen das offizielle Bilderverbot und die Legende vom sauberen Krieg.
Sie gewinnen ihre Signifikanz somit unter anderem, indem sie beleuchten, was westliche Medien zu
zensieren suchten: die 100.000 toten Iraker des Golf-Kriegs, die Körper der gefallenen Amerikaner im
Irak-Krieg und die Gefängnisse, in denen – an vielen Orten der Welt – gefoltert wird. (2007: 158)
Die Bilder aus Abu Ghraib können als „ikonoklastisch“ bezeichnet werden, da sie das
„Image“ des Irak-Krieges und der Vereinigten Staaten in Frage stellten. Bei ihnen handelte es
sich um ein visuelles Störfeuer, das die offiziellen Narrative des Krieges unglaubwürdig
erscheinen ließ. Sielkes These vom Enthüllungscharakter von Abu Ghraib kann man – von
einigen wichtigen Einschränkungen abgesehen – zustimmen: Ohne den Abu-Ghraib-Skandal
hätte es die Debatte um die CIA-Foltergefängnisse nie gegeben (9.1.2), und die dunklen
Seiten des Irakkrieges hätten mit Sicherheit weniger Aufmerksamkeit gefunden. Dennoch
trifft auch die Beobachtung, die Cornelia Brink (2000) bezüglich der Holocaust-Fotografien
gemacht hat, auf die Abu-Ghraib-Bilder zu: In dem Maße, wie die Bilder gewisse Ereignisse
„beleuchten“, werfen sie einen Schatten auf andere Vorgänge. Mit der Enthüllung geht immer
auch eine Abdunkelung bestimmter anderer Aspekte einher. Die Skandalisierung der Vorfälle
in Abu Ghraib impliziert, dass vor dem Zeitpunkt der Enthüllung kein Anlass zur Empörung
bestand – was in hohem Maße fragwürdig ist.446 Indem die ikonischen Bilder vor allem
445
„Rumsfeld Speaks Before Senate Armed Services Committee on Abuse in Iraqi Prison“, CNN Live
Event/Special (11:30), 7. Mai 2004.
446
Schließlich war der amerikanischen Öffentlichkeit bereits im Januar 2004 bekannt, dass gegen die Soldaten
ein Verfahren wegen der Misshandlung von Gefangenen in Abu Ghraib eingeleitet wurde; seit März 2004
433
Szenen der rituellen Erniedrigung und sexuellen Demütigung zeigen, invisibilisieren sie die
Anwendung körperlicher Gewalt gegenüber Gefangenen, die in Abu Ghraib und in Bagram zu
Todesfällen geführt hat (10.2). Die Stilisierung und Ästhetisierung der Misshandlungen auf
den Bildern lässt den systematischen und politischen Charakter der Missbrauchsfälle in den
Hintergrund treten. Darüberhinaus legt die Abbildung der unmittelbaren Täter auf den
Fotografien eine individuelle Zurechnung der Misshandlungen nahe. Sie lassen sich dann
leicht auf individuellen Machtmissbrauchs und idiosynkratrische Perversionen zurückführen.
Was den Abu-Ghraib-Skandal allerdings von anderen Enthüllungen, die sich ebenfalls auf
fotografische Evidenz berufen, unterscheidet, ist die Bedeutung, die den Bildern, die vor
symbolischer Überdeterminiertheit strotzen, selbst beigemessen wurde.
7.5.1. Abu Ghraib als Einbruch des Realen – Enthüllung, Schock, Genuss
Eingangs haben wir uns mit dem Verhältnis des Realen zur Kultur beschäftigt und sind zu
dem Schluss gekommen, dass das sogenannte „Reale“ aus einer kultursoziologischen
Perspektive nie unmittelbar in Erscheinung treten kann, sondern dem Beobachter als mediale
Spur oder als Riss in der symbolischen Ordnung entgegentritt (vgl. 1.3.4). Im Folgenden
sollen drei Ebenen beschrieben werden, auf denen das Reale für die Rezeption der AbuGhraib-Bilder von Bedeutung ist. Zum einen geht es um die visuelle Enthüllung einer
verborgenen Unterwelt, die nicht zuletzt dem fotografischem Medium als einer
authentisierenden Spur des Realen geschuldet ist (2.1.4). Zum anderen kann aber auch die
schockierende Reaktion auf die Fotografien als ein Einbruch des Realen verstanden werden,
der sich dem spezifischem Inhalt der Bilder verdankt. Zu guter Letzt kann auch die auf den
Bildern zur Schau gestellte Lust der Täter als eine Rückkehr des Realen interpretiert werden,
die die geltende symbolische Ordnung unterläuft.
Die Bilder von Abu Ghraib warfen ein Licht auf eine gesellschaftliche Unterwelt, die bis
dato verborgen gewesen war. Die Fotografien machten die Machenschaften des
amerikanischen Gefängnispersonals offenbar. Die digitalen Fotografien von Abu Ghraib sind
minutiös datierbar und räumlich auf das Genaueste zu verorten. Allerdings lässt sich die
Echtheit von Bildern nicht alleine an technischen Kriterien festmachen, sondern ist immer
auch eine Frage des Diskurses. Die Bilder von Abu Ghraib wurden vom Zeitpunkt ihrer
Veröffentlichung an von der amerikanischen Armee als „authentisch“ anerkannt und durch
war bekannt, dass es sich dabei um unanständig Handlungen („indecent acts“) mit sexuellem Charakter
gehandelt hat (8.1.1).
434
die vorausgegangene Pressemitteilung über die Ermittlung gegen die mutmaßlichen Täter
gestützt (8.1.1). Ein Gegenbeispiel für ein Scheitern der Rhetorik des fotografischen Bildes
sind die britischen Folterbilder, die wenige Tage nach den amerikanischen Bildern
veröffentlich wurden, aber von Anfang an unter einem offiziellen Vorbehalt standen und dann
als Fälschungen entlarvt wurden (8.4.2). Die vermeintliche Enthüllung des Realen kann
jederzeit in die Skandalisierung eines Täuschungsversuches umschlagen.
Schockbilder, so heißt es bei Roland Barthes (2010: 135-138), wirken nur, wenn sie nicht
inszeniert wirken. Während eines Besuchs der Ausstellung „Inconvenient Evidence“ in New
York, in welcher die Abu-Ghraib-Fotografien ausgestellt wurden, machte Benjamin
Genocchio die Beobachtung, dass die Abu-Ghraib-Fotografien aus dem gewohnten Rahmen
herausfallen: „They are displayed as photographs, but they are not really photographs. They
are all blurry inkjet printouts of low-resolution Internet files, from what I can tell”.447 Der
offensichtliche Liebhaber fotografischer Kunst sprach in diesem Zusammenhang sogar von
einer „image degradation“. Dass die Abu-Ghraib-Bilder die Qualität professioneller
Fotografien verfehlen, kommt allerdings ihrer Schockwirkung zugute. Sie besitzen eine
eigentümliche Authentizität, eine besondere Beziehung zum Realen, die sie ihrem
unprofessionellen Darstellungsstil verdanken.448 Natürlich ist der schockierende Charakter der
Bilder nicht auf ihre fotografische Qualität zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass die
Bilder zentrale Annahmen des kulturellen Hintergrundes der Vereinigten Staaten ins Wanken
brachten (8.1.3). Hier nimmt die Enthüllung den Charakter der unerträglichen Wahrheit an,
und die Bilder werden zu einem Spiegel, der den Amerikanern vorgehalten wird: „The
photographs are us“, wie es bei Susan Sonntag heißt (8.2.1).449
Im Anschluss an Lacan (1980/1964) und Žižek (2001, 2008) lässt sich auch die jouissance,
das heißt die „Lust“ bzw. der „Genuss“, als ein Aspekt des Realen begreifen. Im Genuss
macht sich nämlich das Subjekt von der symbolischen Ordnung der Verbote und Gebote
(Freuds „Über-Ich“) unabhängig. Indem die Fotografien den Genuss an der Folter zeigen,
unterlaufen sie die symbolische Ordnung der Folter. Hinter diesem Konzept des Realen als
Genuss verbirgt sich letztendlich ein kantianisches Pflichtverständnis: Entweder der Mensch
447
„Through the Blur: Photographs From Abu Ghraib“, The New York Times, 25. September 2005.
448
Diese Technik wird auch in Filmen wie The Blair Witch Project (1999) und in der Produktion sogenannter
Snuff-Videos, die Gewalt und Vergewaltigungen als „authentisch“ inszenieren, angewendet.
449
„Regarding the Torture of Others“, New York Times, 23. Mai 2004
435
lässt sich von moralischen Gründen leiten, oder er handelt nach seinen Neigungen.450
Moralisches Handeln zeigt sich für Kant nur im Handeln gegen die eigenen Neigungen. Aus
einer soziologischen Perspektive stellt die Pflicht das sozial Verbindliche und kollektiv
Abgesicherte dar, während die Neigungen der individuellen Willkür überlassen bleiben.451 So
darf die Anwendung öffentlich legitimierter Gewalt dem ausführenden Akteur keine Freude
bereiten. Harte Verhörtechniken und Folter lassen sich nur legitimieren, wenn sicher
gegangen werden kann, dass sie nicht der Neigung des Verhörspezialisten oder Folterers
folgen, sondern der reinen Pflichterfüllung geschuldet sind. Ist dies nicht der Fall, so gerät
jene symbolische Ordnung ins Wanken, die die Anwendung von Gewalt in Verhören
legitimiert (10.4). Die grinsenden Möchtegernhelden von Abu Ghraib untergraben das
Heldentum der Folter (7.2.5), das sich nach dem 11. September 2001 einer zunehmenden
Beliebtheit erfreute (6.4.3). Die zur Schau gestellte Lust an der Folter hat darüberhinaus eine
zweite Konsequenz, die einer individualistischen Erklärung der Missbrauchsfälle Vorschub
leistete: die Pathologisierung der Täter zu Perversen. Das Reale des Genusses schlägt durch
das Symbolische hindurch und beflügelt dabei das soziale Imaginäre, das die Täter von Abu
Ghraib als Monstren imaginiert.
7.5.2. Abu Ghraib als Verkehrung der symbolischen Ordnung
Was an der Rezeption der Abu-Ghraib-Fotografien schockierte, war vor allem die Verkehrung
der symbolischen Ordnung, die auf den Bildern zum Ausdruck kam. Damit ist gemeint, dass
die Anwendung von Programmen und kulturellen Mustern, die die Zuweisung von binären
Codes regeln (1.3.2), zu einem Ergebnis führte, das dem kulturellen Hintergrund der
amerikanischen Gesellschaft zuwiderlief. Die Bilder aus Abu Ghraib zeigten eine verkehrte
Welt: Der heldhafte Folterer entpuppte sich auf einmal als gewöhnlicher Sadist, während der
vermeintliche
Terrorist
als
bedauernswertes
Opfer
wahrgenommen
wurde.
Die
amerikanischen Soldaten, die Befreier und Beschützer des irakischen Volkes, wurden zur
Besatzungsmacht, die offensichtlich nichts anderes zu tun hatte, als die einheimische
Bevölkerung zu demütigen. Die irakischen Gefangenen, die zuvor als gefährliche
450
Als Beispiel lassen sich die Aussagen von Adolf Eichmann anführen, der sich im israelischen Verhör als
politischer Idealist in Szene setzte und nach eigener Aussage auch seinen Vater umgebracht hätte, wenn es
denn die politische Idee erfordert hätte. Eichmann betonte, dass er durchaus Sympathien gegenüber
bestimmten Juden gehegt habe, aber von diesen Sympathien im Dienst der politischen Pflichterfüllung hätte
absehen müssen (vgl. Arendt 1986: 70; Binder 2009: 198f.).
451
Ganz im Sinne des homo duplex bei Émile Durkheim (2005/1912) oder der Unterscheidung zwischen
Wünschen „erster“ und „zweiter Ordnung“ bei Harry Frankfurt (1971; vgl. auch 1.1.1).
436
Aufständische charakterisiert worden waren, erschienen auf einmal als Opfer soldatischer
Willkür. Die Verkehrung der symbolischen Ordnung, die die Bilder von Abu Ghraib zeigen,
war Wasser auf den Mühlen jener Kritiker, die die Vereinigten Staaten schon lange eines
moralischen Doppelstandards bezichtigten.
Zu
einer
weiteren
symbolischen
Verkehrung
kam
es
in
Hinblick
auf
das
Geschlechterverhältnis, da in der Regel den Männern die Rolle des Täters und den Frauen die
Rolle des Opfers zugewiesen wird. Im öffentlichen, aber auch im feministischen Diskurs
wurde der Tatsache große Aufmerksamkeit geschenkt, dass es Frauen waren, die auf den
Bildern an zentraler Stelle posierten. Lynndie England erlangte als „Domina“ einen geradezu
ikonischen Status (7.3.3): Sie wurde mit dem angeleinten Gefangenen unter anderem auf
Wandgemälden in der iranischen Hauptstadt abgebildet (9.4.1), und die Rolling Stones
widmeten ihr den Song „Dangerous Beauty“.452 England avancierte zum Gegenstück des
offiziellen „Postergirls“ des Irakkrieges, Jessica Lynch (vgl. Faludi 2007: 165-195). Sie
verkörpert – bildlich wie biographisch – die amerikanische Unschuld vom Lande und stellte
damit einen Bruch im Syntagma des Bildes dar. Die Darstellung von Frauen als Tätern wurde
im feministischen Diskurs nach Abu Ghraib eigens thematisiert. Barbara Ehrenreich (2004)
interpretierte die Skandalbilder als ein Zeichen für Geschlechtergleichheit, welches die
Annahme naiver Feministinnen, das Frauen die besseren Menschen seien, ad absurdum führe.
Allerdings gab es auch feministische Stimmen, die darauf insistierten, dass auf den Bildern
von Abu Ghraib dennoch vergeschlechtlichte Gewalt zu sehen sei, welche die
Geschlechterdichotomie in ihrer Verkehrung reproduziere: Es handele sich trotz allem um
eine frauenfeindliche, rassisch motivierte und heteronormative Gewalt – auch wenn sie von
Frauen ausgeübt werde (z.B. Richter-Montpetit 2007).
7.5.3. Abu Ghraib und das Imaginäre der Folter
Ein terminologisches Problem jeder Arbeit zum Abu-Ghraib-Skandal ist die Verwendung des
Begriffes „Folter“ bzw. „torture“ für die Missbrauchsfälle. Obwohl sie nicht der offiziellen
Sprachreglung entspricht, kommt in zahllosen Arbeiten zu Abu Ghraib die Bezeichnung
„Folter“ bzw. „torture“ wie selbstverständlich zur Anwendung. Die vorliegende Untersuchung
hat von einer solchen Verwendung des Folterbegriffs weitestgehend abgesehen. Stattdessen
soll nun nach den Ursachen dieser „Verwechslung“ gefragt werden – die nicht alleine der
politischen Motivation der Autoren geschuldet ist. Die offizielle Sprachreglung, die die
452
Veröffentlicht auf dem Album A Bigger Bang (2005).
437
Vorfälle in Abu Ghraib mit dem Begriff des „Missbrauchs“ bzw. „abuse“ belegt hat, kann
sich auf die Folterdefinition in der Folterkonvention der Vereinten Nationen berufen: Dort
wird der Begriff der Folter auf Schmerzen oder Leiden begrenzt, die von einem Akteur in
seiner öffentlichen bzw. stattlichen Kapazität verursacht werden, oder auf Veranlassung eines
solches Akteurs geschehen (vgl. 3.3.4). Gerade die Tatsache, dass der Fokus des Skandals auf
den Fotografien der sogenannten „night shift“ lag, leistete der Auffassung Vorschub, dass die
Soldaten auf eigene Faust und nicht auf Befehl gehandelt hätten. Insofern scheint die
Bezeichnung „Missbrauch“ bzw. „abuse“, der sich auf die Verletzung der militärischen
Anweisungen bezieht, sachlich angemessener als der Begriff der „Folter.“ Dennoch fällt der
Begriff der Folter immer wieder im Zusammenhang mit Abu Ghraib, wie auch der Skandal
später als Referenzpunkt des neuen Folterdiskurses dienen sollte (10.4).
Assoziationen zur Folter sind vor dem Hintergrund des Krieges gegen den Terror und des
Missbrauchs von Gefangenen in Abu Ghraib sicherlich nicht ganz unbegründet, da ein
sachlicher Zusammenhang zwischen beidem besteht. Bei genauerer Betrachtung besitzen die
Demütigungen von Abu Ghraib dieselbe Struktur wie das Erniedrigungsritual der Folter. Die
dargestellten Akte hätten auch der Folter dienen können, wenn sie angeordnet oder im
öffentlichen Interesse erfolgt wären. Doch zeichnen die Bilder von Abu Ghraib ein Bild der
Folter, das so gar nicht zur Vorstellung einer richterlich angeordneten und medizinisch
kontrollierten Form der Folter passt, die im Folterdiskurs nach dem 11. September 2001
dominierte (6.4.3). Das reine und technische Bild der Folter konnte sich zunächst behaupten,
da die Situation der Gefangenen in Guantanamo Bay und anderswo der Kontrolle durch die
amerikanische Öffentlichkeit entzogen war. Dies führte dazu, dass die sterile Vorstellung
einer professionellen Folter zunächst eine gewisse Plausibilität für sich in Anspruch nehmen
konnte. Gerade die Tatsache aber, dass diese Vorgänge in einer der Gesellschaft verborgenen
Unterwelt stattfanden, befeuerte die soziale Imagination nach den Enthüllungen von Abu
Ghraib. Die Bilder suggerierten eine groteske Imagination der Folter, eine „gothic fantasy“,
wie sie von Philip Smith in seinen Arbeiten über den französischen Diskurs zur Guillotine
herausgearbeitet wurde (2003: 42-48; 2008b: 133-141). Wie die Mutmaßungen über ein
etwaiges
Nachleben
des
Geköpften
die
Guillotine
als
rationale
und
humane
Hinrichtungsmaschine in Verruf brachten und symbolisch beschmutzen, so brachten die
Bilder von Abu Ghraib die nüchterne Vorstellung von „Folter“ in Verbindung zu schmutzigen
Praktiken der sexuellen Erniedrigung und pornographischen Motiven. Im späteren
Folterdiskurs wurde Abu Ghraib als die obszöne Unterseite der Folter immer mitgeführt
438
(10.4).
Die Rezeption der Abu-Ghraib-Bilder zeichnet ein verzerrtes und verunreinigtes Bild von der
amerikanischen Armee, den Soldaten im Irak und der institutionellen Verhörpraxis. Cornelius
Castoriadis hat im Rahmen seiner Theorie des gesellschaftlichen Imaginären den klassischmarxistischen Begriff der „Entfremdung“ neu interpretiert. Entfremdung liegt dann vor, wenn
die Gesellschaft „im Imaginären der Institutionen nicht mehr ihr eigenes Produkt zu
erkennen“ vermag (1987: 226; vgl. 1.3.3). In diesem Sinne lässt sich die Rezeption der Bilder
aus Abu Ghraib – trotz aller vertrauten Motive und retrospektiv festgestellter Kontinuitäten –
als Entfremdungserscheinung begreifen. Abu Ghraib als Manifestation eines institutionellen
Imaginären war mit dem, was die meisten Amerikaner über ihr Militär dachten, unvereinbar.
Das Auseinanderklaffen von institutionellem und gesellschaftlichem Imaginären im Fall von
Abu Ghraib konnte so zu einem Motor gesellschaftlichen Wandels werden.
Neben dem Verweis der Bilder auf mögliche Folterpraktiken hat auch deren
christomimetische Rezeption die Imagination von Folter nachhaltig beeinflusst. Mitchell
zufolge vereinigt die “Christ figure” in sich “figures of torture and sacredness or divinity“.453
Das Christusmotiv legt nicht nur die Rezeption des Gefangenen als unschuldiges Opfer nahe,
sondern macht sich zugleich die historischen Leistungen der christlichen Kunst zu Nutze, die
sich schon seit hunderten von Jahren dem Problem stellt, wie denn die Würde des Leidenden
in seiner Erniedrigung dargestellt werden könne (vgl. Spaemann 1987).454 Dank der
christomimetischen Rezeption eignete sich dieses Bild hervorragend als säkulare Ikone und
Titelbild. Es ist kein Zufall, dass jene beiden Bilder, die am eindrücklichsten die Folter in Abu
Ghraib zum Leiden Christi stilisieren, Titelbilder des deutschen Magazins Spiegel geworden
sind.455 Die westliche Rezeption der Bilder vor einem christlichen Hintergrund wird auch in
dem Gemälde deutlich, das der Künstler Matt Mahurin als Titelbild für das Time Magazin
453
„Echoes of a Christian symbol. Photo reverberates with the raw power of Christ on cross“, Chicago Tribune,
27. Juni 2004.
454
Christliche Ikonographie spielte schon bei der amerikanischen Rezeption des ersten modernen Völkermords
an den Armeniern eine große Bedeutung (Torchin 2006). In zeitgenössischen Karikaturen, aber auch im Film
Ravished Armenia (1919), wird das christomimetische Kreuzigungsmotiv verwendet, um Bezüge zum Leiden
Jesu Christi herzustellen. Im Fall Abu Ghraib ist die Sache freilich etwas anders gelagert. Hier ging es nicht
mehr um die Misshandlung von Christen durch Muslime, sondern um die Misshandlung von Muslimen durch
Christen. Während sich das christliche Amerika anlässlich des Armenien-Genozids wegen seiner
Unterlassung in das Geschehen Einzugreifen öffentliche geißelte, klagen die Bilder von Abu Ghraib die
aktive Herabwürdigung von irakischen Gefangenen durch amerikanische Soldaten an.
455
„Die Folterer von Bagdad. Us-Söldner im Irak“, Spiegel, 3. Mai 2004; „Amerikas Schande. Folter im Namen
der Freiheit“, Spiegel, 20. Februar 2006.
439
anfertigte.456 Schon auf der ikonischen Ebene des Bildes, in der Kreuzform der Gestalt, ist die
christliche Ikonographie angelegt. Diese Übereinstimmung in der Form der Darstellung
stilisiert das Leiden des Opfers und umgibt es mit einer Aura der Unschuld. Die
christomimetische Rezeption der Bilder verrät uns etwas über den Habitus und die kulturellen
Muster des Publikums. Zugleich sorgt sie aber dafür, dass die populäre Imagination der Folter
durch Assoziation mit dem göttlichen Leiden von Jesus Christus ins Dämonische verzerrt
wird.
456
Das Bild zeigt einen gefesselten Häftling mit schwarz-verhülltem Kopf und ausgemergeltem Oberkörper, der
Spuren aufweist, die an die Stigmata von Christus erinnern. Das Gemälde verweist einerseits auf die Ikone
des Skandals, andererseits aber auch auf künstlerische Vorbilder wie die Verspottung Christi (1503-1505)
von Grünewald. Vgl. „How did it come to this?“, Time, 17. Mai 2004.
440
8. Diskursanalyse I – Entstehung und Bewältigung des Skandals
Nachdem wir uns in den vorangegangenen Kapiteln eingehend mit der Vorgeschichte und den
Bildern von Abu Ghraib beschäftigt haben, werden wir uns in den letzten Kapiteln dieser
Arbeit dem öffentlichen Diskurs zu Abu Ghraib, dem Skandal als soziales Drama und seinen
Konsequenzen zuwenden. Der Skandal lässt sich in drei Phasen unterteilen, denen jeweils ein
Kapitel gewidmet ist. Dabei kann schon die Frühphase des Skandals als ein soziales Drama
für sich betrachtet werden, da nach der Enthüllung der Fotografien (8.1.) und der Zuspitzung
der Krise im Mai 2004 (8.2) der Skandal wieder eingedämmt und eine temporäre Bewältigung
erreicht werden konnte (8.5). Die Wiederwahl von Bush im November 2004 markierte den
vorläufigen Endpunkt des Skandals und damit auch das Ende seiner frühen Phase, zugleich
aber setzte sie den Anfangspunkt einer erneuten und fortdauernden Auseinandersetzung mit
den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib, worauf in den beiden letzten Kapiteln eingegangen
wird. Nachdem die polarisierende Phase des Wahlkampfes vorüber war, bekam Bush
plötzlich Gegenwind aus dem eigenen Lager (9.1-2) – eine Entwicklung, die Jahre später in
einem neuen Konsens über Abu Ghraib münden sollte (10.1.3). Zunächst einmal soll der
überschaubare Forschungstand zur medialen Berichterstattung über Abu Ghraib skizziert und
diskutieren werden, bevor dann die Auswahl und Auswertung des verwendeten Materials
vorgestellt und gerechtfertigt (8.0.1) und schließlich mit der eigentlichen Diskursanalyse
begonnen werden kann.
Die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Interesse an den Bildern und den
Missbrauchsfällen von Abu Ghraib auf der einen und den öffentlichen Diskursen auf der
anderen Seites ist frappierend. Die mediale Berichterstattung und der öffentliche Diskurs zu
Abu Ghraib hat so gut wie keine wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Mit einer
Medienanalyse im engeren Sinne befassen sich nur drei, recht unterschiedliche Studien: die
Monographie Language of the Empire von Lila Rajiva (2005), die Arbeit Folter frei von
Horst Müller (2004) und einigen Medienstudenten der Hochschule Mittweida sowie der
Artikel None Dare Call It Torture von den Kommunikationswissenschaftlern Lance W.
Bennett, Regina G. Lawrence und Steven Livingston (2006). So unterschiedlich diese Studien
sind, an ihren Titeln wird bereits eine Gemeinsamkeit deutlich: ihre politische Stoßrichtung.
Die Arbeit von Rajiva (2005) widmet sich den ersten Wochen des Skandals und kommt zu
dem Ergebnis, dass der Skandal keine ernst zu nehmenden Konsequenzen gehabt habe. Dieses
Ergebnis entspricht nicht nur der Einschätzung von liberalen Kritikern, sondern wird auch in
441
Teilen durch die folgende Untersuchung bestätigt. Leider genügt ihre Studie – wie so viele
Arbeiten zu Abu Ghraib – nur schwerlich den Standards wissenschaftlichen Arbeitens; sie ist
noch am ehesten dem politischen Journalismus zuzurechnen. Ihre wissenschaftliche, aber
auch journalistische Unbrauchbarkeit ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass sich die
Autorin in ihrer Untersuchung von antiamerikanischen (und teils auch antiisraelischen)
Ressentiments leiten lässt. Eine vorurteilsfreie Analyse und theoretische Durchdringung des
empirischen Materials wird man in dieser Arbeit nicht finden. Sie muss als politische
Streitschrift verstanden werden. Die Studie Folter frei (Müller 2004) widmet sich ebenfalls
den ersten Wochen des Skandals, aber auch der Berichterstattung im Vorfeld der
Erstausstrahlung der Bilder. Müller und seine Studenten kommen zu dem Schluss, dass die
Medien, insbesondere auch die deutschen Printmedien, sehr viel früher von „Folter“ im Irak
hätten berichten können. Auch wenn diese Arbeit gewissen wissenschaftlichen Standards
Genüge tut, handelt es sich bei ihr in erster Linie um eine medienkritische Abhandlung. Zwar
gelangen die Autoren zu dem richtigen Ergebnis, dass es ohne die Verfügbarkeit von
Bildmaterial keine ernst zu nehmende Berichterstattung über die Vorfälle gegeben hätte, doch
dient dieser Befund hier letztlich nur einer professionsethischen Kritik am zeitgenössischen
Journalismus. So berechtigt diese Kritik auch sein mag, der wissenschaftliche Ertrag der
Arbeit leidet unter ihrer ikonoklastischen Rhetorik und dem moralisierenden Abgesang auf
den Qualitätsjournalismus, einem klassischen Verfallsnarrativ.
Von den wenigen Arbeiten, in welchen die Medienberichterstattung und die öffentlichen
Diskurse zu Abu Ghraib untersucht wurden, genügt die Arbeit von Bennett, Lawrence und
Livingston
(2006)
noch
am
ehesten
wissenschaftlichen
Ansprüchen.
Die
Kommunikationswissenschaftler haben in einer Untersuchung von Artikeln der Washington
Post und von Nachrichtensendungen des amerikanischen Senders CBS im Zeitraum 1. Januar
bis 31. August 2004 herausgefunden, dass in der Berichterstattung über Abu Ghraib öfter von
„torture“ als von „abuse“ die Rede war und dass sich diese Tendenz im Verlauf des Skandals
noch verstärkte. Die Autoren erklären ihren Befund damit, dass es eine Selbstzensur in den
amerikanischen Medien gegeben habe, die letztendlich dazu beigetragen habe, dass der
Skandal versandete und Bush wiedegewählt wurde. Die quantitative Inhaltsanalyse der
Autoren besitzt allerdings erhebliche Mängel, da sie die Kontexte des Gebrauchs dieser
Begriffe systematisch ausbelendet. Eine dichte Beschreibung des öffentlichen Diskurses zu
Abu Ghraib, wie sie in den letzten drei Kapiteln dieser Arbeit angestrebt wurde, muss zwar
auf statistische Repräsentativität und Quantifizierbarkeit verzichten, kann aber durch eine
442
reichere Darstellung, die auch die jeweiligen Kontexte berücksichtigt, eine höhere Validität
erzielen. Ein weiteres Problem der Arbeit von Bennett, Lawrence und Livingston (2006)
betrifft ihre Folgerung, dass sich die Häufigkeit der Verwendung dieser Worte nur durch eine
„Selbstzensur“ der Medien erklären lasse. Dieser Schluss ist überaus problematisch, da sie
einen privilegierten Zugang zur „Wirklichkeit“ und zum Begriff der „Folter“ voraussetzt, der
– wie wir gesehen haben – so nicht gegeben ist (3.5.4; 6.41). So lässt sich mit Fug und Recht
behaupten, dass es sich bei den Vorfällen lediglich um „Gefangenenmissbrauch“ und nicht
um „Folter“ gehandelt habe. In der Festlegung auf „Folter“ als „wahre“ Wirklichkeit von Abu
Ghraib tritt einerseits der normative und politische Standpunkt der Autoren deutlich zu Tage,
andererseits werden dadurch bestimmte wissenschaftliche Fragestellungen von vornherein
ausgeschlossen. Viel interessanter ist doch die umgekehrte Frage, nämlich warum im
Zusammenhang mit den Vorfällen in Abu Ghraib eigentlich überhaupt von „Folter“ die Rede
war – und warum der Abu-Ghraib Skandal einen nachhaltigen Effekt auf die Folterdebatte
ausüben konnte (10.4).
Halten wir fest: Die wenigen Untersuchungen zum öffentlichen Mediendiskurs von Abu
Ghraib sind allesamt mit großen Mängeln behaftet. Sie konzentrieren sich im Wesentlichen
auf die ersten Wochen des Skandals und besitzen darüberhinaus noch eine normative
Färbung, die dem wissenschaftlichen Ertrag der Studien abträglich sind. Die Autoren werden
so selbst zu einem Teil der kollektiven Empörung über die Missbrauchsfälle, statt gegenüber
dem von ihnen untersuchten Phänomen eine wissenschaftlich-distanzierte Haltung
einzunehmen. Diese Arbeiten sind – wie die meisten wissenschaftlichen Beiträge zu Abu
Ghraib – in relativ kurzem Abstand zu der Veröffentlichung der Bilder entstanden, was
einerseits ihre Distanznahme erschwerte und andererseits dafür sorgte, dass die längerfristigen
Folgen von Abu Ghraib, wie beispielsweise das McCain-Amendment (9.2) oder auch die
anschließende Folterdebatte (10.4), erst gar nicht in den Blick gerieten. Die bisher
vorliegenden Arbeiten zeigen vor allem eines: Es bedarf noch einer Diskursanalyse, die den
Abu-Ghraib-Skandal einer unvoreingenommenen und sachlichen Analyse unterzieht, die über
die frühe, „heiße“ Phase des Skandals hinausgeht. In den nächsten drei Kapiteln wird der
Versuch zu einer solchen Analyse unternommen.
8.0.1. Anmerkungen zur Methode – Auswahl und Auswertung der Daten
Die empirische Arbeit am öffentlichen Diskurs zu Abu Ghraib stützt sich auf eine Analyse der
amerikanischen Tagespresse und von Nachrichtensendungen im amerikanischen Fernsehen in
einem Zeitraum von insgesamt sechs Jahren, von Januar 2004 bis Dezember 2009. Zu dem
443
Materialkorpus der Tagespresse gehört die USA Today, die New York Times, die Washington
Post und das Wall Street Journal. Die USA Today und das Wall Street Journal stellen mit
einer Auflage von jeweils über zwei Millionen die meistverkauften Zeitungen der Vereinigten
Staaten dar.457 Die USA Today ist ein eher farbloses Blatt, das gerne Hotelgästen zur
Verfügung gestellt wird, aber gerade deswegen wie keine andere amerikanische Zeitung den
politischen Mainstream verkörpert. Das Wall Street Journal besitzt vor allem eine Reputation
als Wirtschaftszeitung und ist stärker konservativ ausgerichtet, wobei politische Divergenzen
zwischen den konservativen Editorials und den liberaleren Artikeln deutlich zu Tage treten
(vgl. Alexander 2010: 294). Die New York Times und die Washington Post sind mit einer
Auflage von eineinhalb Millionen bzw. einer knappen Million ebenfalls unter den fünf
größten Zeitungen der USA. Sie stehen für einen Qualitätsjournalismus, der eher dem
linksliberalen Spektrum zuzuordnen ist – dabei gilt insbesondere die Times bei
rechtskonservativen Politikern und Kommentatoren als Inbegriff einer elitären, linken
Presse.458
Zur Erhebung der Daten wurde in der Lexis-Nexis-Datenbank nach Nennungen von „Abu
Ghraib“ in dem Zeitraum vom 1. Januar 2004 bis zum 31. Dezember 2009 gesucht. Dabei
ergab sich allerdings folgendes Problem: Während die Artikel der USA Today, der New York
Times und der Washington Post frei über die Datenbank verfügbar waren, waren im Falle des
Wall Street Journals nur Zusammenfassungen zu einzelnen Artikeln verfügbar. Diese
Zusammenfassungen konnten zwar nicht den Volltext ersetzen, ließen aber Rückschlüsse auf
das Thema und die politische Ausrichtung der Artikel zu. Allerdings ließen sich einzelne
Artikel des Wall Street Journals als Volltext im Internet finden. Um dem berechtigten
Einwand vorzubeugen, dass selbst die großen Zeitungen der USA zusammengenommen nur
einen Bruchteil der Bevölkerung erreichen und das Fernsehen für die Analyse öffentlicher
Diskurse in den Vereinigten Staaten das wichtigere Medium darstelle, wurde die Analyse
noch einmal um die Transkripte von Fernsehsendungen auf vier amerikanischen
457
Diese und folgende Angaben zu den Auflagen amerikanischer Tageszeitungen sind auf dem Stand vom 31.
März 2006, also etwa in der Mitte des hier zu Grunde gelegten Untersuchungszeitraumes
http://www.infoplease.com/ipea/A0004420.html; letzter Zugriff am 4. Juli 2011.
458
In dem hier untersuchten Datenmaterial wird dies insbesondere an den Äußerungen des politischen
Kommentators Bill O’Reilly deutlich, der in zahllosen Sendungen seiner Talkshow The O’Reilly Factor auf
dem Fox News Network den Abu-Ghraib-Skandal als ein Produkt der New York Times auszugeben versuchte.
Die hier vorliegenden Daten widersprechen seiner These, denn sie zeigen nicht nur, dass Abu Ghraib auf
allen Kanälen thematisiert wurde, sondern auch, dass sich eine übergreifende Rahmung des Skandals im
öffentlichen Diskurs herausbildete – auch wenn diese von O’Reilly nicht geteilt wurde.
444
Nachrichtensendern erweitert, was es darüberhinaus ermöglichte, den erhebungsbedingten
Wegfall des Journals am rechten Rand des politischen Spektrums zu kompensieren. Es
wurden die drei großen amerikanischen Nachrichtensender CNN, MSNBC und Fox News
ausgewählt, wobei CNN die politische Mitte repräsentiert, MSNBC das linksliberale und Fox
News das rechtskonservative Spektrum abdeckt.459 Der kleinere Sender CBS vervollständigt
die Auswahl, da ihm bei der Enthüllung der Missbrauchsfälle eine besondere Rolle zukam:
Hier wurden die Skandalfotos das erste Mal gezeigt. Allerdings kam es auch bei der Analyse
der Transkripte zu einem praktischen Problem, da sich die Beiträge von CNN, einem reinen
Nachrichtensender, nicht nur als sehr umfangreich, sondern auch als äußerst redundant
entpuppten. Da der hier zu erwartende Auswertungsaufwand in keinem Verhältnis zu dem zu
erwartendem wissenschaftlichen Ertrag stand, wurden die Transkripte von CNN nur bis Ende
Mai 2004 berücksichtigt, wodurch die „heiße“ Phase des Skandals abgedeckt werden konnte,
während die Beiträge der anderen Sender über den kompletten Zeitraum hinweg analysiert
wurden. Außerdem sollte noch erwähnt werden, dass die Quellenangaben, die wie gewohnt in
den
Fußnoten
erfolgt,
für
diese
Darstellung
harmonisiert
wurde.460
Die
forschungspragmatische Beschränkung der Analyse auf Zeitungsartikel und Transkripte aus
Datenbanken fordert allerdings ihren Preis: Gerade eine Analyse des Abu-Ghraib-Skandals
hätte von einer systematischen Untersuchung des Zusammenspiels von Texten und Bildern
auf den Zeitungsseiten und in den Nachrichtensendungen außerordentlich profitieren können.
Dies war aufgrund der reinen Textdaten in Lexis-Nexis nicht möglich und hätte darüberhinaus
den Rahmen dieser Arbeit vollends gesprengt. Der Eigenlogik der Bilder wurde allerdings
schon im vorangegangenen Kapitel Rechnung getragen.
Alles in allem standen mehrere tausend Artikel und Transkripte zur Verfügung, in denen
der Suchbegriff „Abu Ghraib“ auftauchte. Um dieser Flut von Daten Herr zu werden, wurden
die Artikel, geordnet nach dem jeweiligen Medium und Zeitabschnitt, in das
Analyseprogramm Atlas.ti eingespeist und zunächst einmal oberflächlich gesichtet. Dabei
bewährte sich folgendes Vorgehen: Es ging zunächst darum, die markierten Nennungen des
Suchbegriffs „Abu Ghraib“ ausfindig zu machen und grob einzuordnen. Ab und zu war nur
459
Es gibt allerdings durchaus auch erhebliche Unterschiede in der politischen Ausrichtung der verschiedenen
Shows innerhalb des gleichen Senders. So hat MSNBC den ehemaligen republikanischen Politiker Joe
Scarborough unter Vertrag, der in seiner Sendung Scarborough Country in der Regel rechtskonservative
Positionen vertritt.
460
Gerade bei den Transkripten gab es nicht nur Unterschiede zwischen den Sendern, sondern auch
verschiedene Titel- und Zeitangaben bei ein- und demselben Sender. Die Zeitangabe, die sich immer auf die
Eastern Time bezieht, folgt der europäischen Darstellung von 00:00 bis 23:59.
445
von der gleichnamigen Stadt die Rede, insbesondere bei Gefallenenmeldungen, oder aber von
dem Gefängnis, ohne dass dies in einem direkten Bezug zu dem Skandal stand. Die relevanten
Treffer wurden sodann einer näheren Begutachtung unterzogen und mit Stichworten oder
Codes versehen. Das so entwickelte Codeschema umfasste häufig wiederkehrende Personen
(wie „McCain“), Institutionen (wie „Supreme Court“) und Themenkomplexe (wie „Folter“).
Diese Typisierung wurde durch Notizen bzw. Memos ergänzt, durch die ungewöhnliche
Artikel kenntlich gemacht und kleinere Überlegungen festgehalten werden konnten.
Besonders prägnante Zitate wurden zum Teil schon während der Durchsicht in größere
Textdokumente zu den einzelnen Themengebieten eingearbeitet. Bei der Ausarbeitung der
einzelnen thematischen Abschnitte wurden die relevanten Einträge des Stichwortkatalogs
abgearbeitet. Vorab lässt sich festhalten, dass keine wesentlichen Unterschiede zwischen den
Zeitungsberichten und den Fernsehnachrichten festgestellt werden konnten. Alle Argumente,
die im Fernsehen verhandelt wurden, tauchten auch in der Tagespresse auf. Die
Fernsehtranskripte fügten der dichten Beschreibung des Abu-Ghraib-Skandals noch ein wenig
Farbe hinzu, änderten aber an der Argumentation nichts Wesentliches.
Überraschend war allerdings, dass die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib noch lange nach
der „heißen“ Phase des Skandals in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auftauchten.
Sie wurden nicht nur in Wahlkämpfen (8.5.; 9.5.3; 10.1), sondern auch anlässlich von
konkreten politischen Entscheidungen (9.2.) oder Urteilen des Obersten amerikanischen
Gerichtes (9.3.) thematisiert. Die Ikonographie des Skandals wurde von politischen Aktivisten
und Künstlern zitiert (9.4) und fand ihren Niederschlag auch in der Populärkultur (10.3) und
in der Folterdebatte (10.4). Diese Zusammenhänge erschlossen sich alleine auf Basis der
Analyse der Tagespresse und von Nachrichtensendungen im angegebenen Materialkorpus –
wenn auch zu einzelnen Punkten zusätzliche Recherchen durchgeführt wurden. Alle im
Folgenden zitierten Zeitungsartikel und Transkripte nehmen in der einen oder anderen Weise
auf die Vorfälle von Abu Ghraib Bezug. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass sich wichtige
öffentliche Debatten, politische Kämpfe und kulturelle Verschiebungen in den Vereinigten
Staaten im Untersuchungszeitraum am Leitfaden von Abu Ghraib nachverfolgen und
explizieren lassen – wobei natürlich andere Untersuchungen mit anderen Schwerpunkten auch
andere Aspekte der hier diskutierten Prozesse und Phänomene zu Tage fördern könnten. Die
Ausarbeitung und Anordnung der einzelnen Kapitel zielt darauf ab, eine dichte, narrative
Rekonstruktion des Skandals und seiner Folgen zu komponieren, die zugleich die sozialen
Mechanismen seiner Verbreitung, Bewältigung und Verarbeitung offen legt.
446
8.1. Bildbruch – Enthüllung und Rahmung der Normverstösse
Americans did this to an Iraqi person.
Dan Rather, Nachrichtensprecher von
CBS, 60 Minutes, 28. April 2004.461
Es lassen sich mehrere Phasen der Enthüllung der Missbrauchsfälle und Bilder unterscheiden.
Zunächst einmal fanden die Enthüllungen innerhalb der Armee statt, nämlich nachdem das
kompromittierende Fotomaterial von dem „whistle-blower“ Joe Darby einem Vorgesetzten
zugetragen worden war, der diese daraufhin der Militärführung weiterleitete (8.1.1). Die
nächste Phase der Enthüllung setzte dann Anfang des Jahres 2004 ein, als die Armee eine
Untersuchung zu den Vorfällen in Abu Ghraib einleitete und darüber in der Presse berichtet
wurde (8.1.2.). Die dritte Phase der Enthüllung begann am 28. April 2004 mit der
Veröffentlichung von Bildern in der CBS-Show 60 Minutes und setzte sich in den Artikeln
des Journalisten Seymour Hersh fort, der nebst zusätzlichen Bildern auch noch aus einem bis
dato geheimen Untersuchungsbericht der Armee zitierte (8.1.3). Dies war allerdings erst der
Anfang, es folgten weitere Enthüllungen: die Veröffentlichung von Bildern, die angeblich
Missbrauchsfälle der britischen Armee dokumentierten; die Publikation geheimer
Memoranda, welche die amerikanische Regierung belasteten; schließlich tauchte auch noch
ein Bericht des Internationalen Roten Kreuzes auf, das humanitäre Mängel in dem AbuGhraib-Gefängnis dokumentierte und dem amerikanischen Militär bereits vor den
berüchtigten Missbrauchsfällen vorgelegen hatte (8.4.1).
8.1.1. Von der Armee in die Medien – “whistle-blower” und “deep throat”
Eine Schlüsselrolle bei der Enthüllung des Abu-Ghraib-Skandals spielte Joe Darby, der als
Militärpolizist zur gleichen Einheit wie die Täter gehörte. Seine Rolle bei der Enthüllung des
Skandals wurde erstmals durch einen Artikel von Seymour Hersh im New Yorker öffentlich
gemacht.462 Auch wenn der New Yorker kein breites Publikum erreicht, handelt es sich bei
dem Magazin doch um ein Leitmedium, dem in journalistischen Kreisen als Multiplikator
eine wichtige Bedeutung zukommt. Prominent wurde Darbys Beteiligung bei der Enthüllung
461
Die ersten Worte der berüchtigten Sendung, in der die Abu-Ghraib-Bilder erstmals publik gemacht wurden.
Die Worte kommentieren die Ikone des Skandals (7.1), die gleichzeitig das erste Bild war, das seinerzeit
gezeigt wurde.
462
Hersh, Seymour M.: „Torture at Abu Ghraib. American soldiers brutalized Iraqis. How far up does the
responsibility go?“, The New Yorker, 10. Mai 2004.
447
der
Missbrauchsfälle
erst
nach
seiner
namentlichen
Erwähnung
durch
den
Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Rahmen der ersten Abu-Ghraib-Anhörung im
amerikanischen Senat am 7. Mai.463 Auf eine Nachfrage antwortete Rumsfeld damals, dass
ein gewisser Joe Darby seinen Vorgesetzten Mitte Januar über die Missbrauchsfälle informiert
und ihm dabei die Bilder übergeben habe.464 Dies geschah am 13. Januar, allerdings anonym
und in Form einer CD und eines Begleitbriefes, da Darby Vergeltungsaktionen von seiner
Einheit befürchtete.465 Erst tags darauf gab sich Darby als Verfasser des Schreibens zu
erkennen, worauf das Militär umgehend die Untersuchung der Vorfälle einleitete und auch die
Presse informierte.
Für die amerikanische Öffentlichkeit wurde der „whistle-blower“ Darby zu einem
Helden.466 Noch Barack Obama führte in seiner Rede über Patriotismus am 4. Juli 2008,
mitten im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf, Joe Darby als Beispiel für
amerikanisches Heldentum und als Verkörperung eines wahren Patriotismus an, da er den
Idealen der Nation stärker verpflichtet sei als der korrupten Realität. Auch Philipp Zimbardo
bezeichnet Darby als einen „Helden“, da dieser es geschafft habe, sich gegenüber den
situationellen Einflüssen in Abu Ghraib zur Wehr zu setzten,467 und generalisiert seinen Fall
zu einer sozialpsychologischen Theorie des Heldentums (2007: 444-488). Diese Interpretation
ist jedoch mit Vorsicht zu genießen, da Darby nie zur sozialen Gruppe der Täter gehört hat,
sondern als Außenseiter, der kaum Kontakt mit den Gefangenen hatte, nicht denselben
situationellen Einflüssen wie die Täter ausgesetzt war. Darbys offizieller Status als Held
wurde jedoch nicht überall in der Bevölkerung anerkannt. Manche sahen in ihm eine „Petze“
(„rat“) und einen „Verräter“ („traitor“).468 Wieder andere beschuldigten ihn, mit seiner Tat
das Leben amerikanischer Soldaten im Irak gefährdet oder gar auf dem Gewissen zu haben.469
Die Rolle, die Joe Darby bei der Enthüllung des Skandals gespielt hat, verrät uns
463
„Rumsfeld Speaks Before Senate Armed Services Committee on Abuse in Iraqi Prison“, CNN Live
Event/Special (11:30), 7. Mai 2004.
464
„Whistleblower asked mom‘s advice“, USA Today, 12. Mai 2004.
465
„In a Soldier‘s Words, an Account of Concerns“, The New York Times, 22. März 2004.
466
„What Would You Do?“, The Washington Post, 12. Mai 2004.
467
So auch „Pressure to Go Along With Abuse Is Strong, But Some Soldiers Find Strength to Refuse“, The New
York Times, 14. März 2004.
468
„Exposing the Truth; Joe Darby, man who turned in Abu Ghraib prison abuse photos, tells his side of the
story“, CBS 60 Minutes (19:00), 10. Dezember 2006.
469
„When Joseph Comes Marching Home; In a Western Maryland Town, Ambivalence About the Son Who
Blew the Whistle at Abu Ghraib“, The Washington Post, 17. Mai 2004.
448
vermutlich mehr über die Normalisierung des Gefangenenmissbrauchs in Abu Ghraib und die
Mechanismen sozialer Kontrolle als über seine Persönlichkeit. Er wurde selbst nie Zeuge von
Missbrauchsfällen, sondern bekam von Charles Graner die CD mit den Skandalfotos
zugesteckt. Als Außenseiter, der erst später nach Abu Ghraib gekommen war und im Übrigen
wenig direkten Kontakt zu den Gefangenen hatte, konnte Darby die Handlungen auf den
Fotos als Normverstösse wahrnehmen und sich darüber empören, was vielen anderen
Mitgliedern seiner Einheit offensichtlich nicht in demselben Maße möglich war. Der FayJones-Report berichtet von mehreren Fällen, in denen Soldaten von den Missbrauchsfällen
wussten, aber dennoch keine Veranlassung darin sahen, diese einem Vorgesetzten zu melden
(2005/2004). So gab es durchaus viele in der Einheit, die Augenzeugen des Missbrauchs von
Gefangenen wurden; darüberhinaus konnten sich die Sanitäter, die die Opfer von
Gewaltexzessen zu behandeln hatten, einen Reim auf die Vorfälle machen; und schließlich
zirkulierten auch einige der Skandalfotografien unter den Soldaten, die in manchen Fällen
sogar als Bildschirmschoner verwendet wurden (vgl. 7.2). Die Berichte der Armee deuten auf
eine schleichende Eskalation und Normalisierung des Missbrauchs hin, was erklärt, warum
außerordentliche Straftaten als business as usual wahrgenommen wurden. Auch Philipp
Zimbardo berichtet, dass er im Laufe des Stanford-Prison-Experiments zu einem kaltblütigen
Gefängnisdirektor mutiert sei, der nur durch eine Intervention von außen zum Abbruch des
Experiments gebracht werden konnte (2007: 168-171; 179f.). Ein ähnlicher Mechanismus der
Anpassung war auch in Teilen dafür verantwortlich, dass über Gräueltaten der
amerikanischen Armee in Vietnam von den Kriegsreportern vor Ort zunächst nicht berichtet
wurde (6.2.3).470 So ist es kein Zufall, dass gerade ein Journalist, der nicht vor Ort gewesen
war, nämlich Seymour Hersh, das My-Lai-Massaker aufdeckte. Eine vergleichbare Rolle kam
dem Außenseiter Darby zu, dessen Heroismus hier zwar nicht abgestritten, aber in seinem
sozialen Kontext gesehen werden sollte. Als diese Anschuldigungen wenig später erstmals
das Licht der amerikanischen Öffentlichkeit erblickten, konnte allerdings von einem breiten
nationalen oder gar globalen Interesse noch keine Rede sein.
Am 16. Januar 2004 gab das Militär in einer Pressemitteilung bekannt, dass wegen des
mutmaßlichen Missbrauchs von Gefangenen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib eine
offizielle Untersuchung der Vorfälle eingeleitet worden sei. Am Tag darauf wurde nur in der
New York Times über die Missbrauchsvorwürfe berichtet, wo sie in einen breiteren Kontext
470
Dieser Mechanismus der Anpassung von Menschen (und Reportern) an die Normen ihrer Umgebung machte
man sich auch im Irakkrieg durch den Einsatz von sogenannten „embedded journalists“ zu Nutze (6.5.1).
449
von ähnlichen Vorfällen gestellt wurden.471 So war damals bereits bekannt, dass gegen einen
Offizier ermittelt wurde, der während eines Verhör seine Waffe abgefeuert hatte, um den
Gefangenen
einzuschüchtern;
außerdem
wusste
man
dass
drei
Soldaten
wegen
Gefangenenmissbrauchs in Camp Bucca die Armee verlassen mussten, und dass gegen acht
Reservisten der Marine Anschuldigungen vorlagen, die in einem Zusammenhang mit dem
Tod eines irakischen Gefangenen standen. Abu Ghraib war weder der erste noch der
schlimmste Zwischenfall, der an die Öffentlichkeit gelangte. Allerdings zogen sowohl die
Anschuldigungen von Abu Ghraib wie auch die anderen Missbrauchsfälle und Tötungsdelikte
zunächst wenig öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Und wieder einmal war es Seymour
Hersh, eine wahre Ikone des investigativen Journalismus, der durch die Zeitungsmeldungen
neugierig geworden war und daraufhin mit seinen Recherchen zu Abu Ghraib begann.
Als zwei Monate später, am 20. März, das amerikanische Militär sechs Soldaten wegen
Körperverletzung („assault”), Grausamkeit („cruelty“), unanständiger Akte („indecent acts”)
und der Misshandlung („maltreatment“) von Gefangenen angeklagt hatte, kam es zu einem
gewissen Anstieg des öffentlichen Interesses.472 Allerdings war dieses auch hier noch eher
begrenzt und der öffentliche „Aufschrei“ blieb aus. Stattdessen äußerte man sich sachlichnüchtern über mögliche Konsequenzen der Enthüllung. Der Philadelphia Inquirer wies
frühzeitig auf die symbolische Bedeutung des Abu-Ghraib-Gefängnisses hin, und in der
Washington Post hieß es, dass es sich bei den Vorfällen in Abu Ghraib nur um einen Fall
unter anderen Fällen dieser Art handele,473 wobei der Inquirer hervorhob, dass die
Anschuldigungen insofern ungewöhnlich seien, als es hier um „unanständiges“ Verhalten
gehe, das möglicherweise auch sexuelle Übergriffe beinhalte:
Saturday‘s charges were unusual in part because the „indecent acts“ accusation, according to the
military‘s court-martial manual, refers to „grossly vulgar, obscene, repugnant“ behavior „to excite lust
and deprave the morals with respect to sexual relations.“474
Diese Schilderung der Vorfälle musste dem puritanischen Amerika Unbehagen bereiten. Trotz
derlei pikanter Details rückten die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib erst einen Monat später,
und zwar mit der Veröffentlichung der Skandalbilder, ins Zentrum der öffentlichen Debatte.
Die Bedeutung des fotografischen Materials für die Skandalisierung der Missbrauchsfälle
471
„Inquiry Ordered Into Reports of Prisoner Abuse“, The New York Times, 17. Januar 2004.
472
„6 G.I.‘s in Iraq Are Charged With Abuse Of Prisoners“, The New York Times, 21. März 2004.
473
„U.S. Soldiers Charged in Abuse of Iraqis“, The Washington Post, 21. März 2004.
474
„Details still sketchy on prisoner abuse; Officials are withholding the names of the six U.S. soldiers arrested
in Iraq. Eleven were suspended“, The Philadelphia Inquirer, 22. März 2004.
450
kann, wie wir sehen, kaum überschätzt werden. Auch hier gibt es Parallelen zur
Skandalisierung von My Lai, die erst mit der Veröffentlichung der Fotos an Momentum
gewann (6.2.3).
Der Fernsehsender CBS war über den Verwandten eines Angeklagten an das belastende
Bildmaterial gelangt. Am 12. April 2004 unterrichtete man das Pentagon darüber, dass man
im Besitz der Bilder sei und deren Veröffentlichung vorbereite.475 Am 14. April bekam der
Nachrichtensprecher Dan Rather einen Anruf von Generalstabschef Richard B. Myers, dem
ranghöchsten Offizier der amerikanischen Streitkräfte. Er bat den Sender um Aufschub für die
geplante
Ausstrahlung,
und
zwar
mit
der
Begründung,
dass
eine
unmittelbare
Veröffentlichung der Bilder den Erfolg gegenwärtiger Militäroperationen sowie das Leben
westlicher Geiseln im Irak gefährde. Eine Woche später bat der Generalstabschef nochmals
um Aufschub, aber am 28. April 2004 war es dann so weit: Als die Fotografien in der
Nachrichtensendung 60 Minutes erstmals ausgestrahlt wurden, stand ein zugeschalteter
Sprecher der Armee, General Mark Kimmit, dem Reporter Rede und Antwort. Allerdings war
es nicht alleine dem CBS gelungen, in den Besitz der Bilder zu gelangen. Auch Seymour
Hersh, der durch die Berichterstattung auf den Gefangenenmissbrauch in Abu Ghraib
aufmerksam geworden war, gelangte über einen Kontaktmann im Pentagon an die Fotografien
und den Taguba-Report. Ähnlich wie der „whistle-blower“ ist auch der geheime Informant
eine aus dem öffentlichen Diskurs und den fiktionalen Formaten vertraute Helden- bzw.
Helferfigur – man denke nur an „Deep Throat“, jenen berüchtigten Informanten des
Watergate-Skandals und seine filmische Umsetzung in All the President’s Men (1976). In
diesen Narrativen wird ein Bild des geheimen Informanten als einem moralischen und
aufrechten Idealisten gezeichnet, der für das Recht der Öffentlichkeit auf Information seinen
Job riskiert.476
8.1.2. Die Erstausstrahlung der Bilder und Hershs Enthüllungsartikel
Am 28. April 2004 wurden die Fotografien aus Abu Ghraib in der Nachrichtensendung 60
475
Dabei scheint CBS über den Onkel von Sergeant Frederick, dem ranghöchsten Soldaten unter den
Angeklagten, an die Fotos gekommen zu sein; vgl. „Doing Battle for the Grunts; Virginia Group Seeks to
Protect U.S. Troops on the Front Lines“, The Washington Post, 9. Februar 2006.
476
Dies ist allerdings nicht immer der Fall, wie nicht zuletzt auch die Wikileaks-Affäre gezeigt hat (10.5.3). In
zivilgesellschaftlichen Diskursen können dem Informanten auch unzivile und egoistische Motive unterstellt
oder gar verantwortungsloses und schädigendes Verhalten vorgeworfen werden.
451
Minutes II des amerikanischen Senders CBS zum ersten Mal öffentlich gezeigt.477 Erst mit der
Veröffentlichung der Bilder kam es zum „Bruch“ im vollen Wortsinn (5.2.3). Mit einem Mal
waren die Vorfälle in Abu Ghraib ein Gegenstand öffentlichen Interesses und kollektiver
Gefühle. Der Nachrichtensprecher Dan Rather eröffnete seinen Beitrag mit den Worten:
„Americans did this to an Iraqi person“. Im Vordergrund stehen hier nicht die Opfer, sondern
die Täter – noch genauer: die Tatsache, dass sie Amerikaner sind. In seiner Kommentierung
der Missbrauchsbilder wies er insbesondere darauf hin, dass die amerikanischen Soldaten auf
den Fotos lachen und der Kamera ein „thumbs up“ geben (vgl. 7.2.3).478
Eine Analyse des Beitrags bringt zudem die spezifischen Probleme von Fotografien in der
Fernsehberichterstattung zum Vorschein – und wie mit ihnen umgegangen wird. Eine
Fotografie ist eine Momentaufnahme, während sich das Fernsehen als audiovisuelles Medium
ständig im Fluss befindet. Fotos, die in der Fernsehberichterstattung verwendet werden,
stehen normalerweise nicht im Vordergrund, sondern dienen nur der begleitenden Illustration
der Aussagen des Nachrichtensprechers. Anders im Falle von Abu Ghraib, denn hier waren
die Fotografien selbst die „message“, die den Skandal ausmachte. Dies hatte zur Folge, dass
die Fotografien dem Medium des Fernsehens angepasst wurden, was insbesondere durch den
filmischen Kunstgriff des Zoomens, der nicht nur die Darstellung dynamisierte und
dramatisierte, sondern selbst schon eine inhaltliche Schwerpunktsetzung ermöglichte, erreicht
wurde. Im Vordergrund standen eindeutig die amerikanischen Täter, ihre Mimik und Gestik.
In derselben Sendung durfte sich auch General Kimmitt, oberster Sprecher des
amerikanischen Militärkommandos in Bagdad, zu den Missbrauchsfällen äußern. Zwar
drückte er gegenüber den abgebildeten Akten seine Abscheu („disgust“) aus, wies aber
zugleich darauf hin, dass eine solche Behandlung von Gefangenen nicht repräsentativ für die
Armee als Ganze sei – was zur hegemonialen Deutung der Skandalfälle werden sollte (8.3.1).
Diese Nachrichtensendung enthält auf gewisse Weise das soziale Drama von Abu Ghraib in
nuce: Einerseits nahm Kimmit mit seiner Reaktion die kollektive Empörung über die
Missbrauchsfälle vorweg, andererseits versuchte er aber auch, der drohenden Krise im
Vorfeld Einhalt zu gebieten, indem er das Ausmaß der Vorfälle herunterspielte und eine
angemessene Bestrafung der Täter in Aussicht stellte.
477
Verfügbar unter http://www.cbsnews.com/stories/2004/04/27/60II/main614063.shtml, letzter Zugriff am 14.
März 2012.
478
Für diesen Beitrag wurden Dan Rather und 60 Minutes später mit dem Peabody, den man als den Pulitzer
Prize des Radio- und Fernsehjournalismus bezeichnen könnte, ausgezeichnet; vgl. „Anchors Comic And
Serious Win Peabodys“, The Washington Post, 17. März 2005.
452
Am 30. April 2004 veröffentlichte der New Yorker auf seiner Webseite weitere, bisher
unbekannte Bilder, sowie einen Artikel von Seymour Hersh, der erst am 10. Mai in der
Printausgabe des Magazins erschien.479 Die Veröffentlichung der Bilder wie auch des Artikels
war eigentlich erst für später geplant, wurde dann aber aufgrund der Enthüllung von 60
minutes vorgezogen. Hersh eröffnet seinen Artikel mit einer Erinnerung an Abu Ghraib als
einem „unreinen“ Symbol der Ära von Saddam Hussein (6.3) und seinem verheißungsvollen
Wandel zum amerikanischen Militärgefängnis (6.5.3), um dann auf die aktuellen
Untersuchungen und Gerichtsverhandlungen zu sprechen zu kommen. Während 60 minutes
das Fotomaterial von einem Onkel des Angeklagten Sergeant Frederick erhielt, bekam Hersh
sein Material direkt aus militärischen Kreisen und verfügte insbesondere über den bis dato
noch geheimen Untersuchungsbericht von General Taguba (2005/2004), aus dem er in seinen
Artikeln ausführlich zitiert. Wie Dan Rather, so setzte sich auch Hersh in seinem Beitrag
direkt mit den Bildern auseinander, beschreibt und kommentiert sie, wobei auch hier die
Geste des „thumbs-up“ und das Grinsen der Soldaten („leering“) eine wichtige Rolle spielt.
Auf der Basis des Taguba-Reports weist Hersh allerdings die von Kimmit in 60 minutes
propagierte Rahmung der Missbrauchsfälle als bedauerliche Einzelfälle vehement zurück. So
argumentiert er, dass die Fotos den Eindruck erwecken, dass die Misshandlung von
Gefangenen in Abu Ghraib an der Tagesordnung war und sich die Soldaten offensichtlich
keine Mühe gegeben haben, ihr Handeln zu verbergen. Des Weiteren zitiert er aus dem
Bericht von General Taguba eine Aufzählung von fotografisch nicht dokumentierten Akten,
die weitere barbarische Akte der sexuellen Demütigung, wie beispielsweise „sodomizing a
detainee with a chemical light and perhaps a broom stick“ (Taguba 2005/2004: 417), enthält.
Die Tatsache, dass überhaupt fotografiert worden sei, wurde von Taguba und Hersh als ein
Beleg dafür gesehen, dass der Missbrauch von Gefangenen in Abu Ghraib keine Ausnahme,
sondern an der Tagesordnung gewesen sei.
8.1.3. Schock und Abscheu – Der Bildbruch der Abu-Ghraib-Fotografien
Die Schlüsselworte der ersten Medienreaktionen auf Abu Ghraib waren „shock“ und
„disgust“. Die Verwendung des Wortes „shock“ muss als Artikulation einer Krisenerfahrung
aufgefasst werden, die auf eine Verletzung von kognitiven Hintergrundannahmen
zurückgeführt werden kann (1.2.1). Vergleicht man die medialen Reaktion auf die
479
Hersh, Seymour: „Torture at Abu Ghraib“, The New Yorker, 10. Mai 2004;
http://www.newyorker.com/printable/?fact/040510fa_fact; kein Zugriff mehr möglich.
453
Veröffentlichung der Fotografien aus Abu Ghraib mit dem Schock von 9/11, so muss
zugestanden werden, dass die Schockwirkung der Anschläge auf das World Trade Center
ungleich heftiger waren. So konnte damals erst gar nicht von einem „Schock“ gesprochen
werden, da die Kommentatoren in den ersten Minuten tatsächlich sprachlos waren. Im
Gegensatz zum Begriff des „Schocks“ besitzt das englische Wort „disgust“, das ein
Bedeutungsspektrum von „Abscheu“ über „Ekel“ bis hin zu „Empörung“ abdeckt, eine
emotional-evaluative Stoßrichtung. Während das Phänomen des Schocks auf eine Verletzung
von Hintergrundannahmen verweist (1.2.1), besitzt „disgust“ einen intentionalen Gehalt, da
Ekel und Abscheu immer auf einen Gegenstand gerichtet sind. Angesichts der Bilder des 11.
Septembers hätte niemand von „Abscheu“ oder „Ekel“ gesprochen, da sich diese Begriffe in
erster Linie auf abstoßende, affektive Reaktionen gegenüber einer ästhetischen Oberfläche
beziehen, obgleich sie in einem zweiten Schritt auch auf die moralische Dimension von
Handlungen übertragen werden können.480 Während 9/11 eine Ästhetik des Erhabenen bzw.
des Terrors impliziert, verweist der „Ekel“ auf eine Ästhetik des Hässlichen (Rosenkranz
2007: 293-303). Das Ekelerregende steht dabei zunächst einmal für eine „reale“
Verschmutzung,
aber
auch
für
eine
symbolische
Verunreinigung.
Während
die
Erniedrigungsrituale auf den Fotografien die Gefangenen als „unrein“ darstellen (7.2-3),
werden die Täter – und damit auch die Fotografien selbst – in der öffentlichen Rezeption zu
unreinen Objekten, die auf Distanz gehalten werden müssen.
Am 29. April 2004, dem Tag nach der Erstausstrahlung der Bilder, waren es nur eine
Handvoll amerikanischer Zeitungen – unter anderem die New York Times, St. Petersburg
Times und Daily News –, die über die Fotografien und den Ausschluss von 17 Soldaten
berichteten. Zunächst war es nur die Daily News, in der eines der von CBS gezeigten Fotos zu
sehen war. In einem Artikel der New York Times kommt neben General Kimmit auch der
Anwalt von Sergeant Frederick, ein gewisser Mr. Myers (nicht zu Verwechseln mit dem
gleichnamigen Generalstabschef), zu Wort, der folgende Deutung des Verfahrens abgibt:
“This case involves a monumental failure of leadership, where lower-level enlisted people are being
scapegoated,“ Mr. Myers said. „The real story is not in these six young enlisted people. The real story is
the manner in which the intelligence community forced them into this position.”481
480
Zur ästhetischen Bestimmung des Ekelhaften als der reellen Seite des Scheußlichen, das „der physischen und
moralischen Verwesung entspringt“, vgl. Rosenkranz (2007: 293ff.). Diese ästhetische Dimension der Moral
zeigt sich auch in der Populärkultur, wo Helden meist gut aussehen, Bösewichte hingegen oft hässlich sind,
wie auch in der – wenn auch heute etwas veralteten – Redewendung, nach der eine Handlung als „hässlich“ –
im Sinne von „moralisch verwerflich“ – bezeichnet werden kann.
481
„G.I.‘s Are Accused of Abusing Iraqi Captives“, The New York Times, 29. April 2004.
454
Es gab jedoch zunächst kein großes Interesse an der „wahren Geschichte“ und an einer
Relativierung der Schuld der Soldaten. Zu abstoßend waren die Bilder, zu groß die Empörung
darüber, was auf ihnen abgebildet war. In den darauf folgenden Tagen schwappte eine Welle
der Entrüstung über die Vereinigten Staaten und den Rest der Welt. Journalisten, Politiker und
Militärangehörige, aber auch „normale Bürger“ äußerten sich in Leserbriefen öffentlich zu
den Bildern: Sie waren von den Fotos „geschockt“ und die darauf abgebildeten Akte stießen
sie ab; viele waren von ihren Soldaten enttäuscht und schämten sich gar für sie.482 Auf den
anfänglichen Schock und den Ekel folgte die komplexere Emotion der „Scham“, die aus der
verletzten normativen Erwartungshaltung und dem beschädigten Image der Armee resultierte,
aber darüberhinaus auch von einer Verbundenheit zu den Soldaten und einer Gefährdung der
nationalen Identität zeugte.
Zwei Tage nachdem die Bilder erstmals veröffentlicht und kommentiert worden waren,
drückte auch der amerikanische Präsident Bush seine Abscheu (“disgust”) gegenüber den
Fotografien und den darauf abgebildeten Missbrauchsfällen aus, was von ihm als
Repräsentanten der Nation auch erwartet wurde. Diese öffentlich geäußerten Gefühle dürfen
nun aber nicht ohne Weiteres den privaten oder individuellen Personen zugeschrieben
werden, sondern müssen als eine Artikulationen kollektiver Gefühle und öffentlicher Moral
aufgefasst werden (5.1.4). Kollektive Gefühle sind in der Regel nicht nur stärker als
individuelle Gefühle, sondern es wird zugleich auch erwartet, dass man sie hat (1.1.2). Ein
Kommentar in der New York Times macht diese kollektive Dimension der öffentlichen
Empörung anhand von Bushs Äußerungen explizit: “President Bush spoke for all Americans
of conscience yesterday when he expressed disgust at photographs showing United States
soldiers abusing and humiliating Iraqi prisoners“.483 Bush sprach im Namen des
amerikanischen Volkes – nicht alleine aufgrund seines Status als einem kollektiven
Repräsentanten, sondern auch, weil es nun einmal die Pflicht jedes gewissenhaften
Amerikaners sei, dieselben Gefühle gegenüber den Bildern und den Missbrauchsfällen zu
hegen. So braucht es nicht zu verwundern, dass die mit kollektiver Emotionalität und
kulturellen Bedeutungen aufgeladenen Bilder zu Negativsymbolen und säkularen Ikonen des
zivilgesellschaftlichen Diskurses in den Vereinigten Staaten wurden.
Es bleibt aber weiterhin die Frage, warum diese Bilder auf eine derartige Resonanz im
amerikanischen Publikum stießen. Welche kulturellen Bedeutungen sind in den Bildern
482
So z.B. „The Shame of Abu Ghraib, Voices of Revulsion“, The New York Times, 4. Mai 2004.
483
„Abuses at Abu Ghraib“, The New York Times, 1. Mai 2004.
455
verankert, und wie wurden diese vom Publikum interpretiert? Es war weniger von Bedeutung,
was auf den Fotografien in Szene gesetzt wurde, im Vergleich zu dem, wie es dargestellt
wurde. So wurde in den Medien oft hervorgehoben, dass die Soldaten lächelten, lachten und
ihre Daumen hochhielten, während sie Gefangene in erniedrigende oder sexuell demütigende
Positionen zwangen (7.2; 7.3.2-3).484 Die Tatsache, dass die Soldaten ihr eigenes Verhalten
offensichtlich genossen haben, wurde mehrmals kritisch erwähnt und schien noch
verstörender als die Missbrauchsfälle selbst gewesen zu sein (7.5.1).485 Ein Leserbrief eines
gewissen A. Singh aus Indien, der in der New York Times veröffentlicht wurde, zeugt nicht
nur von der globalen Anteilnahme an dem Skandal, sondern bringt auch etwas auf den Punkt,
was ebenso auf das amerikanische Publikum zutraf: “While I am appalled by the images of
American soldiers humiliating helpless Iraqi prisoners, what really shocked me is the way
those soldiers brazenly posed for photographs”.486 Der Missbrauch selbst mag zwar abstoßend
gewesen sein, aber das Schockierende an den Bildern war die Selbstinszenierung der
Soldaten, in der nicht die Spur eines Unrechtsbewusstseins zum Ausdruck kam. Auch die
ehemalige Oberkommandierende des Abu-Ghraib-Gefängnisses, General Janis Karpinski,
bezeichnete in einem Interview mit CNN die Gesichter der Soldaten als das abscheulichste
Detail der Skandalbilder.487
Es war in erster Linie diese geschmacklose Selbststilisierung und der auf den Bilder zur
Schau gestellte Genuss, der es für das Publikum ausschloss, das Handeln der Täter als eine
Ausübung ihrer soldatischen Plicht zu verstehen. Die Täter traten auf den Bildern als
grausame Sadisten in Erscheinung, die das ihnen anvertraute Amt missbraucht hatten und für
diese Vorfälle persönlich zur Verantwortung gezogen werden sollten. Die fotografischen
Trophäen, bei denen es sich um Bilder des Stolzes zu handeln schien, wurden in der
Öffentlichkeit zu Symbolen des Missbrauchs, die bei vielen Betrachtern Scham
hervorriefen.488 Entscheidend für die symbolische Verschmutzung der Bilder war nicht zuletzt
ihre pornographische Ikonografie. Sie war für das liberale wie auch für das konservative
Publikum inakzeptabel, selbst wenn es unterschiedliche Meinungen über den Einfluss von
484
„Bush Voices ‘Disgust’ at Abuse of Iraqi Prisoners“, The New York Times, 1. Mai 2004.
485
„Pentagon too slow to decry shameful U.S. acts in Iraq“, USA Today, 4. Mai 2004.
486
„The Shame of Abu Ghraib: Voices of Revulsion“, The New York Times, 4. Mai 2004.
487
“Images of Abuse Rock U.S. Military; U.S. Troops Make Show of Force in Najaf; Thomas Hamill
Escapes from Captors; Medicare Undergoes Change; Is Sudanese Government Responsible for 10,000
Deaths?”, Wolf Blitzer Reports (17:00), CNN, 3. Mai 2004.
488
„From Picture of Pride to Symbol of Abuse“, The New York Times, 7. Mai 2004.
456
Pornografie auf die Missbrauchsfälle gab (7.3.2).489
Die Rahmung der Täter als perverse Sadisten hatte einen symbolischen Umkehreffekt auf
die Iraker, die auf diesen Fotografien erniedrigt wurden. So wurden diese eben nicht mehr
länger als gefährliche Aufständische oder potenzielle Terroristen wahrgenommen (obwohl
dies von rechten Kommentatoren immer wieder betont wurde, vgl. 8.3.3), sondern als
unschuldige Opfer. Die Unschuld der Opfer wurde vor allem durch das erste im Fernsehen
gezeigte Bild unterstrichen, auf der eben jene Ikone des Skandals abgebildet war, die vom
Christus-Motiv Gebrauch gemacht hatte (7.1). Diese Referenz wurde nur in wenigen
Zeitungsartikeln explizit erwähnt,490 im Internet war sie allerdings schon frühlänger im
Umlauf.491 Trotz der überschaubaren expliziten Referenzen muss davon ausgegangen werden,
dass
dieses
Motiv
aufgrund
des
christlichen
Hintergrundes
der
amerikanischen
Zivilgesellschaft auf eine starke kulturelle Resonanz stieß. Daneben weckte die Rezeption der
Bilder natürlich auch Assoziationen zur Pornographie, den Lynching-Fotografien und dem
Ku-Klux-Klan. Letztlich kann aber die Empörung über diese Bilder nicht alleine auf ihren
Inhalt oder ihren Stil zurückgeführt werden. Die Selbstpräsentation der amerikanischen
Soldaten erregte vor allem deswegen Aufmerksamkeit, weil sie eine Gefahr für das Image der
Vereinigten Staaten, für das nationale Selbst- und Fremdbild, darstellten.
Die Veröffentlichung der Abu-Ghraib-Bilder stellte die vorherrschende symbolische
Ordnung und das soziale Imaginäre der Vereinigten Staaten in dreifacher Hinsicht in Frage
(7.5.2-3). Amerikanische Soldaten waren zunächst einmal als sadistische Folterer zu sehen,
was dem hohen Ansehen der Armee und dem heldenhaften Bild des amerikanischen Soldaten
zuwiderlief. Der Bildbruch tritt vor allem in der Mimik und Gestik der Täter zu Tage
(lächelnde Gesichter und das „thumbs-up“), welche die Möglichkeit einer sympathisierende
oder entschuldenden Identifikation mit den Tätern von vorneherein ausschloss. Zweitens lag
die sexuelle bzw. pornographische Ikonographie der Bilder für das amerikanische Publikum
offensichtlich jenseits des Erwartbaren. Und schließlich lief – drittens – die Darstellung von
Frauen als Täterinnen gegen das vorherrschende Bild von Männern als Tätern Sturm, was
489
„It Was the Porn That Made Them Do It“, The New York Times, 30. Mai 2004; vgl. auch die darauf Bezug
nehmenden Leserbriefe „Doing Unto Others“, 6. Juni, und „The Liberal Line“ 13. Juni 2004.
490
Unter anderem „Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal”, The New York Times, 13. Juni 2004; aber
auch in W.J.T. Mitchells Artikel „Echoes of a Christian symbol. Photo reverberates with the raw power of
Christ on cross“, Chicago Tribune, 27. Juni 2004.
491
Beispielsweise von Jeff Sharl, „Pictures from an Inquisition“, The Revealer, 30.4.2004,
http://www.therevealer.org/archives/revealing_000355.php; letzter Zugriff am 12.12.2009.
457
nicht nur bei feministischen Autoren wie Barbara Ehrenreich (2004) Befremden auslöste.492
8.2. Identitätskrise – Abu Ghraib als Imageproblem
Die Handlungssequenz, die durch eine anerkannte Bedrohung des Image
in Bewegung gesetzt wird und mit der Wiederherstellung des rituellen
Gleichgewichts endet, werde ich Ausgleichshandlung nennen.
Erving Goffman, Techniken der Imagepflege (1991a: 25)
Abu Ghraib war für die Amerikaner in doppelter Hinsicht ein Imageproblem: Einerseits lösten
digitale Bilder – also images – den Skandal aus, andererseits beschädigte die Enthüllung der
Missbrauchsfälle sowohl das Image der Armee als auch das Image der Nation. Im AbuGhraib-Skandal verschränken sich diese beiden Bedeutungen, da die Bilder zur Ursache des
Imageverlusts wurden. Aber auch der Begriff des „Image“ als einem Selbstbild besitzt eine
doppelte Bedeutung: einerseits, im Sinne eines „Self-Image“ (Dahrendorf 1961), als das
Selbstbild eines individuellen oder kollektiven Akteurs, andererseits aber auch als Selbstbild
in der Außendarstellung (2.1.3). Das Image als Selbstbild von Akteuren im sozialen Verkehr
ist in der Regel – Hochstapler ausgenommen – mit dem eigenen Selbstbild und der jeweiligen
Identität als vorintentionalem und evaluativen Hintergrund des Handelns (1.2.2) verschränkt.
Das private Selbstbild hängt bis zu einem gewissem Grad immer von der Anerkennung durch
andere Akteure ab; zudem kann die eigene Identität von außerordentlichen Ereignissen
erschüttert werden, wie bereits am Beispiel des psychischen und des kulturellen Traumas
erläutert wurde (1.3.5). Auch der Abu-Ghraib-Skandal kann über die Beschädigung eines
Images hinaus als eine Bedrohung des amerikanischen Selbstbildes, als eine Gefährdung der
kollektiven Identität, gesehen werden. Während hinsichtlich der Beschädigung des
amerikanischen Images kaum Zweifel bestanden, stellte die Identitätsproblematik ein
strittiges Thema im öffentlichen Diskurs dar. Die hegemoniale Rahmung des Skandals in
seiner Anfangsphase legte es nahe, den Gefangenenmissbrauch als tragischen Einzelfall zu
betrachten, der die kollektive Identität der Amerikaner nicht tangieren sollte. Allerdings lässt
sich an vielen Äußerungen im Diskurs aufzeigen, dass Abu Ghraib zumindest eine
Gefährdung der amerikanischen Identität darstellte. Allerdings wäre es wohl zu hoch
492
„When Women Abuse Power, Too“, The Washington Post, 16. Mai 2004.
458
gegriffen, von einem „kollektiven Tätertrauma“ zu sprechen (vgl. Giesen & Schneider 2004;
1.3.5), weswegen hier die Rede von einer „Identitätskrise“, die durch ein traumatisches
Ereignis ausgelöst wurde, angemessener erscheint.
Das Konzept des „Schocks“ steht für die traumatische Erfahrung von Diskontinuität, die
die Geltung von Hintergrundannahmen außer Kraft setzt und so die alltägliche Lebenswelt
übersteigt. Oft steht dabei die eigene Identität auf dem Spiel, sei sie nun personaler oder
kollektiver Natur. Eine mögliche Gefährdung der amerikanischen Identität wird im Bildbruch
der Skandalbilder sinnlich erfahrbar. Die Fotografien konnten eben nicht nur als Dokumente
eines Verbrechens aufgefasst werden, sondern wurden, wie im Folgenden zu zeigen ist, auch
als eine Bedrohung der amerikanischen Identität wahrgenommen. Zunächst ist festzuhalten,
dass die beschuldigten Soldaten als Repräsentanten der amerikanischen Nation im Irak
gewesen waren, wenn auch das Militär und die Regierung nie müde wurden zu betonen, dass
sie bei den Missbrauchsfällen auf eigene Faust gehandelt hätten. In modernen Demokratien
wird das Militär der zivilen Sphäre untergeordnet. Die Armee legitimiert ihre Existenz und
den Einsatz von Gewalt durch ihren Dienst am Volk und die Verfolgung nationaler
Interessen. Soldaten sind damit in einer vergleichbaren Position wie politische Amtsträger.
Die Täter von Abu Ghraib missbrauchten damit nicht nur Gefangene, sondern zugleich auch
das ihnen zum Wohl des amerikanischen Volkes verliehene Amt und seine Würden.
8.2.1. Abu Ghraib zwischen Public-Relations-Desaster und Identitätskrise
Die Vorfälle in Abu Ghraib stellten aber nicht nur das Selbstbild der Vereinigten Staaten in
Frage. Als Imageproblem betraf Abu Ghraib das Ansehen der Vereinigten Staaten in aller
Welt. Gerade die New York Times widmete diesem Thema von Anfang an sehr viel
Aufmerksamkeit, die USA Today erst später und in geringerem Ausmaß. Schon früh wurde
über die negativen internationalen Auswirkungen des Skandals und die Reaktionen der
westlichen Presse auf die Missbrauchsfälle berichtet.493 Im Fokus der Berichterstattung stand
allerdings der Irak und die arabische Welt, was vor dem Hintergrund des Krieges gegen den
Terror und den anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen im Irak durchaus
verständlich ist.494 Selbst isolationistische Politiker, die auf die Meinung des Rests der Welt
493
“The struggle for Iraq: World Reaction; Revulsion at Prison Abuse Provokes Scorn for the U.S.”, The New
York Times, 5. Mai 2004;“Bush’s Words Do Little to Ease Horror at Prison Deeds”, The New York Times, 7.
Mai 2004.
494
Für einen Überblick über die arabische Berichterstattung zu Abu Ghraib vgl. The Middle East Research
Institute, Special Dispatch Series No. 718; http://www.memri.org/report/en/0/0/0/0/0/0/1135.htm; letzter
Zugriff am 27. Februar 2012.
459
sonst wenig gaben, mussten die strategische Bedeutung des Imageproblems anerkennen. Auch
in der Washington Post wurde von der Rezeption der Bilder in der irakischen Presse und
deren besorgniserregenden Konsequenzen für das Image der Vereinigten Staaten berichtet:
The photographs of U.S. soldiers abusing Iraqi prisoners at Abu Ghraib – images that reached Iraqi
newspapers on Sunday, following a three-day holiday – have reinforced the long-held view here that the
U.S. occupation is intent on humiliating the Iraqi people. The system has been rife with complaints for
months, but now the testimony of former Iraqi prisoners claiming abuse at the hands of U.S. jailers has
gained new credibility while further damaging the reputation of the U.S. occupation authority.495
Am 5. Mai 2004 trat der irakische Minister für Menschenrechte aus Protest über die
Missbrauchsfälle aus der von den Amerikanern ernannten Interimsregierung zurück.496 Er gab
an, dass Übergriffe durch amerikanische Soldaten im Irak an der Tagesordnung
(„commonplace“) seien und widersprach damit der Bush-Regierung, welche Abu Ghraib als
bedauerlichen, ja, tragischen Einzelfall dargestellt hatte. Der arabischen Nachrichtensender Al
Jazeera stellte die Abu-Ghraib-Bilder in Form einer Fotogalerie ins Netz und führte unter
ihren Besuchern eine Umfrage durch. Von über 70.000 Teilnehmern der Befragung waren
62% der Meinung, dass derartige Misshandlungen zur Routine gehörten.497 Eine
Kommentator der in London ansässigen arabischen Tageszeitung Al Quds al Arabi ging noch
einen Schritt weiter, indem er behauptete, dass die Missbrauchsfälle als notwendige Folge der
offiziellen amerikanischen Kultur aufzufassen seien, die auf eine systematische Beleidigung
und Erniedrigung von Muslimen abziele.498 Zwei Wochen nach der Veröffentlichung der
Bilder erschienen dann auch in der USA Today eine Reihe von Artikeln, in denen über die
arabische Reaktion auf die Bilder und über die möglichen negativen Konsequenzen, die sich
für den amerikanischen Militäreinsatz daraus ergeben könnten, berichtet wurde.499 Die
amerikanische Regierung hatte schon frühzeitig versucht, den Schaden für das amerikanische
Image zu begrenzen. So demonstrierte der amerikanische Präsident öffentlich seine
Übereinstimmung mit den kollektiven Emotionen, verurteilte die Missbrauchsfälle als
„unamerikanisch“ und versprach eine lückenlose Aufklärung der Vorfälle sowie die baldige
Bestrafung der Schuldigen:
495
„Angry Ex-Detainees Tell of Abuse; Iraqis Say They Endured Physical, Psychological Hardship in U.S.
Custody“, The Washington Post, 3. Mai 2004.
496
Countdown (20:00), MSNBC, 4. Mai 2004.
497
„Iraq Prison Scandal At Its Most Graphic“, The Washington Post, 9. Mai 2004.
498
Vgl.“Bush‘s Words Do Little to Ease Horror at Prison Deeds”, The New York Times, 7. Mai 2004.
499
„Role as U.S. ally gets riskier and riskier for Arab nations such as Kuwait, Jordan“, USA Today, 13. Mai
2004; „Some in Baghdad say U.S. troops no longer wanted“, 13. Mai 2004; „1st prisoner-abuse trial draws
media from around world“, 19. Mai 2004.
460
„I shared a deep disgust that those prisoners were treated the way they were treated,“ President Bush said
in a Rose Garden appearance with Canadian Prime Minister Paul Martin. „Their treatment does not
reflect the nature of the American people. That’s not the way we do things in America. And so I didn‘t
like it one bit.“ Bush said the abuses will be investigated and the perpetrators „will be taken care of.“500
Die Vereinigten Staaten sind dafür bekannt, ein positives und ungebrochenes kollektives
Selbstbild zu pflegen.501 Wie Bellah (1992, 1991b) in seinen Studien zur amerikanischen
Zivilreligion herausgearbeitet hat, gehört die Überzeugung, ein „auserwähltes Volk“ und der
„Champion der freien Welt“ zu sein, wie auch die Annahme, anderen Nationen moralisch
überlegen zu sein, zur kollektiven Identität der Amerikaner, die insbesondere durch den
christlichen Hintergrund der Vereinigten Staaten geprägt ist. Dies ist einer der Gründe, warum
den Amerikanern ihre Niederlage in Vietnam und die moralische Ambivalenz des
Vietnamkrieges immer noch so zu schaffen macht (vgl. 6.2). So führte der Vietnamkrieg nicht
etwa zu einer Revision des expliziten Selbstbildes, sondern begleitet die amerikanische
Identität nach wie vor als dunkler Schatten. Angesichts der Fotographien von Abu Ghraib
wurde das Selbstbild der Amerikaner immer wieder öffentlich thematisiert, so beispielsweise
auch von Edward Akin, einem Experten für visuelle Geschichte, in der New York Times:
“[T]he self-image of America is decency and fighting on the side of the right values. This war was waged
as a moral war, with us being on the high ground. We think of other people in the world committing
atrocities, not ourselves”.502
Dieses Selbstbild, das durch die Fotografien von Abu Ghraib in Frage gestellt wurde,
manifestiert sich in Bildern, Narrativen und Performanzen, die ihrerseits wieder zur
Verfestigung und Verbreitung des kollektiven Selbstbildes beitragen. Vor allem die
amerikanischen Heldenfiguren dienen hierfür als Projektionsflächen kollektiver Identität.
Mythischen Traditionen, die für personale und kollektive Selbstbilder schon immer von
großer Bedeutung waren (2.2.5), leben auf diese Weise in der zeitgenössischen Populärkultur
fort. Die Bedeutung der amerikanischen Populärkultur für die kollektive Identität der
Vereinigten Staaten wird in demselben Artikel auch von weiteren Experten unterstrichen:
“We’re a nation that grew up worshiping Superman and Spider-Man, who always did the right thing,”
says Della Femina. “The bad guys always fight dirty and the good guys always fight clean.” Our culture
has ingrained in each of us the unwavering notion that only bad people do bad things, and that good
people do good things, says Jerald Jellison, professor of psychology at the University of Southern
500
„U.S. Tries to Calm Furor Caused by Photos; Bush Vows Punishment for Abuse of Prisoners“, The
Washington Post, 1. Mai 2004.
501
Zum Begriff des „self image“ im Allgemeinen und zum „American self-image“ im Besonderen siehe auch
die Ausführungen von Ralf Dahrendorf (1961: 326-344).
502
„Photos bring our agony into focus“, The New York Times, 10. Mai 2004.
461
California. “The photos give undeniable proof that bad things were caused by what are supposed to be
good Americans,” he says.503
Superhelden-Comics (z.B. Superman) folgen in der Regel einem romantischen Narrativ, auch
wenn der eine oder andere Held auch manchmal tragisch-düstere Züge annehmen kann (z.B.
Batman). Interessanterweise kämpfen amerikanische Superhelden oft in einem Bereich
außerhalb des Rechts, wie dies auch für den „law-defying hero“ typisch ist, dem wir in
unseren Ausführungen zur Populärkultur nach dem 11. September (6.4.3.) und bei der
Interpretation der Folterfotos (7.2.5) schon begegnet sind. Als Vorkämpfer für Moral und
Gerechtigkeit bewegt sich der gesetzesübertretende Held in einem gesetzlichen Graubereich,
innerhalb dessen die moralischen Grenzen aber umso klarer gezogen sind. So greift er, wenn
schon nicht zu schmutzigen Tricks, so doch zu schmutzigen Formen der Gewalt, um die
Geschichte zu einem guten Ende zu bringen. Seine Devise lautet: „Der Zweck heiligt die
Mittel“ – oder, um es mit den Worten von Jack Bauer zu sagen: „Whatever it takes“. Bei dem
klassischen „law-defying hero“, der sich zwar die Hände schmutzig macht, aber in seiner
moralischen Integrität unangetastet bleibt, handelt es sich um eine ungebrochen positive
Figur, der jegliche moralische Ambivalenz abgeht.
Der Artikel in der New York Times legt eine Übertragung der amerikanischen
Heldenverehrung auf das heroische Selbstbild der Nation nahe, die von Präsident Bush als
globaler Wächter der Demokratie und der Menschenwürde bezeichnet wurde.504 Sowohl der
strahlende Superheld als auch der „law-defying hero“ fungieren als Vorbilder, die sich auf die
nationale Identität und das Selbstbild der Vereinigten Staaten übertragen lassen. Gerade die
Schaffung von Guantanamo Bay als einem gesetzesfreien Raum (6.4) und die völkerrechtlich
umstrittene Invasion des Iraks ohne die entsprechende Resolution des Sicherheitsrates (6.5)
lassen sich als eine – ins Kollektive gewendete – Adaption des „law-defying hero“ verstehen.
Der Artikel schließt mit der Bemerkung, dass sich die Nation von den Bilder aus Abu Ghraib,
die so gar nicht zu seinem Selbstbild passen wollten, fesseln ließ. Das eigentliche Gefängnis,
so das Resümee, stelle aber das übersteigerte Selbstbild der Vereinigten Staaten dar. Die
Missbrauchsfälle von Abu Ghraib führten zu einer kognitiven Dissonanz, für die der
kulturelle Rahmen der Vereinigten Staaten keinen Platz mehr bot (vgl. Mestrovic & Lorenzo
2008: 191f.). Erst in Bezug auf das Problem der kollektiven Identität werden die mitunter
obsessiven Reaktionen der amerikanischen Öffentlichkeit auf den Skandal verständlich. Auf
503
„Photos bring our agony into focus“
504
„Photos bring our agony into focus“
462
diese Weise kann nicht nur die öffentliche Entrüstung erklärt werden, sondern auch der
öffentliche Druck, der auf den Regierungsmitgliedern lastete, die sich im Namen aller für die
Missbrauchsfälle zu entschuldigen hatten. Susan Sontag brachte dieses Problem mit der
Feststellung “the photographs are us” auf den Punkt.505 Ein Leser der New York Times
kritisierte die Feststellung in einer fast schon durkheimianischen Weise:
It is not the case that the photographs of abused prisoners at Abu Ghraib are us. Rather, what truly
represent this country’s values are the near-universal outrage the pictures provoked and the
unselfconscious freedom with which that outrage has been aired.506
Nicht die Akte selbst seien repräsentativ für das Land, sondern die Empörung über diese.
Allerdings wird das schiere Ausmaß der Empörung nur vor dem Hintergrund einer drohenden
Identitätskrise verständlich, die wiederum eine positive kollektive Identität voraussetzt. Der
drohenden Identitätskrise wird wurde mit Hilfe von symbolischen Grenzziehungen begegnet,
wie sie insbesondere in der Ausgrenzung der Täter und der Taten als „unamerikanisch“ zum
Ausdruck kommen. Die Entrüstung über diese Bilder war einerseits ein Symptom der
kollektiven Beunruhigung, andererseits stellte sie gleichzeitig einen Mechanismus zur
Überwindung der drohenden Identitätskrise bereit.
8.2.2. Öffentliche Entschuldigungen als Techniken der nationalen Imagepflege
Mit dem Bildbruch von Abu Ghraib ging sowohl ein Imageproblem als auch eine kollektive
Identitätskrise einher. Letztere äußerte sich insbesondere in den kollektiven Gefühlen, die im
Diskurs artikuliert wurden. Viele Amerikaner schämten sich für die Taten ihrer Soldaten –
oder sogar dafür, selbst Amerikaner zu sein. In Leserbriefen erfolgten Entschuldigungen im
Namen der Nation, und auch von den Regierungsmitgliedern wurden öffentliche
Entschuldigungen gefordert. Ein gutes Beispiel für die kollektive Empörung, die mit dem
Skandal einherging, lässt sich folgendem Leserbrief von Mary Bell entnehmen:
I want no one tortured in my name, not for my safety, not for democracy. The sexual humiliation of men
is unholy. Every senator, member of Congress, religious leader and ordinary American should be
screaming in protest. 507
Die Leserin stellt die Missbrauchsfälle als eine Verletzung des heiligen Kerns der
amerikanischen Gesellschaft dar, der die moralische Entrüstung und Wiedergutmachung zur
ersten Bürgerpflicht mache. Darüberhinaus spricht sie sich explizit gegen eine staatliche
505
„Regarding the Torture of Others“, New York Times, 23. Mai 2004
506
„Regarding the Torture of Others. Letters to the Editor“, New York Times, 6. Juni 2004.
507
„The Shame of Abu Ghraib: Voices of Revulsion“, The New York Times, 4. Mai 2004; vgl. auch die
Leserbriefe von Joan Z. Greiner, Carla Seaquist und Mary Robertson in derselben Ausgabe; siehe auch
„Pentagon too slow to decry shameful U.S. acts in Iraq“, USA Today, 4. Mai 2004.
463
Legitimation von Folter aus – eine Frage, die wenige Tage zuvor noch in aller
Selbstverständlichkeit diskutiert werden konnte. Den Repräsentanten der amerikanischen
Gesellschaft hält sie vor, angesichts der Ungeheuerlichkeit von Abu Ghraib untätig zu
bleiben. Schon Goffman hat darauf hingewiesen, dass jemand als Erwiderung auf eine
Bedrohung des Images „Gelassenheit an den Tag legen“ kann, „während die anderen der
Meinung sind, er hätte vor lauter Verlegenheit und Reue zusammenbrechen müssen“
(Goffman 1991a: 33). Diese hier sich auf die Interaktionsebene beziehende Beobachtung gilt
erst recht für Performanzen in der Öffentlichkeit. Sowohl im Privatleben als auch in der
politischen Öffentlichkeit kann man versuchen, die Beschädigung eines Images zu ignorieren
und mit demonstrativer Gelassenheit auszusitzen. Da der Erfolg einer Performanz allerdings
immer auch – und dies gilt in besonderem Maße für politische Performanzen – auf die
Anerkennung durch andere Akteure angewiesen ist, kann der öffentliche Druck die
politischen Akteure dazu bewegen, Ausgleichshandlungen zu vollziehen, um die verletzte
„rituelle Interaktionsordnung“ (Goffman 1991a) wiederherzustellen. Die wohl wichtigste
Ausgleichshandlung stellt der performative Akt des „Entschuldigens“ dar.
Eine Entschuldigung ist ein möglicher Reparaturmechanismus in Interaktionen unter
Anwesenden, aber auch in politischen und öffentlichen Kontexten anzutreffen (vgl.
Cunningham 1999; Gibney et al. 2008). Eine Entschuldigung muss nicht in allen Fällen mit
der Anerkennung von persönlicher Verantwortung und Schuld einhergehen. In ritueller
Hinsicht handelt es sich bei einer Entschuldigung um eine Selbsterniedrigung. Eine
öffentliche Entschuldigung kann ein Akt der Demut sein (3.3.1), durch welchen dem Opfer
Anerkennung zuteilwird. In diesem Sinne können öffentliche Entschuldigungen als Rituale
der Statusumkehrung fungieren. Die Mächtigen lassen sich herab zu den Ohnmächtigen und
bitten sie – im äußersten Fall – um Verzeihung. Viele hochrangige Mitglieder der BushRegierung und der Militärführung haben sich nur wenige Tage nach der Veröffentlichung der
Bilder öffentlich für die Missbrauchsfälle entschuldigt.508 Condoleezza Rice, die damalige
nationale Sicherheitsberaterin, verwendete bei ihrer Entschuldigung während eines Interviews
mit einem arabischen Fernsehsender den Plural „we“, wodurch sie sich als Sprecherin eines
Kollektivs, hier des amerikanischen Volkes, in Szene setzte. General Kimmitt, der schon die
Abu-Ghraib-Bilder im amerikanischen Fernsehen kommentiert hatte (8.1.2), entschuldigte
sich in Bagdad im Namen der Armee, die durch diese Vorfälle beschämt worden sei
508
„Bush, on Arab TV, Denounces Abuse of Iraqi Captives“, The New York Times, 6. Mai 2004. Eine Auswahl
der wichtigsten Entschuldigungen findet sich bei Mark Gibney und Niklaus Steiner (2008: 291).
464
(„shamed“). General Geoffrey Miller, der das Gefangenenlager in Guantanamo Bay geleitet
hatte und nach den Missbrauchsfällen zum neuen Befehlshaber des Abu-Ghraib-Gefängnisses
ernannte wurde, entschuldigte sich ebenfalls in Bagdad – sowohl im Namen der Nation als
auch im Namen der Armee.
Öffentliche Entschuldigungen dürfen nicht im strikten Sinn als Schuldeingeständnisse
aufgefasst werden – auch wenn ein Restrisiko bestehen bleibt, dass eine Entschuldigung,
zumindest in Fällen, in denen eine Mitverantwortlichkeit nicht ausgeschlossen werden kann,
als ein Eingeständnis von persönlicher Schuld aufgefasst werden könnte. In Zeiten, in denen
die kollektiven Emotionen hochkochen, wird von den Repräsentanten eines Kollektivs nicht
selten ein Opfer, eine öffentliche Demonstration von Demut, verlangt. Die persönliche Schuld
spielt hier eine untergeordnete Rolle: Gerade die öffentliche Entschuldigung einer
„unschuldigen“ Person von hohem sozialen Rang wird in diesen Fällen besonders geschätzt.
Diese zeigen wahrhafte Demut, indem sie sich freiwillig erniedrigen (3.3.1). Je größer das
Opfer, desto größer der symbolische Wert einer Entschuldigung. Insbesondere in
Gesellschaften mit einem christlichen Hintergrund ist es eine bekannte und anerkannte Form
der Konfliktbewältigung, für die Sünden anderer symbolisch die Zeche zu zahlen.509 Die
beiden
wichtigsten
Akteure
der
amerikanischen
Regierung,
Präsident
Bush
und
Verteidigungsminister Rumsfeld, folgten allerdings erst später dem Beispiel ihrer Kollegen
und hatten zunächst versucht, einer direkten und eindeutigen Entschuldigung aus dem Weg zu
gehen – was nicht ohne öffentliche Kritik blieb. Der Talkmaster Keith Olbermann warf dem
amerikanischen Verteidigungsminister vor, das Wort „apology“ zwar im Munde geführt zu
haben, sich jedoch bei den Opfern nicht explizit entschuldigt zu haben – völlig zu recht, wie
der öffentliche Auftritt von Donald Rumsfeld zeigt, der in Olbermanns Show als
Videoausschnitt eingespielt wurde:
Anyone who sees the photographs does, in fact, apologize to the people who were abused. That is wrong,
it shouldn’t have happened, it’s un-American, it’s unacceptable, and we all know that. And that apology
is there to any individual who was abused.510
Dieser Auftritt des Verteidigungsministers zeigt das performative Scheitern einer öffentlichen
Entschuldigung. Seine Formulierung, dass sich jeder, der sich die Fotos ansehe, quasi schon
„automatisch“ bei den Opfern entschuldigt hätte, führt die Logik des Entschuldigens ad
509
Eine der wirkungsvollsten Performanzen von Demut ist wohl Willy Brandts Kniefall an der Gedenkstätte der
Opfer des Warschauer Ghettos. Obwohl Brandt selbst ein Widerstandskämpfer im schwedischen Exil
gewesen war, vollbrachte er als deutscher Kanzler jene Geste individueller Demut und kollektiver Schuld, die
ihn für das Time Magazine zum Mann des Jahres 1971 werden ließ (vgl. Schneider 2006; siehe auch 3.3.1).
510
Countdown (20:00), MSNBC, 5. Mai 2004.
465
absurdum. Eine politische Entschuldigung ist ein öffentlicher und performativer Akt, der als
solcher auch anerkannt werden muss. Es stellt sich die Frage, warum Rumsfeld das Wort
„apology“ wie eine heiße Kartoffel im Mund herumschob, statt sich einfach anständig zu
entschuldigen. Dazu muss gesagt werden, dass eine Entschuldigung von Rumsfeld ein
politisches Risiko barg, da sie womöglich als Anerkennung der Krise oder gar als ein
Schuldeingeständnis aufgefasst worden wäre. Stattdessen versuchte Rumsfeld, die Empörung
über die Vorfälle durch seine ausweichende Formulierung zu beschwichtigen. Noch glaubten
Bush und Rumsfeld, dem aufkommenden Skandal mit Gelassenheit begegnen zu können und
rechneten weder mit einem Gesichtsverlust noch mit einer Krise. „Gelassenheit“ ist nicht nur
in Interaktionen unter Anwesenden eine „wichtige Technik der Imagepflege“ (Goffman
1991a: 18), sondern auch in der politischen Öffentlichkeit, wo Skandale auch gerne einmal
ausgesessen werden. Dabei wird, wie von Goffman beschrieben, der Zwischenfall zwar zur
Kenntnis genommen, ihm aber das Potenzial für eine symbolische Bedrohung des eigenen
Images abgesprochen (1991a: 24). Diese Strategie, die in der Regel nur Individuen, die
bestimmte Machtpositionen innehaben, zur Verfügung steht, ist – insbesondere in
Demokratien – für die Machthaber nicht ungefährlich. So kann ein solches Verhalten nicht
nur dem Zwischenfall unangemessen erscheinen, sondern auch als mangelnde Demut vor den
Opfern und dem eigenen Volk ausgelegt werden. Rumsfeld scheiterte mit seiner „gelassenen“
Performanz allerdings schon auf der verbalen Ebene: Er verstrickte sich in Unsinnigkeiten.
Rumsfeld musste sich in den ersten Tagen des Skandals ein mangelhaftes
Krisenmanagement vorwerfen lassen – nicht nur von der Opposition oder den Medien,
sondern auch vom Präsidenten selbst. So wurde er am 6. Mai von Bush öffentlich dafür
gescholten, dass er ihn nicht rechtzeitig über die Fotos informiert habe.511 Einige Stimmen
forderten daraufhin den Rücktritt Rumsfelds, aber Bush beließ es bei dieser symbolischen
Bestrafung und stärkte seinem Verteidigungsminister den Rücken.512 Am 7. Mai übernahm
Rumsfeld die volle Verantwortung für die Handhabung des Skandals und entschuldigte sich
explizit für die Misshandlung der Gefangenen: „To those Iraqis who were mistreated by
members of the U.S. armed forces, I offer my deepest apology“.513 Im Vergleich zu seiner
vorangegangenen misslungenen Entschuldigung, die den Spott von Olbermann auf sich
511
„Rumsfeld Chastised by President For His Handling of Iraq Scandal“, The New York Times, 6. Mai 2004.
512
„President Sorry for Iraq Abuse; Backs Rumsfeld“, The New York Times, 7. Mai 2004.
513
Vgl. „‘My Deepest Apology’ From Rumsfeld; ‘Nothing Less Than Tragic,’ Says Top General“, The New
York Times, 8. Mai 2004.
466
gezogen hatte, gelang ihm der performative Akt des Entschuldigens hier mit Bravour (hierzu
kritisch: Gibney & Steiner 2008: 292). Seine Entschuldigung war persönlich, eindeutig und
klar. Es fällt allerdings auf, dass ihr sämtliche kollektive Referenzen fehlten, womit eine
gewisse Entdramatisierung der Vorfälle signalisiert wurde. So erfolgte die Entschuldigung
nicht im Namen des Volkes, obwohl es sich bei den Tätern um Mitglieder der amerikanischen
Streitkräfte und damit um Repräsentanten der Nation handelte. Außerdem wendete sich
Rumsfeld nur an die unmittelbaren Opfer und nicht an das irakische Volk oder gar die
arabische Welt, wie dies in manchen Leserbriefen der Fall war.514 Einerseits sendete der
ehemalige Verteidigungsminister ein Signal, dass die durch den Skandal aufgeworfene Krise
ernst zu nehmen sei, andererseits versuchte er aber auch, durch die Betonung der
individuellen Täter- und Opferschaft eine Ausweitung der Krise zu verhindern.
CBS berichtete, dass die amerikanischen Entschuldigungen für die Opfer der
Missbrauchsfälle kaum Bedeutung besäßen.515 Ein Opfer der Missbrauchsfälle zweifelte sogar
grundsätzlich den Sinn von Entschuldigungen an: „What good is an apology?“. Er fügte
hinzu: „My dignity has been violated“ und „I can’t face my family and friends“. Es geht hier
um einen Gesichtsverlust aufgrund einer Demütigung (3.3.3), der sich durch eine einfache
Entschuldigung nicht so ohne weiteres rückgängig machen lässt. An dem Zitat wird außerdem
deutlich, dass es in dem irakisch-arabischen Kontext nicht in erster Linie um die Scham und
Schuld der Täter, sondern um die Schmach der Opfer geht. Nicht der Täter lädt Scham auf
sich, sondern das Opfer hat sich zu schämen. Es geht nicht wirklich um die Würde des
Einzelnen, sondern um den Verlust von Ehre innerhalb seiner Gemeinschaft (3.2.1). Die
Missbrauchsfälle werden als eine Verletzung der Ehre von irakischen Männer gerahmt, die
nicht durch eine Entschuldigung der Täter oder ihrer kollektive Stellvertreter gesühnt werden
kann. Was hier fehlt, ist ein Mechanismus der Wiederherstellung der Ehre, für den vor allem
Akte der Gewalt und der Demütigung in Frage kommen.516 Wenn die Entschuldigungen von
vielen Opfern gar nicht angenommen werden konnten, welche Funktion erfüllten sie dann?
Hier muss man beachten, dass öffentliche Entschuldigungen auf ein breiteres Publikum
abzielen. Letztendlich entscheidet weder der performative Akt des Entschuldigens noch die
514
Z.B. „The Shame of Abu Ghraib: Voices of Revulsion“, The New York Times, 4. Mai 2004.
515
„US apologies for treatment of Iraqi prisoners have made little difference in Middle East perceptions,“, CBS
Evening News (18:30), 7. Mai 2004.
516
So lässt sich beispielsweise der durch die Medien gegangene „Schuhwurf“ eines irakischen Journalisten auf
den scheidenden amerikanischen Präsidenten im Dezember 2008 als ein Akt der Demütigung deuten, der
zugleich die verletzte nationale Ehre wiederherstellen sollte.
467
Akzeptanz des Adressaten über ihren Erfolg, sondern der unbeteiligte Dritte. Politische
Entschuldigungen richten sich in erster Linie an die politische Öffentlichkeit.
In zahllosen Artikeln und Leserbriefen wurde der Präsident dazu aufgefordert, sich im
Namen der Nation bei den Opfern und dem irakischen Volk für die Missbrauchsfälle von Abu
Ghraib zu entschuldigen. Nur sein direkter Konkurrent um die Präsidentschaft, der Demokrat
John Kerry, machte in seiner Kritik an Bush – wohlwissend um die politischen Risiken (vgl.
8.5.3) – kurz vor der Forderung einer Entschuldigung halt.517 Präsident Bush ließ sich für die
von ihm geforderte Entschuldigung etwas länger Zeit. Bei einem Fernsehauftritt im
arabischen Sender Al Arabiya, der sich in saudi-arabischer Hand und damit im Besitz von
amerikanischen Verbündeten befindet, verpasste Bush die einmalige Gelegenheit, sich vor
dem arabischen Publikum für die Vorfälle von Abu Ghraib zu entschuldigen:
Arabic subtitles translated excerpts of the interview, as Mr. Bush told Al Arabiya that he wanted to tell
the people of the Middle East that the abuses “represent the actions of a few people,” and “it’s important
for people to understand that in a democracy that there will be a full investigation.”518
Bushs Versicherung, dass die Misshandlungen in Abu Ghraib nicht repräsentativ seien und
dass es eine vollständige Untersuchung der Vorfälle geben werde, wurde von dem arabischen
Publikum als enttäuschend bewertet. Die New York Times zitierte eine verärgerte Stimme aus
dem Publikum, die das Fehlen einer Entschuldigung bemängelte: “You call that an apology?”.
Nicht nur die Amerikaner verlangten nach einer öffentlichen Entschuldigung für Abu Ghraib,
auch die meisten Iraker hielten eine Entschuldigung des höchsten Repräsentanten des
amerikanischen Volkes für angebracht. Möglicherweise hätte der Skandal zu diesem
Zeitpunkt mit einer demütigen Entschuldigung, vielleicht sogar auf Arabisch, zu einem
befriedigenden Abschluss gebracht werden können. Dies ist natürlich in hohem Maße
spekulativ, aber eine starke symbolische Geste wäre mit Sicherheit auf große Resonanz
gestoßen. Dies wird nicht zuletzt an einer verhältnismäßig kleinen Geste deutlich, zu der sich
Bush durch den öffentlichen Druck bewegen ließ: Am 6. Mai zeigte der Talkmaster
Olbermann einen Videoausschnitt, in dem sich der amerikanische Präsident anlässlich eines
Besuchs beim König von Jordanien auf einer Pressekonferenz zu Abu Ghraib äußert:
I told his majesty, as plainly as I could, that wrongdoers will be brought to justice. I told him I was sorry
for the humiliation suffered by the Iraqi prisoners, and the humiliation suffered by their families. I told
him I was equally sorry that – that people um – have been seeing those pictures, didn’t understand the
true nature and heart of America.519
517
„Kerry Urges Bush to Voice U.S. Regret On Iraq Abuse“, The New York Times, 6. Mai 2004.
518
„Many Iraqis Are Skeptical of Bush TV Appeal“, The New York Times, 6. Mai 2004.
519
Countdown (20:00), MSNBC, 6. Mai 2004.
468
Dieser Sprechakt genügt in formaler Hinsicht nur schwerlich den Bedingungen einer
Entschuldigung (so auch Gibney & Steiner 2008: 290f.). Sie war, wie Olbermann bemerkte,
bestenfalls der öffentliche Bericht einer privaten Entschuldigung. Außerdem hat sich der
Präsident beim Staatsoberhaupt des Nachbarstaates des Iraks entschuldigt – nach Olbermann
der falsche Adressat. Man könnte auch noch auf die Ambiguität des Satzes „I am sorry“
hinweisen: Dieser Satz kann eine Entschuldigung im Sinne von „I apologize“ bedeuten, aber
auch als affektiv-expressiver Ausdruck des Bedauerns verstanden werden. Als Akt des
Bedauerns fehlt ihm der illokutionäre Gehalt und die kommunikative Bindekraft, die für eine
Entschuldigung charakteristisch sind (vgl. 2.3.1). Diese zweite Bedeutung des Wörtchens
„sorry“ nimmt überhand, wenn Bush sein Bedauern gegenüber dem Verkennen des „wahren“
Amerikas kundtut. Hier verliert das Wort „sorry“ durch den Kontext seine Ambivalenz und
wird zu einem rein expressiven Ausdruck ohne illokutionären Gehalt. In der Anhörung vor
dem Senat am 7. Mai nahm der demokratische Abgeordnete Byrd in einer Frage an den
Verteidigungsminister Rumsfeld auf die Performanz von Bush bezug:
Given the catastrophic impact that this scandal has had on the world community, how can the United
States ever repair its credibility? How are we supposed to convince not only the Iraqi people, but also the
rest of the world that America is indeed a liberator, and not a conqueror, not an arrogant power? Is the
presidential apology to the king of Jordan sufficient?520
Nicht nur Olbermann und Demokraten, sondern auch der – politisch rechts außen zu
verortende – Radiomoderator Rush Limbaugh stellte (wenn auch aus anderen Motiven) in
Frage, dass es sich bei der besagten Äußerung um eine richtige Entschuldigung gehandelt
habe. Formal betrachtet ist sie nicht einmal der Bericht einer Entschuldigung, da die
Gleichsetzung („equally sorry“) des bedauerlichen Verkennens mit der Reaktion auf die
Missbrauchsfälle eine Interpretation der Äußerung als Entschuldigung ausschließt. Diesen
Bedenken zum Trotz wurde Bushs ambivalentes „I am sorry“, das erst auf öffentlichen Druck
zustande gekommen war, im amerikanischen Diskurs weithin als öffentliche Entschuldigung
rezipiert und akzeptiert. So begrüßte der republikanische Senator John McCain die
mutmaßliche Entschuldigung des Präsidenten, wobei er Bush gleichzeitig dafür kritisierte,
dass sie erst so spät gekommen sei.521 In Verbindung mit McCains Kritik wirkte die Adelung
der Äußerung zur Entschuldigung umso glaubwürdiger. Und auch Colin Powell interpretierte
im Vorfeld seiner eigenen Entschuldigung in Jordanien die Äußerung von Bush als eine
520
„Testimony before Senate Armed Services Committee on Iraqi prison abuse“, CBS News Special Report, 7.
Mai 2004.
521
„Prisoner Abuse Scandal Puts McCain in Spotlight Once Again“, The New York Times, 10. Mai 2004.
469
öffentliche Entschuldigung im Namen der Nation: „The president has expressed an apology
on behalf of the nation. I will reinforce that apology“ (zitiert nach Gibney & Steiner 2008:
293). Trotz der sprachlichen Unschärfe und einiger kritischer Stimmen wurde die
Entschuldigung des Präsidenten im amerikanischen Diskurs anerkannt und wohlwollend
aufgenommen.522 Noch Jahre später erinnerte man sich an diese Äußerung als einer – in
vielerlei Hinsicht merkwürdigen – Entschuldigung des Präsidenten für Abu Ghraib vor den
Augen der Weltöffentlichkeit.523
Öffentliche Entschuldigungen beschränkten sich indes nicht nur auf Leserbriefe und das
politische Führungspersonal. Einen Monat nach dem Ausbruch des Skandals gab es auf
amerikanischer Seite eine weitere kollektive Entschuldigung für die Missbrauchsfälle. Diese
ging von fünf religiösen Führern verschiedener Glaubensrichtungen, unter ihnen auch ein
muslimischer Geistlicher, aus und wurde als Werbespot über die arabischen Sender Al
Jazeera und Al Arabiya ausgestrahlt.524 Insbesondere die Beteiligung des muslimischen
Geistigen ist in diesem Zusammenhang bedeutend, da so die Dichotomie zwischen
christlichem Westen und der muslimischen Welt unterlaufen wurde. Auch die überwiegende
Mehrheit der Täter von Abu Ghraib nutzte die Verhandlung vor Gericht, um sich öffentlich
bei ihren Opfern zu entschuldigen, worüber dann auch in den Medien berichtet wurde.525
Diese inflationäre Praxis des öffentlichen Entschuldigens wurde allerdings auch zum
Gegenstand einer Kulturkritik, überwiegend bei Kommentatoren der Washington Post.526 Dort
diagnostizierte man eine „culture of apology“, die öffentliche Entschuldigungen zu einer
522
„They‘ve Apologized. Now What?“, The New York Times, 9. Mai 2004.
523
„Condoleezza Rice Hearings for January 18, 2005“, The Abrahams Report (18:00), MSNBC, 18. Januar
2005; Countdown (20:00), MSNBC, 16. Oktober 2008. Auch Bernhard Pörksen und Hanne Detel erinnern
noch Jahre später daran, dass der Abu-Ghraib-Skandal „den amerikanischen Präsidenten George W. Bush zu
so etwas wie einer Entschuldigung nötigte“; „Kollaps der Kontexte. In der Digital-Ära wird der
Kontrollverlust zur Alltagserfahrung – und der Skandal allgegenwärtig“, Der Spiegel, Nr. 14, 2. April 2012,
S. 140-141 (hier S. 141).
524
„U.S. Religious Figures Offer Abuse Apology on Arab TV“, The New York Times, 11. Juni 2004; „A Muslim
in the Middle Hopes Against Hope“, The New York Times, 23. Juni 2004.
525
Beispielsweise: „Jeremy Sivits faces a court-martial in Iraq and pleads guilty“, CBS Evening News (18:30),
19. Mai 2004; „Sabrina Harman sentenced to prison for Abu Ghraib actions“, CBS Morning News (6:30), 18.
Mai 2005; „Lynndie England is sentenced for her part in the Abu Ghraib scandal“, The Early Show (7:00),
CBS, 28. September 2005.
526
„A Sorry State; The Artlessness Of the Apology“, The Washington Post, 9. Mai 2004; „Mea Maxima Culpa“,
18. Mai 2004; „You Call That an Apology?“, 3. Juli 2005.
470
unverbindlichen Geste verkommen lasse und in ihrem Sinn entleere.527 Einer solchen Kritik,
mag sie in vielerlei Hinsicht auch berechtigt erscheinen, kann man entgegenhalten, dass
öffentliche Entschuldigungen für politische Akteure offensichtlich mit Kosten und Risiken
verbunden sind.528 Der Fall Abu Ghraib zeigt, dass sich Donald Rumsfeld und George W.
Bush tagelang gegen eine öffentliche Entschuldigung gesträubt hatten. Erst der steigende
öffentliche Druck drängte sie zu einer Entschuldigung – was nicht nötig gewesen wäre, wenn
mit einer Entschuldigung keine symbolischen Kosten verbunden gewesen wären.
8.2.3. Rücktrittforderungen an Rumsfeld – Vergleiche mit Watergate und Vietnam
Schon in den ersten Tagen des Skandals wurden Rücktrittsforderungen gegenüber Rumsfeld
laut, gegen die er jedoch von Präsident Bush in Schutz genommen wurde.529 In seiner
Anhörung vor dem Senat wurde er nach einem möglichen Rücktritt gefragt, wehrte sich aber
gegen solche Forderungen mit der Begründung, dass ein Rücktritt in Anbetracht der
Umstände überzogen sei und nur seine politischen Gegner zufrieden stellen würde.530
Rumsfeld zufolge gehören Forderungen nach seinem Rücktritt zum alltäglichen politischen
Geschäft, wobei er seinen politischen Gegnern unlautere und damit auch unzivile Motive
unterstellte. Mit seiner Performanz vor dem Senat gelang es ihm allerdings, den Eindruck zu
vermitteln, dass er einen Rücktritt ernsthaft in Erwägung gezogen habe. Als er während der
Anhörung von einem Abgeordneten gefragt wurde, ob sein Rücktritt nicht dazu beitragen
könne, zu demonstrieren, dass die Amerikaner die Situation ernst nähmen, wurde dies von
ihm nicht abgestritten. Er erklärte sich vielmehr dazu bereit, einen solchen Schritt zu
vollziehen, wenn es denn zum Wohle des Landes sei.
Bei Rumsfelds öffentlicher Entschuldigung und seiner erklärten Bereitschaft zum Rücktritt
handelte es sich um Performanzen von Demut, die man von ihm so nicht erwartet hätte, ihm
aber dafür umso höher anrechnete. So kommentiert David Martin von CBS den Auftritt des
527
Eine einschlägige jüngere Publikation zum Thema führt gar den Titel „Age of Apology“ (Gibney et al. 2008).
Eine Vielzahl von Fallstudien zeigt dort eindrucksvoll, dass staatliche, aber auch nichtstaatliche Akteure
gegenüber anderen Nationen oder benachteiligten Gruppen immer häufiger zum symbolischen Akt der
öffentlichen Entschuldigung greifen. Auch wenn diese Entwicklung in den meisten Beiträgen als moralischer
Fortschritt aufgefasst wird, beklagen gerade die Autoren des Beitrags über Entschuldigungen im Krieg gegen
den Terror die Instrumentalisierung und Entwertung öffentlicher Entschuldigungen durch die amerikanische
Regierung (Gibney & Steiner 2008: 297).
528
Dies zeigt nicht zuletzt auch die Kritik, die Brandt nach seinem Kniefall aus weiten Teilen der deutschen
Presse entgegenschlug (vgl. Schneider 2006).
529
„President Sorry for Iraq Abuse; Backs Rumsfeld“, The New York Times, 7. Mai 2004.
530
„Rumsfeld Accepts Blame and Offers Apology in Abuse“, The New York Times, 8. Mai 2004.
471
Ex-Verteidigungsministers mit den folgenden Worten: „In three years as secretary of Defense,
Rumsfeld has never been called humble, but he was this time“.531 Die Tatsache, dass es
Rumsfeld gelang, sich als demütigen Diener des amerikanischen Volkes in Szene zu setzen,
war für den weiteren Verlauf des Skandals von großer Bedeutung. Durch Demut signalisiert
ein Individuum, dass es bereit ist, über seinen Schatten zu springen und sich den kollektiv
geteilten höheren Werten zu unterwerfen (3.3.1). Eine erfolgreiche Performanz von Demut
erzwingt die Zuordnung einer Handlung oder Person zur positiven Seite des
zivilgesellschaftlichen Codes. Wer rechtzeitig und überzeugend Demut zeigt, darf die Rolle
des kollektiven Repräsentanten weiterspielen. Seinen Kritikern hingegen wird vorgeworfen,
dass sie sich in ihrer Verfolgung von partikulären Interessen an dem Allgemeinwohl
versündigten. Nicht nur die demütige Performanz, sondern auch Rumsfelds Abwehr von
Rücktrittsforderungen lässt sich als sozialer Mechanismus der Krisenbewältigung begreifen.
Dennoch
wäre
ein
vollzogener
Rücktritt
als
komplementärer
Mechanismus
der
Krisenbewältigung und höchste Demutsbezeugung ebenfalls eine Handlungsoption gewesen,
deren Folgen sich allerdings kaum abschätzen lassen. Rumsfelds Rücktritt wäre ein
angemessenes Opfer zur Besänftigung der kollektiven Gefühle gewesen, das die Debatte um
Abu Ghraib möglicherweise beendet und damit einige Konsequenzen des Skandals verhindert
hätte. Allerdings hätte eine solche Geste die Bedeutung und das Ausmaß der Krise auch noch
weiter steigern können. So hätte Rumsfelds Rücktritt nicht zuletzt als ein Zeichen politischer
Schwäche gedeutet werden können und zudem den Weg für eine Kritik am Präsidenten
freigemacht. Der amtierende Verteidigungsminister stellte einen Puffer dar, der eine etwaige
symbolische Ansteckung des Präsidenten durch den Skandal verhindern und gegebenenfalls
die Schuld auf sich nehmen konnte. Das mit einem Rücktritt verbundene Risiko wollte die
amtierende Regierung im Jahr der Präsidentschaftswahlen sicherlich nicht eingehen,
weswegen die Rücktrittsforderungen zunächst einmal zurückzuwiesen wurden.
Die öffentliche Meinung, wie sie durch die Umfragen von Medienkonzernen und
Meinungsforschungsinstituten abgebildet, oder besser: gebildet wurde, gab der Regierung in
diesem Punkt recht. In einer Umfrage der Washington Post und des Senders ABC sprachen
sich mehr als zwei Drittel der Befragten gegen einen Rücktritt von Rumsfeld aus, wobei
allerdings nur 48% der Befragten mit der Handhabung des Skandals durch den Präsidenten
531
„Donald Rumsfeld testifies before Congress regarding the Iraqi prisoner abuse scandal“, The Saturday Early
Show (7:00), CBS, 8. Mai 2004.
472
zufrieden waren.532 Zu einem fast identischen Ergebnis kam auch eine Umfrage von CNN und
USA Today, wo sich eine Zweidrittelmehrheit gegen und nur ein Drittel für einen Rücktritt
von Rumsfeld ausgesprochen hatte.533 Auch eine Studie des National Annenberg Election
Survey von der University of Pennsylvania kam bei über tausend Befragten zu demselben
Befund.534 Darüberhinaus kam diese Studie zu dem Schluss, dass 47% der Befragten
glaubten, dass die beschuldigten Soldaten auf eigene Faust gehandelt hätten, während nur
31% davon überzeugt waren, dass sie bei den Misshandlungen einem Befehl gefolgt seien.
Allerdings waren mehr als die Hälfte der Befragten der Überzeugung, dass das Pentagon
versucht habe, die Vorfälle zu vertuschen.
Wir sehen, dass sich hinsichtlich eines möglichen Rücktritts von Rumsfeld – auch über
Parteigrenzen hinweg – ein Konsens etablieren konnte, während andere Fragen, wie etwa jene
nach der Handhabung des Skandals durch den Präsidenten oder aber nach der Rolle des
Pentagon, im öffentlichen Diskurs strittig blieben. Diese diskursiven Gräben verliefen
allerdings
im
Wesentlichen
entlang
der
Parteigrenzen,
so
dass
die
öffentliche
Auseinandersetzung als politischer Konflikt gerahmt werden konnte und nicht als
Wertedebatte
gesehen
wurde.
Allerdings
wurden
auch
Rücktrittsforderungen an Rumsfeld gerichtet – mit mäßigem Erfolg.
weiterhin
535
öffentliche
Sie verstummten erst
im August 2004, als Rumsfeld vom Bericht der unabhängigen Untersuchungskommission
entlastet wurde (Report of the Independent Panel, Schlesinger 2005/2004). Pikanterweise
wurde die Kommission von Rumsfeld selbst einberufen. Sie war aber so hochkarätig besetzt,
dass ihre Unparteilichkeit und Autorität nicht in Frage gestellt wurde. Der Vorsitzende der
Kommission, der ehemalige Verteidigungsminister James Schlesinger, kreidete Rumsfeld
zwar Fehler und Versäumnisse an, nahm ihn aber gegenüber den Rücktrittsforderungen
ausdrücklich in Schutz.536 Zwei Jahre später, nach Rumsfelds Rücktritt infolge der
republikanischen Niederlage bei den Kongresswahlen (9.5.2), kritisierte die Washington Post
die damalige Rücktrittsmöglichkeit als eine verpasste Chance:
532
„Most Want Rumsfeld to Stay, Poll Finds“, The Washington Post, 8. Mai 2004.
533
„Bush Backs Rumsfeld; Will Prisoner Abuse Scandal Affect November Election?“, CNN Wolf Blitzer
Reports (17:00), 10. Mai 2004.
534
„President Backs his Defense Chief in Show of Unity“, The New York Times, 11. Mai, 2004.
535
„Rumsfeld Preserves Bearing, But Weighs Ability to Serve“, The New York Times, 13. Mai 2004.
536
„Iraq abuse report holds top officials responsible“, USA Today, 25. August 2004; „For Abu Ghraib“, The
New York Times, 26. August 2004.
473
The Bush administration could have done far more to neutralize the damage from its abuse of detainees:
After the publication of those images from Abu Ghraib, Donald Rumsfeld should have resigned,
countering a dramatic disgrace with an equally dramatic demonstration of contrition.537
Gerade das Opfer eines „unschuldigen“ Verteidigungsministers wäre den Vereinigten Staaten
hoch angerechnet worden. Als symbolische Geste, die das Erforderliche bei Weitem
übertroffen hätte, wäre sie eine entschlossene und adäquate Reaktion auf den durch die AbuGhraib-Bilder hervorgerufenen Schock und Imageschaden gewesen. Vermutlich hätte
Rumsfeld mit einem dramatischen Abgang seinem Land einen größeren Dienst erwiesen als
in den ihm verbleibenden zwei Dienstjahren. Allerdings wäre ein Rücktritt, wie schon
angesprochen, für seine Partei ein unkalkulierbares Risiko gewesen. Die Interessen einer
Partei sind nicht immer identisch mit denen des Landes – auch wenn dies immer wieder in
politischen Debatten und Wahlkämpfen behauptet wird.
Bei den öffentlichen Entschuldigungen und Rücktritten handelt es sich um makrosoziale
Techniken der Imagepflege und um soziale Mechanismen der Bewältigung von Skandalen. In
unserem speziellen Fall stellten sie allerdings nicht die einzigen Handlungsoptionen dar, die
eine Einhegung der Krise und eine Beilegung des Konflikts in Aussicht stellten. Auch das
Versprechen einer lückenlosen Aufklärung des Falles und einer Bestrafung der Schuldigen
können unter dem Aspekt der Imagepflege betrachtet werden. Vielen ging die politische und
symbolische Reaktion auf Abu Ghraib nicht weit genug – selbst im republikanischen Lager.
So war McCain der Meinung, dass Abu Ghraib als Symbol für die Folter unter Hussein (vgl.
6.3) und für den Abu-Ghraib-Skandal als Geste gegenüber der arabischen Welt geschleift
werden sollte.538 Die Bush-Regierung weigerte sich aber, weitere Konzessionen zu machen.
Zwei Jahre vergingen, bis im Zuge einer Re-Skandalisierung durch die Veröffentlichung
weiterer Bilder das Gefängnis der Kontrolle der irakischen Regierung übergeben wurde, von
der das Gebäude seit 2009 wieder als Gefängnis genutzt wird.
Vielen Beobachtern ging der erklärte Wille der Regierung zur Aufklärung der Vorfälle
nicht weit genug. Einige Kommentatoren stellten das Verhalten der Regierung als „autoritär“
und „geheimniskrämerisch“ dar, wodurch sie mit der repressiven Seite des Codes der
Zivilgesellschaft assoziiert wurde: “No administration since Nixon has been so insistent that it
has the right to operate without oversight or accountability, and no administration since Nixon
has shown itself to be so little deserving of that trust”.539 Dieses Misstrauen war nicht ganz
537
„Answering the Challenges of Lofty Rhetoric“, The Washington Post, 19. Juni 2006.
538
„Prisoner Abuse Scandal Puts McCain in Spotlight Once Again“, The New York Times, 10. Mai 2004.
539
„Just Trust Us“, New York Times, 11. Mai 2004.
474
unberechtigt. So waren den Abgeordneten und Senatoren über 2.000 Seiten aus der
vollständigen Version des Taguba-Reports vorenthalten worden.540 Dies stellte allerdings nur
die erste Parallele zur Präsidentschaft von Nixon dar, der seit der Watergate-Affäre als
Prototyp eines repressiven und unreinen amerikanischen Präsidenten gilt (Alexander 1993;
Alexander & Smith 1993: 184-188). So hofften einige liberale Kommentatoren, dass die
digitalen Kameras von Abu Ghraib das Schicksal von Bush in derselben Weise besiegeln
würden, wie dies der Kassettenrekorder im Fall Nixon getan hatte.541 Im Rückblick zeigen
sich weitere erstaunliche Parallelen zwischen der Watergate-Affäre und dem Abu-GhraibSkandal: Beide Präsidenten überstanden den Ausbruch des jeweiligen Skandals und
gewannen die anstehende Wiederwahl; in ihrer zweiten Amtszeit wurden sie allerdings beide
von den Spätfolgen des jeweiligen Skandals und neuen Enthüllungen heimgesucht. Dennoch
gibt es einen wesentlichen Unterschied: Die Bänder, die das Schicksal von Bush hätten
besiegeln können, wie dies im Fall Nixon geschehen war, tauchten nie auf. Sie waren nämlich
bereits im November 2005 zerstört worden. Wenn jedoch diese Videobänder, welche das
Verhör von zwei Al-Quaida-Mitgliedern durch die CIA zeigten, oder auch deren willentliche
Zerstörung frühzeitig ans Licht der Öffentlichkeit gelangt wären, hätte dies zu einem
Amtsenthebungsverfahren führen können.542 Die Zerstörung der Aufnahmen durch die CIA
und die Regierung lassen darauf schließen, dass in den Verhören Techniken zur Anwendung
kamen, die der „gesunde Menschenverstand“ als Folter bezeichnen würde.
Ein weiterer Referenzrahmen für den Abu-Ghraib-Skandal stellt der Vietnamkrieg dar
(vgl. 6.2). So sprach ein ehemaliger Botschafter der Vereinigten Staaten, Richard Holbrooke,
von Abu Ghraib als dem „most serious setback for the American military since Vietnam“.543
Auch auf Seiten der Republikaner wurde diese Verbindung gezogen. So wies der
amerikanische Außenminister Colin Powell auf Parallelen zwischen den Missbrauchsfälle in
Abu Ghraib und dem My-Lai-Massaker hin (vgl. 6.2.3).544 Allerdings gab es auch Stimmen,
die sich einen solchen Vergleich mit der Begründung verbaten, dass die Vorfälle in Abu
Ghraib – im Gegensatz zu My Lai – nicht auf eine Überforderung von Soldaten in
Gefechtssituationen zurückzuführen seien (worüber sich sicherlich streiten ließe), sondern aus
540
„Abu Ghraib, Stonewalled“, The New York Times, 30. Juni 2004; „Abu Ghraib, Whitewashed“, 24. Juli 2004.
541
„Tourists and Torturers“, New York Times, 11. Mai 2004.
542
„Bush Lawyers Discussed Fate Of C.I.A. Tapes“, The New York Times, 19. Dezember 2007.
543
„They‘ve Apologized. Now What?“, The New York Times, 9. Mai 2004.
544
„Rumsfeld Chastised by President For His Handling of Iraq Scandal“, The New York Times, 6. Mai 2004.
475
der Verachtung der amerikanischen Regierung für Gesetze und Regeln resultierten.545 Diese
Meinung war jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht mehrheitsfähig und konnte sich erst in der
mittleren (9.1) und späten Phase des Skandals (10.1.3) durchsetzen. Senator McCain ermahnte
die Regierung zu rücksichtsloser Aufklärung der Vorfälle, da er befürchtete, dass ansonsten
die Einstellung der Amerikaner zum Irakkrieg, wie zuvor im Falle Vietnam, ins Negative
umschlagen könnte.546 Auch die Rolle von Seymour Hershs in der Enthüllung des Skandals
legte die Assoziation mit Vietnam nahe.547 Vorfälle von Abu Ghraib wurden, insbesondere
auf dem links-liberalen Flügel, vor dem Hintergrund des Tätertraumas des Vietnamkriegs
wahrgenommen.548 Oder, um es mit den unnachahmlichen Worten des Kommentators Frank
Rich zu sagen: “JUST when you’ve persuaded yourself yet again that this isn’t Vietnam, you
are hit by another acid flashback”.549
8.3. Soziale Spaltung? – Diskurshegemonie und Gegendiskurse
Liberalism and Conservatism are anything but monolithic.
George Lakoff, Varieties of Liberals
and Conservatives (2006: 283)
Wir haben gesehen, dass sich schon in den ersten Tagen des Skandals eine relativ einheitliche
öffentliche Meinung zu den Missbrauchsfällen herausbildete. Schon früh kam man darin
überein, dass die Vorwürfe, nicht zuletzt wegen ihrer Gefahr für das Image der Vereinigten
Staaten, ernst zu nehmen und restlos aufzuklären seien. Des Weiteren bestand ein Konsens
darüber, dass es zu symbolischen Ausgleichshandlungen kommen müsse, wenn auch die Art
und das Ausmaß dieser Korrektivhandlungen durchaus umstritten blieben. Die öffentlichen
Akte des Bedauerns und das Versprechen, die Täter zu bestrafen, machten hier nur den
Anfang. Die öffentlichen Entschuldigungen und Anhörungen hochrangiger Militär- und
Regierungsmitglieder steigerten den symbolischen Einsatz noch einmal. Allerdings blieb es
545
„A Sorry State; The Artlessness Of the Apology“, The Washington Post, 9. Mai 2004.
546
„Mr. Rumsfeld‘s Defense“, The New York Times, 8. Mai 2004.
547
„Just Trust Us“, The New York Times, 11. Mai 2004
548
„When Liberators Become Tyrants“, The New York Times, 7. Mai 2004.
549
„The War‘s Lost Weekend“, The New York Times, 9. Mai 2004.
476
im Fall Rumsfeld bei Rücktrittsforderungen – erst nach den desaströsen Kongresswahlen von
2006 musste der angeschlagene Verteidigungsminister seinen Platz räumen (9.5.2).
Trotz dieser Übereinstimmung im hegemonialen Diskurs treten, vor allem was die
Zuschreibung von Ursachen und Verantwortlichkeiten anbelangt, grundlegende Differenzen
zwischen dem konservativen und dem liberalen Diskurs zu Tage. Die unterschiedliche
Rahmung der Abu-Ghraib-Missbrauchsfälle spiegelt im Wesentlichen die kulturellen
Prinzipien und Schlüsselmetaphern wieder, die Lakoff (2006) in seinem Buch über
moralische Politik in den Vereinigten Staaten herausgearbeitet hat. Die folgende Analyse des
Diskurses kann deswegen auch als Validierung seiner Theorie gelesen werden (vgl. 4.3.5).
Lakoff zufolge interpretieren Konservative und Liberale den gemeinsamen Code der zivilen
Sphäre unterschiedlich, da sie grundverschiedene Familienvorstellungen besitzen, die sie auf
das Verhältnis von Staat und Bürger projizieren. Die Unterschiede im sozialen und politischen
Imaginären gehen mit unterschiedlichen Moralvorstellungen einher. Im konservativen Diskurs
spielen Konzepte wie Charakter oder moralische Verderbtheit (“moral corruption”) für die
Rahmung und Erklärung abweichenden Verhaltens eine große Rolle. Im liberalen Diskurs
wird sozialen und kulturellen Faktoren eine sehr viel größere Rolle zugestanden, wobei auch
hier an der moralischen Zurechenbarkeit der Taten auf Individuen prinzipiell festgehalten
wird.550
Trotzdem kann angesichts der allgemeinen Empörung über die Missbrauchsfälle und der
einmütigen Forderung nach einer harten Bestrafung der Täter von einem relativ einheitlichen,
hegemonialen Diskurs gesprochen werden, der in wesentlichen Punkten mit der Rahmung der
Vorfälle durch die Bush-Administration konvergiert. Diese Konvergenz kam erst dadurch zu
Stande, dass sich die Bush-Administration, wie an der öffentlichen Performanz von
Entschuldigungen ersichtlich wurde (8.2.2), dem Druck der Öffentlichkeit beugte. Im
Folgenden soll der hegemoniale Diskurs und sein beherrschendes Narrativ an den
Äußerungen konservativer politischer Akteure verdeutlicht werden (8.3.1), auch wenn sich im
diskursiven Mainstream ein konservativer und ein liberaler Flügel ausmachen lässt. Dem
hegemonialen Diskurs steht allerdings auch ein links-liberaler (8.3.2) und ein rechtskonservativer Diskurs (8.3.3) gegenüber, die beide in wesentlichen Punkten von der
Hegemonie der öffentlichen Meinung abweichen.
Konträr zum hegemonialen Diskurs verläuft außerdem das Narrativ der Täter und ihrer
550
Dies mag ein wesentlicher Grund dafür sein, dass die meisten Soziologen sich tendenziell auf der linken
Seite des politischen Spektrums verorten (also in Amerika auf Seite der Demokraten).
477
Anwälte vor Gericht. Diesem „low-mimesis“-Narrativ zufolge hätten die Soldaten von Abu
Ghraib aufgrund von Befehlen gehandelt: „just following orders“ war die von der
Verteidigung ausgegebene Devise. Die Täter seien selbst Opfer, „Sündenböcke“, die nun
stellvertretend für ihre Befehlsgeber büßen müssten. Das Sündenbock-Argument wurde
erstmals von den Anwälten der angeklagten Soldaten verwendet, die argumentierten, dass ihre
Mandanten nur Befehle befolgt hätten.551 General Janis Karpinski, die zur Zeit der
Missbrauchsfälle das Oberkommando über alle amerikanischen Gefängnisse im Irak
innegehabt hatte, aber von ihrem Posten entbunden wurde, als die Untersuchung der Vorfälle
begann, verteidigte sich und ihre Soldaten ebenfalls mit dem Vorwurf, dass man selbst nun als
Sündenbock für die Fehler der militärischen und politischen Führung zu büßen habe. Auch
der liberale Diskurs sollte sich dieses Arguments bedienen – allerdings mit einem
weitreichenden Unterschied: Wenn Liberale im öffentlichen Diskurs von den Soldaten als
„Sündenböcken“ sprachen, so implizierten sie damit nicht, dass diese unschuldig seien,
sondern nur, dass diese nicht die alleinige Verantwortung für den Gefangenenmissbrauch
trügen. Es waren vor allem die Bilder von Abu Ghraib, die das Narrativ der Verteidigung
unterliefen. Die ausgelassene und selbstgerechte Selbstdarstellung der Soldaten auf den Fotos
ließ die Behauptung der Verteidigung, dass hier lediglich auf Befehl gehandelt worden sei,
fragwürdig erscheinen.
8.3.1. Der konservativ-hegemoniale Diskurs – Das „bad-apple“-Narrativ
Was die Haltung der meisten Konservativen von der Haltung vieler Liberaler unterschied war
nicht die moralische Verurteilung der Täter von Abu Ghraib (die von den Liberalen geteilt
wurde), sondern ihre Neigung, die moralische Korruption der Täter zur wichtigsten Ursache
der Missbrauchsfälle zu erklären. Diese Position wurde insbesondere von der Bush-Regierung
und der US-Armee vertreten, aber auch in weiten Teilen des konservativen Diskurses in den
Medien. Als General Kimmitt in jener Show, in der die Fotos erstmals gezeigt worden waren
(8.1.2), interviewt wurde, wies er auf die individuelle Verantwortlichkeit der Soldaten und die
Immoralität ihrer Akte hin:
„I’m not going to stand up here and make excuses for those soldiers,” General Kimmitt said. He said that
“if what they did is proven in a court of law, that is incompatible with the values we stand for as a
professional military force, and it’s values that we don’t stand for as human beings.”552
Die Äußerung des Generals lässt sich in drei Aussagen gliedern: Erstens unterliegen auch die
551
„G.I.‘s Are Accused of Abusing Iraqi Captives“, The New York Times, 29. April 2004.
552
„G.I.‘s Are Accused of Abusing Iraqi Captives“
478
Täter von Abu Ghraib zunächst einmal der rechtsstaatlichen Unschuldsvermutung; zweitens
liegt die Schuld, wenn diese einmal erwiesen ist, bei der jeweiligen Einzelperson; drittens
geht mit dieser Schuld ein symbolischer Ausschluss aus der amerikanischen Armee einher,
die universellen Werten der Menschlichkeit verpflichtet sei. Die Unschuldsvermutung hatte
im hegemonialen Diskurs nicht lange Bestand – zu erdrückend war die Beweislast der Bilder,
zu einhellig die Empörung über das, was auf ihnen zu sehen war. Nach dem Ausbruch des
Skandals forcierten Armee wie auch Regierung eine schnelle und harte Bestrafung der
Angeklagten (8.4.1). Die Verortung der Schuld bei dem einzelnen Täter wie auch das
Festhalten an der Unschuld der Armee als Institution war eine zentrale Maxime des
konservativen Diskurses.553 Kimmit rahmte die Vorfälle als schwarzen Tag für die Armee und
damit als Tragödie. Die weiße Weste der amerikanischen Armee, dem kollektiven Helden
dieses Narrativs, sei durch die Taten einiger weniger befleckt und die Institution als solche
ungerechtfertigt in Verruf gebracht worden. Abu Ghraib durfte ihm zufolge auch nicht in eine
nationale Identitätskrise führen, sondern musste als vorübergehendes Imageproblem
aufgefasst werden. Die symbolische Exklusion der Soldaten und die wiederholte Referenz auf
die eigenen Werte dienten dazu, der drohenden Krise aus dem Weg zu gehen und dabei die
soziale Einheit auf der symbolischen Ebene wiederherzustellen.
Die drohende Verunreinigung der Armee, die Kimmit hier abzuwehren versuchte, bedrohte
auch die amerikanische Nation als Ganzes. So wie der Armee eine symbolische Ansteckung
drohte, da die Angeklagten in ihren Reihen tätig waren, repräsentierten die Täter auch das
amerikanische Volk. Soldaten haben in ihrer institutionellen Rolle, ähnlich wie politische
Amtsinhaber, ein Kollektiv zu repräsentieren und sind darum in letzter Instanz der zivilen
Sphäre verpflichtet. Dies gilt in besonderem Maße für die Vereinigten Staaten, wo die Armee
ein großes Ansehen und einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert besitzt. Die
Missbrauchsfälle von Abu Ghraib konnten daher nicht als einfache kriminelle Handlungen
gerahmt werden – genauso wenig, wie dies nach den Anschlägen vom 11. September 2001
möglich gewesen war (6.4). Gerade aufgrund der „Unreinheit“ der Bilder konnten die
Vorfälle in Abu Ghraib ein großes symbolisches Potenzial entwickeln, das alles zu
beschmutzen drohte, was mit ihnen in Verbindung stand oder in Berührung kam: die
Kameraden, die Armee, die Regierung, ja sogar die Nation als Ganzes. Auf der einen Seite
machte dies Korrektivhandlungen wie die öffentlichen Entschuldigungen erforderlich, auf der
553
Der Schutz von Institutionen zu Ungunsten von handelnden Personen scheint ein weitverbreitetes
konservatives Denkmuster zu sein, das auch aus der Dreyfus-Affäre bekannt ist (hierzu Durkheim
1986/1898).
479
anderen Seite versuchte man, die symbolische Verschmutzung auf die Täter, die auf den
Fotografien zu sehen waren, zu konzentrieren.
Die erstmalige Verwendung des Ausdrucks “a few bad apples” im Kontext der
Enthüllungen von Abu Ghraib wurde in einigen Zeitungsartikeln dem Verteidigungsminister
Rumsfeld, in anderen Artikeln seinem Stellvertreter Paul Wolfowitz zugeschrieben. Fakt ist,
dass diese Metapher schon unmittelbar nach der Enthüllung des Skandals in einschlägigen
Artikeln auftauchte.554 Zudem wurde sie auch von anderen Diskursteilnehmern verwendet,
um die Missbrauchsfälle zu charakterisieren.555 Lakoff (2006) weist in seiner Studie zu den
moralischen Grundlagen der amerikanischen Politik dezidiert auf die Bedeutung des
„verfaulten Apfels“ als einer Metapher des konservativen Denkens hin. Diese zielt in erster
Linie auf die Gefahr der Ansteckung durch moralische Verderbtheit: „A rotten apple spoils
the barrel“ (2006: 92). Diese Metapher ist im Rahmen dieser Studie von zweifacher
Bedeutung. Einerseits gibt sie die Rahmung des Skandals durch die Konservativen und das
Militär prägnant wieder, so dass im Folgenden auch dort vom Bad-Apple-Narrativ die Rede
sein soll, wo die Metapher nicht explizit verwendet wurde. So machte Präsident Bush in einer
religiös gestimmten Rede vor einem konservativen Publikum die Charakterfehler einzelner
Soldaten (“failures of character”) für die Missbrauchsfälle verantwortlich, weswegen der
Skandal auch die Ehre („honor“) der amerikanischen Truppen als solche unangetastet lasse
und auch ihre Erfolge im Irak nicht zunichtemachen könne.556 Andererseits wurde die BadApple-Metapher in den folgenden Jahren auch immer wieder von liberalen Kritikern
verwendet, die sich über die konservative Verharmlosung des Skandals lustig machten.557
Interessanterweise nahm die kritische Verwendung des Begriffes „bad apple“, der immer
stärker mit Donald Rumsfeld assoziiert wurde, in der mittleren und späten Phase des Skandals
zu. Im linken Flügel des hegemonialen Diskurses trat der Vorwurf, dass die politische und
militärische Befehlskette ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen sei, an die Seite, aber
nicht an die Stelle des Bad-Apple-Narrativs. Diese Erweiterung entspricht den Konzepten von
554
„Allegations of Abuse Lead To Shakeup at Iraqi Prison“, The Washington Post, 30. April 2004
555
So z.B. von Staff Sergeant Robert Parker in: „Prison abuse revelations and photographs of Iraqi prisoner
abuse clearly weigh on the minds of combat troops in Iraq“, CBS Evening News (18:30), 13. Mai 2004.
556
„Bush, at a Commencement, Hails ‘Honor’ of U.S. Troops in Iraq“, The New York Times,15. Mai 2004.
557
So kritisierte die Liberale Flavia Cogan in einer Fernsehdebatte mit Konservativen die „bad apple theory“ als
naiv und unzureichend; Scarborough Country (22:00), MSNBC, 12. Mai 2004.
480
„care“ und „nurture“,558 denen Lakoff (2006: 108-140) eine Schlüsselstellung im liberalen
Diskurs zuweist. Die Liberalen gingen damit einen Schritt über das Bad-Apple-Narrativ
hinaus: Die Soldaten seien als Kinder der Nation von ihren Vorgesetzten nicht ausreichend
beaufsichtigt und kontrolliert worden, weswegen auch diese Verantwortung übernehmen
müssten. Allerdings wurde hier der Militärführung und der Regierung noch keine ursächliche
Rolle zugesprochen – anders als im links-liberalen Gegendiskurs (6.3.2).
Das Bad-Apple-Narrativ dominierte den konservativen Diskurs bis zu der Wiederwahl von
George W. Bush und dem Beginn seiner zweiten Amtszeit. In der Auseinandersetzung mit
den Memoranda der Regierung bekam diese Rahmung der Vorfälle eine ernst zu nehmende
Konkurrenz durch das Weak-Leadership-Narrativ, das ebenfalls an grundlegende Prinzipien
der konservativen Moral anknüpfte (vgl. Lakoff 2006: 65-107): Soldaten seien gegenüber
Armee und Regierung genauso zum Gehorsam verpflichtet wie die Kinder gegenüber ihren
Eltern. Dafür stünden allerdings der Vater der Familie, die Regierung des Staates und die
Führung der Armee in der Pflicht, für klare Regeln zu sorgen. Während sich die bisherige
Kritik an der Befehlskette auf eine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht beschränkte, gingen
die Vertreter des Weak-Leadership-Narrativs noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem
sie der regelsetzenden Autorität eine ursächliche Mitschuld zuschrieben. Nach der
Wiederwahl von Bush wurden die berüchtigten Memoranda von wertkonservativen
Republikanern als ein Versagen der Regierung interpretiert, für klare und eindeutige Regeln
im Umgang mit Gefangenen zu sorgen. Der Bush-Administration wurde vorgeworfen, durch
die Aufweichung des Folterverbotes sowie durch die Nichtanwendung der Genfer
Konventionen in Guantanamo und Afghanistan auch in den irakischen Gefängnissen eine
Situation der Unsicherheit in Bezug auf die Geltung der Regeln herbeigeführt zu haben.
Zunächst wurde dieses Weak-Leadership-Narrativ nur herangezogen, um die Durchsetzung
des McCain-Amendments zu begründen (9.2.). Nach der Wahl Obamas Ende 2008 wurde der
scheidenden Regierung in einem überparteilichen Bericht des Verteidigungsausschusses mit
Hilfe des Weak-Leadership-Narrativs eine ursächliche Teilschuld an den Missbrauchsfällen
zugesprochen (10.1.3). Damit hatte sich das Bad-Apple-Narrativ zur Rahmung von Abu
Ghraib auch auf konservativer Seite erledigt.
558
Gerade der Begriff „care“ ist in den Vereinigten Staaten geradezu typisch für den liberalen Diskurs und die
demokratische Politik. Aus diesem Grund ist er ein rotes Tuch für die Konservativen, was nicht zuletzt die
negative Verwendung der Begriffe „Medicare“ und auch „Obamacare“ in der aufgeladenen Debatte zur
Gesundheitsreform gezeigt hat.
481
8.3.2. Der links-liberale Gegendiskurs – Hersh, Zimbardo und Sonntag
Im liberalen Gegendiskurs kritisierte man die Rahmung der Vorfälle durch die Armee und die
Regierung als das Opfern von Sündenböcken – ohne allerdings auf die Unschuld der
vermeintlichen Täter zu schließen. Schließlich hat man nicht erst lange nach geeigneten
Sündenböcken suchen müssen, da sich die Täter schon durch ihre Fotografien unvorteilhaft
präsentiert und moralisch diskreditiert hatten. Der liberale Gegendiskurs zum hegemonialen
Diskurs wurde in erster Linie von den linken Intellektuellen und Journalisten getragen, denen
an einer Ausweitung der Schuldfrage gelegen war. Im Folgenden sollen drei repräsentative
Narrative des liberalen Gegendiskurses diskutiert werden: im ersten wurde auf den
institutionellen Kontext, im zweiten auf die soziale Dynamik, und im dritten auf den
kulturellen Rahmen der Missbrauchsfälle Bezug genommen.
Der einflussreiche Journalist Seymour Hersh begann seine Recherchen, als in den
amerikanischen Medien die ersten Berichte über die Missbrauchsfälle erschienen. Hersh
veröffentlichte eine Serie einflussreicher Artikel im New Yorker.559 In der Ausgabe vom 3.
Mai wurden mehrere Fotografien abgedruckt, von denen einige auf diesem Wege erstmals der
Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Dadurch machte die Redaktion des Magazins
klar, dass sie auf eigene Quellen zurückgreifen konnte und nicht auf die Berichterstattung von
CBS angewiesen war. Seymour Hersh arbeitete schon seit längerem an der „story“ und konnte
auf vertrauliche Quellen zurückgreifen (8.1.2), die ihm neben den Fotos auch einen internen
Untersuchungsbericht der Armee zu den Vorfällen, den Bericht von General Taguba
(2005/2004), zukommen ließen. Der erste Artikel von Hersh, der bereits am 30. April im
Internet veröffentlicht worden war, aber erst am 10. Mai in der Printausgabe des New Yorkers
erschien, sparte nicht an harten Worten für General Karpinski. Die Missbrauchsfälle von Abu
Ghraib wurden ihr, der Oberbefehlshaberin aller amerikanischen Gefängnisse im Irak, als
persönliches Versagen angelastet. Hersh kritisierte auch den ranghöchsten angeklagten
Soldaten, Sergeant Frederick, und dessen Verteidigung, wonach die Täter von Abu Ghraib nur
auf Befehl ihrer Vorgesetzen gehandelt hätten, als unglaubwürdig und eigennützig.
Entscheidend war, dass Hersh (im Gegensatz zu anderen Kritikern) an der individuellen
Schuld der unmittelbar Beteiligten unbeirrt festhielt.
Hersh stützte sich in seinem Artikel auf den Taguba-Report, in dem von systematischen
559
Hersh, Seymour M.: „Torture at Abu Ghraib. American soldiers brutalized Iraqis. How far up does the
responsibility go?“, The New Yorker, 10. Mai 2004; eine Online-Version dieses Textes wurde schon am 30.
April auf der Webseite des Magazins veröffentlicht; bei den Folgeartikeln handelt es sich um „Chain of
Command“,17. Mai, und „Grey Zone“, 24. Mai.
482
Problemen in Abu Ghraib die Rede war und in dem nicht nur Vorwürfe gegen die Führung
der Armee, sondern auch gegen Mitarbeiter des Militärgeheimdienstes und die Angestellten
von Sicherheitsfirmen, die sich an der Misshandlung von Gefangenen beteiligt haben sollen,
erhoben wurden (Taguba 2005/2004: 416-419). Hersh sprach sich, wie Taguba, dafür aus,
dass sowohl die beteiligten Soldaten als auch die verantwortlichen Offiziere für die
Missbrauchsfälle zur Verantwortung zu ziehen seien. Der Bericht von Taguba, der sich in
seiner Untersuchung auf die untersten Führungsebenen beschränken musste, legte
darüberhinaus nahe, dass die Verantwortung für die Vorfälle bis in die höchste
Führungsebene reichte. Diesem Wink folgte Hersh in zwei weiteren Artikeln, in denen er
ebenfalls auf vertrauliche Informationen und die zwischenzeitlich durchgesickerten
Memoranda zurückgreifen konnte. Darin stellt er die Vorfälle von Abu Ghraib als eine Folge
von politischen Entscheidungen dar, die in der Spitze der Bush-Administration getroffen
worden seien. Diese Artikel flossen in Hershs Buch ein, das ursprünglich einmal das
Versagen der Geheimdienste im Vorfeld des 11. Septembers thematisieren sollte, aber dann
die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib in den Vordergrund rückte: Chain of Command, das
noch vor den Präsidentschaftswahlen veröffentlicht (2004a) und auch unmittelbar ins
Deutsche übersetzt wurde (2004b), hielt sich über mehrere Wochen in den Top 10 der
amerikanischen Bestsellerlisten für Sachbücher. Auch wenn Hersh mit seinem Buch auf große
Resonanz stieß, schlug sich dies nicht unmittelbar auf den öffentlichen Diskurs nieder, da die
heiße Phase des Skandals bereits vorüber war und seine Intervention angesichts des
bevorstehenden Wahlkampfes als parteiisch gerahmt werden konnte. Erst nach einigen Jahren
konnte sich ein vergleichbares Narrativ im öffentlichen Diskurs durchsetzen (10.1.3).
Der Psychologe Philip Zimbardo, der durch das Stanford-Prison-Experiment zu einer
Wissenschaftsikone geworden war, bot eine zweite Erklärung für die Missbrauchsfälle in Abu
Ghraib, welche in erster Linie auf soziale Kräfte und Gruppendynamiken rekurrierte, um das
Bad-Apple-Narrativ zu entkräften (7.4.1). Zimbardo hatte sich in der öffentlichen Debatte zu
Abu Ghraib engagiert und als Experte an dem Verfahren gegen Sergeant Frederick
teilgenommen; später veröffentlichte er ein Buch, in dem er sein Stanford-Prison-Experiment
mit den Vorfällen in Abu Ghraib vergleichen sollte (2007). Aber schon am 6. Mai 2004 wurde
in der New York Times ein Artikel publiziert, welcher die Parallelen zwischen Abu Ghraib,
der Stanford-Studie und dem Milgram-Experiment aufzeigte.560 Zimbardo erzählte dem
560
„Simulated Prison in ‘71 Showed a Fine Line Between ‘Normal’ and ‘Monster’“, The New York Times, 6.
Mai 2004. Ein Artikel in der USA Today, der Abu Ghraib mit dem abweichenden Verhalten von Kindern
483
Reporter in einem Interview, dass ihn die Vorfälle und die Bilder von Abu Ghraib nicht
überrascht hatten, da er fast identische Fotos von Gefangenen mit Tüten über ihren Köpfen
aus seiner 1971 durchgeführten Studie habe (zu sehen 2007: 131). Der Verfasser des Artikels,
John Schwartz, versuchte in bester liberaler Manier, Abu Ghraib als Resultat von komplexen
sozialen Prozesse verstehbar zu machen, die in systematischer Weise ein abweichendes
Verhalten begünstigt hätten. Zum Schluss zitiert er noch einmal Zimbardo, wie er der
Schlüsselmetapher der Konservativen eine liberale Wende gibt: “It’s not that we put bad
apples in a good barrel […]. We put good apples in a bad barrel. The barrel corrupts anything
it touches”.561 Das „Fass“ wird damit zur Metapher für die systemischen Probleme, die
Taguba in seiner Untersuchung fand (2005/2004: 448-450), sowie für die situativen Kräfte,
die Zimbardo in seinem sozialpsychologischen Ansatz postulierte. Allerdings schoss er mit
diesem „low-mimesis“-Narrativ, das die individuelle Autonomie und damit auch die Schuld
der mutmaßlichen Täter zu untergraben drohte, weit über den hegemonialen Diskurs hinaus.
Zimbardos Schlussfolgerungen mochten vielleicht wissenschaftlich fundiert sein, aber sie
widersprachen
den
moralischen
Intuitionen
und
vorherrschenden
Narrativen
der
amerikanischen Öffentlichkeit. Die sozialpsychologische Exkulpation der Täter und die
Gutachtertätigkeit Zimbardos für Sergeant Frederick, dem ranghöchsten Angeklagten, war
selbst für viele Liberale eine bittere Pille. Dennoch blieb seine Erklärung der Vorfälle nicht
ohne Einfluss. In dem abschließenden Bericht, der unter der Leitung des ehemaligen
Verteidigungsministers Schlesinger angefertigt wurde, setzte man sich ausdrücklich mit den
Implikationen der “landmark Stanford study” auseinander (2005/2004: 970f.). Allerdings
schränkte man die Bedeutung der Studie von Zimbardo auf die Prävention künftiger Fälle ein,
während Zimbardo selbst (2007: 380-443) eine Neubewertung der Verantwortlichkeiten von
Offizieren und Politikern forderte.
Die dritte liberale Position basierte auf einer kulturalistischen Erklärung der
Missbrauchsfälle, die Abu Ghraib als ein Produkt der amerikanischen Kultur verständlich zu
machen versuchte und damit die Schuldfrage auf die ganze Nation ausweitete (8.4.2). Den
wichtigsten Beitrag in diesem Diskursstrang steuerte die bedeutende Intellektuelle Susan
Sontag wenige Monate vor ihrem Tod unter dem Titel “Regarding the Torture of Others” in
verglich, bezog sich ebenfalls auf Zimbardos Studie: „Vilified soldier shouldn’t be prejudged; just ask her
mom“, 12. Mai 2004.
561
„Simulated Prison in ‘71 Showed a Fine Line Between ‘Normal’ and ‘Monster’”
484
der New York Times vom 23. Mai 2004 bei.562 Für sie stellten die Bilder nicht die kollektive
Identität Amerikas in Frage, sondern spiegelten den Militarismus, Rassismus und Sexismus in
der amerikanischen Kultur wider. So verortete sie die Fotografien im amerikanischen Kontext
von Lynching-Fotographien, Erniedrigungsritualen an Colleges, Pornographie und dem Krieg
gegen den Terror. Letzten Endes waren die Fotografie aus Abu Ghraib für Sonntag ein
Ausdruck von Amerikas hegemonialer Kultur, ein Spiegel der amerikanischen Bürger (“the
photographs are us”). Sie zeichneten ein Bild von Amerika, das seine Bürger als solche nicht
anerkennen wolle. Eine vergleichbare Interpretation der Bilder stammt von Slavoj Žižek, der
die Bilder als obszöne Kehrseite der amerikanischen Kultur verstanden wissen will.563
Der Enthüllungsjournalist Hersh, der Sozialpsychologe Zimbardo und die öffentliche
Intellektuelle Sontag legen unterschiedliche Diskursstile an den Tag. Seymour Hersh deckt, in
der Tradition investigativen Journalismus, vor allem die Verfehlungen der Mächtigen auf.
Von allen drei diskutierten Interventionen hatte er wohl den größten Einfluss auf die
amerikanische Öffentlichkeit, in der der investigative Journalismus, spätestens seit dem
Watergate-Skandal, ein hohes Ansehen besitzt. Er beruft sich in seinen Arbeiten in erster
Linie auf vertrauliche Quellen und kann mit seinem vermeintlichen Insiderwissen punkten.
Der wissenschaftlichen Argumentation von Philip Zimbardo gereichte es zum Nachteil, dass
sie zu kontraintuitiven Schlüssen kommt, die sich nicht so ohne Weiteres in erfolgreiche
Narrative ummünzen ließen. Susan Sonntag repräsentiert hingegen das schlechte Gewissen
Amerikas, das allerdings nur für ein eng umrissenes, linksliberales Publikum – und vor dem
Hintergrund des amerikanischen Tätertraumas von Vietnam (6.2.3) – an Plausibilität gewann.
8.3.3. Der rechts-konservative Gegendiskurs – James Inhofe und Rush Limbaugh
Während die tragische Rahmung der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib als „schockierend“,
„abstoßend“ und „unamerikanisch“ schon in wenigen Tagen die Diskurshegemonie erlangte
(8.1.3), entstand ein rechter Gegendiskurs, der nicht nur die öffentliche Empörung über die
Bilder in Frage stellte, sondern auf die vermeintliche Empörung selbst mit Empörung
reagierte. Anlässlich der zweiten Anhörung vor dem Verteidigungsausschuss des
amerikanischen Senats tat der republikanische Senator James Inhofe öffentlich kund, dass er
562
563
Sontag, Susan:“Regarding the Torture of Others”, The New York Times, 23. Mai 2004. Der Titel des Artikels
ist eine Anspielung auf das jüngste Buch von Sontag, „Regarding the Pain of Others“, wo sie sich mit der
Wirkung von Kriegsfotografien und anderen visuellen Darstellungen menschlichen Leidens auseinandersetzt
(2003).
Žižek, Slavoj:“Between Two Deaths, The Culture of Torture”, London Review of Books, 3. Juni 2004.
485
zwar mit den Taten der Soldaten nicht einverstanden sei, dass er und viele andere sich aber
mehr über die Empörung empörten als über die Missbrauchsfälle selbst:
I have to say – and I’m probably not the only one up at this table that is more outraged by the outrage than
we are by the treatment. The idea that these prisoners, you know, they are not there for traffic violations.
If they are in cell block 1-A or 1-B, these prisoners, they’re murderers, they’re terrorists, they’re
insurgents. Many of them probably have American blood on their hands. And here we are so concerned
about the treatment of those individuals. 564
Inhofe stellt hier einen wesentlichen Punkt in der Rezeption der Missbrauchsfälle in Frage,
nämlich die Perzeption der Gefangenen als unschuldige Opfer amerikanischer Willkürgewalt.
Inhofe relativiert die verwerfliche Tat der Soldaten, indem er an den vermeintlichen Status der
irakischen Gefangenen als Feinde des amerikanischen Volkes erinnert. Sein Narrativ weist
darin eine Ähnlichkeit zur romantischen Dichotomie von heldenhaftem Folterer und
gefoltertem Terroristen auf, die durch die Skandalbilder, die sadistische Folterer und
unschuldige Opfer zeigen, unterlaufen wurde (7.5). Nicht nur auf Seiten der Demokraten
reizte diese Sicht der Dinge zum Widerspruch, wie ein Reporter, der während der
Geschehnisse vor Ort gewesen war, dem Nachrichtensprecher später berichtete:
Wolf, I can tell you that some republicans, such as John McCain, walked out of the room during Inhofe's
remarks. Some reporters asked Senator McCain after the – during a break in the action whether he agreed
with Senator Inhofe and what he had to say, and McCain said, “No way.” And basically, Democrats on
the panel, such as Hillary Clinton, Evan Bayh, you can see them in the hearing room looking astonished
at what Senator Inhofe was saying, suggesting that maybe the abuse was not as bad as the media
portrayed it.565
Nach den skandalösen Äußerungen von Inhofe, aber noch während der Rede des Senators,
verließ Inhofes Parteikollege McCain mit einigen Kollegen den Raum. Diese performative
Zurschaustellung von Protest entfaltete ihre ganze theatralische Wirksamkeit nicht zuletzt
aufgrund der Berichterstattung durch den Journalisten. Inhofe war der einzige hochrangige
Politiker, der es gewagt hatte, den öffentlichen Konsens und die kollektiv zur Schau gestellten
Gefühle zu kritisieren, weswegen er daraufhin auch in nahezu allen Medienberichten (mit
Ausnahme einiger rechtskonservativer Talkshows auf Fox News) scharf angegriffen wurde.
Rush Limbaugh, Radiomoderator und eine Art Hofnarr auf dem äußersten rechten Flügel,
ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er die Missbrauchsfälle herunterspielte und –
angesichts ihres stressigen Gefängnisalltags – das vermeintliche Recht der Soldaten auf Spaß
564
“News from CNN 12:00: Antonio Taguba Appears Before Senate Armed Services Committee”;“Another
Deadly day in Iraq; Interview With Senator John Ensign”, CNN, 11. Mai 2004. In Auszügen zitiert und
diskutiert in:“For senator, outrage is more outrageous than abuse”, USA Today, 12. Mai 2004;“Till case
reminds us of people’s capacity for brutality”, USA Today, 20. Mai 2004.
565
“News from CNN 12:00: Antonio Taguba Appears Before Senate Armed Services Committee”;“Another
Deadly day in Iraq; Interview With Senator John Ensign”, CNN, 11. Mai 2004.
486
(“having fun”), den diese durchaus auch auf Kosten ihrer Gefangener ausleben dürften,
verteidigte. Diese eigentümliche Auslegung der Missbrauchsfälle untermauerte Limbaugh
durch einen Vergleich mit den (scheinbar harmlosen) Initiationsritualen in den geheimen
Studentenverbindungen der amerikanischen Eliteuniversitäten:
Radio commentator Rush Limbaugh responded to the initial photographs from Abu Ghraib prison by
joking that this degradation was “no different than what happens at the Skulls and Bones initiation,” a
reference to the secret society at Yale University which both George W. Bush and John Kerry joined as
undergraduates. And the latest USA TODAY/CNN/Gallup Poll found that 20% of those surveyed said
that the abuse of Iraqi prisoners did not bother them “much” or “at all.”566
Etwa 20% der amerikanischen Bevölkerung gaben bei Umfragen an, sich an den
Missbrauchsfällen in Abu Ghraib kaum zu stören. Diese vom hegemonialen Diskurs
abweichende Minorität stellt also einen nicht unerheblichen Teil der Gesamtbevölkerung dar.
Dennoch wurden ihre Repräsentanten, Inhofe und Limbaugh, im zivilgesellschaftlichen
Diskurs marginalisiert und als „unzivil“ gebrandmarkt.567 In dem Maße, wie die
Repräsentanten dieser Minderheit durch Journalisten und Politiker mundtot gemacht wurden,
setzte der Mechanismus der Schweigespirale ein (4.3.4), der die Abweichler zum verstummen
brachte.
8.4. Ausweitung der Krise und retardierende Momente
Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben.
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
(Erstes Buch, 4. Kapitel)
Bisher haben wir die Entstehung des Skandals (8.1), einige Mechanismen seiner Bewältigung
(8.2) sowie seine Differenzierung in einen hegemonialen Diskurs und zwei Gegendiskurse in
Augenschein genommen (8.3). Im Folgenden sollen weitere Enthüllungen und Ereignisse
betrachtet werden, die zu einer Ausweitung der Krise, aber auch zu ihrer vorläufigen
Beilegung und Verschiebung beigetragen haben. Als historische Prozesse sind soziale
Dramen ergebnisoffen und durch kontingente Ereignisse irritierbar, welche die Protagonisten
des Dramas in einer ihnen dienlichen Weise zu rahmen versuchen. Die durch die
566
„For senator, outrage is more outrageous than abuse“. USA Today, 12. Mai 2004.
567
So zum Beispiel Frank Rich in: „Saving Private England“, The New York Times, 16. Mai 2004, aber auch
Susan Sontag: „Regarding the Torture of Others“, The New York Times, 23. Mai 2004.
487
Veröffentlichung der Bilder ausgelöste Krise weitete sich im Zuge weiterer Enthüllungen
zunächst noch weiter aus (8.4.1). Dabei lassen sich die Indikatoren der Ausweitung der Krise
und die Mechanismen ihrer Bewältigung nicht immer scharf voneinander trennen. So führten
die beiden Anhörungen zum Fall Abu Ghraib im amerikanischen Senat vom 7. und 10. Mai
2004 zweifelsohne zu einer Ausweitung des Skandals in die Sphäre der Politik: Der AbuGhraib-Skandal rückte für einige Tage in das Zentrum politischer Debatten. Allerdings
forcierten diese öffentlichen Anhörungen, die der Aufklärung und Bewältigung des Skandals
dienten, auch eine vorläufige Schließung des Diskurses.
Ein kontingentes, gegenläufiges Ereignis war für die Eindämmung der Krise von
entscheidender Bedeutung: Die Veröffentlichung eines Videos, das die Köpfung des
Amerikaners Nicholas Berg zeigte, führte zu einem Stimmungsumschwung in der
Bevölkerung, die es den Kritikern der Bush-Administration schwer machte (8.4.2). Auf
einmal stießen auch die Stimmen aus dem rechtskonservativen Lager, die sich mit ihren
Äußerungen zu Abu Ghraib zunächst ins diskursive Abseits laviert hatten, im öffentlichen
Diskurs auf Resonanz. Die öffentliche Empörung über die Köpfung relativierte die
Missbrauchsfälle von Abu Ghraib und hob die Wirkung des Skandals in Teilen auf.
In der Rekonstruktion eines historischen Prozesses sollten daher nicht nur Ereignisse
berücksichtigt werden, die auf diesen Prozess tatsächlich Einfluss nahmen; vielmehr gilt es
auch, sogenannte „Nichtereignisse“, die – potenziell – einen Einfluss hätten ausüben können,
in die Untersuchung mit einzubeziehen. Zwar ist die Frage „Was wäre gewesen, wenn andere
Ereignisse eingetroffen wären?“ letztendlich spekulativ und nicht mit endgültiger Sicherheit
zu beantworten, aber sie schärft unseren Blick für die Kontingenzen und Konsequenzen
sozialer Dramen. Aus diesem Grund sollen noch jene „Nichtereignisse“ diskutiert werden, die
dem Skandal eine andere Richtung hätten geben können (8.4.3).
8.4.1. Ausweitung der Krise
Schon in den ersten Tagen des Skandals kam es zu Enthüllungen, die den Täterkreis erheblich
erweiterten und das Image der Armee zu beschädigen drohten. Zunächst einmal legte der von
Hersh zitierte Taguba-Report nahe, dass der Missbrauch von Gefangenen in Abu Ghraib weit
über den Kreis jener Soldaten, die an der sogenannten “night shift” teilgenommen hatten und
sich damit im Zentrum des Medieninteresses befanden, hinausgehe. Taguba hatte mehrere
Vorfälle untersucht und kam in seinem Bericht zu dem Schluss, dass der militärische
Nachrichtendienst, private „contractors“, aber auch Mitglieder amerikanischer Geheimdienste
in die Missbrauchsfälle verwickelt seien (2005/2004: 416-419). Die Armee reagierte auf die
488
Anschuldigungen gegen den Militärgeheimdienst, indem sie eine Untersuchung der 205th
Military Intelligence Brigade durchführte, die den Militärgeheimdienst in den wichtigsten
Punkten entlastete (Fay & Jones 2005/2004; 8.5.2). Darüberhinaus stand das Militär und die
Bush-Administration unter dem Verdacht der Vertuschung, da in der dem Kongress
vorgelegten Version des Taguba-Reports etwa zweitausend Seiten fehlten.568 Dies erregte
zwar einigen Unmut unter den Mitgliedern des Kongresses und wurde auch öffentlich
angeprangert, genügte aber nicht, um dem Skandal eine Wendung zu geben. Allerdings muss
davon ausgegangen werden, dass der Zwischenfall zu einer Entfremdung von Parlament und
Regierung führte. Möglicherweise bereitete gerade dieser Zwischenfall den Nährboden für
den parteiübergreifenden Erfolg des McCain-Amendments, das der Regierung nach den
Präsidentschaftswahlen eine empfindliche Niederlage zufügte (9.2).
In den ersten Tagen des Skandals kam es zu einer Internationalisierung der
Missbrauchsvorwürfe, als vergleichbare Beschuldigungen gegen britische Soldaten erhoben
wurden. So publizierte die britische Zeitung Daily Mirror am 3. Mai 2004 mehrere
Fotografien, die den Missbrauch von irakischen Gefangenen durch britische Soldaten zeigten.
Diese Enthüllung drohte nicht nur die übrigen Koalitionskräfte mit in den Skandal
hineinzuziehen, sie ließ auch das Bad-Apple-Narrativ, nach dem es sich bei den
Misshandlungen in Abu Ghraib um isolierte Einzelfälle gehandelt habe, an Glaubwürdigkeit
verlieren. Allerdings entpuppten sich diese Fotografien als Fälschungen, was den Kritikern
der Streitkräfte eine empfindliche Niederlage zufügte (8.4.2). Darüberhinaus wurden nach den
Enthüllungen von Abu Ghraib erstmals ehemalige Inhaftierte von amerikanischen
Journalisten nach ihren Haftbedingungen befragt. Viele der Befragten behaupteten, dass sie
während ihrer Gefangenschaft in ähnlicher Weise geschlagen, misshandelt und erniedrigt
worden
seien.569
Diese
Beschuldigungen
erregten
jedoch
verhältnismäßig
wenig
Aufmerksamkeit – vor allem, weil in diesen Fällen kein Bildmaterial vorlag. So blieb es den
Lesern weitestgehend selbst überlassen, diese Erzählungen hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit
und Schwere einzustufen. Diese zusätzlichen Anschuldigungen waren somit nicht über jeden
Zweifel erhaben, sondern in ihrer Rezeption vom politischen Hintergrund des jeweiligen
Rezipienten abhängig.
Mehrere Autoren nutzten den Skandal, um auf die miserablen Verhältnisse und die
häufigen Misbrauchsfälle auch in den „normalen“ Gefängnissen auf dem amerikanischen
568
569
„2,000 pages left out of report“, USA Today, 24. Mai 2004.
Siehe beispielsweise „The struggle for Iraq: Inmate; Iraqi Recounts Hours of Abuse By U.S. Troops“, The
New York Times, 5. Mai 2004.
489
Festland hinzuweisen. Auch dort seien erzwungene Nacktheit, erniedrigende Gewalt und
tolerierte Vergewaltigungen an der Tagesordnung (vgl. auch Brown 2005).570 Selbst Berichte
über Gefangene, die – wie in Abu Ghraib – Frauenunterwäsche oder eine schwarze Kapuze
auf dem Kopf tragen mussten, waren keine Seltenheit. Diese Verbindung zwischen Abu
Ghraib und dem amerikanischen Gefängnissystem gewann noch mehr Plausibilität, als
bekannt wurde, dass Charles Graner, der mutmaßliche Rädelsführer von Abu Ghraib, in seiner
Heimat als Vollzugsbeamter gearbeitet und auch schon einmal wegen Beteiligung an einem
heimischen Gefangenenmissbrauch auf der Anklagebank gesessen hatte (für den er damals
allerdings nicht verurteilt worden war).571 Diese Enthüllungen ließen nicht nur das
amerikanische Gefängnissystem in einem schlechten Licht erscheinen, sondern auch die
Auswahlverfahren für militärisches Personal bei der Armee.572 Auch wenn dieser
Argumentationsstrang sich im öffentlichen Diskurs nicht durchsetzen kommt, fand er doch
eine nachträgliche Bestätigung und Wirksamkeit in der amerikanischen Populärkultur,
nämlich in der Serie Prison Break, in der die kritische Darstellung des amerikanischen
Strafvollzugssystems mit der Ikonographie des Abu-Ghraib-Skandals angereichert wurde
(vgl. 10.3.1).
Die Ergebnisse eines Berichtes des Internationalen Roten Kreuzes, die in Auszügen im
Wall Street Journal am 10. Mai publiziert wurden,573 legen nahe, dass Missbrauchsfälle in
Abu Ghraib und anderen amerikanischen Militärgefängnissen durchaus verbreitet waren. Des
Weiteren heißt es im Bericht, dass bei Gefangenen, die eines Vergehens gegen amerikanische
Truppen verdächtigt wurden oder unter Verdacht standen, wertvolle Informationen zu
besitzen, systematisch Misshandlungen durchgeführt worden seien. Das Rote Kreuz berichtet
weiter, dass die Inspektoren Hinweise auf Verhörmethoden gefunden hätten, die mit Folter
570
„Mistreatment of Prisoners Is Called Routine in U.S.“, The New York Times, 8. Mai 2004; so auch „The Dark
Side of America“, 17. Mai 2004.
571
„Guard Left Troubled Life for Duty in Iraq“, The New York Times, 14. Mai 2004.
572
Die Sozialpsychologen Thomas Carnahan and Sam McFarland (2007) wiesen in einer Kritik von Zimbardo
darauf hin, dass die Ergebnisse des Stanford-Prison-Experiments möglicherweise durch die Selbstselektion
der Partizipanden beeinträchtigt gewesen sein könnten. Neben eigenen Experimenten führen die beiden
Autoren auch den Fall Abu Ghraib an (Carnahan & McFarland 2007: 612f.): Viele der im Strafvollzug
eingesetzten Soldaten besaßen nicht nur einen biografischen Hintergrund im amerikanischen Strafvollzug,
der sie möglicherweise zum Missbrauch prädisponierte, sondern seien auch auf eigenem Wunsch in diesem
Bereich eingesetzt worden.
573
„The Abu Ghraib Fallout. Red Cross Cited Detainee Abuse over a Year ago“, Wall Street Journal, 10. Mai
2004.
490
gleichzusetzen seien („tantamount to torture“). Damit wurde eine Beziehung zwischen den
Missbrauchsfällen von Abu Ghraib und der Folterdebatte in Amerika hergestellt, die zwar
keine unmittelbare, aber dennoch eine verzögerte Wirkung zeitigte. Ferner gibt das Rote
Kreuz eine interne Schätzung des Militärs wieder, nach der zwischen 70 und 90% aller
Gefangenen in den amerikanischen Gefängnissen im Irak de facto unschuldig seien (ICRC
2005/2004: 388). Die überwiegende Mehrheit der Gefangenen sei aufgrund von Fehlern
inhaftiert oder schlichtweg Opfer von Denunziationen geworden.
Diese Informationen begünstigten eine Wahrnehmung der Gefangenen als „unschuldige
Opfer“, was schon die Ikonographie der Abu-Ghraib-Bilder nahelegte (7.5). Was noch
wichtiger war: Das Rote Kreuz hatte das Gefängnis von Abu Ghraib zwischen März und
November 2003 mehrere Male besucht und bei der Armeeführung offiziell Beschwerde
wegen der Misshandlung von Gefangenen eingereicht – lange bevor die berüchtigtsten AbuGhraib-Missbrauchsfälle (wie die „night shift”, 7.2-3) stattfanden. In dem Bericht des Roten
Kreuzes wird von unverhältnismäßiger Gewalt gegenüber Gefangenen, aber auch von
rituellen Erniedrigungen berichtet, was in verblüffender Weise an die Abu-Ghraib-Bilder
erinnert (ICRC 2005/2004: 392). So hätten Gefangene mit Frauenunterwäsche auf ihren
Köpfen posieren müssen und seien dabei auch noch von Soldaten fotografiert worden. Von
Seiten der amerikanischen Militärführung wurde es offensichtlich versäumt, die
angeprangerten Missstände zu beseitigen. Die Überfüllung der Gefängnisse durch größtenteils
unschuldige Gefangene hatte zu einer weiteren Verschlechterung der Situation in Abu Ghraib
maßgeblich beigetragen. Erschwerend kam hinzu – wie insbesondere General Karpinski nie
müde wurde zu betonen –, dass es keine Richtlinien zur Entlassung von Gefangenen gegeben
hatte. Diese Enthüllungen wurden allerdings von retardierenden Momenten überschattet,
welche einer Ausweitung der Krise (und damit auch einer endgültigen Bewältigung des
Skandals) im Wege standen.
8.4.2. Retardierende Momente – Der Daily-Mirror-Skandal und „Nick“ Berg
Trotz der vielversprechenden Struktur des zivilgesellschaftlichen Diskurses und der
zunehmenden Hinweise, die auf eine Verwicklung der amerikanischen Regierung in die
Missbrauchsfälle hindeuteten, wurde das Drama um Abu Ghraib von einigen retardierenden
Ereignissen an seiner Entfaltung gehindert und zeitweilig zurückgeworfen. Diese
retardierenden Momente des sozialen Dramas konnten den Skandal zwar nicht vollständig
zum Erliegen bringen, aber sie trugen maßgeblich dazu bei, dass die akute Krise beigelegt
491
werden konnte. In der Latenz schwelte der Konflikt um Abu Ghraib allerdings weiter, was
sich an den politischen Konsequenzen des Skandals aufzeigen lässt (9.2; 10.1).
Ein
wichtiges
Ereignis
war
zunächst
einmal
die
Implosion
des
britischen
Missbrauchsskandals, zu der es gekommen war, nachdem sich die Skandalfotos als
Fälschungen herausgestellt hatten. So konnte zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass die
Bilder nicht aus dem Irak stammten. Die öffentliche Empörung wandte sich nun gegen den
Daily Mirror, der die Fotos – ohne sie zuvor ausreichend geprüft zu haben – veröffentlicht
hatte. Was als Missbrauchsskandal begann, wurde zu einem Presseskandal. David Barrow, ein
Mitglied der Regierungspartei, verdächtigte die Zeitung, aus niederen politischen Motiven
heraus gehandelt zu haben und eben nicht, wie es die öffentliche Moral den Massenmedien
vorschreibt, im öffentlichen Interesse: „It’s an absolute disgrace that The Daily Mirror, in
order to further its own political line and to damage the prime minister, has been prepared to
besmirch the name of the Queen’s Lancashire Regiment”.574
Der Daily Mirror verteidigte sich gegen diese Vorwürfe, indem er auf laufende
Untersuchungen gegen britische Truppen wegen Missbrauchsfällen im Irak verwies. So war
in einem Fall ein Hotelangestellter in der südirakischen Stadt Basra von britischen Soldaten
zu Tode geprügelt worden. Der Daily Mirror argumentierte darüberhinaus, dass die
Fotografien, selbst wenn es sich dabei um Fälschungen handeln sollte, dennoch ein adäquates
Bild von den britischen Misshandlungen im Irak vermittelten. Auch wenn die Realität der
abgebildeten Szenen nicht durch die Indexikalität der Fotografie verbürgt sei, blieben sie trotz
allem eine realistische Darstellung der Wirklichkeit im Irak. Derlei Spitzfindigkeiten fanden
in der britischen Öffentlichkeit wenig Anklang; die Skandalisierung der britischen
Missbrauchsfälle schlug in Ermangelung „authentischer“ Bilder fehl und ging im
Presseskandal des Daily Mirror unter. Mehrere Versuche, den amerikanischen Skandal auf
weitere Missbrauchsfälle auszuweiten (z.B. Guantanamo und Bagram, vgl. 10.2.1),
scheiterten zunächst aus ähnlichen Gründen. Die Skandalfotos von Abu Ghraib, die die
Missbrauchsfälle nicht nur zweifelsfrei dokumentierten, sondern deren ikonischer Gehalt auch
für das Ausmaß der öffentlichen Empörung verantwortlich war (8.1.3), engten die öffentliche
Aufmerksamkeit auf die wenigen abgebildeten Einzeltäter ein, während es von anderen
Missbrauchsfällen, von denen beispielsweise das Rote Kreuz oder auch ehemalige Gefangene
berichteten, keine fotografischen Beweise gab.
Die Ausweitung des Skandals wurde aber nicht nur durch das Fehlen dokumentarischen
574
„Britain Says Photos Showing Abuse Are Fake“, The New York Times, 14. Mai 2004.
492
Beweismaterials verhindert, sondern auch von einem anderen Medienereignis überdeckt, das
ebenfalls mit spektakulären Bildern aufwarten konnte: Am 12. Mai 2004, zwei Wochen nach
dem Ausbruch des Abu-Ghraib-Skandals, gelangte ein Video an die Öffentlichkeit, auf dem
die Enthauptung des Amerikaners Nicholas Berg zu sehen ist und das von den Tätern selbst
über das Internet verbreitet worden war. Einer der maskierten Männer, die in diesem Video
neben ihrem Opfer posieren, rechtfertigt die Köpfung des Gefangenen mit dem Verweis auf
Abu Ghraib. In der englischen Übersetzung seiner arabischen Rede heißt es:
For the mothers and wives of American soldiers, we tell you that we asked the U.S. administration to
exchange this hostage with some of the detainees in Abu Ghraib, and they refused. […] So we tell you
that the dignity of the Muslim men and women in Abu Ghraib and others is not redeemed except by blood
and souls.575
In dem Maße, wie sich Terroristen zur Rechtfertigung ihrer grausamen Akte auf die AbuGhraib-Vorfälle beriefen, schwand die Solidarität der Amerikaner mit den Opfern von Abu
Ghraib. An die Stelle der symbolischen Ausgrenzung der Täter in den eigenen Reihen, die im
Abu-Ghraib-Skandal
noch
dominiert
hatte
(8.3.1),
trat
eine
klare
Innen/Außen-
Unterscheidung: Den Amerikanern wurde es wieder möglich, ihre Identität in Abgrenzung zu
den barbarischen Aggressoren zu gewinnen. Sofort war man sich einig, dass dieser Vorfall
den Verlauf des Skandals maßgeblich beeinflussen würde:
Some said Mr. Berg‘s killing could shift the political dynamic in the prison abuse scandal and slow the
inquiry by offering such a sharp contrast with the offenses at the prison. But members of the panel
conducting the inquiry said the beheading, while horrific, should not influence their work.
Und in der Tat: Die Hinrichtung von Nick Berg stärkte die rechtskonservative Position im
Diskurs, die zuvor marginalisiert worden war (8.3.3). So wurden schnell Stimmen laut – auch
wenn nicht viele öffentliche Figuren darunter waren –, die verlangten, dass man die
Missbrauchsfälle in Relation zu jenen Grausamkeiten sehen müsse, die die Iraker den
Amerikanern angetan hätten. So verwies man auf das öffentliche Lynchen von vier
Mitarbeitern des privaten Sicherheitsunternehmens Blackwater, das am 31. März 2004 in
Falludscha stattgefunden hatte. Diese Argumentation bekam durch das Hinrichtungsvideo ein
neues Gewicht. Insbesondere die Technik des Köpfens legte es nahe, hier die Unterscheidung
zwischen „Zivilisierten“ und „Barbaren“ anzuwenden. Rush Limbaugh erklärte in seiner
Show: “They are the ones who are subhuman. They are the ones who are human debris, not
the United States of America and not our soldiers and not our prison guards”.576 Der
kollektive Bezug von Limbaughs Äußerung, der im Gebrauch des Possessivpronomens „our“
575
„Iraqi tape shows the decapitation of an American“, New York Times, 12. Mai 2004.
576
Zitiert nach „Grim Images Seem to Deepen Nation’s Polarization on Iraq“, New York Times, 12. Mai 2004.
493
deutlich wird, zielte darauf ab, die verletzte amerikanische Identität und das beschädigte
nationale Selbstbild wiederherzustellen. John Gibson, ein Sprecher des konservativen
Fernsehsender Fox News, beschwerte sich in der New York Times über die angebliche
fehlende Empörung angesichts des barbarischen Charakters von Bergs Hinrichtung: “The
same people screaming about American abuses at Abu Ghraib are now conspicuously silent
about this outrage directed against an American.”577
Ein republikanischer Abgeordneter aus Missouri, Roy Blunt, glaubte bereits am folgenden
Tag, dass die Hinrichtung von Berg das öffentliche Meinungsklima nachhaltig verändert
habe: “If you had your thumb on the pulse of America, that pulse beat changed when
Americans heard about the beheading of Nick Berg”.578 Für Blunt markierte die Hinrichtung
nicht nur das Ende der jüngsten Identitätskrise, sondern stellte auch die Legitimität des
Irakkrieges, die schon seit einiger Zeit im Schwinden begriffen war (6.5.3), wieder her; „It
jolted everybody’s memory again about why we were there in Iraq and who we’re dealing
with“. Die Aufzeichnung der Hinrichtung von Nick Berg stellte für weite Teile der
amerikanischen Öffentlichkeit, zumindest zeitweise, das moralische Gleichwicht zwischen
den Kriegsparteien wieder her. So wie Hiroshima vor dem Hintergrund von Pearl Harbor als
angemessene symbolische Vergeltung verstanden werden konnte (6.1.2), verringerte die
grausame Hinrichtung von Berg die Schmach von Abu Ghraib. Die Enthauptung von Nick
Berg sollte nicht die einzige gefilmte Hinrichtung eines Ausländers im Irak bleiben. Es ist
bemerkenswert, dass die Täter in der Inszenierung dieser Enthauptungsvideos auf die
Ikonographie des amerikanischen Kriegs gegen den Terror zurückgriffen: Die Opfer wurden
in orangefarbene Anzüge gekleidet, die an die Bilder der Gefangenen aus Guantanamo und
Abu Ghraib erinnerten:
In all the recent beheadings, the victims were wearing orange shirts similar to prison jumpsuits. Some
analysts have speculated that the jumpsuits are meant to evoke the humiliations of Muslim men at the
Abu Ghraib prison and at Guantanamo Bay, Cuba.579
Das Video der Hinrichtung von Nick Berg muss als eine ikonische Wendung innerhalb des
Abu-Ghraib-Skandals verstanden werden, durch die die Entfaltung des Skandals zwar
aufgeschoben, aber nicht aufgehoben werden konnte. Sie hatte zur Folge, dass die
577
„Grim Images Seem to Deepen Nation‘s Polarization on Iraq“
578
„Bush Supporters Are Split On How to Pursue Iraq Plan“, New York Times, 13. Mai 2004.
579
„South Korean Is Killed in Iraq By His Captors“, The New York Times, 23. Juni 2004. Anhänger einer im
hegemonialen Diskurs marginalisierten Verschwörungstheorie interpretierten die Kleidung der Gefangenen
vielmehr als Beweis dafür, dass die Amerikaner selbst hinter den Köpfungen gesteckt hätten.
494
zivilgesellschaftliche Unterscheidung zwischen „gut“ und „böse“ wieder einmal in der
gewohnten Weise – hier die „guten Amerikaner“, dort die „menschenverachtenden
Terroristen“ – gehandhabt werden konnte. Das schockierende Video der Hinrichtung
bestätigte damit das nationale Selbstbild der Amerikaner und gab dem Krieg im Irak als
„Zivilisierungsprojekt“ eine neue Berechtigung. Das öffentliche Interesse an Abu Ghraib war
zum Zeitpunkt der Ausstrahlung des Hinrichtungsvideos an seinem Höhepunkt angelangt und
begann daraufhin wieder zu sinken – trotz neuer Enthüllungen. Dennoch wurden die AbuGhraib-Bilder zu Symbolen des Bösen und zu säkularen Ikonen des kollektiven
Gedächtnisses, während das Video von Bergs Hinrichtung wieder schnell in Vergessenheit
geriet. So besaßen die Abu-Ghraib-Bilder – in der Öffentlichkeit, der Kunst und der
Populärkultur – eine weitaus größere Bedeutung als die Hinrichtung Nick Bergs.580 Mit dem
gewaltsamen Tod von Berg schien die moralische Empörung erst einmal wieder versiegt zu
sein. Die durch Abu Ghraib ausgelöste Krise war zunächst abgewendet, aber unter der Asche
glimmte immer noch die Glut der verletzten kollektiven Gefühle.
8.4.3. „Nichtereignisse“ – „Pat“ Tillmans Tod und seine Vertuschung
Nachdem der Skandal zwei Wochen lang die politische Landschaft und die Berichterstattung
dominiert hatte, ebbte das öffentliche Interesse langsam wieder ab. Am 20. Mai wurden von
der Newsweek mehrere post-9/11 Memoranda veröffentlicht, die eine Verbindung zwischen
den Missbrauchsfällen in Abu Ghraib und Entscheidungen auf oberster politischer Ebene
nahelegten.581 Allerdings sollten diese Memoranda erst später ihre volle Wirkung entfalten,
nämlich bei der Anhörung von Alberto Gonzales, den Bush nach seiner Wiederwahl als
Justizminister vorschlug (9.1). Auch der Fall „Nick“ Berg war alles andere als abgeschlossen.
So wurde schon relativ früh bekannt, dass sich Berg noch wenige Tage vor seiner Hinrichtung
in irakischem und auch in amerikanischem Gewahrsam befunden hatte.582 Die Eltern von
Berg warfen der Armee vor, dass sie für die Hinrichtung ihres Sohnes Verantwortung trage,
da sie ihn nicht hätte gehen lassen dürfen. Verschwörungstheoretiker, die im öffentlichen
Diskurs wenig Gehör fanden, sahen darin sogar ein Indiz dafür, dass das Militär die
580
Ein Zitat dieser Hinrichtung findet sich in dem türkischen Film Tal der Wölfe – Irak, auch wenn sie dort noch
in letzter Minute von einem muslimischen Geistlichen verhindert wird (10.3.3).
581
Diese Enthüllungen setzten sich auch noch Jahre später fort; vgl. „Memo Sheds New Light on Torture Issue“,
The New York Times, 3. April 2008.
582
„Beheading Victim ‚Loved Adventure and Risk‘“ The Washington Post, 14. Mai 2004; „Tracing a Civilian’s
Odd Path To His Gruesome Fate in Iraq“, The New York Times, 26. Mai 2004.
495
Hinrichtung von Berg selbst inszeniert habe, um damit von dem Abu-Ghraib-Skandal
abzulenken.583
Zu einer weiteren Enthüllung kam es erst nach den Präsidentschaftswahlen von 2004. Am
22. April desselben Jahres kam Pat Tillman, professioneller Footballspieler, der nach dem 11.
September 2001 seine Karriere aufgegeben hatte, um sich zur Armee zu melden, bei einem
Kampfeinsatz in Afghanistan ums Leben. Am 30. April, zwei Tage nach der Veröffentlichung
der Abu-Ghraib-Fotos, beförderte die Arme den Gefallenen posthum und veröffentlichte eine
dramatische Schilderung von Tillmans Gefechtstod durch Feindeshand. Am 29. Mai, als der
Abu-Ghraib-Skandal seinen Zenit schon zwei Wochen überschritten hatte, gab die Armee
bekannt, dass Tillman möglicherweise durch „friendly fire“, das heißt durch die eigenen
Soldaten, zu Tode gekommen sei. Die genauen Umstände von Tillmans Tod wurden aber erst
nach der Wiederwahl Bushs genauer untersucht und zu einem öffentlichen Thema.
Ein Artikel der Washington Post hebt den Zeitpunkt hervor, an dem die falsche
Geschichte über Tillmans Tod in die Welt gesetzt wurde: kurz nach dem Bekanntwerden der
Abu-Ghraib-Fotos.584 Die Familienangehörigen des toten Ex-Footballspielers beschuldigten
die amerikanische Armee und Regierung, den Tod ihres Sohnes angesichts der Todesfälle in
Falludscha und des gerade aufkommenden Abu-Ghraib-Skandals instrumentalisiert zu
haben.585 Die frei erfundene Geschichte von Tillmans Heldentod, so die Washington Post,
habe im Vergleich zu Abu Ghraib „contrasting images of honorable service” geboten.586 Zwar
verblasste die Mär von Tillmans Heldentod angesichts der Bilder aus Abu Ghraib, aber viel
wichtiger war in diesem Fall das Nichtereignis. Nicht auszudenken, wenn die
Missbrauchsfälle von Abu Ghraib und der tragische Tod von Tillman, der als Sportidol von
Regierung und Armee zum idealtypischen Helden aufgebaut wurde, zur gleichen Zeit bekannt
583
Zumindest in der westlichen Welt. Für die regierungsnahe iranische Zeitung Kayhan war klar, dass niemand
anderes als die Amerikaner selbst hinter dem Tod von Nicholas Berg steckten; vgl. „Iranian Government
Media Reports: ‘Iranian Woman Gives Birth to Frog;’ ‘Americans Are Behind Beheadings;’ and Jewish
Involvement in 9/11’“, The Middle East Research Institute, Special Dispatch Series No. 735;
http://www.memri.org/report/en/0/0/0/0/0/0/1161.htm; letzter Zugriff am 16. März 2012. Zur Nick-BergVerschwörungstheorie vgl. auch J.M. Berger: „Debunking (And Rebunking) The Nick Berg Conspiracy
Theory”, Intelwire, 20.Mai 2004, http://intelwire.egoplex.com/2004_05_20_exclusives.html; letzter Zugriff
am 16. März 2011.
584
„Army Spun Tale Around Ill-Fated Mission“, The Washington Post, 6. Dezember 2004.
585
„Tillman‘s Parents Are Critical Of Army; Family Questions Reversal On Cause of Ranger‘s Death“, The
Washington Post, 23. Mai 2005. Vgl. auch „Political Headlines“, Fox Special Report With Brit Hume
(18:00), 24. April 2007; Countdown (20:00), MSNBC, 9. Mai 2008.
586
„Army Spun Tale Around Ill-Fated Mission“, The Washington Post, 6. Dezember 2004.
496
geworden wäre. Die rechtzeitige Enthüllung des „friendly fire“ hätte gut zur Botschaft des
Abu-Ghraib-Skandals gepasst und diese mit Sicherheit noch verstärkt. Senator McCain, der
sich noch in einer Anhörung zum Abu-Ghraib-Skandal darüber beschwert hatte, dass der
Heldentod von Tillman durch die Vorfälle in Abu Ghraib überschattet worden sei,587 äußerte
sich einige Monate später über die möglichen Gründe für die unwahre Geschichte vorsichtig:
“[Y]ou may have at least a subconscious desire here to portray the situation in the best light,
which may not have been totally justified”.588 Der Moderator Keith Olbermann brachte die
mutmaßliche Motivlage der Regierung fast drei Jahre später folgendermaßen auf den Punkt.
When he died in the spring of 2004, Pat Tillman was an all American hero, who had given up safety,
millions of dollars in the National Football League to fight the president`s wars after September 11th.
That spring, the spring of Abu Ghraib, when the blossoms in Fallujah were bodies on a bridge, the
Pentagon and the president needed a hero. They could use one, and they did use one.589
Angesichts der Faktenlage kam der Vorwurf eines „cover-up“, einer bewussten Vertuschung
der Todesursache durch die Armee, möglicherweise im Auftrag der Regierung auf. Die
Armee rechtfertigte sich zunächst mit dem Verweis auf irreführende und möglicherweise auch
falsche Schilderungen des Tathergangs aus Tillmans Einheit. Erst im Jahr 2006 stellte ein
Untersuchungsbericht des amerikanischen Militärs zweifelsfrei fest, dass Tillman von seinen
Kameraden erschossen worden war. Die USA Today berichtete später auch von Hinweisen,
die nahelegten, dass es sich bei dem Tod von Tillman nicht um einen Unfall, sondern um eine
intentionale Tötung des Soldaten durch einen seiner Kameraden gehandelt haben könnte –
wobei die Motivlage unklar blieb.590 Das Committee on Oversight and Government Reform
des Repräsentantenhauses befasste sich 2007 mit dem Vorwurf des „cover-up“ und der
bewussten Desinformation in den Fällen Pat Tillman und Jessica Lynch.591 Aufgrund
gravierender „Erinnerungslücken“ auf Seiten der Verantwortlichen konnte weder der Vorwurf
der Vertuschung ausgeräumt, noch etwaige Schuldige ausfindig gemacht werden. So heißt es
im Abschlussbericht des Komitees, der am 17. Juli 2008 veröffentlicht wurde:
The pervasive lack of recollection and absence of specific information makes it impossible for the
committee to assign responsibility for the misinformation in Corporal Tillman’s and Private Lynch’s
587
„Testimony before Senate Armed Services Committee on Iraqi prison abuse“, CBS News Special Report
(11:44), 7. Mai 2004.
588
„Army Spun Tale Around Ill-Fated Mission“, The Washington Post, 6. Dezember 2004.
589
Countdown (20:00), MSNBC, 26. März 2007.
590
http://www.usatoday.com/news/nation/2007-07-26-tillman-friendly-fire_N.htm#; letzter Zugriff am 11. Juli
2011.
591
„No Coverup in Tillman Case, Rumsfeld Tells House Panel; Ex-Defense Chief, 3 Generals Testify About
‘Friendly Fire’ Killing“, The Washington Post, 2. August 2007.
497
cases. It is clear, however, that the Defense Department did not meet its most basic obligations in sharing
accurate information with the families and with the American public.592
Der Bericht macht deutlich, dass das Verteidigungsministerium seinem öffentlichen Auftrag
nicht nachgekommen ist. Das Handeln der Verantwortlichen wird als unzivil gebrandmarkt
und als unvereinbar mit der öffentlichen Moral dargestellt. Zum Zeitpunkt der
Veröffentlichung des Berichts war der damalige Verteidigungsminister Rumsfeld schon lange
nicht mehr im Amt (9.5.2) und Amerika bereits im nächsten Wahlkampf (10.1). Die Tage der
Bush-Administration waren gezählt und die Armee wurde als Institution von den Vorwürfen
ausgespart. Wäre der Tillman-Coverup früher aufgeflogen, hätte dies die Republikaner die
Wahlen von 2004 kosten oder den angeschlagenen Rumsfeld aus seinem Posten heben
können. Ähnlich wie die Köpfung des „Nick“ Berg, so zeigt auch der Fall Tillman die Macht
kontingenter Ereignisse und Nichtereignisse, die durch Akteure gerahmt werden müssen und
auch manipuliert werden können.
8.5. Rechtliche Bewältigung und politische Reintegration
Genau betrachtet dient daher die Feststellung von Ursachen, von
Verantwortung und Schuld immer auch der Ausgrenzung von
Nichtursachen, der Feststellung von Nichtverantwortung und Unschuld.
Niklas Luhmann, Ursachen und
Verantwortungen? (2004: 29)
Im Anschluss an die Enthüllung der Abu-Ghraib-Bilder und die Empörung über die darauf
abgebildeten Akte bildete sich ein hegemonialer Diskurs heraus, in dem auf der einen Seite
kollektive Entschuldigungen von Seiten der militärischen und politischen Repräsentanten
gefordert wurde (8.2.2), man aber auf der anderen Seite den unmittelbar an den Vorfällen
beteiligten Soldaten die Schuld zuschrieb (8.3.1). Die Vertreter der Regierung wollten es
indes nicht bei symbolischen Akten des Bedauerns und Entschuldigens belassen, sondern
versprachen darüberhinaus die Bestrafung der Täter und eine restlose Aufklärung der
Vorfälle. Daher auch Luhmanns Verdacht, dass solche „Attributionsverfahren“ ihren
„eigentlichen Sinn in der Exkulpation haben“ (2004: 29). Dies ist gerade auch aus einer
592
Verfügbar unter http://militarytimes.com/static/projects/pages/071408house_tillman_lynchreport.pdf; letzter
Zugriff am 11. Juli 2011.
498
kultursoziologischen Perspektive zu beherzigen. Aufklärung und Bestrafung dienen nicht nur
der kognitiven Feststellung von abweichendem Verhalten und seiner normativen
Sanktionierung, sondern müssen zugleich auch als soziale Mechanismen der symbolischen
Reinigung verstanden werden. Indem Schuld lokalisiert und gesühnt wird, reinigt sich das
Kollektiv von den in seinem Namen begangenen Missetaten. Im Folgenden wollen wir uns
unter diesem Gesichtspunkt zunächst einmal die Strafprozesse gegen die mutmaßlichen Täter
anschauen, in denen sich allerdings nur einfache Soldaten und keine Offiziere für die
Missbrauchsfälle verantworten mussten (8.5.1). Danach wird es um die Schuldzuweisung in
den Armeeberichten gehen, die sich bei genauerer Betrachtung als unterbestimmt erweisen,
weswegen sie zu mehreren Narrativen kompatibel sind (8.5.2). Zum Abschluss kommen wir
zum vorläufigen Ende des Skandals, der politischen Reintegration, für die der Wahlkampf
2004 und die Wiederwahl von Präsident Bush stehen.
8.5.1. Die Strafprozesse gegen die Täter und die Abmahnung der Vorgesetzten
Selbst wenn es sich bei den Misshandlungen in Abu Ghraib um systemisch bedingte Vorfälle
gehandelt haben sollte, stellt die Schuldzuweisung an einzelne Personen ein probates Mittel
dar, um den verletzten kollektiven Gefühlen Genüge zu tun. René Girard (2006) hat darauf
hingewiesen, dass das rituelle Opfer in archaischen Gesellschaften die Funktion besaß, die
Gewalt der Gemeinschaft zu kanalisieren und soziale Konflikte beizulegen. Vergleichbare
Mechanismen gibt es auch in modernen Gesellschaften, wie beispielsweise die symbolische
Exklusion nach einem Skandal. Während bei Girard für die Versöhnung der Gemeinschaft
noch ein unschuldiges Opfer als einem unbeteiligten Dritten erforderlich ist, wird seine
Funktion in den modernen Gesellschaften durch das Recht, die Moral und die Öffentlichkeit
übernommen, kurz: durch unparteiische Dritte.593 Mit Recht und Moral wendet sich die
Gewalt der Gemeinschaft nicht mehr gegen unschuldige Opfer, sondern gegen vermeintliche
Straf- und Übeltäter. Die Betroffenen werden aus der Gemeinschaft herausgelöst und an den
Rande der Gesellschaft gedrängt. Auf sie darf sich der Zorn der Gesellschaft ungestraft,
jedenfalls soweit er durch rechtliche und moralische Normen gerechtfertigt ist, entladen. Der
Skandal rückt den Straftäter in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, aber exkludiert ihn
593
Im Gegensatz zum Inklusionscode vormoderner Gesellschaften, dem es alleine auf die Gruppenzugehörigkeit
ankommt, kann der Rechtscode abweichende Individuen als Straftäter aus einer sozialen Gruppe ausgrenzen,
während der moralische Code sie mit Missachtung straft (vgl. Giesen 1991b: 176-222). Erst Recht und Moral
erlauben es, auf einen unschuldigen Dritten zu verzichten, da die kollektive Zugehörigkeit der Betroffenen
konsequent ausgeblendet wird.
499
zugleich symbolisch aus der Gemeinschaft.
Eine Variante der Bewältigung von Skandalen ist die Schuldzuweisung nach Maßgabe
eines rechtlichen Verfahrens und die rechtlich angemessene Bestrafung der Übeltäter. Im
Falle von Abu Ghraib wurde nach der Veröffentlichung der Bilder von Seiten der Politik auf
ein schnelles Verfahren gedrängt. Die sieben mutmaßlichen Täter stritten zunächst ihre
Schuld an den Vorfällen ab. Lyndie England, Charles Graner und Frederick insistierten, dass
sie nur auf Befehl von Vorgesetzten gehandelt hätten. Auch Jeremy Sivits, der nicht auf
einem der publizierten Photos zu sehen war, aber als einer der Mittäter auf der Anklagebank
saß, stritt zunächst jede Beteiligung an den Missbrauchsfällen ab. Diese Darstellung wurde
von ihm jedoch wenige Tage nach Ausbruch des Skandals widerrufen. Er gab daraufhin an,
dass er und seine Mittäter alleine für die Misshandlungen verantwortlich seien. Sergeant
Frederick bezichtigte Sivits des Lügens und die Anwälte der Angeklagten unterstellten ihm
unlautere Motive: Er habe mit dem Gericht einen Deal ausgehandelt um selbst besser
wegzukommen – ein klassischer Anwendungsfall des Gefangenendilemmas.594 Am 19. Mai
2004 plädierte Sivits vor dem Militärgericht für schuldig und Strafmilderung, aber er wurde
zur – in seinem Fall recht milden – Höchststrafe von einem Jahr Gefängnis verurteilt.
Deborah Norville berichtete über den Prozess auf MSNBC:
The first punishment was handed down today for the mistreatment of Iraqi prisoners at Abu Ghraib.
Specialist Jeremy Sivits was court-martialed today in Baghdad. He pled guilty and received the maximum
penalty, even though his lawyer asked for leniency. Sivits was sentenced to one year in prison and a
reduction in rank and a bad conduct discharge. He broke down in tears as he expressed remorse for taking
pictures of naked Iraqi prisoners being humiliated. As part of the plea agreement, Sivits will now testify
against others in the prison abuse scandal.595
Man beachte die Performanz von Authentizität, die in dem Bericht gewürdigt wird. Sivits
brach vor Bedauern und Reue in Tränen aus. Damit war drei Wochen nach Ausbruch des
Skandals der erste Soldat für die Beteiligung an den Missbrauchsfällen zu einer Höchststrafe
verurteilt worden. Dies besänftige die kollektiven Gefühle, die ohnehin schon auf dem
Rückzug waren. Chris Matthews von MSNBCs Madball glaubte, hier bereits das Muster für
die noch bevorstehenden Verfahren vorliegen zu haben:
My mischievous political nose tells me that this is going to be the pattern of these trials. That the military
has found one guy to break. He’s going to testify against the others. He’s going to exonerate the higher
ups, according to all the press reports and according to his official statement. He’s not going to say
594
John Langbein (1978) vergleicht in einem kritischen Artikel die amerikanischen Praxis des „plea bargaining”
mit dem Gebrauch von Folter zur Erzwingung von Geständnissen in mittelalterlichen Gerichtsverfahren.
595
Deborah Norville Tonight (21:00), MSNBC, 19. Mai 2004.
500
anybody told him, the military guys in Abu Ghraib to do any of that bad stuff. Complete exoneration of
the higher ups and a complete blame on the lowers.596
Matthews politische Intuition sollte in diesem Fall Recht behalten. Auch Sergeant Frederick
erklärte sich nach einigen Monaten dazu bereit, auf schuldig zu plädieren und als Zeuge für
die anderen Verhandlungen zur Verfügung zu stehen – nicht jedoch ohne seine Vorgesetzten
wegen des fehlenden Trainings und der mangelnden Unterstützung zu beschuldigen.597 Er
wurde vom Militärgericht zu acht Jahren Haft verurteilt, aber nach drei Jahren auf Bewährung
aus dem Gefängnis entlassen. Am 14. Januar 2005 wurde Charles Graner, der in mehreren
Punkten der Anklage auf nicht schuldig plädiert hatte, von den Juroren für schuldig befunden
und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Graner, der auf das Erniedrigungsritual der
Selbstbezichtigung nicht einging, wurde erst im August 2011 auf Bewährung entlassen. Auch
Lynndie England plädierte bald auf schuldig, aber ihr Geständnis wurde vom Gericht
aufgrund von internen Widersprüchen als unglaubwürdig zurückgewiesen. Am 27. September
2005 wurde England von einem Militärgericht zu drei Jahren Haft verurteilt. Während den
angeklagten Soldaten ein kurzer Prozess gemacht wurde, hielt sich die Armee bei der
Bestrafung von Offizieren und Generälen zurück.
Pentagon officials said that replacing General Sanchez with the Army vice chief of staff, Gen. George W.
Casey Jr., in no way reflected on General Sanchez’s handling of the widening prisoner-abuse scandal at
Abu Ghraib prison, outside of Baghdad, which was under his authority.598
Die Oberbefehlshabende über die irakischen Gefängnisse, General Janis Karpinski, wurde am
24. Mai, wenige Wochen nach dem Bekanntwerden der Vorfälle, ihres Amtes enthoben –
wobei die Armeeführung darauf insistierte, dass dies nicht als eine Bestrafung zu verstehen
sei.599 Karpinski setzte sich in der öffentlichen Debatte um Abu Ghraib für die angeklagten
Militärpolizisten ein, kritisierte deren Verurteilung als „scapegoating“ und rechtfertigte ihr
eigenes Versagen als Oberkommandierende mit dem Hinweis darauf, dass sie nie die
faktische Kontrolle über den Gefängnistrakt in Abu Ghraib besessen habe, da der
Militärgeheimdienst und andere Geheimdienste vor Ort nicht unter ihrer Kontrolle gestanden
hätten.600 Ihr Nachfolger, General Miller, war bis dato Oberkommandierender von
Guantanamo gewesen. Ihm warf Karpinski, dass er – schon zu ihrer Amtszeit – das Abu596
Hardball 19:00, MSNBC, 19. Mai 2004.
597
Countdown (19:00), MSNBC, 21. Oktober 2004.
598
„No. 2 Army General to Move In As Top U.S. Commander in Iraq“, The New York Times, 25. Mai 2004.
599
„Army Suspends General In Charge of Abu Ghraib“, The Washington Post, 25. Mai 2004.
600
„Prison Revolt; Brig. Gen. Janis Karpinski Says the Abu Ghraib Investigation Is About Scapegoating, but
She‘s Having None of It“, The Washington Post, 10. Mai 2004.
501
Ghraib-Gefängnis nach dem Modell von Guantanamo habe umgestalten wollen.601 Ihr
öffentliches Engagement sollte Karpinski jedoch zum Verhängnis werden. Nachdem alle
Offiziere von den Verfehlungen in Abu Ghraib freigesprochen worden waren,602 wurde
General Karpinski, die zu diesem Zeitpunkt auf einer Militärbasis in Deutschland ihren Dienst
versah, am 5. Mai 2005 aufgrund von Verstößen degradiert, die in keinem direkten
Zusammenhang mit dem Skandal standen. In dem offiziellen Armeebericht heißt es hierzu:
Though Brig. Gen. Karpinski’s performance of duty was found to be seriously lacking, the investigation
determined that no action or lack of action on her part contributed specifically to the abuse of detainees at
Abu Ghraib.603
Unter den Gründen für ihre Degradierung wurde unter anderem ein „Diebstahl von
Kosmetikzubehör“ angeführt. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Karpinski für ihre
unbequeme Rolle im Abu-Ghraib-Skandal indirekt zur Verantwortung gezogen wurde. Die
Tatsache, dass ihre Degradierung nicht mit ihrem Versagen in Abu Ghraib begründet wurde,
ermöglichte es der Armee, am Bad-Apple-Narrativ festzuhalten (8.3.1), das eine scharfe
Grenze zwischen der Schuld der an den Missbrauchsfällen beteiligten Soldaten und den
Versäumnissen der Vorgesetzten zog.
8.5.2. Die offiziellen Untersuchungsberichte zu Abu Ghraib
Die öffentlichen und politische Reaktion auf die Missbrauchsfälle war im Großen und Ganzen
einmütig. Gegenüber den Bildern wurde Abscheu geäußert, die Vorfälle wurden bedauert und
die Täter als „unamerikanisch“ bezeichnet. Am 10. Mai verabschiedete der amerikanische
Senat ohne Gegenstimme eine Resolution, in der die Vorfälle verurteilt wurden und zudem
eine umfassende Untersuchung gefordert wurde.604 Zuvor hatten die Vertreter der BushAdministration und des Militärs der amerikanischen und der Weltöffentlichkeit nicht nur die
Bestrafung der Täter, sondern auch eine vollständige Aufklärung der Missbrauchsfälle
versprochen. Diesen Zweck erfüllten die Untersuchungsberichte der Armee, die auch der
Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Der Bericht von Antonio Taguba (2005/2004),
der bereits vor dem Ausbruch des Skandals angefertigt worden war, wies schon früh auf die
systemischen Probleme in Abu Ghraib hin, was Seymour Hersh für seine Interventionen zum
Abu-Ghraib-Skandal nutzte (vgl. 8.3.2). Da dieser Bericht nicht als Reaktion auf den Skandal
601
„General promised quick results if Gitmo plan used at Abu Ghraib“, USA Today, 23. Juni 2004.
602
„Top Army Officers Cleared in Abuse Case“, The Washington Post, 24. April 2005.
603
„General Demoted, But Cleared in Abuse Probe“, The Washington Post, 6. Mai 2005.
604
“President backs his defense chief in show of unity”, The New York Times, 11. Mai 2004.
502
erfolgte (und im übrigen Wasser auf den Mühlen von Kritikern wie Hersh war), konnte damit
nur eingeschränkt der Aufklärungswille der Armee signalisiert werden, weswegen diese im
Gefolge des Skandals noch weitere Untersuchungen anstrengen musste.
Der Verfasser des Mikolashek-Reports versuchte, mithilfe von standardisierten
Fragebögen dem Ausmaß der Missbrauchsfälle in Abu Ghraib nachzuspüren. Allerdings muss
man der Untersuchung methodische Mängel attestieren: Die Fragebögen waren nicht so
konstruiert, dass sie Effekte sozialer Erwünschtheit ausschließen konnten (Mikolashek
2005/2004: 739-807). Der Bericht kam zu dem wenig überraschenden Ergebnis: „All
interviewed and observed commanders, leaders and soldiers treated detainees humanly and
emphasized the importance of the humane treatment of detainees“ (2005/2004: 807). Daraus
folgert der Bericht, dass es keine systemischen Ursachen für die Missbrauchsfälle gegeben
habe, sondern diese alleine auf individuelle Verfehlungen sowie auf das Versagen von
Vorgesetzten, die geltenden Regeln durchzusetzen, zurückzuführen seien (2005/2004: 632).
Der Bericht schließt mit der Empfehlung, Ausbildung, Organisation und Doktrin der Armee
an die Gegebenheiten und Risiken der Situation anzupassen, um künftige Missbrauchsfälle zu
verhindern.
Am 25. Juni 2004 wurden Lieutenant General Jones und Major General Fay von der
amerikanischen Militärführung beauftragt, die Rolle des militärischen Sicherheitsdienstes bei
den Abu-Ghraib-Missbrauchsfällen näher in Augenschein zu nehmen. Gegenstand dieser
Untersuchung war die 205th Military Intelligence Brigade, die zum Zeitpunkt der Vorfälle
ihren Dienst in Abu Ghraib versehen hatte.605 Die beiden Autoren wiesen zunächst einmal
einfache Erklärungen für die Missbrauchsfälle zurück: „There is no single, simple explanation
for why this abuse at Abu Ghraib happened“ (Fay & Jones 2005/2004: 989). Anthony R.
Jones kam zu dem Schluss, dass die Vorgesetzten ihrer Pflicht zur Kontrolle und
Überwachung ihrer Untergebenen nicht nachgekommen sind und auch auf die Beschwerden
des Roten Kreuzes nicht angemessen reagiert hätten. George R. Fay bestätigte, dass Teile des
Militärgeheimdienstes nicht nur den Missbrauch von Gefangenen geduldet und gefördert
haben, ja sogar selbst an einigen Missbrauchsfällen beteiligt gewesen waren: „Some MI
personnel encouraged, condoned, participated in, or ignored abuse. In a few instances, MI
personnel acted alone in abusing detainees“ (Fay & Jones 2005/2004: 1105). Als Erklärung
wurde unter anderem auf die situativen Bedingungen in Abu Ghraib verwiesen, wie
605
Eine ausgezeichnete soziologische Analyse des Fay-Jones-Reports findet sich bei Stjepan Mestrovic und
Ronald Lorenzo (2008: 192-202)
503
beispielsweise auf Unklarheiten bezüglich der Verantwortlichkeiten, der Unterscheidung
zwischen erlaubten und verbotenen Techniken und die mangelnde soziale Kohäsion der
Truppen vor Ort (7.4.1). Allerdings vermieden es die beide Autoren, aus diesen Ergebnissen,
die
das
gängige
Bad-Apple-Narrativ
durchaus
in
Frage
stellten,
weitreichende
Schlussfolgerungen zu ziehen. Zwar wiesen Fay und Jones (2005/2004: 1114-1126) auch
Offizieren und Zivilisten ein individuelles Fehlverhalten nach, doch überließen sie die
Ahndung dieses Fehlverhaltens den jeweiligen Vorgesetzten, die sich zumeist mit einer
Abmahnung begnügten. Sie verzichteten außerdem darauf, einen Zusammenhang zwischen
der Politik auf nationaler Ebene und den Entscheidungen der Militärführung herzustellen, was
aufgrund des Datenmaterials durchaus möglich gewesen wäre (vgl. Mestrovic & Lorenzo
2008: 193f.).
Das
sogenannte
Independent
Verteidigungsministers
James
Panel,
R.
das
unter
Schlesinger
der
stand,
Leitung
war
des
vom
ehemaligen
amtierenden
Verteidigungsminister Donald Rumsfeld eingesetzt worden, um das Versprechen nach
vollständiger Aufklärung einzulösen und den Skandal ein für alle Mal zu beenden. Die
Besonderheit der eingesetzten Kommision bestand darin, dass hier nicht nur das Fehlverhalten
in der Armee, sondern auch ein mögliches Fehlverhalten der Regierung untersucht wurde.
Dabei ging es vor allem um die Maßnahmen der Regierung nach dem 11. September 2001
(Schlesinger 2005/2004: 910-912). Es wurde hervorgehoben, dass 9/11 zu einer Zulassung
von verschärften Verhörmethoden in Guantanamo und Afghanistan geführt habe (6.4.2), die
sich aber von dort aus auch in den Irak ausgebreitet hätten:
Interrogators and lists of techniques circulated from Guantanamo and Afghanistan to Iraq. […] It is
important to note that techniques effective under carefully controlled conditions at Guantanamo became
far more problematic when they migrated and were not adequately safeguarded. (2005/2004: 911)
Der Bericht misst der Konfusion von Verhörrichtlinien eine große Bedeutung bei der
Entstehung der Missbrauchsfälle bei. Damit wurde eine Grundlage für das „weak leader“Narrativ gelegt, das im konservativen Diskurs in der zweiten Hälfte von Bushs Amtszeit eine
wichtige Rolle spielte (9.2; 10.1.3). Der Bericht gestand der Regierung zwar zu, dass die
Anwendung härtester Verhörtechniken auf Guantanamo Bay legal gewesen sei, trotzdem
wurden die Memoranda der Regierung als ursächlicher Faktor für die Entstehung der
Missbrauchsfälle aufgeführt: „They did contribute to the belief that stronger interrogation
techniques were needed und appropriate in their treatment of detainees“ (Schlesinger
2005/2004: 924). Die Überzeugung, dass harte Verhörtechniken vonnöten waren, habe dem
Missbrauch von Gefangenen Vorschub geleistet. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass die
504
Missbrauchsfälle von Abu Ghraib zwar eine indirekte Folge von Beschlüssen und Memoranda
der amerikanischen Regierung waren, dieser aber keine Schuld zugesprochen werden könne.
So wurde auch Rumsfeld von Schlesinger vor Rücktrittsforderungen in Schutz genommen.
Zusammenfasend lässt sich sagen, dass die Untersuchungsberichte der Armee keine
eindeutige Rahmung der Vorfälle vorgaben. In allen späteren Berichten wurde die
systematische Anwendung von Folter bestritten, aber systematische Probleme, die zu dem
Gefangenenmissbrauch geführt hätten, bereitwillig eingeräumt. Die Schuld wurde in erster
Linie den unmittelbar beteiligten Soldaten angelastet, wenn auch immer wieder auf die
Verantwortung der Vorgesetzten, ja sogar auf die Rolle der amerikanischen Regierung,
hingewiesen wurde. Die Untersuchungsberichte waren hinreichend unterbestimmt, um mit
allen gängigen Narrativen vereinbar zu sein. Sie wurden von Seiten der Armee und der
Regierung zu ihrer Entlastung angeführt, aber auch von Kritikern, denen die Bestrafung der
unmittelbaren Täter nicht weit genug ging. Die Untersuchungsberichte der Armee bieten
keine Erklärung des diskursiven Wandelns, der für die mittlere und spätere Phase des
Skandals charakteristisch ist. Vielmehr änderte erst die Thematisierung von Abu Ghraib im
Zuge der Gonzales-Nominierung (9.1.) und des McCain-Amendments (9.2) die Art und
Weise, in der diese Berichte gelesen wurden. Auch wenn die Untersuchungsberichte inhaltlich
unterbestimmt waren, erzielten sie doch den symbolischen Effekt, den Aufklärungswillen der
Armee und der Regierung zu symbolisieren. Dadurch trugen sie dazu bei, dass eine vorläufige
„Schließung“ des Diskurses erreicht werden konnte.
8.5.3. Abu Ghraib im Wahlkampf 2004 und die Wiederwahl von Bush
Mit der Veröffentlichung der post-9/11-Memoranda, der Untersuchungsberichte der Armee
und des Berichts des Roten Kreuzes lagen bis Ende August alle wesentlichen Fakten auf dem
Tisch – lange vor Bushs Wiederwahl im November 2004. Im Rückblick stellt Mark Danner
fest: “By no later than the summer of 2004, the American people had before them the basic
narrative of how the elected and appointed officials of their government decided to torture
prisoners and how they went about it.“606 Ein solches Narrativ wurde zwar von Teilen des
links-liberalen Gegendiskurses propagiert (z.B. Hersh 2004a; Benvenisti 2004), stieß aber in
der breiten Öffentlichkeit auf wenig Resonanz. Selbst kritische Beobachter wie die
Journalistin Dalia Lithwick, die Jahre später zu einem der entschiedensten Befürworter einer
606
Danner, Mark:“US Torture. Voices from the Black Sites”, The New York Review of Books 56 (6), 9. April
2009.
505
rechtlichen Aufarbeitung von Abu Ghraib werden sollte (10.5.2), konstatierte noch im August
2004, dass selbst der regierungskritische Bericht der Schlesinger-Kommision keinen
schlagenden Beweis (“smoking gun”) für eine direkte Verbindung zwischen der BushAdministration und den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib erbracht habe.607 Es sollte noch
mehr als vier Jahre dauern, bis eine solche Verbindung hergestellt und kollektiv anerkannt
wurde (10.1.3). Nach der Wiederwahl von Bush gab es immer noch keinen Beweis für ein
Fehlverhalten der Regierung, aber die vorliegenden Fakten wurden zunehmend anders
interpretiert (9.1-2).608 Wie lässt sich dieser Beobachtung Rechnung tragen? Weder der AbuGhraib-Skandal noch der Krieg gegen den Terror waren für die Präsidentschaftswahl 2004
unmittelbar wahlentscheidend. In den Vorwahlen der Demokraten setzte sich, schon vor dem
Skandal, John Kerry durch, der bezüglich des Irak-Konflikts für eine Fortführung der Politik
von Bush stand – und nicht für einen Paradigmenwechsel.
In den Monaten vor der Wahl wurde das politische Feld von Parteipolitik dominiert, was
wenig Raum für die parteiübergreifende Mobilisierung von zivilgesellschaftlichen Codes bot.
Die Republikaner beschuldigten die Demokraten und die liberalen Medien im Vorfeld, die
Vorfälle von Abu Ghraib für die kommenden Wahlen missbrauchen zu wollen. Am 11. Mai
mutmaßte die USA Today noch, dass der Skandal zu einer Wende in der öffentlichen Meinung
führen könne, so wie auch die gescheiterte Tet-Offensive die Amerikaner gegen den
Vietnamkrieg mobilisiert habe.609 Doch die Veröffentlichung des Videos von der Enthauptung
von Nicholas Berg am folgenden Tag führte zu einer Enttäuschung dieser Erwartung (8.4.2).
Die im Auftrag der USA Today durchgeführte Umfrage, die die Wirkung des Abu-GhraibSkandals belegen sollte, erweist sich bei genauerer Betrachtung als ambivalent. So gibt es in
der Tat einen zehnprozentigen Anstieg bei jenen Amerikanern, die entweder einen partiellen
oder gar einen vollständigen Truppenabzug befürworteten; die Mehrheit der Bevölkerung
stand allerdings nach wie vor hinter dem Krieg. Die Umfrage zeigt auch, dass sich zwar eine
große Mehrheit der Amerikaner über die Vorfälle empörten, aber nur weniger als ein Drittel
die Entlassung von Rumsfeld forderten:
607
“No Smoking Gun”, The New York Times, 26. August 2004.
608
Zu einem ähnlichen Befund kam Jeffrey C. Alexander in seiner Analyse des Watergate-Skandals: Nicht neue
Fakten, sondern eine Veränderung der Narrative, die Fakten miteinander verknüpfen und ihnen so eine neue
Bedeutung verleihen, sei ausschlaggebend dafür gewesen, dass die Affäre nach zwei Jahren mit dem
Rücktritt Nixons endete (1993: 156).
609
“Poll: War opposition up amid Iraqi abuse scandal”, USA Today, 11. Mai 2004.
506
Americans clearly abhor the prison images: 79% say they’re bothered by the abuse, 71% consider the
incidents serious offenses, 79% say they violated policy and 73% see no circumstances under which such
conduct is justified. More than eight in 10 say U.S. soldiers have higher standards of behavior than
soldiers from other countries. Still, most think the abuses were isolated instances of soldiers acting on
their own. While 83% say the soldiers who carried out the abuse are most to blame, 42% assign at least
some responsibility to President Bush. But only 29% think he should fire Defense Secretary Donald
Rumsfeld.610
Wir sehen, dass eine deutliche Mehrheit über die Parteigrenzen hinweg die öffentliche
Empörung über die Bilder, Akte und Täter teilte. Geteilter Meinung war man hingegen über
die Zurechnung der Verantwortung für die Missbrauchsfälle. Waren die Soldaten alleine dafür
verantwortlich, oder hatten auch Ranghöhere in der Befehlskette, bis hin zum Präsidenten
Bush, eine Mitschuld zu tragen? Selbst unter jenen, die die Regierung in der Verantwortung
sahen, befürworteten nur zwei Drittel die Entlassung von Verteidigungsminister Rumsfeld –
auch wenn sein freiwilliger Rücktritt bei vielen mit Wohlwollen aufgenommen worden wäre.
Die Demokraten versuchten im Kongress eine weitergehende Untersuchung der Vorfälle zu
erreichen, wurden jedoch von den Republikanern geblockt. Wie bereits zu Beginn der
Watergate-Affäre (Alexander 1993: 159-163), so wurde auch in der frühen Phase des AbuGhraib-Skandals der Streit um die Verantwortung für die Missbrauchsfälle als politischer
Konflikt gerahmt – und nicht als eine Angelegenheit, die die geteilten Werte des Landes
betraf. Aufgrund des angespannten politischen Klimas, das den bevorstehenden Wahlen
geschuldet war, konnte die Abu-Ghraib-Debatte keine große Wirkung entfalten. Es gab zwar
eine gemeinsame Empörung über die Bilder und Taten, aber an der Bedeutung der
Regierungspolitik für die Missbrauchsfälle schieden sich die Geister. Ein Bericht der New
York Times schildert die Polarisierung und Politisierung der Debatte am Beispiel einer
Anhörung zu Abu Ghraib, die zwei Monate vor der Wahl stattfand:
The House hearing was its first in four months on Abu Ghraib, and it showed that partisan tensions were
still running high on the issue. For the most part, Republicans, including Representative Duncan Hunter
of California, the panel chairman, sought to minimize the significance of the abuses, saying they reflected
misconduct by a tiny minority of American soldiers. By contrast, the Democrats, including
Representative Ike Skelton of Missouri, the top Democrat on the panel, said that the Bush administration
had been wrong, after the abuses became public in April, to portray them this way.611
Im Kongress hatte es Versuche der Opposition gegeben, das dominante Bad-Apple-Narrativ
in Frage zu stellen, was aber weder auf die Zustimmung der Republikaner noch auf
öffentliche Resonanz stieß. Der Wahlkampf schien die Debatte um Abu Ghraib in den
Schatten zu stellen. So gab es zwar auch einige prominente Republikaner, wie die Senatoren
610
“Poll: War opposition up amid Iraqi abuse scandal”
611
“Army says C.I.A. hid more Iraqis than it claimed”, The New York Times, 10. September 2004.
507
McCain und Warner, die schon früh von Fehlern auf der höchsten politischen Ebene
sprachen; allerdings verstummten diese Kritiker in den eigenen Reihe, je näher die Wahlen
rückten:
Senator John Warner, chairman of the Senate Armed Services Committee, tried to investigate Abu Ghraib
despite White House stonewalling. Mr. Warner lost his nerve as the election approached, but we hope
he’ll get it back next year.612
Bezüglich dieser politischen Polarisierung gibt es Übereinstimmungen mit dem Verlauf der
Watergate-Affäre. Alexander stellt in seiner Studie zu Watergate fest: „Zwischen dem
Watergate-Einbruch im Juni 1972 und der Wahl zwischen Nixon und McGovern bildete sich
der notwendige soziale Konsens nicht“ (1993: 159). Dennoch, so Alexander weiter, blieb die
frühe Skandalisierung der Vorfälle nicht ohne Effekt. “Watergate”, der Name des
Gebäudekomplexes,
in
welchem
Nixon
versucht
hatte,
den
demokratischen
Präsidentschaftskandidaten ausspionieren zu lassen, wurde schon in dieser Frühphase zu einen
„verschmutzen“ Symbol, das später mit Nixon assoziiert werden konnte. Ähnliche
Mechanismen griffen im Fall „Abu Ghraib“, allerdings mit dem Unterschied, dass das
irakische Gefängnis kein unbeschriebenes Blatt war, sondern schon auf eine Vorgeschichte
als unreines Symbol zurückblicken konnte (vgl. 6.3; 6.5.2). Diese negative Besetzung des
Gefängnisses entpuppte sich für die Amerikaner als zweischneidiges Schwert. Während „Abu
Ghraib“ im Vorfeld der Invasion noch als negatives Symbol für das repressive Regime von
Saddam Hussein verwendet werden konnte, wendete sich diese symbolische Waffe mit der
Publikation und Skandalisierung der Abu-Ghraib-Fotografien gegen seine ehemaligen
Nutznießer. Aus den „Befreiern“ wurden „Besatzer“, die symbolisch an die Stelle von
Saddam
Hussein
traten.
Abu
Ghraib
überdauerte
als
negatives
Symbol
die
Präsidentschaftswahlen von 2004, so dass der Skandal in der zweiten Amtszeit von Bush
wieder aufleben und neue Wirkungen zeitigen konnte.
Am 24. Mai 2004 wurde der erste Anti-Bush-Wahlwerbespot gesendet, der von der
Ikonographie der Skandalbilder Gebrauch machte, ohne diese selbst zu zeigen. Der Spot trägt
den Titel “Fire Rumsfeld” und zeigt die Freiheitstatue, deren Haupt von einer schwarzen
Kapuze bedeckt ist, wie sie von den Abu-Ghraib-Fotos her vertraut ist:
Narrator: (as the camera moves up the Statue of Liberty, starting at its base): “They said we went to Iraq
to bring American values: democracy, liberty. But something has gone terribly wrong.”
Narrator: (as it’s revealed that the statue is hooded): “Now it’s been reported that Donald Rumsfeld
initiated the plan that encouraged the physical coercion and sexual humiliation of prisoners.”
612
“Abu Ghraib, Unresolved”, The New York Times, 28. Oktober 2004.
508
Narrator: (as the picture changes to an image of President Bush with Rumsfeld, whose face is
highlighted): “Rumsfeld has endangered our soldiers and America.”
Narrator: (as the camera zooms in on Bush’s face and the words “paid for by MoveOn.org” appear):
“Why hasn’t George Bush fired this man?”613
Diese Wahlwerbung wurde weder von den Demokraten finanziert noch gestaltet, sondern geht
auf eine unabhängige Vereinigung zurück, die nicht in erster Linie für die Demokraten,
sondern gegen Bush zu Felde zog. Es fällt auf, dass nur Vereinigungen und Aktivisten am
äußersten linken Rand des politischen Spektrums die Abu-Ghraib-Fotografien für kritische
Interventionen im Wahlkampf verwendeten (vgl. 9.4.1).614 Die offizielle Kampagne der
Demokraten verfolgte eine andere Strategie. Senator Kerry legte sehr viel Wert darauf, seine
Befähigung als Oberkommandierender der amerikanischen Streitkräfte unter Beweis zu
stellen. Er versuchte, wie auch McCain im Wahlkampf von 2008 (vgl. Alexander 2010: 7281; siehe auch 10.1.2), sich als „military hero“ in Szene zu setzen, was einen Verzicht auf die
politische Instrumentalisierung von Abu Ghraib ratsam erscheinen ließ. Eine Forcierung der
Skandalisierung der Vorfälle hätte Kerry möglicherweise die Unterstützung der Streitkräfte
gekostet, was die Glaubwürdigkeit seiner ganzen Kampagne infrage gestellt hätte. Folglich
war es in Anbetracht der Situation durchaus vernünftig, in der demokratischen
Wahlkampagne auf den Gebrauch des Symbols „Abu Ghraib“ zu verzichten. Hier tritt die
historische Kontingenz des sozialen Dramas deutlich zu Tage. Wäre ein anderer
demokratischer Kandidat mit einem stärkeren zivilgesellschaftlichen Profil und Image gegen
Bush angetreten, so hätte dieser weitaus rücksichtsloser von dem Abu-Ghraib-Skandal
Gebrauch machen können. Die Zurückhaltung in Sachen Abu Ghraib war für viele
Unterstützer der Demokraten nur schwer verständlich. So wurde Kerrys Kandidat für das
Vizepräsidentenamt, John Edwards, einmal von einem Bürger gefragt, warum Bush wegen
des Abu-Ghraib-Skandals nicht schärfer angegangen werde.615 Obwohl auch Kerry die BushRegierung wegen ihrer verspäteten und undeindeutigen Reaktion auf den Skandal kritisiert
hatte, enthielt er sich in diesem Fall weitergehender Kritik.616 Wie vorsichtig Kerry schon in
den ersten Tagen des Skandals in Bezug auf Abu Ghraib argumentierte, wird besonders an
folgender Schilderung deutlich:
613
„Producers decided not to use abuse images in ad“, USA Today, 24. Mai 2004
614
Vgl. auch“Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal”, The New York Times, 13. Juni 2004;“Underground
Artists Take to the Streets”, 9. Juli 2004;“Police Tactics Mute Protesters And Messages”, 2. September 2004.
615
“Democrats Seek Louder Voice From Edwards”, The New York Times, 16. September 2004.
616
Siehe beispielsweise“Kerry Urges Bush to Voice U.S. Regret On Iraq Abuse”, The New York Times, 6. Mai
2004.
509
Pressed on whether he believed Mr. Bush should apologize […] Mr. Kerry said: “The president of the
United States needs to offer the world its explanation, and needs to take appropriate responsibility. And if
that includes apologizing for the behavior of those soldiers and what happened, then we ought to do that.”
Asked whether he believed that Secretary of Defense Donald H. Rumsfeld should resign over the scandal,
Mr. Kerry noted that he called for Mr. Rumsfeld's resignation months ago over what he called the lack of
planning for postwar Iraq.617
Kerry lässt mit seiner Antwort sogar offen, ob sich Bush nun für die Vorfälle entschuldigen
solle oder nicht. Des Weiteren zögert er, seine Rücktrittsforderung an Rumsfeld mit dem AbuGhraib-Skandal zu begründen, und verweist lediglich darauf, dass er den Rücktritt Rumsfelds
wegen militärischer Inkompetenz schon seit langem fordere. Trotz dieser Vorsicht auf Seiten
der Demokraten gelang es den Teilnehmern der Bush-Kampagne, vor dem Hintergrund des
Abu-Ghraib-Skandals ein negatives Bild von Kerry zu zeichnen – ein politischer Kunstgriff,
der in den liberalen Medien scharf kritisiert wurde. Frank Rich, der den damaligen
Präsidenten Bush in der New York Times als “sissy who used Daddy’s connections to escape
Vietnam“ charakterisiert hatte, zeigte sich erstaunt darüber, dass es Bush im Wahlkampf
gelungen war, einen „actual war hero“ wie Kerry in einen „girlie-man“ zu verwandeln.618
Eine Schlüsselrolle in dieser Strategie spielten die sogenannten Swift Boat Veterans for Truth
– eine Organisation von Kriegsveteranen, die sich im Jahr 2004 eigens zu dem Zweck
zusammengeschlossen hatte, Kerrys Präsidentschaft zu verhindern. Was zunächst unglaublich
klingen mag, wurde Realität: Die Swift Boat Veterans for Truth erlaubten es der amtierenden
Regierung, den Abu-Ghraib-Skandal als symbolische Waffe im Wahlkampf gegen den
demokratischen Präsidentschaftskandidaten zu verwenden:
When Marc Racicot, the Bush-Cheney chairman, says (dishonestly) that Mr. Kerry has called American
troops “universally responsible” for Abu Ghraib, his message sounds coordinated with the Swifties’ claim
(equally dishonest) that Mr. Kerry once held American troops universally responsible for the atrocities
committed in Vietnam.619
Während die Opposition unkoordiniert wirkte, da die offizielle Kampagne und inoffizielle
Interventionen unterschiedliche Strategien verfolgten, haben wir es hier mit dem Gleichklang
zweier Botschaften zu tun, die sich wechselseitig verstärkten. Des Weiteren wird deutlich,
dass der Irakkrieg und der Abu-Ghraib-Skandal vor dem Hintergrund von Vietnam und My
Lai wahrgenommen wurden (6.2). Kerry, der als heimgekehrter Veteran in der
Antikriegsbewegung tätig gewesen war, wurde fälschlicherweise beschuldigt, die begangenen
Grausamkeiten – von damals und heute – den amerikanischen Truppen in ihrer Gesamtheit
617
“Democrats Seek Louder Voice From Edwards”, The New York Times, 16. September 2004.
618
“How Kerry Became A Girlie-Man”, The New York Times, 5. September 2004.
619
“How Kerry Became A Girlie-Man”
510
zugeschrieben zu haben. Eine solche Position, die die kollektive Erinnerung an Vietnam zum
kulturellen Tätertrauma stilisiert, besaß zwar in linken Kreisen eine solide Anhängerschaft,
war aber im öffentlichen Diskurs nie mehrheitsfähig. Am Ende gewann der amtierende
Präsident George W. Bush die Wahl.
Die Anfangsphase des Skandals schuf zwar das negative Symbol “Abu Ghraib”, aber ein
weiterführender Konsens über die Bedeutung der Missbrauchsfälle, insbesondere aber die
Verantwortlichkeit der Bush-Regierung, stellte sich nicht ein. Es setzte sich das tragische
Bad-Apple-Narrativ durch, demzufolge eine Handvoll moralisch verkommener Soldaten die
Ehre der amerikanischen Armee und das Ansehen des amerikanischen Volkes aufs Spiel
gesetzt hätten (8.3.1). Diese tragische Erzählung erlaubte es, die Missbrauchsfälle in einer
Weise zu rahmen, dass sie die kollektive Identität der Vereinigten Staaten nicht mehr in Frage
stellen konnten. Dies hatte zur Folge, dass jeder Verweis auf Abu Ghraib während des
Wahlkampfes als politischer Missbrauch eines tragischen Ereignisses hätte diskreditiert
werden können. Für die Vereinigten Staaten gilt, dass die Institution der Armee und die
Mehrheit der amerikanischen Soldaten den Skandal unbeschadet überstanden, obwohl es
genügend Hinweise auf einen systematischen Missbrauch gab. Die Beteiligung von
Angehörigen des Militärgeheimdienstes, von Angestellten privater Sicherheitsfirmen oder von
Mitarbeitern staatlicher Geheimdienste warf zwar einen Schatten auf diese Institutionen, blieb
aber letzten Endes zu uneindeutig. Die Schuld wurde in erster Linie den Soldaten
zugeschrieben, die auf den Fotos zu sehen waren. Es fällt auf, dass in dieser frühen Phase das
Gefangenenlager auf Guantanamo Bay noch als ein reines Gegenstück zu Abu Ghraib
erschien. So wurde General Karpinski durch den Oberbefehlshaber von Guantanamo, General
Miller, ersetzt – ohne dass dies die Öffentlichkeit beunruhigt hätte. Donald Rumsfeld und
Alberto Gonzales waren zwar beide durch den Skandal angeschlagen – der Erstere wegen
seines Skandalmanagements, der Letztere wegen seiner Beteiligung an den umstrittenen
Memoranda; beide wurden jedoch von Präsident Bush, der den Skandal trotz seiner
uneindeutigen und ambivalenten Entschuldigung ebenfalls relativ unbeschadet überstanden
hatte, weiterhin unterstützt.
511
9. Diskursanalyse II (2004-2006) – Politik, Recht und Kunst
Das folgende Kapitel befasst sich mit der mittleren Phase des Abu Ghraib-Skandals, die mit
der vorläufigen Schließung des sozialen Dramas anlässlich von Bushs Wiederwahl 2004
einsetzt und mit Rumsfelds Rücktritt nach den Kongress- und Senatswahlen 2006 endet.
Dabei stehet vor allem die wechselseitige Beeinflussung und Durchdringung der politischen,
rechtlichen und zivilgesellschaftlichen Sphäre im Zentrum. Es soll unter anderem gezeigt
werden, dass der bisherige Verlauf des Skandals die politische Debatte um die Memoranda
der Regierung (9.1) und die rechtlichen Entscheidungen des Supreme Courts (9.3)
nachweislich beeinflusste. Aber nicht nur in den Feldern des Rechts und der Politik lässt sich
der Einfluss von Abu Ghraib nachweisen, auch in der Kunst nahm man sich bald des Skandals
und seiner Bildmotive an (9.4). Zwar reichen die angesprochenen Themenkomplexe bis in die
Anfangs- und Schlussphase des Skandals hinein, aber im Zentrum stehen, wie im Folgenden
demonstriert werden wird, jene zwei Jahre nach Bushs Wiederwahl, innerhalb derer es zu
einer Palastrevolte der Republikaner unter der Führung von McCain (9.2) kam und die eine
wachsenden Distanz der Republikaner zur amtierenden Regierung zur Folge hatten (9.5.2). Es
wird sich zeigen, dass die innerparteiliche Kritik an Bush die Voraussetzung für einen neuen
überparteilichen Konsens im zivilgesellschaftlichen Diskurs der Vereinigten Staaten
darstellte, der das hegemoniale Bad-Apple-Narrativ diskreditierte (vgl. 8.3.1) und die
Regierung für die Exzesse von Abu Ghraib in Verantwortung nahm (10.1.3). Damit rückte
dann auch die Sicherheitspolitik der Vereinigten Staaten im Krieg gegen den Terror,
insbesondere aber das Gefangenenlager Guantanamo Bay und die Verhörtechnik des
Waterboardings, ins Zentrum der öffentlichen Kritik. Schlussendlich soll noch auf die
deutschen Strafanzeigen gegen Verteidigungsminister Rumsfeld und mehrere Angehörige des
amerikanischen Militärs eingegangen werden, die auf dem Vorwurf von Folter in Abu Ghraib
basierten (9.5.). Diese Strafanzeigen unterstreichen zum einen die internationale Bedeutung
des Abu-Ghraib-Skandals und zeigen darüber hinaus, dass auch politische Erwägungen im
Bereich der Rechtsprechung eine Rolle spielen können.
512
9.1. Memoranda, Geheimgefängnisse, Folter
Not since the Nazi era have so many lawyers been so clearly
involved in international crimes concerning the treatment and
interrogation of persons detained during war.
Jordan Paust, Wehrdisziplinaranwalt620
Wie wir gesehen haben, gestaltete es sich in der frühen Phase des Skandals schwierig, eine
eindeutige Verbindung zwischen den Misshandlungen von Abu Ghraib und den politischen
Entscheidungen der Bush-Regierung herzustellen. Prinzipiell war dies schon im ersten Monat
nach der Veröffentlichung der Bilder möglich, als mehrere geheime Memoranda des
Justizministeriums und des Weißen Hauses in die Hände einiger führender Zeitungen und
Magazinen gerieten und dann auszugsweise veröffentlicht wurden.621 Der New York Times
zufolge berichtete das amerikanische Magazin Newsweek am 20. Mai 2004 auf seiner
Webseite als erstes von den geheimen Memoranda.622 Die Times war nach eigenen Angaben
zu diesem Zeitpunkt selbst schon seit mehreren Tagen im Besitz dieser Dokumente gewesen.
Allerdings begann sie erst infolge ihrer Enthüllung darüber zu berichten.623 Die Memoranda
von John C. Yoo und Robert J. Delabunty (2005/2002) können als ein Versuch der Regierung
gelesen werden, die Genfer Konventionen mit rechtlichen Mitteln zu unterlaufen. Die Autoren
wurden dabei von dem obersten Juristen des Weißen Hauses, Alberto R. Gonzales,
unterstützt, der dem Präsidenten die Anwendung des Memorandas mit folgender Begründung
empfahl:
The nature of the new war places a high premium on other factors such as the ability to quickly obtain
information from captured terrorists and their sponsors in order to avoid further atrocities against
American civilians […]. In my judgment, this new paradigm renders obsolete Geneva’s strict limitations
on questioning of enemy prisoners and renders quaint some of its positions. (2005/2002: 119)624
620
Zugleich auch Professor für Recht an der Universität Houston, zitiert nach Zimbardo (2007: 436).
621
Die vollständigen Memoranda wurden zusammen mit den Untersuchungsberichten des Roten Kreuzes und
des amerikanischen Militärs von Karen J. Greenberg und Joshua L. Dratel (2005) veröffentlicht.
622
„Justice Memos Explained How to Skip Prisoner Rights“, The New York Times, 21. Mai 2004; die
Veröffentlichung wesentlicher Auszüge leisteten vier Tage später die Autoren John Barry, Michael Isikoff,
Michael Hirsh in einem gemeinsam verfassten kritischen Artikel in der Printausgabe („The Roots Of
Torture“, Newsweek, 24. Mai 2004).
623
Es stellt sich natürlich die Frage, warum sich die New York Times mit der Veröffentlichung geheimer Details
so lange Zeit gelassen hat. Entweder benötigten ihre Journalisten noch mehr Zeit für einen gut recherchierten
Artikel, oder aber ihre Redakteure schreckten schlichtweg vor den Konsequenzen einer Veröffentlichung des
geheimen Materials zurück. War das Geheimnis aber erst einmal enthüllt, ließ sich viel leichter und
gefahrloser darüber reden.
624
Auch zitiert in „History lesson: GOP must stop Bush“, USA Today, 24. Mai 2004.
513
Der Ausnahmezustand des Kriegs gegen den Terror, der insbesondere durch das
apokalyptische Ticking-Bomb-Narrativ begründet wird (6.4.2-3), hebt nach dieser Auslegung
die wesentlichen Beschränkungen der Genfer Konventionen auf. Der Journalist Carl Bernstein
beschuldigte nach diesen Enthüllungen den Präsidenten Bush, die Verfassung umgehen zu
wollen, und verglich ihn in dieser Hinsicht mit seinem „unreinen“ Vorgänger Nixon.625 Er rief
die „GOP“ (d.h. die Republikanische Partei) auf, Präsident Bush zu stoppen, wie sie es bereits
in der Watergate-Affäre mit Nixon getan hätten. Die Anrede der Republikaner als Grand Old
Party bezog sich auf den „reinen Geist“ der republikanischen Partei, die so von der korrupten
Realität der Bush-Administration dissoziiert wurde. Allerdings blieb dieser Aufruf zunächst
folgenlos. Diese Zurückhaltung lässt sich im Rekurs auf die politischen Motive der
Beteiligten verständlich machen. Ein parteiinterner Aufstand hätte den Erfolg der
Republikaner bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen im November 2004 in
beträchtlichem Maße gefährdet. Damit wiederholt sich ein Verlaufsmuster, das aus der
Watergate-Affäre bekannt ist: Obwohl der Skandal schon im Sommer vor den
Präsidentschaftswahlen
1972
seinen
Anfang
genommen
hatte,
konnte
sich
ein
parteiübergreifender Widerstand gegen Nixon erst nach den Wahlen formieren (vgl.
Alexander 1993). Dass diese relativ profanen, politischen Motive am Ende ausschlaggebend
gewesen sein konnten, war allerdings auch der Tatsache zu verdanken, dass zum Zeitpunkt
der Veröffentlichung der Memoranda der Skandal an Momentum verloren hatte (8.4.2). Erst
mit der Anhörung von Alberto R. Gonzales gelangte die Auseinandersetzung um die
Memoranda zu einem Höhepunkt, an dem nicht mehr die Parteiinteressen, sondern die
amerikanischen Werte entscheidend waren.
Die Vorfälle in Abu Ghraib und die Veröffentlichung der sogenannten „torture memos“
warfen Fragen auf, die den Einsatz von Verhörtechniken durch die amerikanischen
Streitkräfte und Geheimdienste betrafen. Trotz der relativ offenen Folterdebatte nach dem 11.
September 2001 wurde von offizieller Seite immer bestritten, dass auf amerikanischer Seite
„Folter“ zum Einsatz komme. „Folter“ war – trotz der einsetzenden Folterdebatte nach dem
11. September 2001 (6.4.2-3) – nach wie vor ein überwiegend negativ besetztes Symbol, das
der repressiven Seite des zivilgesellschaftlichen Codes zugeordnet wurde. Der Einfluss des
zivilgesellschaftlichen Diskurses lässt sich selbst in den geheimen Memoranda der Regierung
nachweisen, die sehr viele Mühe darauf verwandten, den Begriff der „harsh interrogation
technique” von „torture“ abzugrenzen. Einerseits konnte so die negative Konnotation des
625
„History lesson: GOP must stop Bush“, USA Today, 24. Mai 2004.
514
Begriffes „Folter“ vermieden werden, anderseits versuchte die Regierung, sich damit auch
rechtlich abzusichern. Nichtsdestotrotz wurde, wie wir bereits gesehen haben (6.4.2), in einem
Memorandum des Regierungsanwaltes Jay S. Bybee die konstitutionelle Rechtmäßigkeit des
Folterverbotes auch grundlegend in Zweifel gezogen, weil sie die Macht des Präsidenten im
Kriegsfall auf eine unzulässige Art und Weise einschränke. Vor allem diese Passage sorgte im
Zuge der Veröffentlichung der Memoranda für öffentliche Empörung, wie es etwa an der
folgenden Reaktion eines erbosten Lesers in der New York Times deutlich wird: „Does the
Bush administration have a moral compass, or is its morality a hollow public relations stunt?
Most Americans would agree that torture is evil in any circumstances, and I am one of
them”.626 Am rechten Rand des politischen Spektrums nahm man die Regierung allerdings
vor dem Vorwurf, Folter rechtfertigen zu wollen, in Schutz und versuchte, diese Interpretation
der Memoranda als parteipolitische Winkelzüge darzustellen.627 Dennoch stand die
überwiegende Mehrheit der Äußerungen im öffentlichen Diskurs dem Inhalt der Memoranda
kritisch gegenüber. Die Politiker in der Regierung wurden verdächtigt, repressive Ziele zu
verfolgen, während den juristischen Verfassern der Memoranda eine Vernachlässigung ihrer
Amtspflichten vorgeworfen wurde:
Still, government lawyers have more complicated obligations than those in private practice do. The
government lawyer’s ultimate client, after all, is the public, and government lawyers have not
infrequently told their bosses things they did not want to hear.628
In diesem Beitrag wird daran erinnert, dass die Öffentlichkeit der eigentliche Auftraggeber
der für die Regierung tätigen Anwälte ist. So werden historische Fälle von aufrechten
Regierungsanwälten erzählt, die der Regierung auch unbequeme juristische Wahrheiten
zumuteten. Im Lichte der Öffentlichkeit und im Vergleich mit ihren historischen Vorbildern
erscheinen die Verfasser der Memoranda als abhängig, rechtsbeugend und aus niederen
Bewegründen agierend. Sie stehen auf der unzivilen Seite des Codes und richten sich damit
gegen das Volk und die Öffentlichkeit, die sie qua Amt zu vertreten haben. Hier stößt auch
ein positivistisches Rechtsverständnis an seine Grenzen. Die Anwendung und Interpretation
des Rechts darf sich nicht an politischen und anderen niederen Bewegründen orientieren,
sondern kann letzten Endes nur über zivilgesellschaftliche Moralvorstellungen gerechtfertigt
werden (siehe Alexander 2006a: 151-192). Jeder Versuch, das Gesetz oder gar die Verfassung
626
„The Torture Memo, and the Outcry. Letters to the Editor“, New York Times, 9. Juni 2004.
627
„Democrats Interpret Justice Department Memo as Justifying Torture“, Fox Special Report with Brit Hume
(18:00), Fox News Network, 23. Juni 2004.
628
„How Far Can a Government Lawyer Go?“ The New York Times, 27. Juni 2004.
515
auf eine Weise zu interpretieren, die im Widerspruch zur öffentlichen Moral steht, wird als
Rechtsbeugung und als Verletzung der Normen der zivilgesellschaftlichen Sphäre interpretiert
(4.3.3). Aus zivilgesellschaftlicher Perspektive kann es nicht die Aufgabe von
Regierungsanwälten sein, rechtliche Schlupflöcher für Politiker zu finden. Stattdessen wird
von ihnen erwartet, dass sie die zivilgesellschaftliche Moral vertreten und die Verfassung
hochhalten. Trotz dieser Kritik spielen natürlich politischer Erwägungen bei rechtlichen
Entscheidungen eine Rolle, wie nicht zuletzt die Entscheidungen des Generalbundesanwalts
anlässlich der Anklagen gegen Rumsfeld zeigen (9.5).
9.1.1. Das Nachspiel der Memoranda – Die Anhörung des Alberto R. Gonzales
Die Enthüllung der Memoranda hatte ein langes Nachspiel, insbesondere für den obersten
Juristen der Regierung, Alberto R. Gonzales, der schon als zukünftiger Kandidat für den
Supreme Court gehandelt wurde. Er wurde im Laufe des Abu-Ghraib-Skandals symbolisch
befleckt – ein Stigma, das noch lange an ihm haften bleiben sollte.629 Nach Bushs Wiederwahl
im November wurde Gonzales von dem Präsidenten als Justizminister vorgeschlagen. In den
Vereinigten Staaten muss der Justizminister noch vom Senat bestätigt werden, was in der
Regel kein Problem darstellt. Doch die Nominierung von Gonzales rief bei vielen Journalisten
und Politikern die umstrittenen Memoranda und den Abu-Ghraib-Skandal wieder ins
Gedächtnis. Der demokratische Abgeordnete Patrick Leahy schrieb anlässlich der
bevorstehenden Anhörung im Senat in einem Brief an Gonzales:
You will be asked to describe your role in both the interpretation of the law and the development of
policies that led to what I and many others consider to have been a disregard for the rule of law at Abu
Ghraib and related to the interrogation and treatment of foreign prisoners.630
Die geplante Ernennung von Gonzales bot einen Anlass, die Debatte um die Missbrauchsfälle
von Abu Ghraib, die strittigen Memoranda und die Legitimität von Folter wieder aufleben zu
lassen. Insbesondere die Tatsache, dass Gonzales in seinem Memorandum die entwürdigende
und erniedrigende Behandlung von Gefangenen als rechtmäßig eingestuft hatte, stieß vielen
Kommentatoren – mit Blick auf Abu Ghraib – unangenehm auf. So konfrontierte der
Moderator Chris Matthews von der MSNBC-Show einen Diskussionspartner, der die geplante
Ernennung von Gonzales verteidigt und die Rolle der Memoranda heruntergespielt hatte, mit
den Bildern von Abu Ghraib: „Well, this memo that we’re all talking about does permit cruel,
inhuman and degrading treatment of prisoners, according to the – and that’s what we saw with
629
„The next president could tip high court“, USA Today, 30. September 2004.
630
Countdown (20:00), MSNBC, 16. Dezember 2004.
516
Abu Ghraib. Do you agree with that policy?”.631 Abu Ghraib wurde hier – ob dies
gerechtfertigt oder ungerechtfertigt ist, sei einmal dahingestellt – zum Paradebeispiel einer
erniedrigenden und entwürdigenden Behandlung, wie sie nach den Memoranda zulässig
gewesen wäre, stilisiert. Es wurde eine inhaltliche Beziehung zwischen Abu Ghraib und den
Memoranda hergestellt, die deren Verfasser, allen voran Gonzales, in ein schlechtes Licht
stellten. Hilary Rosen, eine Liberale, die ebenfalls zu Gast in dieser Show war, sah in der
Anhörung von Gonzales eine nachträgliche Aufarbeitung und mögliche Bewältigung des nach
wie vor unabgeschlossenen Abu-Ghraib-Skandals: „And no one in this administration has yet
paid for Abu Ghraib. And that is what the Gonzales hearing is about. […] If the only way to
make this administration pay for Abu Ghraib is to defeat him, he should be defeated“.632
Die bisherigen Sündenböcke des Skandals, die verurteilten Soldaten (8.5.1), aber auch die
symbolischen Korrektivhandlungen der Regierung, die politischen Entschuldigungen (8.2.2),
waren der öffentlichen Meinung und ihren Vertretern auf einmal nicht mehr genug. Wie ein
unzufriedener Gott verschmäht die öffentliche Meinung Opfer, die sie für zu gering erachtet.
Gonzales, der als künftiger Justizminister gehandelt wurde, stellte in dieser Hinsicht ein
„high-priority target“ dar. Dennoch gingen auch in dieser Show, die einen Beitrag zur
Repräsentation und Produktion der öffentlichen Meinung leistete, die Meinungen über
Gonzales auseinander. Die konservative Autorin Laura Ingraham versuchte, Gonzales und
Abu Ghraib zu dissoziieren: „To say that this guy is responsible for Abu Ghraib is an insult.“
Rosen beschloss das Thema Abu Ghraib mit den folgenden Worten: „The only reason this is a
fight is because this Abu Ghraib issue has not been resolved and everything that comes out
about it is more and more disturbing”.633 In der ultra-konservativen Fernsehshow von
O’Reilly war die Anhörung von Gonzales auch ein heiß debattiertes Thema. Allerdings wurde
sie hier als profane Auseinandersetzung nach Parteilienen dargestellt – womit die zahlreichen
Kritiker von Gonzales in den eigenen Reihen unterschlagen wurden.634
Die öffentliche Debatte um Alberto Gonzales und seine Anhörung vor dem Senat darf in
ihrer Bedeutung für den Abu-Ghraib-Skandal nicht unterschätzt werden. Nach der
Wiederwahl von Bush gab es zunächst wenig Anlass, die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib
631
Hardball (21:00), MSNBC, 5. Januar 2005.
632
Hardball (21:00), MSNBC, 5. Januar 2005.
633
Hardball (21:00), MSNBC, 5. Januar 2005.
634
So z.B. der republikanischen Senator Lindsey Graham, vgl. „Interview With Linda Chavez and Bob Edgar“,
The Big Story with John Gibson (17:12), Fox News Network, 6. Januar 2005.
517
noch einmal aufzurollen. Erst die Debatte um die Nominierung von Gonzales schuf eine
Bühne, auf welcher nicht nur über dessen Eignung für das Amt des Justizministers, sondern
auch über die Verantwortlichkeit der Regierung für die Vorfälle von Abu Ghraib und über
Mindeststandards bei der Behandlung von Gefangenen diskutiert werden konnte (9.2). Im
Laufe des Jahres 2005 setzte sich mit dem McCain-Amendment ein neuer Mindeststandard
durch, der das Ergebnis eines innerparteilichen Aufstandes gegen Bush war. Dieses
Amendment verbot – in deutlicher Abgrenzung von der Position der Memoranda – alle
grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Handlungen gegenüber Gefangenen in
amerikanischer Haft, und das überall auf der Welt. Während der Anhörung von Gonzales im
Senat wurden drei Tage lang hitzige Debatten über seine Rolle bei der Verfertigung der
Memoranda geführt. Die New York Times nannte ihn einen „Torture Guy, who blithely threw
off 75 years of international law and set the stage for the grotesque abuses at Abu Ghraib and
dubious detentions at Guantanamo”.635 Am 3. Februar 2005 wurde seine Nominierung mit
einem außerordentlich schwachem Ergebnis bestätigt – sehr viel knapper, als es zuvor
erwartet worden war (60-36). Der Wahlausgang wurde als Niederlage für Präsident Bush
interpretiert.636 Gonzales konnte sich allerdings nicht bis zum Ende seiner Amtszeit auf dem
Posten des Justizministers halten. Im Jahr 2007 stolperte er, schon angeschlagen durch den
Abu-Ghraib-Skandal, über politische Affären wie das Bespitzelungsprogramm des NSA oder
die politisch motivierte Entlassung von Anwälten aus dem Staatsdienst. Der Senat und der
Kongress verabschiedeten Resolutionen, die Alberto Gonzales das Vertrauen entzogen. Am
26. August 2007 reichte Alberto R. Gonzales schließlich seinen Rücktritt ein.
9.1.2. Die Debatte um die Geheimgefängnisse und den Schutz von Informanten
Eine weitere Debatte, die in den ersten Wochen des Abu-Ghraib-Skandals ihren Anfang
nahm, thematisierte die mutmaßliche Beteiligung des militärischen Geheimdienstes und der
CIA als „Other US Government Agency“ an mehreren Missbrauchsfällen, wie sie unter
anderem der „Taguba-Report“ nahe legte (2005/2004: 417f.).637 Im Herbst 2004 leitete die
CIA eine interne Untersuchung ein, die die beteiligten Agenten von allen Anklagepunkten
635
„A Moveable Feast of Terrorism“, The New York Times, 11. November 2004.
636
„Gonzales Is Confirmed in a Closer Vote Than Expected“, The New York Times, 4. Februar 2005.
637
„A Prison on the Brink; Usual Military Checks and Balances Went Missing“, The Washington Post, 9.Mai
2004; „The Pictures; Lynndie England explains why she posed for photos with nude Iraqi prisoners“, 60
Minutes II (20:00), CBS, 12. Mai 2004; „CIA hid many Iraq prisoners, generals say“, USA Today, 10.
September 2004.
518
freisprach. Aber damit war die Debatte über die Rolle der CIA in Abu Ghraib und ihre „ghost
detainees“ nicht beendet. Infolge der Anhörung von Gonzales und des Streits um das McCainAmendment, insbesondere aber nach Bushs Äußerung, dass dieses Amendment nicht für die
CIA gelte, gerieten auch die verdeckten Operationen der CIA in das Visier von Journalisten
und Politikern. Am 2. November 2005 veröffentlichte die Washington Post eine Story über
ein geheimes System von Gefängnissen der CIA, das in einigen osteuropäischen Ländern
operierte.638 Diese Enthüllung belebte nicht nur die andauernde Diskussion um die
Verhörtechniken der Regierung, sondern zog auch Bemühungen von Seiten der Republikaner
nach sich, eine offizielle Untersuchung der vertraulichen Quellen der Washington Post in die
Wege zu leiten. Dies stieß wiederum auf Kritik in der Presse, die darin einen repressiven
Eingriff in das Recht der Öffentlichkeit auf Information sah.639 Indem der Bericht von den
offiziellen Stellen nicht inhaltlich zurückgewiesen wurde, sondern die Suche nach dem Leck
im Vordergrund stand, wurde den Anschuldigungen insgeheim recht gegeben. Eine
glaubwürdigere Authentifizierung für eine Berichterstattung ist kaum vorstellbar.
Die Enthüllung der geheimen Auslandsgefängnisse der CIA befeuerte die Debatte über
Pressefreiheit, Informantenschutz und Staatsinteressen, die schon zuvor durch den AbuGhraib-Skandal an Fahrt gewonnen hatte. Von Beginn an stand die Regierung in punkto Abu
Ghraib unter dem Verdacht der Geheimniskrämerei.640 Diese Debatte lässt sich damit auch als
Grenzkonflikt zwischen dem politischen System und der Sphäre der Öffentlichkeit
analysieren (4.2.3-4). Es kam zu einem Konflikt zwischen der Verpflichtung der Regierung –
notfalls auch durch Geheimhaltung –, ihre Handlungsfähigkeit im kollektiven Interesse zu
gewährleisten und dem ebenfalls kollektiv legitimierten Recht der Öffentlichkeit, darüber
informiert zu werden, was vor sich geht, um gegebenenfalls zivilgesellschaftliche Kontrolle
auf die Politik auszuüben. Die Enthüllung der Abu-Ghraib-Missbrauchsfälle und das
Durchsickern der Memoranda wurden dabei immer wieder von den Befürwortern eines
„media shield“ zum Schutz von Informanten als positives Beispiel für journalistische
Enthüllungen herangezogen.641 Die späteren Präsidentschaftskandidaten John McCain and
Barack Obama traten in dieser Debatte beide als Befürworter eines „media shield“ auf –
638
„CIA Holds Terror Suspects in Secret Prisons, Debate Is Growing Within Agency About Legality and
Morality of Overseas System Set Up After 9/11“, The Washington Post, 2. November 2005.
639
„Misplaced Outrage“, USA Today, 14. November 2005.
640
„Vilified soldier shouldn‘t be prejudged; just ask her mom“, USA Today, 12. Mai 2004.
641
„When reporters can’t shield sources, the public loses out“, USA Today, 16. Oktober 2007.
519
allerdings änderte Obama seine Position nach dem Wechsel in das Kandidatenamt
grundlegend, wie nicht zuletzt seine Handhabung der Wikileaks-Affären gezeigt hat.
9.1.3. Anstöße für die Folterdebatte und Ausweitung der Verantwortlichkeit
Schon der Abu-Ghraib-Skandal und die Veröffentlichung der Memoranda lösten in den
Vereinigten Staaten eine nachhaltige Debatte über Folter und andere Verhörtechniken aus.
Als direkte Konsequenz aus dem Skandal verbot die amerikanische Armee die Anwendung
des sogenannten „hooding“ zu Verhörzwecken. Die Bush-Administration reagierte auf die
Kritik an den enthüllten Memoranda mit der Zusage, von deren Rechtsauslegung in Zukunft
abzusehen. Die Debatte über die Zulässigkeit von Foltertechniken begann allerdings damit
erst an Fahrt aufzunehmen:
The issue of what were permissible interrogation techniques has produced a vigorous debate within the
government that burst into the open with reports of abuses at Abu Ghraib prison in Baghdad and is now
the subject of several investigations.642
Vor dem 11. September war „Folter“ in der Öffentlichkeit noch ein unumstößliches Tabu,
eine eindeutige Verletzung der moralischen Fundamente liberaler Demokratien. Nach dem 11.
September wurde sie in Anbetracht der außerordentlichen Umstände nicht nur von der
Regierung als legitim erachtet, sondern fand auf einmal auch in der zivilen und akademischen
Sphäre Fürsprecher (vgl. 6.4.2-3). Die Verteidiger eines absoluten Verbotes hatten nach 9/11
eine schwierige Zeit, und selbst gestandene Liberale hielten eine Legalisierung der Folter in
Anbetracht der Umstände für „geboten“ (Dershowitz 2002) oder zumindest für „vertretbar“
(Ignatieff 2004). Erst die Enthüllungen von Abu Ghraib und der Memoranda der Regierung
führten zu einer Kehrtwende im Folterdiskurs, in Zuge dessen sich ein neuer Konsens
etablieren konnte. In der Besprechung eines noch vor dem Abu-Ghraib-Skandal geschrieben
Buches, The End of Faith von Sam Harris (2006/2004), kritisierte Natalie Angier, dass eine
Verteidigung der Zulässigkeit von Folter im Kriegsfall, wie sie in dem Buch unternommen
werde, nach Abu Ghraib keine Glaubwürdigkeit mehr beanspruchen könne.643 In der Tat: In
nahezu allen Artikeln und Büchern, die nach dem Skandal zur Folterdebatte erschienen sind
und immer noch erscheinen, ist Abu Ghraib ein beliebter Referenzpunkt für Foltergegner –
und das, obwohl die Missbrauchsfälle in rechtlicher Hinsicht nicht als Folter galten (10.4).644
642
„Broad Use of Harsh Tactics Is Described at Cuba Base“, The New York Times, 17. Oktober 2004.
643
„Against Toleration“, The New York Times, 5. September 2004.
644
So z.B. in dem Sammelband von Karen Greenberg (2006) oder in der soziologischen Debatte zur Folter im
britischen Journal of Political Science (Levey 2007; Lukes 2006, 2007).
520
Abu Ghraib spielte in der Debatte nur insoweit die Rolle eines rationalen Arguments, als es
als Paradebeispiel einer „slippery slope“ angeführt wurde. Indem man den kausalen
Mechanismus der „slippery slope“ postulierte, konnte man letztendlich die Regierung für die
Exzesse in Abu Ghraib verantwortlich machen.645
Die Memoranda der Bush-Regierung waren von großer Bedeutung für die republikanische
Opposition gegen das Bad-Apple-Narrativ (8.3.1). Militärberichte und Zeitungsartikel gaben
darüberhinaus Auskunft über die Migration von Verhörtechniken von Guantanamo nach Abu
Ghraib – und das, obwohl die irakischen Gefangenen fast ausnahmslos unter dem Schutz der
Genfer Konventionen standen. Dies wurde von vielen Konservativen wie McCain als ein
Scheitern des Versuchs von Seiten der Regierung, klare Richtlinien für die Behandlung von
Gefangenen durchzusetzen, und damit als Indikator ihrer Führungsschwäche interpretiert.
Hier stellte nicht mehr die liberale Vorstellung von sozialen Kräften und situativer Dynamik
die Verbindung zwischen der obersten Führungsebene und den Soldaten von Abu Ghraib her,
sondern der von der Regierung selbst verantwortete Mangel an klaren und eindeutigen
Regeln, an denen sich die Soldaten hätten orientieren können. Erst mit dieser Deutung stand
den Konservativen ein Rahmen zur Verfügung, der das Bad-Apple-Narrativ in Frage stellte
und es erlaubte, die Bush-Regierung für Abu Ghraib in Verantwortung zu nehmen. Bevor dies
geschah (10.1.3) war man sich einig, dass dem Mangel an Klarheit schnellstens Abhilfe
geschaffen werden müsse. Der Senator John McCain und andere führende Republikaner
begannen, gemeinsam mit der demokratischen Opposition für ein Gesetz zu kämpfen, das ein
Mindestmaß an Rechten für Häftlinge in amerikanischer Gefangenschaft, in Guantanamo Bay
und anderswo, sicherstellen sollte.
645
Weitaus wichtiger war allerdings die Tatsache, dass die Bilder von Abu Ghraib dem abstrakten diskursiven
Begriff der „Folter“ eine erschütternde Konkretheit und eine erschreckende Emotionalität verliehen, zu der
noch die symbolische „Verschmutzung“ durch Sexualisierung und Christomimesis trat (7.5.3). Im Zuge des
Skandals wurde das „saubere“ Bild der Folter, wie es sich zum Beispiel in Dershowitzs Plädoyer für eine
Legalisierung der Folter findet (2002), durch die Assoziation mit den abstoßenden Fotos und abscheulichen
Taten symbolisch verunreinigt. Obwohl die Vorfälle in Abu Ghraib niemals – zumindest nicht offiziell – den
Tatbestand der Folter erfüllten, wurden beide Begriffe im Diskurs und im sozialen Imaginären miteinander
verknüpft. (vgl.10.4)
521
9. 2. Ein neuer politischer Konsens – Das McCain-Amendment
This is not about terrorists. This is about who we are.
John McCain, Senator von Arizona und späterer
Präsidentschaftskandidat der Republikaner646
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass sich erst mit der Wiederwahl von Bush die politische
Situation in einer Weise wandelte, die es der „Grand Old Party“ ermöglichte, Abu Ghraib und
verwandte Themen ohne die unmittelbare politische Gefährdung der eigenen Partei
anzugehen. Ein Blick auf die Parallelen zum Watergate-Skandal verstärkt allerdings den
Eindruck, dass es sich hierbei um einen typischen Skandalverlauf handelt, da die politische
Polarisierung
während
eines
demokratischen
Wahlkampfes
die
parteiübergreifende
Konsensbildung ungemein erschwert. So hatte der entscheidende politische Impuls für eine
parteiübergreifende Initiative gegen die Bush-Regierung aus der republikanischen Partei
selbst zu kommen. Und in der Tat, drei republikanische Senatoren begannen bald nach der
Wiederwahl von Präsident Bush öffentlich und politisch gegen die Inhaftierungs- und
Verhörpolitik der Regierung vorzugehen:
The three Republicans are John McCain of Arizona, Lindsey Graham of South Carolina and John W.
Warner of Virginia, the committee chairman. They have complained that the Pentagon has failed to hold
senior officials and military officers responsible for the abuses that took place at the Abu Ghraib prison
outside of Baghdad, and at other detention centers in Cuba, Iraq and Afghanistan.647
Schon in der unmittelbaren Auseinandersetzung um die Abu-Ghraib-Missbrauchsfälle waren
McCain, Graham und Warner als scharfe Kritiker der Bush-Administration aufgefallen. Auch
in der Anhörung von Gonzales traten sie als innerparteiliche Kritiker in Erscheinung,
insbesondere Lindsey Graham.648 Mit diesem Triumvirat begann eine Geschichte der
Rebellion und des heldenhaften Einsatzes, die John McCain womöglich die republikanische
Kandidatur im Präsidentschaftswahlkampf 2008 bescherte.
9.2.1. Das McCain-Amendment als Schicksalsfrage amerikanischer Identität
Die drei republikanischen Senatoren John McCain, Lindsey Graham und John Warner
versuchten zwar nicht, den Fall Abu Ghraib noch einmal aufzurollen, aber sie setzten sich für
einen Gesetzeszusatz ein, der später nach der Gallionsfigur der innerparteilichen Rebellion
646
Zitiert nach „Voice of experience“, USA Today, 5. August 2005.
647
„Cheney Working to Block Legislation on Detainees“, The New York Times, 24 Juli 2005.
648
„Interview With Linda Chavez and Bob Edgar“, The Big Story with John Gibson (17:12), Fox News
Network, 6. Januar 2005.
522
benannt wurde. Das McCain-Amendment verbot jegliche Form von „cruel, inhuman or
degrading treatment or punishment of detainees in American custody“. Dies sollte vor allem
dazu dienen, Vorfällen wie jenen in Abu Ghraib künftig vorzubeugen und das Verhör von
Gefangenen im exterritorialen Guantanamo Bay einem humanitären Mindeststandard zu
unterwerfen. Auch die Gefangenen in den geheimen Foltergefängnissen der CIA sollten durch
das Amendment geschützt werden, wobei sich McCain die Option offenhielt, grundsätzlich
gegen die Auslagerung von Folter („outsourcing“) vorzugehen. Das Weiße Haus versuchte,
die Abweichler wieder auf Regierungslinie zu bringen, und drohte, das Amendment notfalls
mit einem Veto des Präsidenten zu blockieren. Interessanterweise veränderte die Beteiligung
von Republikanern den Rahmen der Debatte völlig. Was den Demokraten als politisch
motivierter Winkelzug hätte angekreidet werden können, betraf auf einmal die geteilten Werte
der Vereinigten Staaten. Deswegen gab es auch eine starke zivilgesellschaftliche
Unterstützung für McCains Vorhaben, dem nur die hehrsten Absichten unterstellt wurden.
Auch die USA Today verteidigte den republikanischen Vorstoß mit größtmöglicher Emphase:
McCain’s legislation would provide clear standards for the treatment of detainees and prisoners,
something that’s been sorely lacking. In a recent exchange about his amendments, McCain answered a
senator who questioned whether terrorists should be treated as POWs. Replied McCain: This is not about
terrorists. This is about who we are.649
Ähnlich wie bei der Debatte um Abu Ghraib wurde das McCain-Amendment zur einer
Schicksalsfrage der amerikanischen Identität stilisiert. So ging es nicht um Fragen der
technischen Machbarkeit oder etwaiger Sicherheitsrisiken der Neuregelung, sondern um einen
Bereich des „Heiligen“ im Zentrum der Gesellschaft, für den eine obligatorische Geltung in
Anspruch genommen wurde. Im Gegensatz zum Abu-Ghraib-Skandal, bei dem die Frage der
Identität aufgrund des Bad-Apple-Narrativs mit der Ausgrenzung von Sündenböcken
beantwortet werden konnte, wurden hier rechtliche Regeln der Behandlung von Gefangenen
erlassen, die auf kollektive Legitimation zielten und einen Gesinnungswandel signalisierten.
Mehr noch als die Aberrationen von Abu Ghraib konnte die überparteiliche Erneuerung des
Regelwerkes zur Behandlung von Gefangenen als nationale Frage gerahmt werden, die das
kollektive Selbstbild und die geteilten Werte der Amerikaner betraf. Das McCain-Amendment
wurde aber auch in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Schande von Abu Ghraib
gesehen und als eine Gelegenheit der symbolischen Wiedergutmachung und endgültigen
Bewältigung des Skandals wahrgenommen.
Natürlich waren auch die politischen Interessen der Beteiligten für den innerparteilichen
649
„Voice of experience“, USA Today, 5. August 2005.
523
Aufstand entscheidend, insbesondere die Absicht von McCain, sich für die kommenden
Präsidentschaftswahlen in eine gute Startposition zu bringen. John McCain hatte sich bereits
im Jahr 2000 für die amerikanischen Präsidentschaftswahlen beworben, unterlag dann aber in
den parteiinternen Vorwahlen George W. Bush und dessen Schmutzkampagne. Mit einiger
Plausibilität könnte man ihm noch ein weiteres Motiv für seinen Vorstoß unterstellen, nämlich
die Rache an dem ehemaligen Konkurrenten Bush, der ihm damals übel mitspielte. Es wäre
eine unzulässige Verkürzung, wollte man McCains politischen Feldzug nur auf seine
politischen Interessen oder persönlichen Rachegefühle zurückführen. Nicht nur Nutzenkalküle
und strategische Erwägungen strukturieren und motivieren das menschliche Handeln, sondern
auch in hohem Maße Wertungen und kulturelle Muster. Dass es McCain als Außenseiter
überhaupt geschafft hat, für Bush, den damaligen Favoriten des Parteiestablishments, zu einer
ernsthaften Bedrohung zu werden, verdankte sich in erster Linie seinem Image als
prinzipiengeleitetem Politiker, das er performativ umzusetzen verstand. Eine wertrationale
Handlungsmotivation im Sinne Webers sollte hier also nicht von vorherein ausgeschlossen
werden, da sie gerade bei McCain einige Plausibilität für sich in Anspruch nehmen kann.650
Diese Plausibilität beruht – wie auch die ikonische Evidenz des Fotografischen – auf
kultureller Vermittlung. Sie wird in den Wissenschaften vom Menschen wie auch im
öffentlichen Diskurs in erster Linie durch Narrative generiert. Im öffentlichen Diskurs zu
McCain taucht immer wieder ein Heldennarrativ auf, das auf seine Beteiligung am
Vietnamkrieg zurückgeht. Der Soldat McCain wurde 1967 in einem Kampfflugzeug über
Vietnam abgeschossen. Da sein Vater zu dieser Zeit Oberbefehlshaber der amerikanischen
Truppen in Vietnam war, boten ihm die Vietcong aus propagandistischen Gründen seine
Freilassung an, die er jedoch aus Solidarität zu seinen gefangenen Kameraden ablehnte. Die
nächsten fünfeinhalb Jahre verbrachte McCain in Kriegsgefangenschaft und wurde während
dieser Zeit selbst Opfer von Folter. Aufgrund seiner Verletzungen aus dieser Zeit ist es
McCain bis heute nicht möglich, seine Hände über den Kopf zu heben.
Diese Erzählung von Heldentum, Demut und Aufopferung zeichnet nicht nur ein starkes
Bild seiner Persönlichkeit, sondern unterstreicht auch die Authentizität seiner Revolte aus
hehren Motive. Seine Intervention wurde im zivilgesellschaftlichen Diskurs weder als
strategisches Handlung noch als Racheakt aufgefasst, sondern als eine Artikulation der
universellen Werte, für die Amerika als Nation steht. Die Tatsache, dass McCain nicht der
650
Eine beeindruckende Schilderung der Persönlichkeit McCains als einem „Antikandidaten“ während seines
Vorwahlkampfes 2000 gegen Bush findet sich in einem Essay des Schriftstellers David Foster Wallace
(2006/2000), der ihn für das Magazin Rolling Stone eine Woche lang begleitete.
524
einzige rebellierende Republikaner war, half dabei, die Universalität und Kollektivität seiner
Bestrebungen zu unterstreichen. Allerdings avancierte er bald zur Gallionsfigur der Revolte
und zum Namensgeber des Amendments, was nicht alleine seinen politischen Ambitionen,
sondern vor allem auch seiner persönlichen Leidensgeschichte geschuldet war, die ihn für
diese Rolle prädestinierte: “If Bush administration officials want to get past the prisonerabuse scandals, they should listen to someone who learned those lessons the hard way at the
Hanoi Hilton“,651 hieß es in der USA Today. Im Gegensatz zu McCain, der über das politische
Spektrum hinweg als Volksheld und kollektiver Repräsentant anerkannt wurde, wurden Bush
und Cheney, die gegen das Vorhaben sturmliefen, als dickköpfige und machtbesessene
Antagonisten dargestellt – unfähig, dem nachzugeben, was in zivilgesellschaftlicher
Perspektive als klare Sache und moralisches Gebot erschien.
9.2.2. Die Verabschiedung des McCain-Amendments
Der Senat verabschiedete das Amendment im Anhang eines Haushaltsbeschlusses, der dem
amerikanischen Militär weitere 445 Milliarden Dollar zur Verfügung stellte, mit 90 zu 9
Stimmen.652 Einer der neun Republikaner, die gegen das Amendment gestimmt hatten,
begründete seine Ablehnung damit, dass das neue Gesetz dem Image der Vereinigten Staaten
mehr schade als nütze:
Supporters claim that this amendment was necessary to send a message that the abuse at Abu Ghraib is
inconsistent with our laws and values. But those guilty of abuses already knew their conduct violated our
laws and our values. [...] As such, they would not have been deterred even if this amendment were in
effect at the time. Finally, the amendment gives the false impression that torture and abuse of detainees
was the official policy of the United States government.653
Vor dem Hintergrund des Abu-Ghraib-Skandals und dem lange Zeit vorherrschenden BadApple-Narrativ ist diese Kritik am „impression management“ (Goffman 2005) der Senatoren
durchaus verständlich. Allerdings hatte sich schon im Zuge der Gonzales-Anhörung und in
der Debatte um das Amendment ein grundlegender Wechsel in der Rahmung der Abu-GhraibMissbrauchsfälle angebahnt. Der Kongress folgte der Entscheidung nur wenig später mit 308
zu 122 Stimmen, wodurch das Gesetzesvorhaben mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet
wurde, was sie gegen das drohende Veto des Präsidenten immunisierte.654
In den frühen Tagen des Skandals sahen die Abgeordneten in Kongress und Senat mehrere
651
„Voice of experience“, USA Today,5. August 2005.
652
„Binding the Hands of Torturers“, The New York Times, 8. Oktober 2005.
653
„Nine Explain Interrogation Votes“, The Washington Post, 7. Oktober 2005.
654
„President Back McCain On Abuse“, The New York Times,16. Dezember 2005.
525
hundert Fotografien aus Abu Ghraib, von denen ein großer Teil nie der breiten Öffentlichkeit
zugänglich gemacht wurde. Es gab auch zahlreiche Republikaner, die nach dieser Vorführung
die Behauptung der Armee und der Regierung, dass die Missbrauchsfälle keinen
systematischen Charakter hätten, in Frage stellten.655 Damals war Zurückhaltung das Gebot
der Stunde, da es angesichts der anstehenden Präsidentschaftswahl galt, drohenden politischen
Schaden von der Partei abzuwenden. Mit der Wiederwahl änderte sich dies jedoch
grundlegend. Nun war es an der Zeit, zurückzuschlagen. Nach dem überraschenden und
überwältigenden Erfolg der Gesetzesinitiative, der die im Vorfeld ausgesprochene
Vetodrohung des Präsidenten zunichtemachte, blieb der Bush-Administration nichts anderes
übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Die Vetodrohungen waren vergessen, das
Amendment wurde aus Regierungskreisen plötzlich gutgeheißen und zu guter Letzt traten
Bush und McCain sogar gemeinsam auf, um republikanische Geschlossenheit zu
demonstrieren. In der Öffentlichkeit zog Bush allerdings Kritik auf sich, da er die
Gesetzesvorlage nur unter dem Vorbehalt unterzeichnete, dass das Amendment nur in
Übereinstimmung mit der verfassungsmäßigen Autorität des Präsidenten anzuwenden sei (“in
a manner consistent with the constitutional authority of the president”). Mit dem Verweis auf
die „constitutional authority of the president“, die auch in den Memoranda nach dem 11.
September 2001 eine unrühmliche Rolle gespielt hatten, wurde zum einen auf den
Ausnahmezustandes im Krieg gegen den Terror verwiesen, zum anderen aber auf die
Interpretationsbedürftigkeit der Anwendung des Gesetzes – was zumindest in der liberalen
Öffentlichkeit schlimmste Befürchtungen weckte.656
9.2.3. Das McCain-Amendment und das amerikanische Militär
Das amerikanische Militär begrüßte die Gesetzesänderung ohne jeden Vorbehalt und
argumentierte – abweichend von der offiziellen Regierungslinie –, dass die strikte
Anwendung des McCain-Amendments zu keinem Konflikt zwischen ziviler Moral und
militärischer Notwendigkeit führen würde. Im öffentlichen Diskurs versuchten Vertreter der
Armee, aber auch Journalisten, die Memoranda als Indizien für eine unqualifizierte
Übernahme des Militärs durch Zivilisten darzustellen – und damit als ein Missbrauch von
Amt und Macht:
When the Bush administration rewrote the rules for dealing with prisoners after 9/11, needlessly
scrapping the Geneva Conventions and American law, it ignored the objections of lawyers for the armed
655
„Lawmakers view images from Iraq“, New York Times,13. Mai 2004.
656
“Tortured Logic”, The New York Times, 28. Februar 2006.
526
services. Now, heedless of the lessons of Abu Ghraib, the civilians are once again running over the people
in uniform. Tim Golden and Eric Schmitt reported yesterday in The Times that the administration is
blocking the Pentagon from adopting the language of the Geneva Conventions to set rules for handling
prisoners in the so-called war on terror.657
Im Rückblick entsteht der Eindruck, dass das Militär in diesen Fragen schon immer auf der
Seite von Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen gewesen sei. So hieß es denn auch aus
militärischen Kreisen, dass es für die Missachtung der Genfer Kriegskonventionen niemals
eine militärische Notwendigkeit gegeben habe, sondern diese alleine von der Bush-Regierung
forciert worden sei. Im scharfen Gegensatz zur Position der Memoranda wird in diesen
Stellungnahmen kein Konflikt mehr zwischen den Gefangenenrechten und der militärischen
wie auch zivilen Sicherheit gesehen. In diesem Zusammenhang wurde auch die
Anwendbarkeit des Ticking-Bomb-Szenarios angezweifelt, das die Hauptlast der Begründung
von eingeschränkten Gefangenenrechten und verschärfter Verhörtechniken trug: „[O]f the
more than 100 prisoners sent by the C.I.A. to its ‘black site’ camps, only 30 are considered
major terrorism suspects, and some have presumably been kept so long that their information
is out of date”.658 Die Anwendung des Ticking-Bomb-Szenarios wurde also nicht
grundsätzlich in Frage gestellt und eine außerordentliche Rechtfertigung von Folter durch das
Szenario blieb also prinzipiell möglich; als fiktive Grundlage für allgemeine Regeln der
Handhabung von Gefangenen wurde es jedoch vehement zurückgewiesen. So sei es denkbar
ungeeignet, zur Begründung von “general policies that allow foot soldiers and even innocent
bystanders to be swept up in messy, uncontrolled and probably fruitless detentions“.659 Die
New York Times interviewte einen Verhörspezialisten des Militärs, der selber Hunde zur
Einschüchterung von Gefangenen verwendet hatte und diese Sichtweise bestätigte:
The McCain amendment, prohibiting “cruel, inhuman, or degrading” treatment in all instances, is an
accurate reflection of the true values of the military and American society. We should adhere to it strictly
and in all cases. I know, from personal experience, that any leeway given will be used to maximum effect
against detainees. No slope is more slippery, I learned in Iraq, than the one that leads to torture.660
Auch der Verhörspezialist spricht sich hier gegen die erniedrigende und grausame
Behandlung von Gefangenen aus, wobei er die Metapher der „slippery slope“, des rutschigen
Abhangs, verwendet, die im Folterdiskurs nach Abu Ghraib eine bedeutende Rolle spielte
(10.4.1). Der Militärangehörige sieht in dem McCain-Amendment einen Ausdruck und eine
657
„The Prison Puzzle“, The New York Times, 3. November 2005.
658
„The Prison Puzzle“
659
„The Prison Puzzle“
660
„Tortured Logic“, The New York Times, 28. Februar 2006.
527
Bestätigung zentraler amerikanischer Werte. Sein Urteil über das McCain-Amendment und
seine Ablehnung von Folter rechtfertigt er darüberhinaus mit seiner persönlichen Erfahrung
im Irak. In analoger Weise wurde das McCain-Amendment im amerikanischen Diskurs als
eine kollektive Lehre aus dem Abu-Ghraib-Skandal gerahmt. Gegen die performative
Authentizität, wie sie das amerikanische Folteropfer John McCain und der von der Times
interviewte Verhörspezialist aufweisen, ist im öffentlichen Diskurs schwer anzukommen.
Auch die USA Today unterstützte das Amendment, das sie als eine logische Konsequenz des
Abu-Ghraib-Skandals und der durchgesickerten Memoranda darstellte:
The April 2004 revelations of abuse of detainees at Abu Ghraib prison outside Baghdad touched off an
uproar. The U.S. government said the abusive treatment stemmed from criminal behavior by the guards,
not official policy. Subsequent investigations uncovered internal Bush administration documents that
appeared to claim a legal justification for severe treatment of captives and some guidelines that approved
harsh interrogation methods.661
John Yoo, ein ehemaliger Regierungsanwalt und Mitverfasser mehrerer der umstrittenen
Memoranda, intervenierte angesichts dieses diskursiven Gegenwindes in der USA Today zu
Gunsten der Regierung.662 Er wiederholte jenes bekannte Argument aus den einschlägigen
Memoranda, nämlich dass Terroristen keinen Anspruch auf den Schutz von Kriegsgefangenen
hätten, da sie keine Kombattanten im regulären Sinne seien. Darüberhinaus behauptete er,
dass das McCain-Amendment die geheimdienstliche Arbeit behindere, die nötig sei, um
weitere Terrorangriffe zu verhindern. Zu guter Letzt heißt es bei ihm, dass das McCainAmendment nichts dazu beigetragen hätte, die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib zu
verhindern. Bei diesen habe es sich um ein “sadistic behavior on a ‘night shift’” gehandelt,
das schon unter den damals geltenden Regeln unzulässig gewesen sei. McCain und andere
Konservative, die in diesem Amendment einen Schritt zur Begrenzung weiterer
Missbrauchsfälle sahen, argumentierten allerdings nicht, dass Abu Ghraib die Folge fehlender
Regeln gewesen sei, sondern vielmehr, dass eine Verwirrung unterschiedlicher Regeln in Abu
Ghraib zu anomischen Zuständen geführt habe. Schuld an Abu Ghraib sei eine „weak
leadership“ gewesen – ein Argument, das auch in konservativen Kreisen, in denen
bekanntermaßen auf moralische Autonomie und klare Autorität gesetzt wird (vgl. 4.3.5),
Anklang fand. Diese Behauptung wurde noch durch Berichte untermauert, die einen Transfer
von Techniken aus Guantanamo Bay, wo die Genfer Konventionen nicht galten, nach Abu
Ghraib beobachteten, wo die Genfer Konventionen hätten Anwendung finden sollen
661
„Abu Ghraib inflamed the debate over abuse“, USA Today, 10. November 2005.
662
„Terrorists are not POWs“, USA Today, 2. November 2005.
528
(Schlesinger 2005/2004: 923-926). Das McCain-Amendment sollte im Anschluss daran einen
einheitlichen Standard zur Behandlung von Gefangenen sichern, der im Gegensatz zu den
bisherigen Regelungen überall dort galt, wo Amerikaner die faktische Kontrolle über
Gefangene besaßen – also auch in den Geheimgefängnissen in Übersee. Yoos Artikel schließt
mit einer interessanten Bemerkung des Herausgebers: So sei die Regierung von der Redaktion
gefragt worden, ob sie eine widerstreitende Meinung zur Position von Yoo abgeben wolle,
was
diese
jedoch
abgelehnt
habe.
Diese
unauffällige
Bemerkung
gibt
dem
zivilgesellschaftlichen Misstrauen gegenüber der Bush-Regierung bezüglich der Dursetzung
des Amendments nach dessen ursprünglicher Ablehnung und reservierten Bestätigung einen
prägnanten Ausdruck. Zugleich kommt in der Weigerung, sich von Yoos Artikel zu
distanzieren, die Stellung der Regierung zu dieser Frage zum Ausdruck. Allerdings scheut sie
die Konfrontation mit der öffentlichen Macht der Moral des zivilgesellschaftlichen Diskurses.
9.3. Abu Ghraib, Guantanamo und die Urteile des Supreme Court
Judges are like the rest of us.
Robert M. Cover,
Nomos and Narrative (1983: 67)
Bevor wir zu der Analyse des Diskurses über die Urteile des Supreme Courts übergehen, ist
es zunächst einmal angebracht, kurz auf das Verhältnis von Recht, ziviler Sphäre und Gewalt
einzugehen. Das Recht ist – wie die öffentliche Moral – eine symbolische, genauer: eine
normative Ordnung, die sich an einem binären Code und an Programmen orientiert, welche
die Zuweisung von Codewerten regeln (vgl. 1.3.2 und 4.3.2). In der Ausgestaltung der
Programmebene lassen sich unterschiedliche Rechtskulturen unterscheiden. So zeichnet sich
das anglo-amerikanische Fallrecht dadurch aus, dass früheren Entscheidungen ein großes
Gewicht bei der aktuellen Rechtsprechung zukommt, während im europäisch-kontinentalen
Recht den Richtern ein freier Umgang mit dem Rechtstext zugestanden wird, auch wenn sie
dazu angehalten werden, rechtliche Kontinuität zu bewahren. Abweichungen von
vorangegangenen Entscheidungen sind hingegen im Fallrecht in besonderer Weise
begründungspflichtig, da die Richter dazu verpflichtet sind, ihre Urteile im Einklang mit der
bisherigen Rechtssprechung zu fällen („stare decisis”). Da jede symbolische Ordnung
529
unterbestimmt ist, ist auch das Recht auf ein soziales Imaginäres, auf Narrative und Bilder
angewiesen (Cover 1983; Joly et al. 2007). Erst der kulturelle Hintergrund des Rechts stellt
vorintentionale Entscheidungsprämissen bereit, aufgrund derer Rechtsprechung möglich wird.
Hier berührt sich das staatliche Recht mit der öffentlichen Moral, da beide in weiten Teilen in
ihrer Bewertung von Handlungen übereinstimmen. Ein wesentlicher Aspekt unterscheidet das
Recht allerdings von der öffentlichen Moral: Das Recht als eine staatliche Institution kann das
staatliche Gewaltmonopol legitim nutzen, um Sanktionen zu erzwingen. Der öffentlichen
Moral ist der legitime Gebrauch von Gewalt untersagt. Sie muss auf die grundlegenden
Mechanismen der Achtung und Missachtung zurückgreifen. Trotzdem übt der öffentliche
Diskurs einen entscheiden Einfluss auf die Rechtsprechung aus, wie im Folgenden an den
rechtlichen Nachwirkungen des Abu-Ghraib-Skandals deutlich werden wird.
Am 28. April 2004, wenige Stunden bevor die Abu-Ghraib-Bilder das erste mal öffentlich
gezeigt wurden, schloss die Anhörung des Supreme Courts im Fall Hamdi v. Rumsfeld und
Padilla v. Rumsfeld. Yasir Hamdi ist ein amerikanischer Bürger, der im Jahr 2001 von
amerikanischen Streitkräften in Afghanistan gefangen genommen wurde. Ihm wurde zur Last
gelegt, für die Taliban gekämpft zu haben. Zunächst war er Insasse des exterritorialen
Gefangenenlagers in Guantanamo Bay, später wurde er in ein Gefängnis auf dem Territorium
der Vereinigten Staaten verlegt. Hamdi wurde als feindlicher Kombattant eingestuft, was ihn
seines konstitutionelles Rechts, die Inhaftierung anzufechten (habeas corpus), beraubte. Ein
Amtsgericht urteilte, dass Hamdi aufgrund des fünften Amendments der amerikanischen
Verfassung freigelassen werden müsse. Diese Entscheidung wurde jedoch vom nächsthöheren
Gericht wieder zurückgenommen, weswegen der Fall schließlich vor das amerikanische
Verfassungsgericht gelangte.663 Einige Tage vor diesen Verfahren, am 20. April 2004, hatte
die Verhandlung des Falles Rasul v. Bush stattgefunden, in welcher das Recht auf habeas
corpus für Internierte ausländischer Nationalität eingefordert wurde. Am 21. April 2004
berichtet der Sender CNN über diese Fälle und befragte hierzu Experten.664 Einer von ihnen,
Kendall Coffey, sagte eine „split decision” voraus:
I think they’re going to rule for the administration with respect to foreign nationals being detained on
foreign soil. But coming up next week, something much closer call, much more challenging to many, and
that is the administration’s decision to declare a U.S. citizen an enemy combatant, hold them on U.S.
663
Der Fall von José Padilla, ebenfalls ein amerikanischer Staatsbürger, der aus ähnlichen Gründen in einem
Militärgefängnis in North Carolina untergebracht wurde, war ähnlich gelagert, jedoch richtete sich die
Beschwerde an den falschen Gerichtshof.
664
„Jail Attack in Iraq Killed More Than 21 Detainees; Lawmakers Look For Answers in Iraq Hearing;
Guantanamo Prisoners“, CNN Live Today (10:00), 20. April 2004.
530
territory, without any of the rights that are in the Bill of Right. No right to a lawyer, no Miranda rights,
none of the basic constitutional guarantees. That is a very, very different proposition. And to some extent,
I think what you may see is a balance outcome for the Supreme Court, saying we’re going to protect the
administration’s right to deal with foreign nationals overseas. But when it comes to our own country, our
own citizens, the United States Constitution is alive and well.
Coffey äußerte die Erwartung, dass Rasul v. Bush für die Regierung entschieden werden
würde, während in den anderen beiden Fällen, bei denen es sich um Amerikaner handelte, die
Entscheidung zu Gunsten der Inhaftierten ausfallen werden würde. Zu diesem Zeitpunkt, eine
Woche vor der Veröffentlichung der Abu-Ghraib-Bilder, herrschte noch ein allgemeiner
Konsens darüber, dass der Supreme Court, wenn es um die Rechte ausländischer Gefangener
gehe, die Regierung mit ihrer bisherigen Praxis gewähren lassen würde. Nach Ausbruch des
Abu-Ghraib-Skandals, aber noch vor den oben genannten Gerichtsurteilen, bekannte sich
Alan Dershowitz, ein liberaler Befürworter der Folter (6.4.3), als Gast in der Show des
konservativen Showmaster Joe Scarborough zu seinem Verständnis der Verfassung als einem
lebendigen, sich wandelnden und anpassungsfähigen Gebilde:
I have always thought of the Constitution as a live document that changes. But it changes both ways. It
changes sometimes by expanding rights. Sometimes it changes by contracting or reconsidering rights.
Any live document has to respond to the experiences of the time and the realities. The Constitution, I
believe, is a living document. So, as a liberal, I believe the Constitution has to adapt to changing reality.
And, of course, my views changed after September 11. You have to be somebody who is blind, deaf and
dumb not to be influenced by the real world that’s out there, just like the Supreme Court is going to be
influenced by the pictures at Abu Ghraib. If I had to write a new book about “America on Trial” five
years from now, the trial of the soldiers at Abu Ghraib and the cases which are in my book with the
detainees clearly will be influences by the photographs, more than by the argument, more than by the
briefs. The photographs will impact the Supreme Court’s decision because justice is a function of real
experience.665
Dershowitz illustriert dieses Verfassungsverständnis am Beispiel des 11. Septembers 2001,
das unter anderem ihn selbst dazu brachte, öffentlich für den Einsatz und die Legalisierung
von Folter im Kampf gegen den Terror einzutreten (2002: 131-163), sowie am Beispiel von
Abu Ghraib, dem er – hier durchaus hellsichtig – einen Einfluss auf die künftigen
Entscheidungen des Supreme Courts zuspricht; genauer: den Skandalfotografien, weniger den
Missbrauchsfällen selbst. Aus einer kultursoziologischen Perspektive greift der von ihm
beschriebene Mechanismus, welcher die richterliche Entscheidung als „Funktion der realen
Erfahrung“ des Richters auffasst, zu kurz.666 Erfahrungen, so die hier vertretene These, finden
665
Scarborough Country (22:00), MSNBC, 20. Mai, 2004.
666
Ein kulturwissenschaftlich informierter Zugang zum Recht, der das Problem der Konstitution rechtlicher
Bedeutungen in den Vordergrund stellt, findet sich in Robert Covers Artikel „Nomos and Narrative“ in der
Harvard Law Review (1983). Cover verwendet den Begriff des „Nomos“ im Sinne eines welterschließenden
Horizonts, der auf vorintentionalen „interpretative commitments“ und „narratives“ beruht (4.3.3).
531
immer schon vor einem spezifischen kulturellen Hintergrund statt und wirken auf diesen
zurück – insbesondere dann, wenn sie von schockierender oder gar traumatischer Natur sind.
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der Einfluss von Abu Ghraib auf die Entscheidungen
des obersten amerikanischen Gerichts sich keineswegs in der rationalen Anwendung
realistischer Einsichten erschöpft, sondern über Mechanismen der kulturellen Resonanz
verstanden werden muss.
9.3.1. Rasul v. Bush – Die rechtliche Einhegung von Guantanamo
Am 28. Juni, genau zwei Monate nach Ausbruch des Abu Ghraib Skandals, entschied der
Supreme Court über diese drei Fälle.667 Die Beschwerde von Padilla musste zwar aufgrund
von formalen Fehlern abgewiesen werden; im Fall Hamdi aber entschied der Oberste
Gerichtshof mit sechs zu drei Stimmen, dass dieser das Recht besäße, seine Inhaftierung vor
einer neutralen Instanz anzufechten. Der Gerichtshof argumentierte, dass die hierfür
vorgesehenen militärischen Verfahren den erforderlichen (zivilen) Standards nicht genügten.
Am 9. Oktober 2004 wurde Hamdi, nachdem er sich – angeblich aus freien Stücken – dazu
bereit erklärt hatte, seine amerikanische Staatbürgerschaft abzulegen, nach Saudi-Arabien
entlassen.
Im Fall von Rasul urteilte der Supreme Court ebenfalls mit sechs zu drei Stimmen, dass
Rasul und andere sich in Guantanamo befindliche Gefangene aus dem nichtfeindlichen
Ausland das Recht hätten, ihre Klassifikation als „feindliche Kombattanten“ anzuzweifeln.
Dadurch wurde ihnen ein – wenn auch eingeschränktes – habeas corpus eingeräumt. Im
Unterschied zu den beiden anderen Fällen (Hamdi und Padilla), wurde Rasul v. Bush zu
einem bedeutenden Präzedenzfall, weil die Entscheidung des höchsten Gerichts implizierte,
dass auch das exterritoriale Gefangenenlanger Guantanamo in den Bereich der
Rechtsprechung von Bundesgerichten fiel. Die Entscheidung selbst war in rechtlicher
Hinsicht äußerst kontrovers, und das Urteil des Gerichts kam, nachdem alle niederen
Instanzen das Ansinnen der Kläger abschlägig beurteilten, eher unerwartet. Diese
Gerichtsurteile beriefen sich auf den Fall Johnson v. Eisentrager, bei dem deutschen
Kriegsverbrechern in amerikanischen Gefängnissen in Deutschland im Jahr 1970 das Recht
des habeas corpus verweigert worden war. Am 28. Juni entschied das höchste Gericht der
Vereinigten Staaten, dass dieses Urteil in wesentlichen Teilen überholt sei. Dabei berief sich
667
Mehr Informationen zu den einzelnen Fällen finden sich in dem Artikel von Christiane Wilke (2005) sowie in
den zahlreichen anderen Artikeln und Büchern (Roosevelt III 2005; Thai 2006; Mahler 2008).
532
das Gericht auf eine obskure abweichende Meinung in einem früheren Fall, die bis dato
weitestgehend ignoriert wurde (vgl. Thai 2006). In Anbetracht dieses überraschenden und
nicht unumstrittenen Urteils war der Einfluss des Abu-Ghraib-Skandals auf das Urteil eine
heiß debattierte Frage:
While the Supreme Court cases all involved detentions resulting from the war against the Taliban in
Afghanistan and had no connection to Iraq, there was much speculation in the intervening weeks about
what impact the revelations from Abu Ghraib might have on the court. Not surprisingly, no justice made a
direct reference to those events. But it was difficult to read some of the passages in a vacuum.668
Einer der Richter, O’Connor, schrieb in seiner Urteilsbegründung: „History and common
sense teach us that an unchecked system of detention carries the potential to become a means
for oppression and abuse of others“. Steven Shapiro, nationaler Rechtsexperte der American
Civil Liberties Union (kurz: ACLU), erzählte der USA Today, dass – obwohl das Gericht Abu
Ghraib mit keinem Wort erwähnt hatte – es schwer vorstellbar sei, dass der Skandal das
Gericht nicht in seinem Urteil und seiner Begründung, dass unkontrollierte Macht möglichem
Missbrauch Tor und Tür öffne („that unchecked power invites abuse“), beeinflusst hätte.669 In
seiner Urteilsbegründung zum Fall Padilla argumentierte der oberste Richter Stevens:
Whether the information so procured is more or less reliable than that acquired by more extreme forms of
torture is of no consequence. For if this nation is to remain true to the ideals symbolized by its flag, it
must not wield the tools of tyrants even to resist an assault by the forces of tyranny.670
Stevens Urteilsbegründung reichte weit über den Fall hinaus und setzte sich insbesondere mit
der Legitimität von Folter im Krieg gegen den Terror auseinander. Die Washington Post sah
darin eine Reaktion auf die Vorfälle von Abu Ghraib und die in ihrem Zusammenhang
veröffentlichten Memoranda.671 Am amerikanischen Unabhängigkeitstag 2004 veröffentlichte
die New York Times einen Artikel, in dem sich mehrere Rechtsexperten zum Einfluss des
Abu-Ghraib-Skandals auf die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes äußerten.672 Ein
Rechtsprofessor
bezeichnete
die
Urteile
als
durch
Abu
Ghraib
vorherbestimmt
(„foreordained“), während ein anderer argumentierte, dass das höchste Gericht auf die
Veröffentlichung der Memos reagiert habe. Professor Geoffrey R. Stone folgerte allgemein:
„The court had to be affected by the realization that these decisions would be acceptable in
668
„Access to Courts“, New York Times, 29. Juni 2004.
669
„High Court protected liberties by limiting presidential power“, USA Today, 2. Juli 2004.
670
„Access to Courts“, New York Times, 29. Juni 2004.
671
„Justices Back Detainee Access to U.S. Courts; President’s Powers Are Limited“, The Washington Post, 29.
Juni 2004.
672
„One eye on the principle, another on the people’s will“, New York Times, 4. Juli 2004.
533
the current political climate”. Dies bestätigt unsere theoretische Annahme (4.3.3), dass
rechtliche Urteile niemals vollständig durch geltendes Recht determiniert werden, sondern
auch dem Einfluss eines diffusen Hintergrundverständnisses – in diesem Fall: dem Einfluss
des politischen Klimas – unterliegen. Die Urteile des obersten amerikanischen Gerichtes sind
–und dies lässt sich am Fall Rasul v. Bush plausibilisieren – zu einem gewissen Teil der
öffentlichen Meinung verpflichtet und auch vorintentionalen Einflüssen aus der zivilen
Sphäre ausgesetzt. Wir können die bisherigen Befunde als eine Bestätigung und
Spezifizierung unserer leitende These auffassen, dass der Abu-Ghraib-Skandal nicht nur
Veränderungen im Diskurs zeitigte, sondern auch zu weitreichenden Folgen in anderen
gesellschaftlichen Teilbereichen führte. Trotz allem waren die Urteile des höchsten Gerichts
nicht unumstritten. Es gab nicht nur drei richterliche Gegenstimmen, sondern es meldeten sich
auch einige konservative Kritiker zu Wort, die darüber klagten, dass sich ungewählte Richter
anmaßten, in die Politik einer gewählten Regierung einzugreifen. Diese Kritiker stellten
jedoch nur eine Minderheitsmeinung im Diskurs dar.
Das Beispiel zeigt, dass die Legitimität der Urteile von Verfassungsrichtern, die über die
bloße Legalität des Verfahrens hinausgeht, sich ihrer Beobachtung und Beurteilung durch
öffentliche Diskurse verdankt. Trotz dieses Rückschlags für die Regierung wirkte sich das
Urteil nur begrenzt auf die Situation der Häftlinge in Guantanamo aus. Dies lag unter anderem
daran, dass die Bush-Administration die Anweisung gab, dass das Urteil des Supreme Court
möglichst eng zu interpretieren sei.673 Es scheint, dass die Anwendung des Urteils vom
höchsten Gericht als eine Kampfansage aufgefasst wurde. In zwei weiteren Urteilen, die im
Folgenden zu diskutieren sind, wurde die Regierungspraxis für verfassungswidrig erklärt und
den Häftlingen noch umfassendere Rechte zugestanden.
9.3.2. Hamdan v. Rumsfeld – Das „Kriegsverbrechertribunal“
Salid Ahmed Hamdan wurde am 14. November 2001 während der Invasion von Afghanistan
festgenommen und im Gefangenenlager auf Guantanamo Bay untergebracht. Am 14. Juli
2004, wenige Wochen nach der Urteilsverkündung im Fall Rasul v. Bush, wurde der
Gefangene Hamdan wegen Verschwörung und Mitgliedschaft in einer terroristischen
Vereinigung angeklagt. An diesem Fall wird der rechtliche Druck der vorangegangenen
Niederlage der Regierung vor dem Verfassungsgericht deutlich. Danach standen Militär und
673
„Detainees Lose Bid For Release; Ruling Keeps 7 in Guantanamo Prison“, The Washington Post, 20. Januar
2005.
534
Regierung unter einem Rechtfertigungsdruck und zeigten sich durchaus bemüht, den
rechtsstaatlichen Minimalanforderungen nachzukommen und Verfahren gegen die Häftlinge
einzuleiten. Darüberhinaus musste man dem naheliegenden, durch die Bilder von Abu Ghraib
geschürten Verdacht entgegenwirken, dass es sich bei den Häftlingen in Guantanamo
vorwiegend um die unschuldigen Opfer einer willkürlichen Inhaftierungspraxis gehandelt
habe. Hamdan gab in diversen Verhören zu, als persönlicher Chauffeur für Osama bin Laden
gearbeitet zu haben, bestritt aber jegliche Beteiligung an den terroristischen Aktivitäten von
Al-Quaida.674 Er und seine Anwälte versuchten, das Recht auf die Gewährung von habeas
corpus einzuklagen, indem sie argumentierten, dass die für ihn zuständige Militärkommision
illegitim sei und ihm Gefangenenrechte nach der Genfer Kriegskonvention zuständen. Die für
sein Verfahren eingesetzte Militärkommission wurde von einem höheren Gericht gerügt, da
sein möglicher Status als Kriegsgefangener noch nicht zureichend geklärt worden sei und die
Kommission zudem nicht den formalen Richtlinien des Militärrechts entspräche.
Am 17. Juli 2005 wurde Hamdan von einem Amtsgericht der Status eines
Kriegsgefangenen mit der Begründung, dass es sich bei ihm erwiesenermaßen um ein
Mitglied der Al-Quaida handele, abgesprochen. Am 29. Juni 2006 wurde diese Entscheidung
durch den Supreme Court, der die nach Rasul v. Bush eingesetzten Militärkommissionen für
unzulässig befand, widerrufen. Das Gericht entschied, dass der Präsident mit der Einsetzung
der Militärkommissionen seine verfassungsmäßigen Befugnisse überschritten habe, da er
hierzu die Zustimmung des Kongresses hätte einholen müssen.675 Darüber hinaus stellte der
Supreme Court fest, dass die Genfer Kriegskonventionen trotz des Sonderstatus der
Gefangenen in Guantanamo in wesentlichen Teilen auf diese anzuwenden seien. Nach der
Urteilsverkündung beschloss die Bush-Regierung, den dritten Artikel der Genfer
Kriegskonventionen, der schon in weiten Teilen durch das McCain-Amendment abgedeckt
wurde, auf die Gefangenen in Guantanamo anzuwenden. Artikel 3 untersagt nämlich die
entwürdigende und erniedrigende Behandlung von Kriegsgefangenen, darüberhinaus macht
seine Anwendung aber auch gerichtliche Prozesse erforderlich, die einem gewissen
zivilisatorischen Mindeststandard genügen. In einem Bericht der New York Times wurde
spekuliert, dass eine universale Geltung der Genfer Konventionen vermutlich jene
„Verwirrung“ (confusion) verhindert hätte, die mittlerweile als eine der Hauptursachen der
674
„Headlines“, The Big Story with John Gibson (17:32), Fox News Network, 23. August 2004.
675
Damit wendete sich das Gericht gegen die konservative Doktrin der „Unitary Executive“ (vgl. Hasian 2007;
Calabresi & Lawson 2007).
535
Missbrauchsfälle von Abu Ghraib galt.676 Obwohl das Urteil im Großen und Ganzen von der
Öffentlichkeit begrüßt und auch in seinen politischen Konsequenzen gut geheißen wurde,
fanden sich auch einige kritische Stimmen.677 Das konservative Editorial des Wall Street
Journal titelte beispielsweise am 13. Juli 2006: “How do we get to this Osama in Genevaland
world”; hier wird nicht alleine der Supreme Court, sondern auch die amerikanische
Militärführung wegen eines internen Memorandums, das selbst Terroristen unter den Schutz
von Artikel 3 der Genfer Konventionen stellt, heftig kritisiert. Dem Militär ist im Rückblick
zu Gute zu halten, dass sie Osama bin Laden trotzdem aufgespürt haben.
Das Verfahren gegen Hamdan, das zwei Jahre später stattfinden sollte, wurde in den
amerikanischen Medien als das erste amerikanische Kriegsverbrechertribunal seit dem
zweiten Weltkrieg angekündigt. Nein, es ging zunächst nicht um mögliches Unrecht, das
Hamdan von Seiten der amerikanischen Regierung zugefügt worden war; vielmehr warf man
ihm zwei „Kriegsverbrechen“ vor, nämlich „Verschwörung“ einerseits und „materielle
Unterstützung einer terroristischen Organisation“ andererseits. Zum Erstaunen aller
Beteiligten versuchte seine Verteidigung den Spieß umzudrehen und warf dem Militär
ihrerseits nun die unmenschliche Behandlung ihres Mandaten vor: Während seiner Haft sei er
geschlagen, sexuell gedemütigt und fünfzig Tage in einem Schlafentzugsprogramm gehalten
worden678 – Vorwürfe, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Abu Ghraib nicht jeder
Plausibilität und vor allem Anschaulichkeit entbehren. Am 28. Juli wurde dann schließlich ein
Dokument freigegeben, das von der Verteidigung als Beweis für die sexuelle Demütigung
ihres Mandanten durch einen amerikanischen Soldaten interpretiert wurde, während dies die
Anklage vehement bestritt.679 Die Verteidigung von Hamdan und seinen Anwälten,
insbesondere aber der Vorwurf der sexuellen Demütigung (7.3), stellten eine Nähe zum AbuGhraib-Skandal her: Der Angeklagte wurde zum leidenden Opfer, seine Inhaftierung zum
Martyrium stilisiert.
Auch wenn es in dem Verfahren offiziell immer noch um den „Täter“ Hamdan ging, fand
im öffentlichen Diskurs eine Verschiebung statt. So schrieb William Glaberson in der New
York Times: „There has been no testimony about shots fired or bombs detonated by Mr.
676
„Terror and Presidential Power, Bush Takes a Step Back“, The New York Times, 12. Juli 2006.
677
Eine Auswahl von zustimmenden und kritischen Kommentaren zu dem Urteil findet sich in folgendem
Zeitungsartikel: „Shift on detainee policy long overdue“, USA Today, 14. Juli 2006.
678
„Detainee’s Lawyers Make Claim on Sleep Deprivation“,New York Times, 15. Juli 2008.
679
„Lawyers for Detainee Assert Coercion“, New York Times, 31. Juli 2008.
536
Hamdan. Instead, the case is a mundane tour of terrorism, as seen from the driver’s seat“.680
Das medial aufgebauschte „Kriegsverbrechertribunal“ erfuhr einen jähen Absturz ins Profane
und Alltägliche.681 Dies wird insbesondere auch durch folgenden Hinweis deutlich: „Mr.
Hamdan’s offenses are not enumerated anywhere, but appear to include checking the oil and
the tire pressure“. Aufgrund der mangelnden Beweislage fiel es der Anklage schwer, den
Angeklagten als Schurken darzustellen und damit das High-Mimesis-Narrativ beizubehalten.
Stattdessen wechselte die Erzählung in den Low-Mimesis-Modus, sodass die Anklagepunkte
schließlich als tragische Nebenfolgen eines „ganz normalen Jobs“ erschienen. Das Verfahren
gegen den mutmaßlichen Terroristen verkam zur satirischen Farce. Hamdan hat am Ende
einfach nur für den falschen Mann gearbeitet. Glaberson resümiert:
Early in the week, the prosecutors appeared confident that the images of Mr. Hamdan next to the center of
the plots would secure a conviction. But by week’s end, they appeared defensive. After years of planning,
the first war crimes trial here was focused, not on a terrorism kingpin, but on his driver.
Die abschließende Frage, die zu entscheiden war, lautete: Handelte es sich bei Hamdan nun
um einen „driver“ oder um einen „war criminal“ – ein Gegensatz zwischen profan und heilig,
wie er größer kaum sein konnte. Eine Verurteilung hätte nicht nur die von den Anklägern
geforderten dreißigjährige (unter Nichtanrechnung der bisherigen Inhaftierungszeit), sondern
auch eine lebenslange Haftstrafe zur Folge haben können.682 Am 7. August wurde Hamdan
schließlich wegen des „Kriegsverbrechens“ der „materiellen Unterstützung terroristischer
Organisationen“ zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Da die Zeit seiner Inhaftierung seit der
Eröffnung des Verfahrens auf seine Haftstrafe angerechnet wurde, reduzierte sich die Haftzeit
auf fünf weitere Monate. Bei der Urteilsverkündung, die der Gefangene noch einmal nutzte,
um sich bei den Opfern des Terrorismus zu entschuldigen, blieb allerdings unklar, ob Hamdan
nach dem Absitzen seiner Haftstrafe auch wirklich freigelassen werden würde, da die BushRegierung ihn aufgrund seiner unveränderten Einstufung als „ungesetzlichen Kombattanten“
prinzipiell unbegrenzt hätte festhalten dürfen. Ein Pentagon-Sprecher deutete nach der
Urteilsverkündung an, dass damit allerdings nicht zu rechnen sei. Ein derartiger Missbrauch
680
„Prosecutors State Case in First Guantánamo Trial“, New York Times, 26. Juli 2008.
681
Die Profanisierung des Terrorismusvorwurfs, die hier stattfand, ist nicht mit einer „Banalisierung des Bösen“
zu verwechseln, wie sie Hannah Arendt (2007) angesichts des Prozesses gegen Adolf Eichmann
herausgearbeitet hat. Während die Banalisierung bei Arendt das alltägliche Gesicht des Bösen bezeichnet,
das durch seine Gewöhnlichkeit nichts an Bedrohlichkeit verliert, verflüchtigte sich im Prozess gegen
Hamdan das Böse und Bedrohliche.
682
Ein weiterer Konflikt, der in dem Verfahren zum Vorschein kommt, ist der Gegensatz zwischen der zivilen
Sphäre der Öffentlichkeit und der militärischen Sphäre des Tribunals. Die Presse warf dem militärrechtlichen
Verfahren vor, intransparent, parteiisch und mit Zensur behaftet zu sein.
537
von Souveränität wäre mit Sicherheit auf zivilgesellschaftlichen Widerstand gestoßen. Im
November 2008, nach der Wahl Obamas zum US-Präsidenten, wurde Hamdan in ein
Gefängnis nach Jemen verlegt, um dort den letzten Monat seiner Haft zu verbringen.683 Da die
Anklage nur einen Phyrossieg erringen konnte, der gerade einmal ihr Gesicht wahrte, muss
ein Scheitern des „Kriegsverbrechertribunals“ konstatiert werden.
9.3.3. Boumediene v. Bush – Die Restauration des habeas corpus
Bei dem letzen Fall, der für diese Arbeit von Interesse ist, handelt es sich um eine Anklage
von Lakhdar Boumediene, der in Algerien geboren und später in Bosnien-Herzegowina
eingebürgert wurde. Im Januar 2002 wurde Boumediene aufgrund eines Gesuches der
Vereinigten Staaten in Bosnien verhaftet und in Guantanamo inhaftiert. Im Verfahren
Boumediene v. Bush entschied der Supreme Court mit fünf zu vier Stimmen, dass auch in
Guantanamo den Inhaftierten ohne amerikanische Staatsbürgerschaft das Grundrecht des
habeas corpus zustehe. Der Rechtsphilosoph Ronald Dworkin pries das Urteil in der
renommierten New York Review of Books als großen Sieg,684 während konservative Kritiker –
unter ihnen diesmal auch Senator McCain – darauf hinwiesen, dass dieses Urteil die
Möglichkeiten der Vereinigten Staaten zur Terrorismusbekämpfung unnötigerweise
einschränke. John McCain, nun auf Abgrenzung zu seinem Konkurrenten Obama bedacht
(10.1.2), kritisierte die Entscheidung des Supreme Courts mit der Begründung, dass das Urteil
nicht nur die Vereinigten Staaten im Krieg gegen den Terror unnötig behindere, sondern auch
die Macht des Volkes in die Hände von Anwälten lege und dabei nicht einmal den
Gefangenen selbst zu Gute komme. McCain beschwor, wie schon die Bush-Administration
zuvor, die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen „unlawful combatant“ (bzw.
„enemy“) und „citizen“.685 Barack Obama unterstützte dagegen die Entscheidung des
Obersten Gerichtes. Interessanterweise setzte gerade der angebliche Populist Obama auf eine
demokratische Kontrolle durch Institutionen, während die Republikaner mit dem Willen der
683
„Bin Laden driver arrives in Yemen. Yemeni released from Guantanamo to serve remainder of jail term
in home country“, Al Jazeera English, 27. November 2008,
http://english.aljazeera.net/news/middleeast/2008/11/20081126185525992378.html; letzter Zugriff am
20. Juni 2011.
684
Dworkin, Ronald:“Why it Was a Great Victory”, The New York Review of Books 55 (13), 14. August
2008.
685
Die Unterscheidung zwischen „citizen“ und „enemy“ gehört nach Alexander (1998) zu dem Repertoire
zivilgesellschaftlicher Diskurse. Deutlich wird an dem vorliegenden Beispiel, dass der binäre Code
symbolische Abstufungen zulässt, vom Kriminellen bis hin zum Kriegsverbrecher.
538
Mehrheit, den sie auf ihrer Seite zu haben vermeinten, argumentieren. Jonathan Mahler
zufolge erhöhte sich die Interventionsbereitschaft des Supreme Courts schrittweise.686 Das
erste Urteil im Fall Hamdi v. Rumsfeld gewährte amerikanischen Bürgern, die als feindliche
Kombattanten festgehalten wurden, erstmals eine realistische Möglichkeit (“meaningful
opportunity”), gegen ihre Gefangenschaft juristisch vorzugehen. Die Urteilsverkündung im
Fall Rasul v. Bush, die genau genommen am selben Tag erfolgte wie die Urteilsverkündigung
im Fall „Hamdi“, wird von Mahler als der zweite Akt innerhalb seines Narrativs von der
zunehmenden Einflussnahme des Obersten Gerichts auf die Regierungspolitik dargestellt:
The second ruling, in Rasul v. Bush, came soon after the scandal at Abu Ghraib. Though momentous, it
was still limited. The court found, 6-3, that Guantanamo Bay was within United States jurisdiction and
subject to its laws, meaning detainees there were entitled to some sort of due process in American courts.
It didn’t specify the process, nor suggest that Congress couldn’t amend a law through which detainees
could access the courts. 687
Im dritten Verfahren, Hamdan v. Rumsfeld, urteilte das Gericht schließlich, dass der Präsident
mit der Schaffung von Militärkommissionen zur Verurteilung einiger Gefangenen aus
Guantanamo seine konstitutionelle Autorität eindeutig überschritten habe. Zudem wurde
entschieden, dass den Gefangenen einige Rechte der Genfer Kriegskonventionen zustanden.
Im Gegenzug gelang es der Bush-Regierung, im Kongress eine Autorisierung für die
Militärkommissionen zu bekommen, worauf es zur vierten Entscheidung des Supreme Courts
kam:
In response, the administration succeeded in getting Congress to authorize the military commissions and
stripping the Guantanamo detainees of the right to habeas corpus. Which brings us to last week’s ruling in
Boumediene – and the 5-4 decision to restore that ancient right. 688
Mahler bietet zwei Erklärungen für die gestiegene Interventions- und Kritikbereitschaft des
Gerichtes an. Einerseits wurden die Befugnisse der Exekutive durch den Krieg gegen den
Terror als nationalem Ausnahmezustand zunehmend ausgeweitet, was auf lange Sicht eine
Gegenreaktion des Obersten Gerichtshofs provozieren musste. Andererseits war nach
mehreren Jahren immer noch keine Ende des Krieges gegen den Terror in Sicht, was den
Ausnahmezustand zur Normalität und Regel werden ließ und nicht zuletzt den
Verfassungsrichtern Kopfschmerzen bereitet haben dürfte. Die erste Erklärung verweist auf
den Konflikt zwischen der Kontrollfunktion des Verfassungsgerichts und der schrankenlosen
Ausweitung von politischer Macht, die zweite auf die Normalisierung eines rechtlichen
686
„Why This Court Keeps Rebuking This President“, The New York Times, 15. Juni 2008. Jonathan Mahler
veröffentlichte unter anderem auch eine Monografie über den Fall Hamdan v. Rumsfeld (2008).
687
„Why This Court Keeps Rebuking This President“, The New York Times, 15. Juni 2008.
688
„Why This Court Keeps Rebuking This President“
539
Ausnahmezustands, welcher der Logik des Rechts zuwiderläuft. Beide Erklärungen, die
ansonsten weitestgehend plausibel und zutreffend sind, verleihen den höchstrichterlichen
Entscheidungen eine Zwangsläufigkeit, die dem politischen Imaginären der Gewaltenteilung
als einem System der „checks and balances“ entspricht, aber die Kontingenz von Ereignissen
nicht zureichend berücksichtigt. So wie der 11. September 2001 als traumatischem Ereignis
eine Ausweitung der Befugnisse der Exekutive in den Vereinigten Staaten zuallererst möglich
machte (6.4), ist auch anzunehmen, dass die Entscheidung Rasul v. Bush nur in dem durch
den Abu-Ghraib-Skandal geschaffenen politischen Klima fallen konnte. Darüberhinaus fällt
auf, dass die verschiedenen Entscheidungen des Supreme Court mit den unterschiedlichen
Phasen des Abu-Ghraib-Skandals zusammenfallen.
Sowohl die Entwicklung des Skandals als auch die soeben untersuchte Serie von Urteilen
zeugen von einer zunehmend kritischen Haltung gegenüber der Bush-Regierung und einer
sich ausweitenden Anerkennung der Opfer des Krieges gegen den Terror in der
amerikanischen Öffentlichkeit. Es wäre sicherlich zu kurz gegriffen, allein im Abu-GhraibSkandal die treibende Kraft hinter all diesen Entscheidungen und diskursiven Verschiebungen
zu sehen. Genauso wenig sollte man aber die Bedeutung von Abu Ghraib als einer ikonischen
Wendung im öffentlichen Diskurs unterschätzen. Der Skandal leistete einerseits einen
kontinuierlichen Beitrag zur Diskreditierung der Antiterrorpolitik der Vereinigten Staaten,
andererseits verdankte er seinen Einfluss auch seinem Überschwappen in andere
gesellschaftliche Bereiche und Debatten, wie hier am Beispiel der Rechtssprechung über den
Status und die Rechte der Gefangenen im Krieg gegen den Terror deutlich wurde. Der Anwalt
Mahler beschließt seinen Artikel mit einem Loblied auf die zivile Kraft des Rechts, das
zugleich eine Entgegnung auf seine konservativen Kritiker darstellt:
The justices may represent something of an undemocratic force – unelected, appointed for life,
accountable to no one – but a generation before this administration took office, Vietnam and Watergate
were already raising calls for a strong judiciary to police the political branches of the government. 689
Mahler thematisiert den Missbrauch von Exekutivkräften in der amerikanischen Geschichte
und versucht so zu zeigen, dass eine starke Judikative für eine rechtstaatliche Kontrolle der
Politik notwendig sei. Interessant sind jedoch die Ereignisse und Symbole, die er in diesem
Zusammenhang gebraucht. Seine Verwendung von „Watergate“ als einem zweifelsohne
negativ besetzten Symbol im amerikanischen Diskurs stellt eine Parallele zwischen Bush und
689
„Why This Court Keeps Rebuking This President“
540
Nixon her, wie sie auch in anderen Kontexten immer wieder auftaucht.690 Darüberhinaus
parallelisiert seine Erwähnung von Vietnam die damaligen Kriegshandlungen mit dem
Irakkrieg als einem zweiten Vietnam.
Abschließend soll noch einmal auf das Verhältnis von Zivilgesellschaft und
Rechtstaatlichkeit eingegangen werden. Obwohl in einer demokratischen und liberalen
Zivilgesellschaft die demokratische Wahl als legitimierendes Prinzip geschätzt wird, werden
nicht alle Institutionen der zivilen Sphäre dadurch legitimiert und organisiert. Verfassungen
sind ein gutes Beispiel dafür, da sie als Ausdruck von normativen Prinzipien, die der zivilen
Sphäre zu Grunde liegen, außerhalb des Bereichs des Wählbaren liegen. Gerade aufgrund
ihrer Heiligkeit und ihrer Verankerung im Zentrum einer Gesellschaft müssen Verfassungen
dem alltäglichen Kampf der partikularen politischen Interessen enthoben werden. Gerade
diese normative Verpflichtung auf gemeinsame Werte und eine kollektive Identität macht den
Unterschied zwischen einer funktionierenden Demokratie und einem populistischen Regime
aus. Eine demokratische und liberale Zivilgesellschaft bleibt nicht nur ihrem Code, sondern
auch ihrem Codex verpflichtet. Eine Mehrheit, die demokratische Institutionen abschafft, hört
auf demokratisch zu sein und wird zu einem repressiven Mob. Nichtsdestotrotz erfordert die
Anwendung des Rechts – selbst wenn es sich um Verfassungsrecht handelt – immer eine
Interpretation. Hier treten der zivilgesellschaftliche Diskurs und das soziale Imaginäre in die
rechtlichen Entscheidungen der Richter ein. Genau dies geschah, als Abu Ghraib das
moralische und politische Klima in den Vereinigten Staaten nachhaltig veränderte. So führte
dieser Skandal letztlich zu einer Kehrtwende in den Rechtauffassungen und Praktiken, die
kurz nach dem 11. September 2001 als notwendig erachtet wurden; zugleich aber spiegelt
diese Wende auch die Verschiebungen im öffentlichen Diskurs wider.
690
Um nur die einschlägigsten herauszugreifen: „History lesson: GOP must stop Bush“, USA Today, 24. Mai
2004; „Democrats Interpret Justice Department Memo as Justifying Torture“, Fox Special Report with Brit
Hume (18:00), Fox News Network, 23. Juni 2004;“For Abu Ghraib“, The New York Times, 26. August 2004;
„All leaks aren‘t equal; it's the meaning that matters“, USA Today, 28. April 2006; „Presidential Architect Of
Designs For Power“, The New York Times, 11. Juli 2006.
541
9.4. Politischer Aktivismus und politische Kunst
ICONS live their own lives.
Sarah Boxer, Journalistin691
Die Bilder von Abu Ghraib verschafften sich über die Massenmedien des Fernsehens, der
Presse und des Internets eine Präsenz in der Öffentlichkeit und standen für einige Wochen im
Zentrum der nationalen, wenn nicht sogar globalen Aufmerksamkeit. Die Verbreitung und
Verarbeitung der Abu-Ghraib-Bilder fand nicht nur in den klassischen Medien der politischen
Öffentlichkeit statt, sondern bereits nach wenigen Monaten auch im Medium der Kunst –
wenn auch die Grenzen zwischen Kunst und Politik nicht immer leicht zu ziehen sind. Schon
die Produktion der Fotografien in Abu Ghraib kann im Sinne von Walter Benjamin (2006:
381-383) als eine „Ästhetisierung des politischen Lebens“ verstanden werden. Der
Ästhetisierung der Politik durch den zeitgenössischen Faschismus hält Benjamin die
„Politisierung der Kunst“ im Kommunismus entgegen. In ähnlicher Weise erfolgte auf die
Ästhetisierung der Folter in Abu Ghraib eine künstlerische Auseinandersetzung mit ihren
Bildmotiven in politischer Absicht. Im Folgenden soll dieser „Politisierung der Kunst“ im
politischen Aktivismus (9.4.1), aber auch in den bildenden und darstellenden Künsten
nachgegangen werden (9.4.2). Das Kapitel schließt mit einer Reflexion of die „doppelte
Mimesis“ in der politischen Kunst und einem Kunstwerk der besonderen Art (9.4.3)
Eine Auseinandersetzung mit den Fotografien von Abu Ghraib innerhalb der Kunstszene
findet bereits dort statt, wo diese Bilder wie Kunstobjekte in Museen ausgestellt wurden.
Benjamin unterstellt in seinem Aufsatz zur technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks,
dass mit der Reproduktion und Ausstellung des Kunstwerks, insbesondere aber mit der
Fotografie, dessen Aura und Kultwert schwinde (2006: 160-163). Dies trifft auf die AbuGhraib-Fotografien nur bedingt bis gar nicht zu. Schon im Medienskandal wurden sie zum
Gegenstand eines öffentlichen Kultes, zu Trägern kollektiver Emotionen und zu unreinen
Repräsentationen des gesellschaftlichen Heiligen (2.1.5). Die Ausstellung der Skandalbilder
in einem Kunstmuseum stellt nicht nur einen ungewöhnlichen Akt dar, sie verleiht den
Bildern auch eine ganz besondere Weihe als Kultobjekte. Die Dekontextualisierung, die
Fotografien erfahren, wenn sie in einem Museum ausgestellt werden, lässt sie zu Objekten der
Kontemplation werden, während Fotografien in Zeitungen und im Fernsehen vor allem der
Illustration der Berichterstattung dienen. Allerdings überstiegen die Skandalbilder in ihrer
691
„Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal”, The New York Times, 13. Juni 2004.
542
Bedeutung von Anfang an das bloß Illustrative: Sie illustrierten keinen Bericht, denn sie
waren selbst die Nachricht. In den Massenmedien standen die Fotografien als deutungsoffene
Symbole, die eine Auseinandersetzung mit ihnen erforderlich machte, im Zentrum der
Aufmerksamkeit. Die Abu-Ghraib-Bilder geben zu denken – allerdings noch einmal auf eine
andere Weise, wenn sie in einem Museum hängen.
Vom 17. September bis zum 28. November 2004 wurden im International Center of
Photography in New York unter dem Titel „Inconvenient Evidence“ gedruckte Exemplare der
digitalen Fotografien ausgestellt.692 Brian Wallis, Direktor und Chefkurator des Center of
Photography, schreibt den Bildern eine unmittelbare politische Botschaft zu, da sie die
offizielle Bildpolitik der Regierung unterlaufen:
In this regard, the Abu Ghraib images undercut both of the Bush administration’s high-minded visual
strategies in selling the Iraqi War: on the one hand, to suppress all unpleasant or unplanned images (of
Iraqi civilian deaths or flag-draped coffins of dead U.S. soldiers), and, on the other hand, to promulgate
highly theatrical and carefully scripted photographs of good news (Iraqis toppling statues and cheering
their “liberators” or the commander in chief landing on the deck of an aircraft carrier in a flight suit).693
Dass diese Bilder eminent politisch sind, wird wohl kaum ein Betrachter in Frage stellen.
Allerdings drängte sich so manchem ästhetisch empfindsameren Besucher der Eindruck auf,
dass diese Bilder einfach nicht in den Kontext eines Museums gehörten – nicht aufgrund des
umstrittenen Sujets, sondern wegen der formalen und technischen Mängel der Fotografien.694
Die künstlerische Ästhetisierung der Abu-Ghraib-Bilder blieb weit hinter dem zurück, was
man von Fotografien in einem Museum erwarten würde. Allerdings sollte nicht unterschlagen
werden, dass diese mangelhafte ästhetische Umsetzung den Realitätseffekt der Bilder
verstärkt (vgl. 7.5.1). Die Ausstellung der Abu-Ghraib-Fotografien knüpfte an eine frühere
Ausstellung mit dem Titel „Without Sanctuary. Photographs and Postcards of Lynching in
America“ an, die im Jahr 2000 von der New York Historical Society veranstaltet worden war
(vgl. Alan et al. 2007). Diese Ausstellung war sehr gut besucht und erregte weltweit
Aufmerksamkeit, was möglicherweise einer der Gründe ist, warum das Lynching-Motiv der
Abu-Ghraib-Bilder – Täter, die sich lächelnd mit den Opfern rassistischer Gewalt ablichten
ließen – eine starke kulturelle Resonanz entfalten konnte. Durch die Ausstellung der Abu692
Vollständiger Titel der Ausstellung, die parallel dazu auch im Andy Warhol Museum in Pittsburgh gezeigt
wurde: „Inconvenient Evidence: Iraqi Prison Photographs from Abu Ghraib“; der Katalog im Internet:
http://museum.icp.org/museum/exhibitions/abu_ghraib/abu_ghraib_brochure.pdf, letzter Zugriff am 21. Juni
2011.
693
Brian
Wallis:
„Remember
Abu
Ghraib“,
Vorwort
zum
Katalog
http://museum.icp.org/museum/exhibitions/abu_ghraib/abu_ghraib_brochure.pdf, S.4.
694
„Through the Blur: Photographs From Abu Ghraib“, The New York Times, 25. September 2005.
543
der
Ausstellung,
Ghraib-Bilder in diesem Kontext wird diese Verwandtschaft noch einmal unterstrichen.
Neben der weitgehend positiven Reaktion auf diese Ausstellung gab es allerdings auch
Stimmen, die in der Musealisierung der Abu-Ghraib-Bilder einen Rückzug des Skandals aus
der öffentlichen Sphäre sahen:
FIVE months after they made their first shocking appearance, the Abu Ghraib photographs have become
a museum exhibition. Once ubiquitous on television and in newspapers, they now qualify as quasiaesthetic artifacts, pictures you may choose to seek out – for edification, as a distraction, even. […] We
live in an amnesiac society. The Abu Ghraib photographs have passed from the headlines to the art pages
in half a year. One can only imagine how much further they may retreat in six more months.695
Eine solche Kritik unterschätzt, wie wichtig das Vergessen gerade auch für Gesellschaften ist,
um Platz für neue Inhalte zu schaffen.696 Öffentliche Diskurse wenden sich meist schon nach
wenigen Tagen neuen Informationen zu. Der Abu-Ghraib-Skandal, dessen heiße Phase etwa
vier Wochen andauerte, war neben dem Präsidentschaftswahlkampf das amerikanische
Medienereignis des Jahres 2004 – und damit schon eine absolute Ausnahmeerscheinung. Im
Gegensatz zur Öffentlichkeit unterliegen Kunst und Wissenschaft anderen temporalen
Strukturen und Handlungszwängen. Das Vergessen der Abu-Ghraib-Bilder in der
Öffentlichkeit geht mit ihrer Kanonisierung in der Kunst und ihrer Aufarbeitung durch die
Wissenschaft einher, die sie zu einem bleibenden Teil des kulturellen Gedächtnisses
transformieren. Aber selbst dieses Vergessen der Öffentlichkeit ist weniger ein Verschwinden
des Wissens um Abu Ghraib als ein Rückgang seiner öffentlichen Thematisierung. Wie das in
dieser Arbeit zusammengetragene Material zeigt, bleibt Abu Ghraib noch Jahre nach dem
eigentlichen Skandal im kulturellen Hintergrund wirksam – was im Folgenden an der
Produktion und Rezeption von Kunst in all ihren Formen demonstriert werden soll. Manchmal
wurden die Fotografien sogar als Requisiten bei Aufführungen oder für die Ausschmückung
der Bühne verwendet, wie beispielweise bei Performancekünstlern in New York, welche –
ganz im Sinne der Abu-Ghraib-Interpretation von Žižek (vgl. 7.1) – eines der Bilder mit der
Aufschrift „This is theater“ versahen.697 Die meisten künstlerischen Darbietungen zeigten
allerdings nicht die Fotographien selbst, sondern ahmten diese nach, griffen einzelne
Bildelemente auf und stellten sie in einen neuen Kontext.
695
„Abu Ghraib Photos Return, This Time as Art“, The New York Times, 10. Oktober 2004.
696
Luhmann spricht in diesem Zusammenhang vom Vergessen als der „Hauptfunktion des Gedächtnisses“, da es
die „Selbstblockierung des Systems“ durch vergangene Beobachtungen verhindere (1997: 579).
697
„Performance Art for Sale, Like Elections“, The New York Times, 5. April 2008.
544
9.4.1. Plakative Kunst und politischer Aktivismus im urbanen Raum
Die Grenzen zwischen einer künstlerischen Verarbeitung der Abu-Ghraib-Bilder, die auf
Reflexion abstellt, und ihrer direkten Indienstnahme für politische Zwecke sind fließend.
Während Galerien, Museen und Theater eher einen distanzierten Beobachter favorisieren,
eignen sich die Straßen einer Stadt, die auch eine Form von Öffentlichkeit darstellen (4.2.1),
in besonderem Maße für politische Aktionen, Poster und Wandmalereien. Insbesondere die
Ikone des Skandals eignete sich aufgrund ihrer visuellen Prägnanz, Bekanntheit und
(relativen)
Unanstößigkeit
zum
Vorbild
für
weltweite
Plakatierungsaktionen
und
künstlerische Darstellungen im öffentlichen urbanen Raum: „The image appears in mock
advertisements in New York, in paintings in San Francisco, on murals in Tehran and on
mannequins in Baghdad”.698 In der iranischen Hauptstadt Teheran wurde der „hooded man“
(7.1) und Lynndie England mit dem Gefangenen an einer Leine (7.3.3) auf meterhohen
Wandgemälden nachgebildet (eine Fotografie zweier Bilder samt Passanten findet sich bei
Apel 2005). Dass dabei kaum Veränderungen vorgenommen wurden, lässt darauf schließen,
dass diese Bilder auch im iranischen Kontext für sich alleine sprechen. In Bagdad wurde das
Motiv des schwarzgewandeten Folteropfers durch den irakischen Künstler Sallah Edine Sallat
in ein Wandgemälde umgesetzt (Mitchell 2011: 103f.; Apel 2005: 96). Eine Fotografie dieses
Wandgemäldes erschien erstmals in der New York Times vom 13. Juni 2004 und daraufhin in
der weltweiten Presse.699
698
„Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal”, The New York Times, 13. Juni 2004.
699
Gerhard Paul (2005a: 154) zufolge erschien dieses Foto in Deutschland zunächst am 21. Juni 2004 in der
Süddeutschen Zeitung, ein halbes Jahr später, am 8. Januar 2005, in der Frankfurter Rundschau und
schließlich am 19. Mai 2005 in der Zeit. Die großen Zeitabstände zwischen den Veröffentlichungen deuten
darauf hin, dass Abu Ghraib und das Bildmotiv dauerhaft im Diskurs präsent waren.
545
Fotografie von Ali Jasmin, Bagdad, Juni 2004
Auf dem Bild ist die Freiheitsstatue zu sehen, deren Gesicht durch eine weiße Ku-Klux-KlanKapuze verhüllt ist. In der rechten Hand hat sie – wie gewohnt – die amerikanische
Unabhängigkeitserklärung, während die linke, erhobenene Hand, statt die Fackel der Freiheit
zu halten, einen Stromschalter bedient, der mit den Drähten, die ebenfalls auf der Fotografie
des „Kapuzenmannes“ zu sehen sind (7.1), an den Händen des Gefangenen verbunden ist. Als
ob diese Szene nicht schon eindeutig genug wäre, hat der Künstler neben die Freiheitsstatue
die Losung „That Freedom for Bosh [sic!]“700 geschrieben. Die von den Amerikanern
geführte Operation Iraqi Freedom wird durch die Botschaft des Bildes (und seine schriftliche
Ergänzung) als unzivile Repression entlarvt. Zudem beinhaltet die Verwendung des Ku-KluxKlan-Motivs, das sich offensichtlich globaler Verbreitung erfreut, eine Deutung der AbuGhraib-Missbrauchsfälle als rassistisch motivierte Unterdrückung der Araber. Der Künstler
gab an, dass er bei der Fotografie des „hooded man“ an die Freiheitsstatue – eine nationale
Ikone mit globalem Bekanntheitsgrad – habe denken müssen (Apel 2005: 96). Dies ist ein
weiterer Hinweis darauf, dass es einen globalen Bildervorrat gibt, der Teil eines
transnationalen kulturellen Hintergrundes ist. Bei der Wahl eines Platzes für sein Kunstwerk
gab der Künstler an, sich einfach für einen Platz entschieden zu haben, an dem jeder sein
Kunstwerk sehen könne. So zeigt dieses Beispiel nicht zuletzt, wie die künstlerische
Manifestation kultureller Muster, die aus dem Fundus einer globalisierten Kultur schöpfen
700
Bei der Wiedergabe des Mottos wurde die erratische Groß- und Kleinschreibung den Lesegewohnheiten
angepasst, während der Rechtschreibfehler des Originals, „Bosh“ statt „Bush“, beibehalten wurde.
546
und auf der lokalen Ebene zur visuellen Darstellung gebracht werden, ein über die lokale
Öffentlichkeit hinausgehendes Interesse wecken können. Die globale Aufmerksamkeit, die
diesem Wandgemälde zuteilwurde, ist nicht zuletzt seiner lokalen Verortung zu verdanken:
Dass es in der irakischen Hauptstadt zu sehen war, steigerte seine Symbolträchtigkeit und
mediale Attraktivität ungemein.
Auch in den Vereinigten Staaten tauchten die Motive von Abu Ghraib im öffentlichen
Raum auf. Am bekanntesten ist wohl die „iRaq“-Serie der Gruppe forkscrew graphics, die
sich die damals aktuelle iPod-Werbekampagne von Apple mit ihrer Popart-Ästhetik zum
Vorbild nahmen, wobei sie allerdings Motive aus dem Irakkrieg in ihren Postern verarbeiteten
(vgl. Apel 2005: 97) Auf drei der insgesamt vier Bildern der Reihe sind Soldaten abgebildet,
die mit ihren Waffen hantieren. Immer mit dabei, als Tragegurt der Waffe, ist eine
geschwungene weiße Linie, die dem zeitgenössischen Betrachter als das weiße Kabel des
Kopfhörers aus der iPod-Werbung vertraut gewesen sein dürfte. Auf allen drei Bildern ist
folgende Bildunterschrift angebracht: „10,000 Iraqis dead. 773 US soldiers dead“. Das vierte
Bild der Serie zeigt die Ikone des Skandals, bei der das Kabel der Kopfhörer zu den Drähten
umfunktioniert wurde, die auf der Originalfotografie die Verbindung zu den Stromleitungen
herstellen (7.1).
Ursprünglich veröffentlicht auf forkscrew.com
547
Sarah Boxer, die in einen Zeitungskommentar auf die ikonische Prägnanz des fotografisches
Vorbildes hingewiesen hat (7.1), ist voll des Lobes für die künstlerische Umsetzung des
Aktivistenkollektivs: „The triangle of the hood silhouettes sharply against the hot pink or
chartreuse background of a fake iPod ad. Andy Warhol himself could not have done
better”.701 Statt des allseits bekannten Apple-Symbols (ein angebissener Apfel), wird auf den
Bildern eine stilisierte Granate verwendet, statt des „iPod“-Schriftzuges das bereits erwähnte
„iRaq“. Besonders interessant an diesen Postern war die Tatsache, dass sie für subversive
Plakatierungsaktionen genutzt werden konnten. So war zum Zeitpunkt des Auftauchens der
Poster die iPod-Werbekampagne immer noch im Gange, sodass auf den riesigen
Plakatwänden, die selber ein Mosaik aus unterschiedlichen Motiven waren, einzelne Bilder
überklebt werden konnten.702 Dies geschah dann auch, zumindest in den größeren
amerikanischen Städten, denn es war der Wahlkampfsommer 2004. Einen politischen Erfolg
kann man der – im Großen und Ganzen doch relativ begrenzten Kampagne – wohl nicht
zuschreiben. Sie erfuhr allerdings ein beachtliches Maß an öffentlicher und wissenschaftlicher
Aufmerksamkeit, was nicht zuletzt der Zusammenführung der Ikone des Skandals mit der
ikonischen Werbung von Apple geschuldet war.703
Der Vergleich funktioniert auf der bildlichen (Granate – Apfel) wie auf der textlichen
Ebene (iRaq – iPod); auf der inhaltlichen Ebene herrscht allerdings zwischen den beiden
Motiven ein spannungsvolles Verhältnis, das zur Deutungsoffenheit und Attraktivität des
Bildes beiträgt. So kann der Zuschauer das Aufgreifen der Werbung von Apple als einen
bloßen Gag mit hohem Wiedererkennungswert verstehen, der dabei hilft, die politische
Botschaft der Bilder einprägsam zu vermitteln. Die widerstrebende Fügung der Motive kann
allerdings auch zu denken geben – beispielsweise über den Zusammenhang von
Militarisierung und Kapitalismus oder über mögliche ökonomische („blood for oil”) oder
(kultur-)imperialistische Motive des Irakkrieges. Für Dora Apel geht mit der Verwendung des
Abu-Ghraib-Motivs sogar eine Verwandlung von Folter in eine Ware einher, die in der
Beteiligung von Söldnern (den sogenannten „civilian contractors”) an den Verhören zum
701
„Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal”, The New York Times, 13. Juni 2004.
702
Ein Bild einer derart „verschönerten“ Plakatwand findet sich bei W.J.T. Mitchell, der diese in New York, in
der Nähe der U-Bahnstation Bleecker Street, fotografierte (2011: 106).
703
Auf den ersten Blick erscheint es zunächst merkwürdig, dass gerade die Werbung der Firma „Apple“
persifliert wird, die doch vor allem in liberalen Kreisen beliebt ist. Dies hatte allerdings auch zur Folge, dass
unter Liberalen eine größere Vertrautheit mit dem Vorbild herrschte.
548
Ausdruck komme (2005: 97).704 Noch plakativer und zielgerichteter als die iRaq-Serie war
allerdings eine Grafik des amerikanische Künstlers Richard Serra, der ansonsten keine
gegenständliche Kunst anfertigt. Auf Basis der Ikone des Skandals hat Serra eine schwarzweiße Grafik erstellt und diese in einer kolorierten Version zum kostenlosen Download als
Poster bereitgestellt (Apel 2005: 97f.). Durch den auf dem oberen Bildrand angebrachten
Schriftzug „STOP BUSH“ vermittelte das Bild im Kontext des Wahlkampfes 2004 eine
eindeutige politische Botschaft, die eine direkte Aufforderung an den Wähler darstellte.705
In das Feld des politischen Aktivismus gehören auch Demonstrationen und Proteste, die
sich ebenfalls gerne der ikonographischen Motive des Abu-Ghraib-Skandals bedienten. So
berichtet die New York Times im Sommer 2005 von einem kleinem Antikriegsprotest, bei dem
sich einer der Demonstranten als „hooded prisoner“ der „infamous photos from the Abu
Ghraib prison“ verkleidete.706 Besonders beliebt bei den Demonstranten war eine
Kombination aus der orangenen Kleidung der Gefangenen von Guantanamo und der
schwarzen Kapuze, wie wir sie von den Bildern aus Abu Ghraib kennen. In dieser Staffage
verdichteten sich Abu Ghraib und Guantanamo Bay zu einem einzigen unreinen Symbol, das
gegen die jeweilige Regierung – sowohl die von Bush als auch von Obama – verwendet
wurde. Indem Abu Ghraib und Guantanamo auf diese Weise in einen Topf geworfen wurden,
ließ sich die fortgesetzte Inhaftierungspolitik der amerikanischen Regierung in Guantanamo
in einem visuellen Symbol als repressiv darstellen. Dieser Proteststil wurde auch von
kritischen Psychologen aufgegriffen, die anlässlich einer Tagung der American Psychological
Association in Boston (2008) gegen die Beteiligung von Psychologen an der Folterpraxis ihrer
Regierung protestierten.707
Ein derartiger performativer Einsatz der Ikonographie von Abu Ghraib bei politischen
Protesten war dabei keinesfalls auf die Vereinigten Staaten beschränkt. So berichtet Dora
Apel von einer Londoner Antikriegsdemonstration, auf der ein Teilnehmer, der eine schwarze
Kapuze und eine Hundeleine um den Hals trug, ein Schild mit der Aufschrift „Bring the
704
Zur Rolle der Söldner in den Verhören von Abu Ghraib vgl. Michael I. Niman: „Strange Fruit in Abu Ghraib.
The privatization of Torture“, Humanist, Juli/August 2004, 18-23.
705
„Red, White and Bleak; At the Whitney Biennial, Grim Reflections on the Dispirit of the Times“, The
Washington Post, 2. März 2006. Vgl. auch das in der Zeit erschienene Interview mit Serra, in dem er zu Abu
Ghraib, seiner Kunst und zu George W. Bush politisch Stellung bezieht, Die Zeit, Nr. 37, 2. September 2004.
706
„Turning Out to Support a Mother’s Protest”, The New York Times, 18. August 2005.
707
„A push to ban psychologists‘ role in torture“, The Boston Globe, 17. August 2008, mit aussagekräftigem
Bild: http://www.boston.com/news/local/articles/2008/08/17/a_push_to_ban_psychologists_role_in_torture/;
letzter Zugriff 25. Juni 2011.
549
troops home now“ hochhielt (2005: 96). Aber auch in Deutschland konnte man am 2. Juni
2007 auf einer Großdemonstration in Rostock – anlässlich des damaligen G8-Gipfels in
Heiligendamm – eine Prozession von Demonstranten beobachten, die hölzerne Kreuze
emporhielten, über welche schwarze Plastiktüten gestülpt waren. Sie waren auf den ersten
Blick als Zitate des „hooded man“ erkennbar, die auf ihre Weise noch einmal die
christomimetische Botschaft des Originals wiederholten.708 Der performative Einsatz dieses
Motivs war keineswegs auf politische Demonstrationen beschränkt, sondern fand auch auf
Schauspielbühnen statt.
9.4.2. Performing Abu Ghraib, showing torture – Aufführungen und Ausstellungen
In der Washington Post und in der New York Times, findet sich, insbesondere in den
Regionalteilen, eine Fülle von Verweisen auf Bilder, Installationen und Performanzen, welche
die Ikonographie des Skandals verwenden, um damit innerhalb des symbolischen bzw.
fiktionalen Rahmens eines Kunstwerkes oder einer Aufführung einen Bezug zu den realen
Ereignissen im Irak herzustellen. Dennoch sollte man nicht den Eindruck gewinnen, dass sich
die künstlerische Rezeption von Abu Ghraib auf wenige Großstädte der Vereinigten Staaten
beschränkte. Auch in der süddeutschen Provinz wurden Versatzstücke aus der Abu-GhraibBilder bei theatralischen Inszenierungen verwendet.709 Die folgende Aufzählung und
Kommentierung des Materials soll einen Eindruck von der Wirkung des Abu-GhraibSkandals auf das Feld der Kunst vermitteln. Zwar kann hier freilich keine vollständige
Analyse des erhobenen Materials erfolgen (8.0.1); allein die Fülle der Verweise zeugt aber
bereits von der Wirkmacht der Bilder. Zunächst sollen die performativen Darbietungen
untersucht werden, bevor zu Installationen und Bildern übergegangen wird.
Unter den Shows und Performanzen, in deren Besprechungen explizit auf Abu Ghraib
708
Der Verfasser der vorliegenden Arbeit war als Teilnehmer und teilnehmender Beobachter bei dieser
Demonstration zugegen und hat die Prozession mit eigenen Augen gesehen. Jedes Kreuz war mit dem Namen
eines anderen Foltergefängnisses versehen, wobei neben den amerikanischen Gefängnissen, Guantanamo und
Bagram, auch andere Gefängnisnamen aus aller Herren Länder zu lesen waren. Diese politische Performanz
unterstreicht nicht nur die Universalität der Folter, sondern auch die Universalität des Symbols, der Ikone des
Skandals. Der ikonische Status dieser Fotografie zeigt sich gerade dadurch, dass sie in ihrer Bedeutung über
die konkrete Szene, die sie abbildet, hinausweist (vgl. 2.1.5).
709
Selbst im Konstanzer Stadttheater konnte der Verfasser dieser Arbeit beobachten, wie in einer Inszenierung
von Schillers Die Räuber die Demütigungsszene von Lynndie England mit dem Gefangenen nachgestellt
bzw. zitiert wurde (vgl. 7.3.3). In einer theatralischen Inszenierung von Mozarts Zauberflöte durch eine
studentische Theatergruppe wurde ein grotesker Menschenhaufen gebildet und fotografiert, was die
menschliche Pyramide der Abu-Ghraib-Fotos zitierte (vgl. 7.2).
550
verwiesen wird, befinden sich aussagekräftige Titel wie „Lynndie England“,710 aber auch
„American Blessings“, „Thresholds Crossed“, „Not about Iraq“, „Democracy in America“
und „Love Lessons from Abu Ghraib“.711 Auf den amerikanischen Bühnen fand eine
Auseinandersetzung mit dem dunklen Erbe von Abu Ghraib statt, das auf seine Bedeutung für
das kollektive Selbstverständnis der Amerikaner hin befragt wurde. Auch neuere Stücke der
österreichischen Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, „Bambiland“ und „Babel“ (Jelinek et al.
2004), setzten sich – unter reger Anteilnahme der amerikanischen Öffentlichkeit – nicht nur
dezidiert mit dem Irakkrieg auseinander, sondern griffen auch explizit auf den Fall Abu
Ghraib auf.712 Auch in Sam Shepards Theaterstück „God of Hell“, das in den Medien auf
große Resonanz stieß, wurden die Exzesse von Abu Ghraib in geradezu symptomatischer
Weise thematisiert.713 In dem satirischen Stück wird ein Pärchen aus Wisconsin von einem
Abu-Ghraib-Gespenst, bei dem es sich natürlich um die Ikone des Skandals handelt (7.1),
heimgesucht. Selbst der mittlere Westen, das periphere Herz der Vereinigten Staaten, so die
Botschaft des Gespensterauftritts, ist nicht vor der Heimsuchung durch Abu Ghraib sicher.
Der Bedrohung der amerikanischen Identität durch Abu Ghraib wird hier ein theatralischer
Ausdruck verliehen.
Ein weiteres Stück mit dem Namen „Untitled“ nahm die (angeblich) passive Rezeption der
Abu-Ghraib-Bilder aufs Korn: „In one sequence, a pair of Americans glanced with mild
interest at a newspaper as another actor looming behind them assumed one of the emblematic
postures of a prisoner at Abu Ghraib“.714 Aber nicht nur die Produktion neuere Stücke, auch
710
„Forming a Conga Line While Seated, and Other Difficult Feats”, The New York Times, 16. August 2005;
„Death Wears a Crisp Black Suit“, The New York Times, 26. Februar 2006.
711
„Small and Subtle Symbols In a Game That Recalls Shame“, The New York Times, 7. März 2006;
„‚Thresholds‘: Potent War Images“, The Washington Post, 24. April 2006; „A Choreographer Steps Into
Antiwar Movement“, The Washington Post, 30. März 2008; „Performance Art for Sale, Like Elections“, The
New York Times, 5. April 2008; „Seven Ways to Make You Squirm“, The Washington Post (Suburban
Edition), 16. Oktober 2008.
712
Vgl. „A Gloom of Her Own“, ein Interview mit der New York Times, 21. November 2004. Zur theatralischen
Verarbeitung des Irakkrieges von 2003 in Elfriede Jelineks Bambiland und Falk Richters Hotel Palestine
vergleiche auch den Aufsatz von Mathias Naumann (2007).
713
„Pointed New Shepard Play to Arrive Just Before Election“, The New York Times, 4. Oktober 2003;“That’s
No Girl Scout Selling Those Cookies”, The New York Times, 17. November 2004. „Milking America's
Angst; ‘God of Hell’ Is Sam Shepard’s Cry From the Heartland’”, The Washington Post, 17. November
2004; „There‘s hell to pay in Sam Shepard’s latest play“ USA Today, 17. November 2004; „Playwrights
Bring War Out of The Wings“, The Washington Post, 12. Juli 2005.
714
„Politics Moves From World Stage to a More Intimate Space“, The Washington Post, Met 2 Edition, 17.
Januar 2008.
551
die Wiederaufführung von Broadway-Klassikern wie „Cabaret“ oder die Neuinszenierung
alternativer Schauspiele wie „The Brig“ wurden mit Referenzen auf Abu Ghraib angereichert,
ebenso wie die Aufführung von Einaktern des (amerikakritischen) Nobelpreisträgers Harold
Pinter.715 Nicht einmal Shakespeare blieb von der Heimsuchung durch die Gespenster von
Abu Ghraib verschont. So berichtete die New York Times von einer Inszenierung von
Macbeth in Edinburgh: “There are hints at current events, like a caged prisoner recalling Abu
Ghraib, and the three witches wearing black burqas and white veils”.716 Allerdings lässt sich
die Wirkung von Abu Ghraib nicht nur in theatralischen Inszenierungen und PerformanceShows nachweisen, auch musikalische Darbietungen griffen das Thema in ihren Lyrics mit
politischem Impetus auf.717 Am bekanntesten ist vermutlich der Song „Dangerous Beauty“
von den Rolling Stones auf dem Album A Bigger Bang (2005), der Lynndie England, dem
inoffiziellen Postergirl von Abu Ghraib, gewidmet ist.
Generell lässt sich festhalten, dass sich – und dies hat sich im Fall der politischen
Aktivisten bereits angedeutet – insbesondere das Motiv des „hooded man“ größter Beliebtheit
erfreute und als Versatzstück in unterschiedlichste Performanzen eingebaut wurde.718 So
nutzte die Künstlerin Julia Mandle dieses Motiv für ihre Installation „dark clouds“, in der 375
an der Decke aufgehängte schwarze Kapuzen für die Anzahl der noch in Guantanamo Bay
verbliebenen Gefangenen stehen sollten.719 Hier kam es zu einer ästhetischen Synthese von
Abu Ghraib und Guantanamo Bay, die sich der symbolischen Assoziation der beiden Lager
im sozialen Imaginären verdankte. In Kunstausstellungen mit dezidiert politischer
Stoßrichtung, wie zum Beispiel „Axis of Evil, the Secret History of Sin“720 und „Intimacies of
a Distant War“,721 nahmen die Bildmotive von Abu Ghraib ebenfalls eine prominente Stellung
ein. Aber auch in großen internationalen Ausstellungen setzte man sich mit dem
Problemkomplex auseinander. So widmete sich die Documenta 12 (2007) unter anderem der
715
„Arena‘s ‚Cabaret,‘ Heavy on the Makeup“, The Washington Post, 18. September 2006;“Keeping the Old
Off Off Broadway Spirit Alive”, The New York Times, 27. April 2007; „Sinister Plots Echo in Three Pinter
One-Acts“, The Washington Post, 13. Juni 2006.
716
„High-Energy Behemoth Devours Edinburgh“, The New York Times, 19. August 2007.
717
„Compositions to Do Battle With War and Injustice“, The New York Times, 4. März 2008.
718
„A Haunting Play Resounds Far Beyond the Stage“, The New York Times, 15. April 2005.
719
Mandle, Julia: „Torture as Inspiration“, Huffington Post, 19. Juli 2007, http://www.huffingtonpost.com/juliamandle/torture-as-inspiration_b_56914.html; letzter Zugriff am 21. Juni 2011.
720
„Secret Service at Art Show“, The New York Times, 13. April 2005.
721
„Crux of War Depicted in Human Terms“, The New York Times, 23. März 2008.
552
von Giorgio Agamben aufgeworfenen Frage nach dem „bloßen Leben“ (2007/1995), die
durch Guantanamo und Abu Ghraib eine bedrohliche Virulenz gewonnen hatte. Neben den
Kunstwerken, die sich mit dem Thema Abu Ghraib auseinandersetzten, war auch der
Bildtheoretiker Mitchell mit einem Vortrag über die Abu-Ghraib-Bilder und sein damals noch
im Entstehen begriffenes Buch Cloning Terror (2011) in Kassel vertreten. Auf der Biennale
2009 war Paul Chans Schattenspiel Sade for Sade’s Sake zu sehen, bei dem mit
Wandprojektionen gearbeitet wurde und in dem Pressestimmen eine künstlerische
Verarbeitung der Folter in Abu Ghraib zu erkennen glaubten.722 Diese Aufzählung ließe sich
noch weiter fortsetzen.
Auch wenn die Fotografie das Medium der Malerei in vielerlei Hinsicht abgelöst hat, zeigt
die malerische Rezeption der Abu-Ghraib-Fotografien, dass die imaginative Freiheit der
Malerei Bedeutungen schaffen kann, die einen neuen Blick auf die Skandalfotografien
ermöglichen. Von allen Gemälden zu Abu Ghraib haben die Bilder des kolumbianischen
Künstler Fernandez Botero wohl die größte öffentliche Aufmerksamkeit erfahren und auch für
einige Kontroversen gesorgt. Alle Bilder von Botero zeichnen sich durch einen
eigentümlichen Stil mit hohem Wiedererkennungswert aus, da die menschlichen Körper auf
seinen Bildern, die oft in Pastelltönen gehalten sind, überdimensioniert und aufgebläht
wirken. Er bedient sich oft vertrauter Motive und bekannter Kunstwerke, wie z.B. Leonardo
da Vincis Mona Lisa, die durch seine Kunstgriffe verfremdet wiedergegeben werden. Kritiker
seiner Abu-Ghraib-Serie hielten ihm vor, dass er in manieristischer Weise seinen altbekannten
Stil auf ein neues, ja beliebiges Sujet anwende, während seine Fürsprecher die Meinung
vertraten, dass der Künstler mit seiner malerischen Darstellung von Abu Ghraib endlich zu
seinem Sujet gefunden habe, für das seine Technik objektiv angemessen sei. Arthur C. Danto
schreibt in dem amerikanischen Magazin The Nation, dass die Malereien von Botero es sehr
viel besser als die Fotografien von Abu Ghraib verstünden, dem Betrachter die Leiden der
Gefangenen erfahrbar zu machen:
Botero’s astonishing works make us realize this: We knew that Abu Ghraib’s prisoners were suffering,
but we did not feel that suffering as ours. When the photographs were released, the moral indignation of
the West was focused on the grinning soldiers, for whom this appalling spectacle was a form of
entertainment. But the photographs did not bring us closer to the agonies of the victims.723
Danto zufolge fördern die Gemälde von Botero bei den Rezipienten eine Identifikation mit
den Folteropfern, während die meisten Fotografien aus Abu Ghraib – wieder einmal ist die
722
„A More Serene Biennale“, The New York Times, 8. Juni 2009.
723
Danto, Arthur C: „The Body in Pain“, The Nation, 9. November 2006.
553
Ikone des Skandals die Ausnahme (7.1) – die Täter in den Vordergrund rückten. Auch
Mitchell argumentiert, dass erst die aufgeblähten Körper von Botero den psychischen Stress
und das körperliche Leiden der Opfer überdeutlich erkennbar („hypervisible“) machten:
What is done to them seems to be done to the painting as well, as if pain and paint had merged. One feels
that Botero contemplated the photographs carefully and packed their visceral, embodied essence into his
paintings like sausage casings stuffed with suffering. (2011: 140)
In der Tat: Botero, der nach eigenen Angaben durch Seymour Hershs Artikel zu Abu Ghraib
inspiriert worden war, beschäftige sich mehrere Monate ausschließlich mit seinem AbuGhraib-Zyklus, der unzählige Zeichnungen und Gemälde umfasst.724 In einem seiner
unzähligen Bilder nahm sich Botero die „menschliche Pyramide“ (7.2) zum Vorbild,
konzentrierte sich in seiner Darstellung aber alleine auf die hilflosen und leidenden Opfer:
Fernandez Botero, Abu Ghraib 57 (2005)725
Botero trieb – nach eigenen Angaben – nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine
politisch-moralische Motivation. In mehreren Artikeln zu seinem Zyklus wird der Maler mit
der Aussage zitiert, dass Kunst das Vermögen besitze, eine permanente Anschuldigung
(„permanent accusation”) zu schaffen.726 Seine Abu-Ghraib-Bilder sind sicherlich nicht
jedermanns Geschmack, über den sich bekanntermaßen trefflich streiten lässt, aber es lässt
724
„A Conflict of Images; Fernando Botero’s Chubby Figures Confront the Torture at Abu Ghraib“, The
Washington Post, 14. Oktober 2006.
725
Zu finden auf: http://warpost.blogsome.com/2006/11/18/abu-ghraib/; letzter Zugriff am 26. März 2012.
726
„Botero Sees the World’s True Heavies at Abu Ghraib“, The Washington Post, 4. November 2007. „The
Permanent Accusation“ ist auch der Titel eines Kurzfilmes über Boteros Abu-Ghraib-Zyklus; zu sehen unter
http://www.youtube.com/watch?v=VoleMx-sxqQ; letzter Zugriff am 26. März 2012.
554
sich kaum bestreiten, dass sie den Nerv der Zeit trafen. Ebenso muss die These, dass die
Bilder von Botero die Schwächen der Fotografien von Abu Ghraib kompensierten, aus einer
bildhermeneutischen Perspektive ernst genommen werden. Die groteske Aufblähung der
dargestellten Körper auf seinen Bildern beseitigt den Verdacht der Ästhetisierung oder gar der
Erotisierung der Folter, dem die Abu-Ghraib-Fotografien teils unterlagen. Stattdessen bringt
seine Maltechnik die schiere Körperlichkeit und Verletzlichkeit der Gefangenen bildlich zum
Ausdruck. Die Gemälde von Botero, so ein Beobachter treffend, stellen die verletzte Würde
der Gefangenen wieder her.727 In dieser Hinsicht sind sie in ihrer Funktion mit den
christomimetischen Bildelementen der Ikone des Skandals vergleichbar (7.5.3), die im
Übrigen keine Entsprechung in der Serie des Malers besitzt.728 Botero, schon vor dem
Skandal ein international erfolgreicher Künstler, gab von Anfang an öffentlich bekannt, dass
er seine Abu-Ghraib-Serie nicht verkaufen wolle, da es nicht schicklich sei, aus einem solchen
schrecklichen Ereignis Profit schlagen zu wollen.729 Allerdings zeigte er sich an einer
Ausstellung der Bilder in den Vereinigten Staaten sehr interessiert. Schließlich wurden seine
Gemälde in den USA ausgestellt und der University of California, Berkeley, vermacht.730
Dennoch hat sich die Beschäftigung mit Abu Ghraib für Botero sicherlich auch finanziell
bezahlt gemacht, da er durch diese Werke seine Popularität abermals steigern konnte.
Neben Botero nahmen sich auch viele andere Künstler des Themas „Abu Ghraib“ an, unter
anderem die Künstlerinnen Beatriz Ezban,731 Amy Wilson732 und Susan Crile.733 Eine Fülle
weiterer Kunstwerke zu Abu Ghraib wird in Mitchells Buch Cloning Terror (2011) gezeigt
und diskutiert. Am interessantesten ist für unserem Zusammenhang (in dem Mitchells
Obsession des Klonens außen vor bleibt) die Fotocollage American Innocence (2007) von
727
„Botero Restores the Dignity Of Prisoners at Abu Ghraib“, The New York Times, 15. November 2006.
728
Vermutlich, weil die Ikone des Skandals im Gegensatz zu den anderen Bildern die Aufmerksamkeit auf das
Leiden des Opfers fokussiert und in ihrer ikonischen Prägnanz keines Korrektivs bedarf (7.1). Vgl. auch die
Interpretation des Abu-Ghraib-Zyklus bei Eliana Herrera-Vega (2011), die im Rückgriff auf Luhmanns
Kommunikationstheorie und Warburgs Begriff der „Pathosformel“ zu ähnlichen Schlüssen gelangt.
729
„‚Great Crime‘ at Abu Ghraib Enrages and Inspires an Artist“, The New York Times, 8. Mai, 2005.
730
Seine Arbeiten wurden erstmals 2005 in New York ausgestellt. Eine weitere Ausstellung folgte 2007 an der
American University in Washington D.C., anschließend ging die Abu-Ghraib-Serie in den Besitz der
kalifornischen Universität über. Vgl. „Botero Gives Abu Ghraib Art To Berkeley”, The New York Times, 30.
August 2007.
731
„The High and Low Of the Art Scene“, The Washington Post (Suburban Edition), 31. März 2007.
732
„Meet Grandma Moses With an Attitude“, The New York Times, 8. Mai 2005.
733
„Susan Crile – Abu Ghraib: Abuse of Power“, The New York Times, 13. Oktober 2006; vgl. auch
http://www.susancrile.com/abu.html, letzter Zugriff 22. Juni 2011.
555
Lawrence Weschler und Naomi Herskovic, die auf dem Foto The Discovery (1956) von
Norman Rockwell basiert (vgl. Mitchell 2011: xvf.). Während auf dem ursprünglichen Foto
ein erschrockener Junge zu sehen ist, der im Schrank seiner Eltern den Anzug von Santa
Claus gefunden hat, quellen in der neuen Version mehrere Abu-Ghraib-Bilder aus dem
Schrank hervor. Auch hier scheint die Botschaft eindeutig: Der Glaube der amerikanischen
Bevölkerung an die moralische „Sauberkeit“ ihrer Armee und Regierung ist nicht weniger
naiv als der Glaube eines Kindes an den Weihnachtsmann. Die Identitätskrise von Abu
Ghraib sei nichts anderes als der Verlust einer kollektiven Unschuld und damit ein
notwendiger Schritt ins Erwachsenenleben. Einem Gemälde der Künstlerin Dana Schutz, das
sowohl Bildelemente der Ikone des Skandals als auch das christomimetische Motive aufgreift
(7.1.), wurde in der New York Times besondere Aufmerksamkeit gewidmet:
„Party” (2004), painted shortly before the last presidential elections, depicts several members of the Bush
White House together on a beach. Vice President Dick Cheney and Secretary of State Condoleezza Rice
bear the bloated body of former Attorney General John Ashcroft, in a sort of secular Descent From the
Cross. Trailing behind them are electrical cords and a pointed brown hood, which recall the images of
torture at Abu Ghraib.734
Indem dieses Gemälde die Motive des Skandals mit der Darstellung der Führungsriege der
republikanischen Partei verquickt, gewinnt es, auch wenn es nicht gerade durch Subtilität
glänzen kann, zumindest eine gewisse politische Brisanz. Keines der Bilder, die auf Abu
Ghraib Bezug nehmen, ist ohne politische Implikationen. Manche sind allerdings besonders
plakativ politisch, wie beispielsweise Clinton Feins „American flag with the stars and stripes
made from the text of the official Abu Ghraib report”.735
Die Bedeutung von Abu Ghraib erschöpfte sich nicht in seiner produktiven Rolle als
Quelle der Inspiration für neue Kunstwerke, sondern beeinflusste auch die Rezeption von
Altbekanntem. Dies wurde auch schon in der öffentlichen Rezeption der Ikone des Skandals
deutlich, die Vergleiche zu Goya, christlicher Kunst und den Lynching-Fotografien
provozierte (7.1). In ähnlicher Weise suchten die Bilder von Abu Ghraib den Kunstkritiker
Benjamin Genocchio heim, der sich auf der Ausstellung Evidence Revisited, einer
Wiederholung der Ausstellung Evidence von 1977 in San Francisco, umsah: “Among these
mysterious documentary images is a man with a fireproof plastic bag on his head (reminding
you freakishly of the hooded figure in one of the photographs from Abu Ghraib)”.736 Seiner
734
„Portrait of the Artist as a Paint-Splattered Googler“, The New York Times, 15. Januar 2006; vgl. auch zum
selben Bild: „Dismemberment as Motif in a Study of Mayhem“, The New York Times, 6. Dezember 2004.
735
„Art Guide“, The New York Times, 17. September 2004.
736
„What Do These Pictures Mean? It‘s All in Your Imagination“, The New York Times, 24. Oktober 2004.
556
Schlussfolgerung, dass die Bedeutung dieser Bilder in der Vorstellungskraft jedes Einzelnen
liege, lässt sich aus soziologischer Perspektive nur noch hinzufügen, dass die
Vorstellungskraft selbst gesellschaftlich verfasst ist und damit dem jeweiligen sozialen
Imaginären unterliegt (1.3.3). Andere sprachen den Malereien von Philip Guston aus den
dreißiger Jahren, die den Ku-Klux-Klan thematisieren, eine „new, sinister resonance for postAbu Ghraib viewers“ zu,737 wieder andere glaubten Abu Ghraib in den dadaistischen
Malereien von George Grosz zu erkennen.738 Nicht nur Künstler und Journalisten, sondern
auch ganz normale Besucher und Betrachter teilten dieses soziale Imaginäre. So „entdeckte“
die Künstlerin Leila Kubba erst nachdem eine Besucherin sie darauf hingewiesen hatte, dass
eines ihrer Bilder einen Bezug zu Abu Ghraib aufweist:
It wasn‘t until a woman asked her if the painting portrayed the prison abuse scandal at Abu Ghraib that
Ms. Kubba discovered this dimension in her work. One of the figures seems to be posed like the hooded
prisoner of the now infamous prison abuse photos. „It was an insight into something I hadn‘t planned,“
she said.739
Hier wird besonders deutlich, dass vor dem Hintergrund der Abu-Ghraib-Bilder auch bereits
bestehende Kunstwerke neu wahrgenommen und interpretiert werden können. Interessant ist
darüberhinaus, dass die Künstlerin Kubba die Bedeutung ihre Kunstwerke offensichtlich nicht
intentionalistisch versteht, sondern ihre Bilder für nachträgliche Deutungen offen hält.
Zur künstlerischen Aufarbeitung des Abu-Ghraib-Skandals kam es nicht nur im Westen,
sondern auch in der arabischen Welt, insbesondere aber im Irak selbst. Keine zwei Monate
nach Veröffentlichung der Abu-Ghraib-Fotografien gab es in Bagdad die erste Ausstellung
von Künstlern, die sich in ihren Kunstwerken mit dem Gefangenenmissbrauch
auseinandersetzten und darüberhinaus auch die mutmaßliche Vergewaltigung von in Abu
Ghraib inhaftierten Frauen zum Thema machten.740 Nicht zuletzt die sexuelle Dimension der
Abu-Ghraib-Bilder (vgl. 7.3) gab solchen Gerüchten weiteren Auftrieb. Etwa zwei Jahre
später, anlässlich der Eröffnung einer Galerie durch den irakischen Künstler Qasim Sabti, in
der Skulpturen und Gemälde zum Abu-Ghraib-Skandal ausgestellt wurden, äußerte die
amerikanische
Tageszeitung
USA
Today
die
Hoffnung,
dass
die
künstlerische
Auseinandersetzung mit Abu Ghraib den „Heilungsprozess“ des Landes („national healing“)
737
„Philip Guston“, The New York Times, 15. Dezember 2006.
738
„Learning From Dada“, The Washington Post, 7. März 2006.
739
„Artist Looks for Her Native Iraq Behind Women’s Veils“, The New York Times, 22. März 2005.
740
„Artists Express Iraqis‘ Anger; Baghdad Exhibit Reflects Belief That Iraqi Women Were Raped in Abu
Ghraib“, The Washington Post, 9. Juni 2004.
557
einleiten könne.741 Sowohl für die USA als auch für den Irak stellte Abu Ghraib offensichtlich
eine traumatische Erfahrung dar, an der sich unter anderem auch die Kunst abarbeitete. Aber
auch jenseits dieser nationalen Kontexte entfaltete Abu Ghraib eine Faszination für viele
Künstler, die sich mit den dunklen Seiten der Moderne auseinandersetzen wollten. Allerdings
war diese Aufarbeitung der traumatischen Erfahrung von Abu Ghraib in den Vereinigten
Staaten nicht unumstritten, weil sie an ein anderes, tieferes Trauma – 9/11 – rührte. So stießen
die Pläne zur Errichtung eines Kulturhauses am Ground Zero auf heftige Proteste von Seiten
konservativer Politiker742 und Angehörigengruppen der Opfer vom 11. September,743 da
einige der beteiligten Kulturinstitutionen im Vorfeld durch die Ausstellung von Abu-GhraibKunst von sich reden gemacht hatten. Aus der Sicht der Kritiker musste die symbolische
Verunreinigung der nationalen Gedenkstätte des 11. Septembers 2001 durch liberale
Kuratoren und Abu-Ghraib-Fotografien um jeden Preis verhindert werden. Das Opfer- und
Heldennarrativ von 9/11 steht den Enthüllungen von Abu Ghraib und ihren politischen
Implikationen diametral entgegen.
9.4.3. Politische Kunst, die Rückkehr des Realen und die „doppelte Mimesis“
In den letzten Jahren haben sich weite Teile der Kunstszene von der selbstreferenziellen
Konzeption des L’art pour l‘art abgewendet. Neue Stile wie etwa der modernisme noir
betreiben eine „doppelte Mimesis“ (Blum & Hartle 2010), indem sie sich zum einen auf die
bildlichen Ausdruckformen der modernistischen Kunst des 20. Jahrhunderts beziehen und
zum anderen einen Bezug zu politischen Inhalten und sozialen Konflikten herstellen:
Gregor Schneiders Installation „Weiße Folter“ (Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K 21, Düsseldorf
2007) ist das Paradebeispiel. Sie bezieht sich im Modus der bereits erwähnten „doppelten Mimesis“ –
gleichermaßen auf die Logik der perfektionierten Strafmaschine Guantánamo mit ihren Folterzellen und
auf den aseptischen Charakter des White Cube. Schneiders Arbeit ist ein Nachbau der Zellen und
Korridore des Gefangenenlagers mit Elementen, die teils als Ready-mades aus dem StrafvollzugsFachhandel stammen und zugleich ein abgründiges Remake puristischer Rauminstallation der sechziger
Jahre. (Blum & Hartle 2010: 227)
Dass die Abu-Ghraib-Bilder nicht zu einem bevorzugten Gegenstand des modernisme noir
wurden, hat vor allem damit zu tun, dass die schmutzigen Abu-Ghraib-Bilder in einem
schroffen Gegensatz zu den klaren und aseptischen Formen des Modernismus zu stehen
741
„Art becomes yet another victim of war; Several Lebanese artists lost their works during the Israeli
bombardment of Lebanon. Though the loss of innocents during fighting rightfully garners the most attention,
the loss of fine art also can have lasting effects on a society and its culture”, USA Today, 13. Dezember 2006.
742
„Pataki Warns Cultural Groups For Museum At Ground Zero“, The New York Times, 25. Juni 2005.
743
„Proposal for Two Museums At Ground Zero Is Divisive; Some Victims' Families Fear Political Slant Will
Mar Site“, The Washington Post, 4. Juli 2005.
558
schienen. Am ehesten kamen dieser Stilrichtung noch die Abu-Ghraib-Fotografien von
Richard Ross entgegen, die dieser vor dem Skandal auf dem Gelände des Gefängnisses
angefertigt hatte:
The exhibition is dominated by an understated, but terrifying, horizontal image of temporary segregation
cells from Abu Ghraib, taken before news of the prisoner abuse-torture scandal broke in 2004. It is a duncolored photograph framing four simple structures that are little more than phone-booth-size cages.
Brown tarps, secured on the ground with green sandbags, offer minimal protection from the sun.744
Das Abu-Ghraib-Gefängnis, das seinem Architekten zufolge als eine moderne und
progressive Institution geplant wurde (vgl. 6.3),745 reflektiert in seiner Architektonik den
nüchternen und sachlichen Stil des Modernismus, der von den Vertretern des modernisme
noir imitiert und kritisiert wird. Die Fotografien von Ross, die mittlerweile unter dem Titel
Architecture and Authority veröffentlicht wurden (Ross & MacArthur 2007), konzentrieren
sich auf funktionale und rationale Aspekte des Gefängnisraumes, der nicht weniger
beängstigend erscheint als die Folterspiele von Abu Ghraib. In der Washington Post wurde
von einer Ausstellung berichtet, in der das Künstlerehepaar Ivan Navarro und Courtney Smith
sich im Geiste des modernisme noir an einer Kritik der „dark side of the modernist agenda“
versucht hatte:
In a video screening at the gallery, a man stands atop the back of another man who crouches on hands and
knees; both wear bags over their heads, like torture victims. Elsewhere in the show, a sculpture in
fluorescent tubes and glass mimics the crouching figure’s shape. Here Navarro uses the signature bulbs of
mid-century minimalist Dan Flavin – an apolitical artist if there ever was one – but applies them to
contemporary politics (the pose suggests Abu ghraib).746
Indem hier die Elemente minimalistischer und moderner Kunst zitiert, aber in einen Bezug
zur zeitgenössischen Politik gestellt werden, formuliert der Künstler eine doppelte Kritik: Am
scheinbar unpolitischen Modernismus und an der Politik im Krieg gegen den Terror. Man
sieht also, dass die Stilrichtung des modernisme noir auch in Bezug auf Abu Ghraib zur
Anwendung kam. Zusammenfassend kann man sagen, dass der von Gerd Blum und Johan
Frederik Hartle herausgearbeitete Begriff der „doppelten Mimesis“ (2010; zu diesem Begriff
auch Thürlemann 2003) in einem allgemeineren Sinn auf alle hier diskutierten Kunstwerke
und Performanzen zutrifft. Sie orientieren sich mimetisch an einem künstlerischen Stil und
zugleich an einem realen Ereignis, wenn auch – wie dies für den modernisme noir typisch ist
744
„In Stark ‚Authority,‘ Artist Asks the Tough Questions“, The Washington Post, 21. Mai 2009.
745
„Shedding Light On a Symbol Of Iraqi Terror; Ex-Prisoners Describe Horrors, Call for Justice“, The
Washington Post, 6. Oktober 2003.
746
„Standing in the Shadow of the Silhouette Figure; Kara Walker's Success Inspires Arlington Exhibit“, The
Washington Post (Regional Edition), 20. Juni 2008.
559
– die politische Kritik nicht immer mit einer Stilkritik einhergeht.
Im Folgenden soll kurz auf eine künstlerische Verarbeitung von Abu Ghraib eingegangen
werden, die wenig öffentliche Aufmerksamkeit, geschweige den Würdigung erfahren hat. Im
Jahr 2006 startete ein selbsternannter „Politikjunkie“ mit einem Faible für Lego den
politischen Blog legofesto, für den gewalttätige Ereignisse aus der Tagespolitik mit
Legofiguren nachgestellt wurden.747 Bei den ersten Bildern handelte es sich um
Nachstellungen von Abu-Ghraib-Bildern. Unter anderem wurden dabei die Ikone des
Skandals und das Bild von Lyndie England mit dem angeleinten Gefangenen verarbeitet.
Für folgende Zusammenstellung: „Visualizing Torture, With Lego“, The New York Times, 5. Mai 2009.
Die Künstlerin stellt einerseits „echte“ Fotografien von Abu Ghraib nach, andererseits
imaginiert sie auch Szenen auf Basis der Untersuchungsberichte oder ihrer künstlerischen
747
http://legofesto.blogspot.com/2006_08_01_archive.html; letzter Zugriff am 21. Juni 2011. Der Blog wurde
2006 begonnen und bis 2009 beständig erweitert.
560
Fantasie. Darunter sind auch rein „fiktive“ Szenen, die unter anderem England mit einem
angeleinten Hund und einem am Boden liegenden Gefangenen zeigen.
Die britische Verfasserin des Blogs gibt an, mit ihrer künstlerischen Aufarbeitung von
Missbrauchsfällen und Menschenrechtsverletzungen ihrem Unmut über den Verlauf des
Krieges gegen den Terror, an dem – ihrer Meinung nach – auch Großbritannien maßgeblich
beteiligt ist, Ausdruck verleihen zu wollen. Die Idee, Lego als ein künstlerisches Medium und
darüberhinaus auch zur Darstellung von Menschenrechtsverletzungen zu verwenden, ist dabei
nicht einmal besonders originell. So hatte bereits im Jahr 2002 das „Lego Concentration
Camp Set” des polnischen Künstlers Zbigniew Libera, das Teil der Ausstellung „Mirroring
Evil: Nazi Imagery” im New Yorker Jewish Museum war, für eine kleinen Skandal gesorgt.748
Damit besitzt auch der Blog legofesto einen doppelten mimetischen Bezug: Auf der einen
Seite werden reale Ereignisse nachgeahmt, auf der anderen Seite zitiert die Künstlerin eine
bereits vorhandene Verfremdungstechnik – und damit indirekt den Holocaust. Neben den
Szenen aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis stellt die Künstlerin aber auch reale Ereignisse dar,
von denen es keinen Fotografien gibt, wie zum Beispiel die Vergewaltigung und Tötung eines
15-jährigen irakischen Mädchens durch amerikanische Soldaten. Damit lenkt die Künstlerin
unser Augenmerk auf Ereignisse, denen die Macht des fotografischen Beweises fehlt, und
verleiht ihnen im „Medium Lego“ eine verspielt-erschreckende Anschaulichkeit.
Ähnlich wie bei sozialen Performanzen ist auch der Erfolg künstlerischer Performanzen
und Artefakte auf die Resonanz eines kulturellen Hintergrunds angewiesen. Alexander hat
darauf hingewiesen, dass dies angesichts der Diversifizierung und Fragmentierung des
kulturellen Hintergrundes immer schwieriger werde (2006b). In einer Studie zum Holocaust
demonstriert Alexander, wie ein zeitgeschichtliches Ereignis zu einer moralischen Universalie
und damit zu einem Teil des globalen kulturellen Hintergrundes werden kann (2002). Globale
Medienereignisse stellen auch in jüngerer Zeit einen geteilten Hintergrund bereit, welcher
quer zur kulturellen Diversifizierung steht – und genau dies macht globale Medienereignisse
auch für die Kunst attraktiv. Die kulturelle Resonanz und politische Relevanz der AbuGhraib-Bilder stellten zweifellos Anreize für ihre künstlerische Weiterverarbeitung dar. Dabei
konnte man sich unterschiedlicher Techniken und Stile bedienen und so den Anschluss an die
748
Zbigniew Libera nutzt unterschiedliche Verfremdungstechniken, um den Betrachter aufs Neue mit bekannten
Motiven zu konfrontieren. Bemerkenswert ist seine fotografische Nachstellung der Vietnamkriegsikone von
Nick Ut (vgl. 6.2.3), deren Titel Nepal (2003) an den Napalm-Hintergrund des Originals erinnert. Der dem
Original verblüffend ähnliche Bildaufbau sorgt beim Betrachter für Befremden, da die darauf abgebildeten
Personen eine ausgelassene Fröhlichkeit zur Schau stellen.
561
künstlerische Tradition wahren oder mit ihr experimentieren. Die stilübergreifende Rückkehr
des Realen in der modernen Kunst, die sich im modernisme noir in ihrer eindringlichsten
Form zeigt, scheint die Rezeption von Abu Ghraib noch begünstig zu haben. Im Medium der
Kunst setzt sich die gesellschaftliche Reflexion über Abu Ghraib fort und wirkt, wie ihre
Rezeption in den führenden Tageszeitungen der USA zeigt, auf den öffentlichen Diskurs
zurück. Die Bildmotive, die schon in den Fotografien angelegt waren, können durch eine
künstlerische Ausgestaltung entfaltet und auf eine politische Botschaft zugespitzt werden.
Dabei erfüllt die Kunst zum Teil auch eine kompensatorische Funktion, indem sie Aspekte
zur Darstellung bringt, die auf den Fotos unterzugehen drohen, oder aber indem sie Ereignisse
beleuchtet, die gar keine fotografische Darstellung fanden. Zu guter Letzt fördert die
Nachahmung durch die Kunst den ikonischen Status der Vorbilder, da sie zu ihrer
Kanonisierung beiträgt.
9.5. Internationales Recht und nationale Politik
Die Strafanzeige richtet sich gegen Folter, die von der
Regierung eines Staates veranlasst, organisiert und umgesetzt
wurde, der als demokratischer Rechtsstaat verfasst ist.
Wolfgang Kaleck, aus der Strafanzeige
gegen Rumsfeld et al.
Der Folterskandal von Abu Ghraib berührt viele zentrale Fragen moderner Gesellschaften,
unter anderem die wechselseitige Einflussnahme zwischen verschiedenen Funktionssystemen,
wie beispielsweise von Politik und Recht. Am Beispiel der Urteile des Supreme Courts wurde
bereits gezeigt, wie das Recht die Regierung mit öffentlicher Rückendeckung dazu zwang, die
Inhaftierungspraxis in Guantanamo Bay schrittweise zu zivilisieren (9.3). Komplizierter ist
allerdings das Verhältnis von Politik und Recht, wenn es um Fragen der Durchsetzung von
internationaler Rechtsprechung geht. Hier ruhen Öffentlichkeit, Recht und Politik nicht auf
einem gemeinsamen Fundament, dem Willen des Volkes, deren Repräsentation sie
beanspruchen. Aus diesem Grund steht die internationale Rechtsprechung unter dem
Generalverdacht der Einmischung in innere Angelegenheiten. In anderen Fällen steht sie im
Widerspruch zu den politischen Interessen eines Landes, wie dies bei der Strafanzeige gegen
Donald Rumsfeld in Deutschland der Fall war.
562
9.5.1. CCR v. Rumsfeld et al. – Strafanzeige gegen Verteidigungsminister Rumsfeld
Am 30. November 2004, also wenige Wochen nach der Wiederwahl von George W. Bush,
erstattete der deutsche Rechtsanwalt und ehemalige Bürgerrechtler Wolfgang Kaleck im
Namen des Center for Constitutional Rights (kurz: CCR) und von vier irakischen
Staatsbürgern eine Strafanzeige gegen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und einige
Angehörige der amerikanischen Armee.749 Grundlage der Anklage war der Vorwurf, dass
Rumsfeld die systematische Anwendung von Folter zu verantworten habe, was den
Strafbestand der Beteiligung an Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch von 2002 erfülle.
Dieses besitzt ein Weltrechtsprinzip, das die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen in
den Zuständigkeitsbereich der deutschen Justiz rückt. Dabei ging es nicht um die Verhöre in
Guantanamo Bay, sondern vor allem um die Haftbedingungen und Misshandlungen im AbuGhraib-Gefängnis, wie sie durch den Abu-Ghraib-Skandal ans Licht der Öffentlichkeit
gelangt sind (vgl. Fischer-Lescano 2005: 691f.):
Sie sollen Untergebenen Weisungen zur Behandlung von Gefangenen erteilt haben, die gegen
international geltende Schutzvorschriften, unter anderem die UN-Folterkonvention, verstoßen. Trotz
Kenntnis der Misshandlungen hätten sie keine Schritte zur Verhinderung weiterer Übergriffe ihrer
Untergebenen und zur Ahndung bereits begangener Misshandlungen eingeleitet.750
Vor allem aber wurde ein kausaler Zusammenhang zwischen Antiterrorgesetzgebung und den
Vorfällen im Abu-Ghraib-Gefängnis postuliert: „An der Vorgeschichte des Skandals und den
Vorfällen von Abu Ghraib lässt sich studieren, mit welchen Methoden der Krieg gegen den
Terrorismus seit dem 11. September 2001 geführt wird“.751 In der Anklageschrift werden alle
44 Vorfälle des Fay-Jones-Report (2005/2004: 1073-1095) in deutscher Übersetzung
aufgeführt. Der Anzeige gegen Rumsfeld wurde vom Generalbundesanwalt unter Berufung
auf das Prinzip der Subsidiarität nicht stattgegeben. Dies bedeutet, dass sich vorrangig
amerikanische Gerichte mit dem Fall zu befassen hatten. Eine Abweichung vom
Subsidiaritätsprinzip wäre nur dann legitim gewesen, wenn die Gerichte des Heimatlandes
den Vorwürfen nicht nachgegangen wären:
Hier bestehen keine Anhaltspunkte, dass die Behörden und Gerichte der Vereinigten Staaten von Amerika
wegen der in der Strafanzeige geschilderten Übergriffe von strafrechtlichen Maßnahmen Abstand
genommen hätten oder Abstand nehmen würden. So wurden wegen der Vorgänge von Abu Ghraib bereits
mehrere Verfahren gegen Tatbeteiligte, auch gegen Angehörige der 800. Militärpolizeibrigade,
749
Die ursprüngliche Anzeige wurde am 29. Januar 2005 noch einmal ergänzt.
750
http://www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?newsid=163; letzter Zugriff 27. Juni 2011
751
Das Zitat ist aus der Einleitung der deutschen Version der Anklageschrift entnommen, zu finden unter
http://ccrjustice.org/v2/legal/september_11th/docs/complaint_in%20German1_dienstag1.pdf; letzter Zugriff
25. Juni 2011.
563
durchgeführt. Mit welchen Mitteln und zu welchem Zeitpunkt gegen weitere mögliche Tatverdächtige im
Zusammenhang mit den in der Strafanzeige geschilderten Übergriffen ermittelt wird, muss dabei den
Justizbehörden der Vereinigten Staaten von Amerika überlassen bleiben.752
Dass der Zeitpunkt der Ankündigung des Generalbundesanwalts genau einen Tag vor der
Münchner Sicherheitskonferenz, an der Rumsfeld teilnehmen sollte, lag, war alles andere als
zufällig. Allerdings hatte Rumsfeld bereits im Vorfeld der Konferenz abgesagt und
angekündigt, sich vertreten lassen zu wollen.753 Nachdem die Strafanzeige zurückgezogen
worden war, nahm Rumsfeld dann doch spontan an der Sicherheitskonferenz teil.754 Es
verwundert kaum, dass in deutschen wie in amerikanischen Medien ein Zusammenhang
zwischen dem unerwarteten Besuch und der Entscheidung des Bundesanwalts gesehen wurde.
Das Verdachtsmoment einer politischen Einflussnahme auf die Entscheidung liegt nicht nur
nahe, sondern ist sogar institutionalisiert: Der Generalbundesanwalt bekleidet ein politisches
Amt, das in seiner Ausübung an die politische Linie der jeweiligen Bundesregierung
gebunden ist. Insofern gehört der Generalbundesanwalt zur Exekutive und untersteht direkt
dem
Justizminister
(vgl.
Fischer-Lescano
2005:
715f.).
Die
Auslegung
des
Subsidiaritätsprinzip durch den Bundesanwalt wurde von Andreas Fischer-Lescano (2005) als
eine Unterhöhlung des Weltrechtsprinzips kritisiert. Dennoch entbehrte das Urteil nicht
jeglicher Plausibilität, da es vielen Deutschen ungeheuerlich erschienen wäre (einschließlich
derer, die sich dies gewünscht hatten), den Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten
wegen Kriegsverbrechen anzuklagen. Schließlich wurde das Völkerstrafgesetzbuch mit
Weltrechtsprinzip geschaffen, um Diktatoren und Kriegsverbrecher peripherer Nationen, nicht
aber demokratisch gewählte Vertreter von verbündeten Nationen, zur Verantwortung ziehen
zu können – so zumindest die populäre Imagination des Völkerstrafrechts.
9.5.2. Die Kongresswahlen 2006 und Rumsfelds Rücktritt
Im Wahlkampf für die Kongress- und Senatswahlen 2006, den sogenannten „mid-term
elections“, erreichte das Ansehen von Rumsfeld einen neuen Tiefpunkt, sodass selbst einige
seiner Parteigenossen mit der Forderung nach seinem Rücktritt Wahlkampf führten.755 Die
Ergebnisse der Wahlen am 7. November 2006 waren für die Republikaner ein Desaster. Die
Demokraten verschafften sich eine Mehrheit im Repräsentantenhaus und verfehlten die
752
http://www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?newsid=163; letzter Zugriff 27. Juni 2011
753
„Rumsfeld‘s Attendance at Security Conference Uncertain“, Washington Post, 28. Januar, 2005.
754
„German Prosecutor Refuses Rumsfeld Probe“, The Washington Post, 11. Februar 2005.
755
„G.O.P. Hopeful Says Rumsfeld Should Resign“, The New York Times, 3. September 2006.
564
Mehrheit im Senat nur knapp.756 Am darauffolgenden Tag musste Donald Rumsfeld, der Bush
nach eigenen Angaben zweimal während des Abu-Ghraib-Skandales um seinen Rücktritt
ersucht hatte, zurücktreten. Die USA Today schrieb, dass Donald Rumsfeld zuletzt nur noch
eine “toxic distraction“ im Pentagon gewesen sei und dessen Abdankung schon lange
überfällig gewesen wäre.757 Auf der dort veröffentlichten „Fehlerliste“ Rumsfelds wird auch
Abu Ghraib aufgeführt: „His negligent guidance on the treatment of prisoners led at least
indirectly to the abuses at Iraq’s Abu Ghraib prison, which badly damaged America‘s image“.
Während Rumsfeld im Mai 2004 nur für sein Krisenmanagement im Feuer der Kritik
gestanden hatte (vgl. 8.2.2), wurde ihm schon zwei Jahre später eine Mitschuld an den
Missbrauchsfällen bescheinigt, auch wenn hier (noch) von indirekter Verursachung die Rede
war. Auf diese Weise wurde Rumsfeld zum kollektiven Sündenbock, der die Schuld seiner
Regierung erst einmal auf sich und dann mit sich aus dem Amt nahm. Der scheidende
Verteidigungsminister Rumsfeld konstatierte noch in einem Interview: „The worst day was
Abu Ghraib and seeing that – what went on there and feeling so deeply sorry that that
happened“.758 Der Abu-Ghraib-Skandal, während dessen Rumsfeld – nach eigenen Angaben –
dem Präsidenten Bush zweimal seinen Rücktritt angeboten hatte, erscheint ihm auch noch im
Rückblick als die dunkelste Stunde seiner Amtszeit.
9.5.3. CCR v. Rumsfeld et al. II – Strafanzeige gegen den Ex-Minister Rumsfeld
Nach der Ankündigung von Rumsfelds Rücktritt erstattet der deutsche Anwalt Kaleck im
Namen von insgesamt 44 Organisationen und Einzelpersonen, darunter 11 irakische
Staatsbürger und ein Inhaftierter in Guantanamo Bay, am 13. November 2006 erneut Anzeige
gegen den scheidenden Verteidigungsminister und die ehemaligen Regierungsanwälte Yoo
und Bybee, die für die sogenannten „Foltermemoranda“ verantwortlich waren (vgl. 9.1.1),
aber auch gegen weitere Regierungs- und Militärangehörige.759 Es liegt nahe, im Rücktritt des
Verteidigungsministers den Grund für den erneuten Anlauf zu sehen. Dagegen sprechen
jedoch zwei Tatsachen. Erstens benötigt eine solche Anklage einen gewissen Vorlauf;
756
Unter den neuen Abgeordneten war Keith Ellison, der als erster bekennender Muslim in der Geschichte der
Vereinigten Staaten in den Kongress einzog – ganze fünf Jahre nach dem 11. September.
757
„Rumsfeld’s exit ushers in hope for Iraq policy shift“, USA Today, 8. November 2006.
758
„Secretary of Defense Donald Rumsfeld leaving post“, CBS Evening News (6:30 PM EST), 8. Dezember
2006.
759
Presseerklärungen, Expertengutacht, Zeugenaussagen und der Text der Strafanzeige sind im Internet unter
http://www.diefirma.net/index.php?id=84,233,0,0,1,0 verfügbar, letzter Zugriff 28. Juni 2011.
565
zweitens wurde die letzte Strafanzeige nicht wegen der mutmaßlichen Immunität des
Verteidigungsministers, sondern unter Berufung auf das Prinzip der Subsidiarität
zurückgewiesen. Für einen zweiten Versuch lassen sich mehrere Gründe anführen. So
konnten sich die Kläger zwischenzeitlich auf die Arbeit von Fischer-Lescano berufen, der die
Entscheidung des Generalbundesanwalts und seine Verwendung des Subsidiaritätsprinzip als
rechtlich unzulässig kritisiert hatte (2005: 709-717). Dafür spricht, dass Andreas FischerLescano zusammen mit Michael Brothe ein Expertengutachten zur Strafanzeige beisteuerte,
das sich insbesondere mit der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips beschäftigte. In deren
Schlussfolgerung heißt es:
Der Grundsatz der Subsidiarität schließt eine Zuständigkeit nach dem Weltrechtsprinzip nur aus, wenn
und soweit gesichert ist, dass ein anderer Staat den fraglichen Täter wirklich effektiv verfolgt. Die
Zuständigkeit nach dem Weltrechtsprinzip ist immer dann nicht ausgeschlossen, wenn ein durch Indizien
bestätigter Verdacht besteht, dass der primär zuständige Staat (Tatortstaat, Heimatstaat von Täter oder
Opfer) seine Strafzuständigkeit nicht oder nicht wirksam ausübt.760
Für die Kläger war klar, dass ein solcher Verdacht im Fall Abu Ghraib berechtigt sei. Hinzu
kam, dass die rechtliche Strafverfolgung auf Seiten der Amerikaner zum Zeitpunkt der ersten
Strafanzeige noch nicht vollständig abgeschlossen war. Die Tatsache, dass nach über zwei
Jahren noch immer kein Offizier oder Regierungsbeamter eine ernst zu nehmende Strafe
erhalten hatte, konnte nun erst recht als Indiz für eine Vernachlässigung der Strafausübung
der Vereinigten Staaten aufgefasst werden. Neben der rechtlichen Schützenhilfe und der
veränderten Beweislage schürte allerdings auch der Rücktritt Rumsfelds die Hoffnungen auf
eine erfolgreiche Strafanzeige. Selbst wenn ihm als Verteidigungsminister keine Immunität
zugestanden hätte, veränderte sein Rücktritt die politische Ausgangslage. Es macht eben doch
einen politischen Unterschied, ob man den amtierenden Außenminister oder einen ehemaligen
Außenminister der Vereinigten Staaten der Kriegsverbrechen bezichtigt. Allerdings wurde
auch diese Strafanzeige am 24. April 2007 vom Generalbundesanwalt im Rekurs auf die
Entscheidung von vor zwar Jahren abgelehnt, da sich – so der Generalbundesanwalt – seitdem
nichts Wesentliches geändert habe. Für Deutschland als Drittland bestehe keine gesetzliche
Verpflichtung, die Strafverfolgung aufzunehmen, unter anderem deshalb, weil das Verfahren
nur wenig Aussicht auf Erfolg besäße, eine „rein symbolische Ermittlungstätigkeit“ nicht im
760
http://www.diefirma.net/download.php?378094347869176359c5dfcb01897252; letzter Zugriff 5. November
2011.
566
Sinne des Gesetzgebers sei761 und die Aufwendung von „personell und finanziell begrenzten
Strafverfolgungsressourcen“ zu Lasten von erfolgversprechenderen Strafverfolgungen
ginge.762 Die rechtlichen Argumente wurden hier also von pragmatischen Erwägungen
sekundiert, um eine mögliche Strafverfolgungsverpflichtung zu relativieren.
Auch wenn die Strafanzeigen nicht den für die Anklage gewünschten Erfolg hatten,
erzielten sie doch einen symbolischen Effekt, der nicht zuletzt auch Rumsfeld verunsichert
haben muss. Dies trifft auch auf den damaligen Präsidenten George W. Bush zu, der seit dem
Ende seiner Amtszeit nicht mehr in Europa war. So musste auch Bush im Februar 2011 eine
geplante Reise in die Schweiz kurzfristig absagen, wo er am 12. Februar auf der
Veranstaltung einer Pro-Israel-NGO sprechen sollte. Offiziell wurde die Absage mit den von
Menschenrechtsorganisationen im Vorfeld angekündigten Protesten begründet. Es war
allerdings auch eine Sammelklage von Menschenrechtsorganisationen gegen Bush in
Vorbereitung. In einem Interview mit ABC informierte Katherine Gallagher, eine Sprecherin
des Center for Constitutional Rights: „Whatever Bush or his hosts say, we have no doubt he
cancelled his trip to avoid our case […]. The message from civil society is clear – if you’re a
torturer, be careful in your travel plans.“763 Auch wenn die Schweizer Behörden vermutlich
genauso wenig wie Generalbundesanwalt ein Verfahren gegen Bush eingeleitet hätte, reichte
offensichtlich schon das Bedrohungsszenario als solches aus, um den ehemaligen Präsidenten
abzuschrecken.
761
Die „symbolische“ Dimension des transnationalen Rechts, die hier vom Generalbundesanwalt abschätzig
beurteilt wird, sollte aus soziologischer Perspektive nicht unterschätzt werden (vgl. Bonacker & Brodocz
2001; Bonacker 2003)
762
http://www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?themenid=9&newsid=273; 28. Juni 2011.
763
http://abcnews.go.com/Politics/george-bush-cancels-swiss-trip-rights-activists-vow/story?id=12857195;
letzter Zugriff am 5. November 2011
567
10. Diskursanalyse III (2007-2009) – Spätfolgen des Skandals
Die Kongresswahlen von 2006 und der Rücktritt von Rumsfeld markierten das Ende der
mittleren Phase des Skandals. Daraufhin bildete sich ein neuer zivilgesellschaftlicher
Konsens, aber auch ein politischer Konsens zwischen Demokraten und Republikanern heraus.
Man kam darin überein, dass die Behandlung von Gefangenen unter der Bush-Regierung in
hohem Maße problematisch gewesen sei und einen bleibenden Imageschaden angerichtet
habe. Die sogenannten „Folter-Memoranda“ und das Gefangenenlager auf Guantanamo Bay
(9.1), die mit Abu Ghraib assoziiert wurden, hatten sich schon fest als Negativsymbole
etabliert. Nun wurde auch die Bush-Regierung von der symbolischen Verschmutzung in
Mitleidenschaft gezogen. Die späte Phase des Abu-Ghraib-Skandals beginnt mit dem Anfang
der Präsidentschaftskampagne des Jahres 2007 (10.1) und endet mit den ambivalenten
Bemühungen der Obama-Administration, mit dem unreinen und ansteckenden Erbe der BushRegierung aufzuräumen (10.5).
Es wurde bereits gezeigt, dass der Einfluss von Abu Ghraib über die politischen Diskurse
im engeren Sinne hinausreichte, beispielsweise in die Sphären des Rechts (9.3) und der Kunst
(9.4). Der Abu-Ghraib-Skandal schlug sich aber auch in der amerikanischen Populärkultur
und in den akademischen Debatten über die rechtliche Zulässigkeit von Folter nieder. Im
Folgenden ist zunächst auf die Dokumentationen, die diesen Skandal thematisiert haben,
einzugehen. Dabei wird sich herausstellen, dass deren Macher die Einseitigkeiten der
Skandalfotografien und des öffentlichen Diskurses mit den spezifischen Mitteln ihres Genres
zu korrigieren versuchten (10.2). Danach wird es um den Einfluss des Abu-Ghraib-Skandals
auf die Populärkultur im engeren Sinne gehen (10.3), wobei hier vor allem die öffentliche
Debatte über die TV-Serie 24 im Vordergrund steht (10.3.3). Der Abu-Ghraib-Skandal und
die exzessive Darstellung von Folter in 24 boten einen Anlass, den Einsatz von Folter im
Krieg gegen den Terror noch einmal grundlegend zu überdenken. Parallel zu diesem
öffentlichen Diskurs ist eine Wende in der akademischen Folterdebatte zu konstatieren, die
ebenfalls dem Skandal geschuldet ist (10.4). Es wird sich allerdings zeigen, dass auch von
Abu Ghraib kein Weg hinter das amerikanische Trauma des 11. Septembers 2001
zurückführt. Die meisten Autoren, die nach Abu Ghraib eine rechtliche Legitimierung von
Folter ablehnen, räumen ein, dass Folter im Falle eines Ticking-Bomb-Szenarios wenn auch
keine rechtliche, so doch eine moralische Rechtfertigung haben (10.4.3).
568
10.1. Abu Ghraib und der Präsidentschaftswahlkampf 2008
Das entspricht auch – einem Ausspruch des Agathon gemäß – der Wahrscheinlichkeit;
denn es ist wahrscheinlich, dass sich vieles gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt.
Aristoteles, Poetik, Erstes Buch764
Hätte jemand in der Zeit zwischen dem 11. September 2001 und der Enthüllung von Abu
Ghraib im April 2004 behauptet, dass der nächste amerikanische Präsident „Barack Hussein
Obama“ heißen würde – ein Name, dessen Klang die beiden Feindbilder im Krieg gegen den
Terror, Osama bin Laden und Saddam Hussein, in sich vereint (Mitchell 2011: 8) –, so wäre
er wohl zum Gespött der Leute geworden. Hätte dieser jemand noch hinzugefügt, dass es sich
bei dem künftigen Präsidenten um einen Amerikaner mit afrikanischen Wurzeln handelte,
dessen Vater ein gläubiger Muslim war und dessen Sohn im Wahlkampf selbst mit dem
Gerücht, dem islamischen Glauben anzugehören, zu kämpfen hatte, hätte man ihn vollends für
verrückt erklärt. Es scheint unabweisbar zu sein, dass sich die Stimmung im Land zwischen
der Invasion des Irak und der Wahl von Obama zum Präsidenten fundamental geändert hat.
Auch wenn kein Ende der terroristischen Bedrohung in Sicht war (und immer noch ist),
markierte die Weltwirtschaftskrise von 2008 und der unwahrscheinliche Sieg des Barack
Hussein Obama das Ende einer kurzen historischen Epoche: das Ende des Krieges gegen den
Terror. Das in dieser Arbeit zusammengetragene Material legt den Schluss nahe, dass der
Abu-Ghraib-Skandal den Anfang vom Ende des Krieges gegen den Terror markiert.
Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2008 dominierten kritische Töne. Die
Probleme der zweiten Amtszeit, die nicht enden wollenden Kriege in Afghanistan und im
Irak, die Steigerung des Haushaltdefizits sowie die drohende Finanzkrise überwogen die
positiven Erinnerungen an die erste Amtszeit, die Momente der nationalen Solidarität nach
dem 11. September 2001 und die anfänglichen militärischen Erfolge der Amerikaner. Es ist
bemerkenswert, dass sich nicht nur die demokratischen Kandidaten Barack Obama und
Hillary Clinton in Abgrenzung zur Bush-Regierung inszenierten, sondern mit John McCain
auch
der
schärfste
innerparteiliche
Kritiker
der
Bush-Administration
zum
Präsidentschaftskandidaten aufstieg. Dies zeugt vom Grad der symbolischen Verunreinigung,
den die amtierende Regierung in ihren letzten Jahren für viele Amerikaner besaß. Schon
764
Diese treffende Bemerkung des Tragödiendichters Agathon fällt bei Aristoteles, nachdem er festgestellt hat,
dass Tragödien mit den Erwartung der Zuschauer spielen, indem sie diese verletzten (2010: 59). Sie
verdeutlicht die Grenzen der Statistik, wenn es um die Erklärung von außerordentlichen Ereignissen geht.
569
während der Kongresswahlen 2006 war die Kritik an der Bush-Regierung nicht mehr an die
jeweilige Parteizugehörigkeit gebunden, sondern konnte auch glaubwürdig im Namen der
Nation geäußert werden (9.5.2). Diese diskursive Verschiebung und zunehmende Isolierung
der Bush-Administration auf der „profanen“ oder „unreinen“ Seite des zivilgesellschaftlichen
Codes setzte sich bis zu den Präsidentschaftswahlen von 2008 fort. Die drei erfolgreichsten
Kandidaten – Obama, Clinton und McCain – haben sich während des Wahlkampfes für eine
Schließung des umstrittenen Gefangenenlagers in Guantanamo Bay ausgesprochen, das
zwischenzeitlich zu einem Symbol der verfehlten Politik der Bush-Regierung geworden
war.765 Während sich die demokratischen Kandidaten für eine ersatzlose Schließung des
Gefangenenlagers einsetzten, machte sich McCain für seine Verlegung auf amerikanischen
Grund und Boden stark, was zumindest den bedenklichen rechtlichen Ausnahmestatus des
Lagers als exterritorialem Gebiet aufgehoben hätte. Es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass
der Grad der symbolischen Verunreinigung von Guantanamo zu diesem Zeitpunkt niemals so
hoch gewesen wäre, wenn es den Abu-Ghraib-Skandal nicht gegeben hätte. Dennoch spielte
der Skandal in dem folgenden Präsidentschaftswahlkampf nur eine untergeordnete Rolle.
Während den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib im Wahlkampf von 2004 eine
unbestreitbare, wenngleich auch paradoxe Bedeutung zukam (8.5.3), lässt sich der Einfluss
des Skandals auf das Wahljahr 2008 – zumindest anhand des hier vorliegenden
Datenmaterials (8.0.1) – nur indirekt nachweisen. Im Folgenden sollen Indizien
zusammentragen werden, die eine nachhaltige Wirksamkeit von Abu Ghraib belegen.
Die Rolle von Abu Ghraib in den Vorwahlen gestaltet sich von Partei zu Partei
unterschiedlich. In der demokratischen Partei bot der Abu-Ghraib-Skandal keinen Anlass für
eine politische Kontroverse. So bestand zwischen Parteiführern, Kandidaten und
Unterstützern ein Konsens darüber, dass die Politik der Bush-Regierung verfassungsmäßig
fragwürdig und zumindest in Teilen für die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib verantwortlich
gewesen sei. Aufgrund dieses parteilichen Konsens und seiner hegemonialen Stellung im
liberalen Diskurs spielte Abu Ghraib in den demokratischen Vorwahlen keine Rolle.
Stattdessen konzentrierte man sich in der innerparteilichen Auseinandersetzung auf
kontroversere Themen wie beispielsweise die geplante Krankenversicherungsreform, die
insbesondere von Hillary Clinton ins Zentrum ihrer Kampagne gestellt wurde. Von größerer
Bedeutung als die politischen Inhalte der Wahlprogramme waren wohl das jeweilige Image
765
Clinton tat dies am 26. April 2007 in einer Rede im US-Senat, Obama unter anderem in einem Interview in
der Welt vom 22. Oktober 2007, und John McCain gegenüber dem Spiegel am 11. Februar 2008.
570
(„change“ vs. „experience“) und die Performanz der Kandidaten. Gerade Clinton leistete sich
in der Endphase des demokratischen Vorwahlkampfes einige performative Fehlschläge (vgl.
Alexander 2010: 32-38).766 Hinzu kam, dass Clinton als Teil des Establishments
wahrgenommen wurde, während Obama für die demokratischen Wähler den radikaleren
Bruch mit dem Erbe von Bush verkörperte (und das, obwohl Clinton politisch weiter links
angesiedelt war). Bei den jüngeren Wählern erfreute sich der energische und charismatische
Obama größter Beliebtheit, während die älteren Jahrgänge der Demokraten in ihm den
fleischgewordenen Traum der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung sahen. Im Rückblick
überrascht es daher kaum, dass Obama den Vorwahlkampf gegen die vormalige Favoritin für
sich entscheidenden konnte.
Werfen wir einen Blick auf den republikanischen Vorwahlkampf, so finden wir dort eine
völlig andere Situation vor. Die Haltung zum Abu-Ghraib-Skandal bildete hier eine
Wasserscheide zwischen den schwindenden Unterstützern der alten Bush-Regierung, die
einen „tough War on Terror“ befürworteten, und der wachsenden Fraktion konservativer
Kritiker. Der Abu-Ghraib-Skandal und das McCain-Amendment führten zu einer Spaltung
innerhalb des konservativen Lagers. Dem pragmatischen Neokonservatismus der BushAdministration, der in erster Linie eine Ausweitung der Regierungsvollmacht im Sinne einer
„unitary executive“ verfolgte,767 die sich durch den kompromisslosen Schutz der Nation vor
dem Terrorismus legitimieren konnte, stand einem kritischen Wertkonservatismus gegenüber,
der sich um das normative Fundament der amerikanischen Gesellschaft und das
amerikanische Image im Ausland sorgte. Von allen republikanischen Kandidaten gelang es
John McCain am überzeugendsten, sich als authentischer Kritiker der symbolisch befleckten
Bush-Regierung zu etablieren. McCain hatte schon als innerparteilicher Rivale von Bush im
Präsidentschaftswahlkampf von 2000 einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt, den er als
kritische Stimme der Konservativen im Abu-Ghraib-Skandals noch weiter steigern konnte. Im
Jahr 2005 wurde er schließlich zur Gallionsfigur des innerparteilichen Aufstandes gegen
Bush, dem es gelang, das McCain-Amendment auch gegen den ausdrücklichen Widerstand
766
Ein performativer Fehlschlag, der von Alexander nicht erwähnt wird, ist in diesem Zusammenhang besonders
aufschlussreich: Als Hillary Clinton gegenüber Obama in einem fast hoffnungslosen Rückstand war, wurde
sie im Fernsehen nach ihren Siegeschancen gefragt, worauf Clinton auf die Präsidentschaftswahlen 1968
verwies, wo der aussichtsreichste demokratische Kandidat, Robert F. Kennedy, einem Attentat zum Opfer
fiel. Liberale Kommentatoren legten dies ihr als eine geschmacklose Aufforderung zum Mord an ihrem
Konkurrenten aus.
767
Eine kritische Untersuchung zur Genese der Doktrin findet sich in einem Essay von Stephen Skowronek
(2008), eine engagierte Verteidigung bei Stephen G. Calabresi und Christopher S. Yoo (2008).
571
der amtierenden Regierung durchzusetzen (9.2). Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter
verwunderlich, dass sich Senator McCain in der amerikanischen Öffentlichkeit als
innerparteilicher Kritiker der Regierung hatte profilieren können, was ihm auch später im
republikanischen Vorwahlkampf einen Vorsprung gegenüber den anderen Kandidaten
verschaffte.
10.1.1. Abu Ghraib und Waterboarding im republikanischen Vorwahlkampf
McCain konnte aufgrund seiner politischen wie auch vorpolitischen Vita (9.2.1) glaubhafter
als andere versichern, dass ihm an einer baldigen Schließung von Guantanamo gelegen war,
auch wenn andere Kandidaten, z.B. sein schärfster Konkurrent Mike Huckabee, in diesem
Punkt mit ihm übereinstimmten. Auch wenn diese Diskursanalyse keinen Aufschluss über die
Häufigkeit des Verweises auf Abu Ghraib in den Wahlkampfreden von McCain geben kann,
lässt sich anhand des vorliegenden Materials doch zeigen, dass seine Rolle im Abu GhraibSkandal von großer Bedeutung für sein politisches Image war.
Ein Artikel der New York Times gibt Aufschluss über die Internetkampagnen der
unterschiedlichen Kandidaten und macht auf die Bedeutung des Skandals für McCains
Kampagne aufmerksam.768 Darin wird über die Verwendung der Internetsuchmaschine
Google durch die Präsidentschaftskandidaten berichtet. Diese wendeten ein Teil ihres
Wahlkampfbudgets auf, um spezifische Suchbegriffe politisch zu besetzen und mit ihren
Kampagnenseiten zu verlinken. McCains Strategie wird in diesem Artikel von Experten als
besonders effektiv beurteilt, weil sie auf „issue-related keywords“ abstellte. Bei den
wichtigsten Suchwörtern, die mit der McCain-Kampagnenseite verlinkt wurden, handelt es
sich um „Abu Ghraib“, „tort reform“769 und „bipartisan“. Wir sehen, dass sich zwei der drei
Suchbegriffe auf McCains Rolle im Abu-Ghraib-Scandal und bei der Durchsetzung des
Amendements beziehen. Nach Einschätzung seiner Wahlkampfberater hat McCain das
Unwahrscheinliche möglich gemacht: Er verwandelte das Negativsymbol „Abu Ghraib“ in
ein Alleinstellungsmerkmal, das er positiv in seiner Kampagne zur Anwendung bringen
konnte. Nichtsdestotrotz mussten McCain und sein Team sehr viel Mühe darauf verwenden,
die Balance zwischen einer Kritik der Bush-Regierung und der Herstellung eines möglichst
breiten republikanischen Konsensus zu erreichen. Dass dies nicht immer einfach war, zeigt
768
„Buying Into Web Presence“, The New York Times, 10. Juli, 2007.
769
Bei der sogenannten „tort reform“ handelt es sich nicht etwa um eine Reform der Folter, sondern um die von
McCain seit langer Zeit geforderte Reform von Schadensersatzansprüchen gegen Unternehmen.
572
der folgende Artikel aus der USA Today:
Life may seem particularly unfair to McCain these days. During a campaign stop in South Carolina, he
tells an audience in Hilton Head that former Defense secretary Donald Rumsfeld ”will go down in history
as one of the worst secretaries of Defense in history.” His critique isn’t new. McCain began saying he had
“no confidence” in Rumsfeld’s leadership in 2004, after the Abu Ghraib prison scandal. Even so, the
comment triggers attacks from both sides. Within hours, the Democratic National Committee issues a
news release headlined “why Voters Don’t Trust McCain,” accusing him of trying to have it both ways on
the war – supporting it while blaming Rumsfeld. The next day, Vice President Cheney curtly dismisses
McCain as “wrong” and suggests the senator apologize.770
Dieser Aufforderung Cheneys ist McCain nie nachgekommen – und er hatte es auch nicht
nötig. Die Abgrenzung zum geschassten Rumsfeld stieß nicht nur in der Öffentlichkeit auf
Verständnis, sondern auch bei vielen Republikanern – auch wenn die demokratische Partei
diese Kritik als heuchlerisch zu rahmen versuchte. Dass McCain mit seinen Äußerungen zu
Rumsfeld punkten konnte, war nach den Kongresswahlen von 2006 und dem Rücktritt von
Rumsfeld auch nicht anders zu erwarten (9.5.2.). Dennoch durften McCain und sein Team,
die selbstverständlich auch die Präsidentschaftswahl im Blick hatten, die Bush-Getreuen in
der Stammwählerschaft der Republikaner keineswegs vergraulen.
Wie wir noch sehen werden, kam es im Zuge des Abu-Ghraib-Skandals zu einem Wandel
im öffentlichen Diskurs über Folter (10.4), der auch institutionelle Konsequenzen hatte. So
berichtete der Fernsehsender ABC News im September 2007, dass der US-Geheimdienst CIA
seinen Mitarbeitern die Anwendung von „waterboarding“ untersagt habe. Der CIA hatte die
Technik des Waterboardings, das die subjektive Erfahrung des Ertrinkens simuliert (10.4.2),
nach eigenen Angaben in den Jahren 2002 und 2003 bei der Vernehmung einiger
hochrangiger Al-Quaida-Mitglieder eingesetzt. Im republikanischen Vorwahlkampf und im
Präsidentschaftswahlkampf spielte die Debatte über die Zulässigkeit des Waterboardings eine
wichtige Rolle, weswegen wir an dieser Stelle etwas vorgreifen müssen. So gelangte McCain
gerade wegen seines Insistierens auf moralischen Standards bei der Vernehmung von
Terrorverdächtigen zu großer Popularität und weltweiter Anerkennung. Noch im Oktober
2007 hatte er sich explizit gegen das Waterboarding als Verhörtechnik ausgesprochen und
diese Praxis als einen Verstoß gegen die Genfer Konventionen bezeichnet. Im Vorwahlkampf
vertrat er damit als einziger Republikaner eine dezidiert folterkritische Position.771 So wurde
sein republikanischer Konkurrent Rudolph Giuliani von McCain dafür gescholten, als dieser
770
„McCain firm on Iraq war despite cost to candidacy; Maverick from 2000 ties fortunes to Bush“, USA Today,
27. Februar, 2007.
771
„A Question of Torture; Excepting John McCain, Republican candidates for president seem to favor it“, The
Washington Post (Regional Edition), 17. Mai 2007.
573
bei einem öffentlichen Auftritt vorsichtige Zweifel äußerte, ob es sich bei Waterboarding auch
wirklich um eine Form von Folter handele. McCain strafte ihn für diese vorsichtige
Äußerung, indem er in einem Telefoninterview auf den Gebrauch dieser Technik durch
repressive Regime verwies: „All I can say is that it was used in the Spanish Inquisition, it was
used in Pol Pot’s genocide in Cambodia, and there are reports that it is being used against
Buddhist monks today“.772 Die Technik des Waterboarding wird hier mit der Inquisition, die
wir schon als negativ besetztes Motiv in den Abu-Ghraib-Bildern kennengelernt haben
(7.1.3), aber auch mit dem Genozid in Kambodscha und den damals tagesaktuellen staatlichen
Übergriffen gegen Mönche in Birma in Verbindung gebracht. Durch diese beschmutzende
Assoziation wird der Begriff des „waterboarding“ von McCain negativ aufgeladen und gegen
seine innerparteilichen Gegner in Stellung gebracht. Die Authentizität McCains wird in dem
Artikel noch durch den biographischen Zusatz unterstrichen, dass er mehr als fünf Jahre in
vietnamesischer Kriegsgefangenschaft verbracht habe. Seinen Kritikern hält McCain
entgegen: „They should know what it is. It is not a complicated procedure. It is torture.“ Mit
seinem scheinbar kompromisslosen Kampf gegen die Folter stilisiert sich McCain zu einem
standfesten Wertkonservativen, was ihm im Kampf gegen seine innerparteilichen
Konkurrenten ein wertvolles Alleinstellungsmerkmal verschafft:
With the exception of Mr. McCain, who believes that torture is ineffective because its victims will say
anything to make it stop, several leading Republican presidential candidates have suggested that they
would use aggressive or coercive interrogation techniques — they say they would stop short of torture —
to prevent a terrorist attack. 773
Dieser Ausschnitt aus einem Artikel der New York Times macht einerseits deutlich, dass
McCain eine herausragende Position innerhalb der Folterdebatte innehatte, andererseits
kommt darin auch die Distanzierung seiner Konkurrenten zu dem Begriff der „Folter“ zum
Ausdruck. Die Zeiten, in denen unter dem Eindruck des 11. Septembers noch über die
rechtmäßige Anwendung von Folter diskutiert werden konnte, schienen damit endgültig
vorüber zu sein. McCains Standfestigkeit sollte sich aber nach seinem Sieg über die
innerparteilichen Konkurrenten, als es darauf ankam, sich von dem demokratischen
Kandidaten Barack Obama abzugrenzen, als äußerst brüchig erweisen (10.1.2).
Abu Ghraib als Ereignis findet in den Artikeln, welche von dem Vorwahlkampf der
Republikaner berichten, nur selten explizit Erwähnung. Aber es gibt, wie wir gesehen haben,
gute Gründe dafür anzunehmen, dass der Abu-Ghraib-Skandal und seine Folgen entscheidend
772
„McCain Rebukes Giuliani on Waterboarding Remark“, The New York Times, 26. Oktober 2007.
773
„McCain Rebukes Giuliani on Waterboarding Remark“
574
zur Nominierung von John McCain beigetragen haben. Nach einem eher verhalten Start
schaffte es McCain nach seinem Erfolg beim sogenannten „Super Tuesday”, das
republikanische Rennen relativ zügig für sich zu entscheiden. Am 31. Januar 2008 gewann er
schließlich alle Delegierten seines Heimatstaates Arizona sowie die meisten Delegierten in
Kalifornien, wo er von dem moderaten republikanischen Gouverneur Arnold Schwarzenegger
unterstützt wurde. Nach einem weiteren Sieg bei der sogenannten „Potomac primary“ am 12.
Februar erklärten ihn die Medien zum Sieger, während der letzte Mitbewerber, der ehemalige
Prediger Huckabee, noch bis zum 4. März auf ein Wunder hoffte.
10.1.2. Der Präsidentschaftswahlkampf im Schatten von George W. Bush
Wie schon im Jahr 2004 (vgl. 8.5.3), so war auch im Wahlkampf zwischen McCain und
Obama der Abu-Ghraib-Skandal kein großes Thema – wenn auch aus anderen Gründen. Im
Jahr des Skandals wurden die „Fakten“ von Abu Ghraib noch ganz anders gelesen als vier
Jahre später. Im Rennen um die Präsidentschaft zwischen Bush und Kerry blieb die
schwelende Krise um Abu Ghraib im Hintergrund und manifestierte sich nur selten – und
dann meist zu Ungunsten von Kerry. Wie gezeigt wurde (8.5.3), war es dem demokratischen
Kandidaten im Rahmen seiner Wahlkampfstrategie kaum möglich, den Abu-Ghraib-Skandal
politisch gegen Bush zu verwenden. Kerry wurde sogar wegen angeblicher Äußerungen zum
Skandal kritisiert. Damals waren das „Bad-Apple“-Narrativ und Bushs beschwichtigende
Reaktion auf den Skandal noch plausibel genug, um eine symbolische Ansteckung der
amtierenden Regierung zu verhindern. 2008 verkehrte sich die Situation jedoch in ihr
Gegenteil. Nicht mehr alleine die Demokraten, sondern auch viele Republikaner neigten jetzt
dazu, in Abu Ghraib das Symptom einer nationalen Identitätskrise und das Ergebnis einer
verfehlten Politik zu sehen. Im Jahr der Präsidentschaftswahlen sank Bushs Popularität auf ein
Allzeittief, nicht zuletzt wegen des moralischen und militärischen Desasters im Irak, das am
Trauma von Vietnam rührte.774 McCain wurde zum republikanischen Kandidaten, weil er
einen politischen Konservatismus repräsentierte, der von den Verfehlungen der BushRegierung zunächst unberührt blieb. Er versprach nicht nur, das von umstrittenen
Inhaftierungen
und
Verhörtechniken
beschmutzte
Selbstbild
der
Amerikaner
wiederherzustellen, sondern empfahl sich auch als oberster militärischer Führer, der einen
„sauberen“ Krieg und endgültigen Sieg in Irak in Aussicht stellte. Hingegen versuchte Obama
774
„Vietnam Shades Warner’s Iraq Stand; Silent Then, Senator Won’t Be This Time“, The Washington Post, 28.
Januar 2007; „Army Officer Accuses Generals of ‘Intellectual and Moral Failures’“, 27. April 2007.
575
damit zu punkten, dass er sich schon 2003 gegen den – aus seiner Sicht – unnötigen Krieg
ausgesprochen hatte.775
Allerdings war es McCain als einem republikanischen Kandidaten nicht möglich,
hinsichtlich der Abgrenzung von Bush mit seinem demokratischen Rivalen, dessen Slogan
„change“
den
radikaleren
Bruch
mit
der
amtierenden
Regierung
symbolisierte,
gleichzuziehen. Gerade bezüglich des Irakkrieges gingen die Meinungen von McCain und
Obama weit auseinander. Obama wollte sich so schnell wie möglich aus dem „Sumpf“ á la
Vietnam („quagmire“) zurückziehen, während McCain die Überzeugung vertrat, dass dieser
Krieg noch militärisch zu gewinnen sei. Die öffentliche Rahmung des Irakkrieges verschob
sich in den letzten Jahren zum Vietnam-Pol des amerikanischen Kollektivgedächtnisses – teils
wegen des Abu-Ghraib-Skandals und weiterer Enthüllungen amerikanischer Gräueltaten in
seinem Gefolge, teils wegen des wachsenden Widerstandes auf irakischer Seite und den
steigenden Verlusten unter den amerikanischen Truppen. Dies alles gereichte Obama zum
Vorteil und McCain zum Nachteil. Die Obama-Kampagne hatte demgegenüber durchaus
Erfolg mit ihrer Strategie, McCain als Fortsetzung der Politik der Bush-Regierung
darzustellen. Natürlich stellt die symbolische Verknüpfung von McCain und Bush nicht die
einzige Ursache des Wahlausgangs dar. So spielten auch eine Vielzahl von Performanzen und
Spins, nicht zuletzt aber die Reaktion der Kandidaten auf die hereinbrechende
Wirtschaftskrise, eine entscheidende Rolle (hierzu Alexander 2010: 243-266).
Hinzu kam, dass es John McCain im Wahlkampf gegen Obama zunehmend daran gelegen
war, sich mit den republikanischen Hardlinern auszusöhnen und seine Bereitschaft für einen
„tough war on terror“ zu signalisieren. Als der Supreme Court im Fall Boumediene vs. Bush
entschied, dass den Gefangenen in Guantanamo Bay habeas corpus, also ein Recht auf eine
Anhörung vor einem ordentlichen Gericht, zusteht (9.3.3), nutzte McCain die Gelegenheit,
sich als republikanischer Hardliner zu profilieren. Die Entscheidung des Obersten Gerichts, so
McCain, behindere nicht nur die Vereinigten Staaten im Krieg gegen den Terror, darüber
hinaus entzöge sie die Entscheidung der Macht des Volkes, das durch die demokratisch
gewählte Regierung verkörpert wird, und käme dabei nicht einmal den Gefangenen zu Gute.
Im Gegensatz dazu begrüßte der ehemalige Juraprofessor Obama, der auf eine demokratische
775
So konstatierte Obama später, dass es sich bei dem Afghanistankrieg um einen „war out of necessity“
gehandelt habe, während der Irakkrieg von Anfang an ein „war of choice“ gewesen sei. Dadurch stellt er die
apokalyptische Rahmung des Krieges, die bereits durch die unauffindbaren „weapons of mass destruction“
gelitten hatte und in den folgenden Kriegsjahren vollends an Plausibilität verlor, in Frage (6.5). Alles was
optional ist, besitzt keine kollektive Verbindlichkeit und hat damit als „profan“ zu gelten.
576
Kontrolle durch rechtliche Institutionen setzte, die Entscheidung des Obersten Gerichts. Am
13. Februar 2008, keine vier Monate nachdem er seinen republikanischen Konkurrenten
wegen dessen unklarer Haltung zu Waterboarding verurteilt hatte, stimmt McCain im Senat
gegen eine Gesetzesvorlage, welche unter anderem das Waterboarding verbieten sollte. Das
Gesetz wurde mit den Stimmen der Demokraten verabschiedet, doch Präsident Bush legte
sein Veto gegen diese Entscheidung des Senates ein. In einem amerikanischen Internetforum
wurde McCains Inkonsequenz auf den Punkt gebracht: „He was against waterboarding before
he was for it“.776 Sein Verhalten bei der Abstimmung stand damit auf einmal in einem
performativen Widerspruch zu seinem Image als unabhängigem „Maverick“. Dieses
Umschwenken, mag es auch McCain an Glaubwürdigkeit gekostet haben, erscheint aus
politisch-strategischen
Gründen
durchaus
verständlich.
So
war
McCain
im
Präsidentschaftswahlkampf darauf angewiesen, eine breite republikanische Wählerschaft zu
mobilisieren, die in Teilen einen „tough war on terror“ befürwortete. Zudem kam es nach den
gewonnenen Vorwahlen nun darauf an, die Unterschiede zum demokratischen Konkurrenten
hervorzuheben und diesen als ein nationales Sicherheitsrisiko darzustellen. Dennoch drängt
sich im Rückblick die Frage auf, wie viele Stimmen ihn dieser Sinneswandel gekostet hat und
ob nicht Standhaftigkeit die bessere Strategie gewesen wäre. Im Rahmen dieser Arbeit lässt
sich diese Frage allerdings schwerlich beantworten.
Der Wahlkampf wurde von Senator Obama nicht nur als eine kritische Auseinandersetzung
mit dem Erbe der Bush-Regierung, sondern auch als ein Kampf um die nationale Einheit
geführt. Insbesondere der biographische Hintergrund von Obama, seine Herkunft und sein
Werdegang, waren von entscheidender Bedeutung für seinen Erfolg, da er als
Personifizierung des multikulturellen „American dream“ angesehen werden konnte. Seine
biographische Erzählung, die durch die eigenen Bücher, aber auch durch Medienberichte
verschiedenster Natur, verbreitet und popularisiert wurde, verlieh seiner Persönlichkeit
Authentizität – wie auch die Biographie McCains, insbesondere aber seine Erfahrung von
Folter am eigenen Leib, diesem Authentizität im Kampf um das McCain-Amendment sicherte
(9.2.1.). Aufgrund der erfolgreichen narrativen Konstruktion seiner öffentlichen Person und
seiner überragenden medialen Performanz gelang es Obama wie noch keinem vor ihm, den
amerikanischen Traum des Aufsteigers und die nationale Einheit einer multikulturellen
Einwanderergesellschaft zu verkörpern. Dies zeigt insbesondere seine lang erwartete und
776
ThinkProgress, 13. Februar 2008. http://thinkprogress.org/2008/02/13/mccain-waterboarding-fail/; letzter
Zugriff 25. Oktober 2010.
577
vielerorts bewunderte „Speech on Race in America“, die dem Vorwurf des Rassismus gegen
Obama und sein Umfeld den Wind aus den Segeln nahm. So versuchte er sich in seinen
Büchern und Reden immer wieder an der Überwindung von überkommenen Gegensätzen,
insbesondere aber an der Beilegung des latenten Konfliktes zwischen der liberalen
Gegenkultur der sechziger Jahre und den politisch Konservativen. Dieser amerikanische
Kulturkampf entzündete sich nicht zuletzt an der unterschiedlichen Bewertung des
Vietnamkrieges (6.2.2-3) und prägt die politische Landschaft der Vereinigten Staaten bis
heute.
In seiner Rede zum amerikanischen Nationalfeiertag, dem Independence Day, gelang es
Obama, den Vorwurf eines mangelnden Patriotismus präventiv zu entkräften und aus dem
Wahlkampf auszuschließen – ohne Zweifel ein geschickter Zug, da ohnehin kein Amerikaner
auf die Idee gekommen wäre, den Patriotismus des Veteranen McCain in Frage zu stellen.
Darüber hinaus landete Obama noch einen weiteren Coup, nämlich eine spezifische
Auslegung des Patriotismus-Begriffs, welche das ideelle (bzw. imaginäre) Zentrum Amerikas
gegen die degenerierte und korrupte Realität der Vereinigten Staaten – verkörpert durch die
Bush-Administration – ausspielte. Der wahre Patriotismus zeige sich eben, so Obama, nicht in
einer unkritischen Verteidigung der amerikanischen Regierung, sondern in der Verteidigung
der amerikanischen Werte – notfalls auch gegen die amtierende Regierung. Obama führte als
negatives Beispiel den von ihm verehrten Präsidenten Abraham Lincoln an, dessen
Außerkraftsetzung des habeas corpus im amerikanischen Bürgerkrieg kein patriotischer Akt
gewesen sei. Durch die Wahl dieses Beispiels bezog Obama auch implizit Stellung zur
Einschränkung der amerikanischen Bürger- und Gefangenenrechte nach dem 11. September
2001 sowie zur jüngst erfolgten Supreme-Court-Entscheidung im Fall Boumediene v. Bush
(9.3.3). Darüberhinaus griff er in seiner Rede auch explizit die Missbrauchsfälle von Abu
Ghraib auf. So verteidigte Obama nämlich den „whistle blower“ von Abu Ghraib, Joe Darby
(8.1.1), als einen wahren Patrioten und Helden, der durch seine Tat dem wahren Amerika
nicht etwa Schaden zugefügt, sondern vielmehr dem ideellen Amerika zu einem Sieg über
sein degeneriertes Zerrbild verholfen habe. Obama erzählte den Abu-Ghraib-Skandal weder
als eine unglückliche Tragödie, wie dies vor allem in konservativen Kreisen geschah (8.3.1),
noch als eine kollektive Schuld oder traumatische Wiederkehr des Verdrängten, wie dies vor
allem liberale Intellektuelle propagierten (8.3.2). Der Abu-Ghraib-Skandal, so wollte Obama
seine Zuhörer glauben machen, müsse aufgrund der Enthüllung der Missbrauchsfälle durch
Joe Darby, der Skandalisierung durch die Medien und der Bestrafung der Täter durch die
578
Gerichte als amerikanischer Triumph verstanden werden. Auch in dieser Rede stilisierte sich
Obama also zum Überwinder der Gegensätze, zum Hoffnungsträger einer ganzen Nation. So
nahm er beispielsweise die Soldaten des Vietnamkrieges und des Irakkrieges vor einer
pauschalen linksliberalen Kritik in Schutz. Diese exemplarischen Analysen stellen natürlich
keine Erklärung des Wahlausgangs dar,777 sondern sollen lediglich demonstrieren, auf welche
spezifische Weise Obamas Kandidatur und die neue Debattenkultur nach Abu Ghraib
ineinandergriffen.
Am 4. November 2008 konnten Obama und die Demokraten die Wahl für sich
entscheiden. Ausschlaggebend war am Ende wohl das Versagen der Republikaner angesichts
der hereinbrechenden Finanzkrise, von der Obama als „civil hero“ weitaus stärker profitieren
konnte als der „military hero” McCain (vgl. Alexander 2010: 72-87). In dem Maße, wie die
Finanzkrise den Afghanistan- und Irakkrieg als Wahlkampfthema in den Hintergrund drängte,
wurde es für McCain, dem die Wähler nur eine geringe wirtschaftliche Kompetenz
unterstellten, schwerer und schwerer zu punkten. Die Probleme der Republikaner fingen
schon mit der Entscheidung der Bush-Administration an, die Investmentbank Lehman
Brothers Pleite gehen zu lassen, was die Krise zuallererst virulent werden ließ.778 Hinzu kam,
dass McCains performative Reaktion auf die Finanzkrise samt seiner Versicherung, „the
fundamentals of our economy are strong“, von der Öffentlichkeit als unzureichend
wahrgenommen und als finanzpolitisches Desaster („McCain’s Katrina“) gerahmt wurde
(Alexander 2010: 246-256).
Mit dem Wahlsieg von Obama fand die liminale Phase des polarisierenden
Präsidentschaftswahlkampfs ein vorläufiges – wenn auch kein besonders glückliches – Ende.
Ironischerweise polarisierte die erste Amtszeit von Obama, der im Wahlkampf doch so sehr
auf gesellschaftliche Einheit gesetzt hatte, die amerikanische Gesellschaft in einem bisher
kaum gekannten Ausmaß. Die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung, auf die
sich Obama in seinem Wahlprogramm (im Gegensatz zu Clinton) nicht einmal festgelegt
777
Eine ausführliche Rekonstruktion der performativen Praktiken, die letztlich entscheidend für den
Wahlausgang waren, findet sich bei Jeffrey Alexander (2010), der allerdings in seiner Analyse wesentliche
Aspekte, wie beispielsweise die politischen Polarisierung des amerikanischen Diskurses (4.3.5) oder aber den
Einfluss der symbolischen Verunreinigung der Republikaner durch die scheidende Bush-Administration,
außer Acht lässt.
778
Diese folgenreiche Entscheidung lässt sich einerseits durch die konservative Ideologie, andererseits aber auch
durch wahlpragmatische Überlegungen rechtfertigen. So hätte die Stammwählerschaft der Republikaner
weitere Eingriffe des Staates auf Kosten der Allgemeinheit mit Sicherheit nicht goutiert. Im Rückblick taten
sich die Republikaner mit den katastrophalen Konsequenzen dieser Entscheidung allerdings auch keinen
Gefallen.
579
hatte, verschärfte das politische Klima und führte zur Entstehung und zum Aufstieg der
populistischen Tea-Party-Bewegung, während sich die Finanzkrise (wider McCains
Erwartung) zu einer veritablen Wirtschaftskrise ausweitete, deren Bewältigung nach wie vor
zu den dringendsten Aufgaben des Präsidenten gehört.
10.1.3. Der überparteiliche Bericht des Verteidigungsausschusses
Mitte Dezember 2008, als die Hitze des politischen Gefechts schon verflogen war, aber noch
vor der offiziellen Amtseinführung des neuen Präsidenten, wurde das Bad-Apple-Narrativ
(8.3.1) durch einen Bericht des Verteidigungsausschusses des Senats, der von den Vertretern
aus beiden Parteien einstimmig angenommen wurde, offiziell widerlegt. Der Bericht nahm die
scheidende Bush-Regierung für den Gefangenenmissbrauch in Abu Ghraib in die
Verantwortung und sprach ihnen eine Mitschuld an den Vorfällen zu. So berichtete selbst die
politisch neutrale USA Today voller Begeisterung:
Now, finally, an authoritative bipartisan report by the Senate Armed Services Committee has concluded,
by a 17-0 vote, that Rumsfeld and other top Bush administration officials bear direct responsibility for the
abuses that so damaged the American interests. The panel said in a report Thursday that the guards’
tactics were the byproduct of policies spawned by a 2002 memo, signed by President Bush, declaring that
the Geneva Conventions for humane treatment of detainees did not apply to enemy fighters in the war on
terror. Rumsfeld followed on by approving aggressive interrogation techniques for Guantanamo,
including removing prisoners’ clothes and using dogs to threaten them. The military soon adopted similar
practices for Afghanistan and Iraq. Not surprisingly, the Abu Ghraib guards used them. No one can forget
the photos revealed in 2004, showing grinning U.S. soldiers alongside a pyramid of hooded and naked
Iraqi detainees and one detainee collared and leashed like a dog.779
Der Artikel zeugt von der Verankerung der Abu-Ghraib-Bilder im kollektiven Gedächtnis der
Vereinigten Staaten – und das auch noch nach über vier Jahren. Zugleich legt er auch ein
eindrucksvolles Zeugnis davon ab, dass Vergangenheit immer auch eine Konstruktion der
Gegenwart ist. So wird im Rückblick festgestellt, dass die Rahmung des Abu-GhraibSkandals als eine Tat einzelner Soldaten von Anfang an den Eindruck einer Vertuschung
erweckt habe („always looked like a cover up, and not a very creative one“). Eine kollektive
Amnesie schien die USA Today befallen zu haben, wo mehrere Artikel in der Frühphase des
Skandal publiziert wurden, die den früheren Verteidigungsminister Rumsfeld in Schutz
nahmen und in denen man zu dem Schluss kam, dass es nicht genug Hinweise für eine
Verantwortlichkeit der Regierung gegeben habe (8.2.3). Nichtsdestotrotz unterstreicht der
Artikel die anhaltende Bedeutung des Skandals wie auch die Kanonisierung der Bilder als
säkulare Ikonen (2.1.5). Der Autor schließt mit einem optimistischen Resümee, einem
romantischen Narrativ des Abu-Ghraib-Skandals: So habe dieser letztendlich nicht nur die
779
„Blame for Abu Ghraib finally lands at the top“, USA Today, 15. Dezember, 2008.
580
moralische Autorität der Vereinigten Staaten wiederhergestellt, sondern sei am Ende auch der
Effizienz des Militärs zu Gute gekommen:
The scandal led to changes, and abuse is less likely now. Even so, the report carries important lessons. It
underscores that these tactics are both cruel and unproductive: The abuses, the committee found,
“damaged our ability to collect accurate intelligence that could save lives” and “strengthened the hand of
our enemies.” And it places responsibility, finally and unequivocally, where it belongs. But there is
another lesson. That is the enduring power of the Big Lie – the ability of those in power to deny what is
obvious, pressure anyone attempting to tell the truth and go on as if nothing happened, unless someone
like the senators exposes the truth.780
Das Ergebnis des Skandals wird hier als Sieg der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit über
die Macht der großen Lüge gefeiert. Der rücksichtslose Gebrauch politischer Macht durch die
Bush-Regierung
wurde
also
im
Diskurs
als
repressiver
und
undemokratischer
Machtmissbrauch gebrandmarkt. Interessanterweise wird das Militär hier keinerlei Kritik
unterzogen. Die Institution des Militärs blieb unbefleckt, weil dem politischen Kurs der BushAdministration die ganze Verantwortung zugeschrieben wurde. Die scheidende Regierung
erfüllte dem Volk noch einen letzten Dienst als Sündenbock, der als Außenstehender die
Bewältigung der sozialen Krise ermöglichte (vgl. Girard 1992, 2006) und damit den Konflikt
zwischen konservativen und liberalen Kräften beilegte.
Halten wir fest: Zumindest in Teilen muss der Präsidentschaftswahlkampf 2008 als
Resultat des Abu-Ghraib-Skandals begriffen werden. Die (zeitweilige) Übereinstimmung
zwischen McCain, Clinton und Obama in vielen Fragen der Sicherheitspolitik reflektiert einen
neuen zivilgesellschaftlichen Konsens, der sich in den Jahren nach dem Skandal
herausbildete. Konkrete Gestalt nahm dieser Konsens im überparteilichen Senatsbericht an,
der von der Öffentlichkeit wohlwollend aufgenommen wurde. Es ist allerdings kein Zufall,
dass gerade einer scheidenden Regierung die Schuld an den Vorfällen zugemessen wurde. So
hätte vor der Wahl doch das Risiko bestanden, dass die offizielle Anerkennung der Schuld der
Bush-Regierung auf den republikanischen Kandidaten hätte übergreifen oder die
Stammwähler verärgern können. Erst mit dem Ende des Wahlkampfes traten diese
pragmatischen Überlegungen zurück und machten damit den Weg für eine Abrechnung mit
der Bush-Regierung frei, die allerdings Züge einer nationalen Exkulpation trägt.
780
„Blame for Abu Ghraib finally lands at the top“
581
10.2. Bildkritik und narrative Rekonstruktion – Die Dokumentationen
Aber die kunstvoll ausgeleuchteten, digital aufgemöbelten, von Danny Elfmans
Einpeitschermusik begleiteten Filmbilder zähnefletschender Hunde verschnürter
Leichen und in Zeitlupe fließender Blutstropfen fügen den Fotografien keine
neuen Erkenntnisse hinzu. Sie verwischen nur. Sie machen die Wahrheit zur
Fiktion. Etwas Schlimmeres kann man über einen Dokumentarfilm kaum sagen.
Andreas Kilb, Wahres Blut fließt nicht in Zeitlupe781
Dokumentationen stellen ein besonderes Genre innerhalb der audiovisuellen Medienformate
dar. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass der Dokumentarfilm kein klassisches fiktionales
Medium ist, sondern mit dem Anspruch auftritt, die Wirklichkeit „abzubilden“. Von einem
Tatsachenbericht oder einer Nachricht unterscheidet sich eine Dokumentation dadurch, dass
sie „Wirklichkeit“ nicht nur eins-zu-eins narrativ oder bildlich wiedergibt, sondern eine dem
alltäglichen Auge verborgene Wirklichkeit zeigen will. Eine besondere Rolle spielen dabei
Techniken der Visualisierung, z.B. durch Fotographie und Film. Der Versuch der
Visualisierung einer verborgenen Wirklichkeit führt bei Dokumentationen allerdings oft dazu,
dass die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen. So konstatiert Bernd Gäbler
im Vorwort eines Bandes, der die „Doku-Landschaft“ in Deutschland in den Blick nimmt:
Zur alten Unschuld aber, die ebenso messerscharf wie naiv definierte, dass Fiktion die Konstruktion von
Wirklichkeit sei und Dokumentation deren Abbildung, führt kein Weg zurück. Kaum ein DokuIrgendwas kommt noch aus ohne „Re-Enactment“, „szenische Rekonstruktion“ oder gar
„dokumentarische Imagination“. (Wolf 2004: 9)
Es wird zunehmend von Fiktion und Imagination Gebrauch gemacht, um der Dokumentation
einen höheren Grad an Realismus zu verleihen – was auf den ersten Blick paradox erscheinen
mag. Allerdings wurde bereits in den theoretischen Erörterungen über das Reale (1.3.4) und
das fotografische Bildmedium (2.1.4) herausgearbeitet, dass Realität nicht nur als materielle
Spur, sondern auch als symbolischer Effekt verstanden werden muss. Die durch die
Dokumentation erzeugte Wirklichkeit ist somit ein Ergebnis medialer Techniken und
theatralischer Performanzen. Gerade audiovisuelle Formate wie das Fernsehen eignen sich in
besonderer Weise für Dokumentationen. Das „Doku-Drama“, in dem fiktionale und
dokumentarische Anteile verwoben werden, gilt als „fernsehspezifisches Genre“ (Wolf 2004:
98). Auch in den Dokumentationen zu Abu Ghraib und Guantanamo wurden auf
unterschiedliche Art und Weise dokumentarische und fiktionale Gehalte zueinander in
781
Eine äußerst kritische Besprechung der Dokumentation Standard Operating Procedure, die in der
Frankfurter Allgemeine Zeitung am 29. Mai 2008 erschien.
582
Beziehung gesetzt. Die Vorfälle von Abu Ghraib wurden schon früh in einer Reihe von
kleineren Dokumentation wie The Dark Art of Interrogation und The Torture Question
thematisiert, die die Missbrauchsfälle in die Geschichte der Folter einzuordnen und mit
Guantanamo in Verbindung zu bringen versuchten.782 Diese Dokumentationen aus dem Jahr
2005 wurden nicht nur von einer großen Anzahl von Zuschauern gesehen, sondern auch in der
Qualitätspresse besprochen. Daran wird ersichtlich, dass die öffentliche Auseinandersetzung
mit Abu Ghraib mit dem vorläufigen Ende des Skandals keinesfalls zum erliegen kam.
Einerseits versuchten diese Dokumentationen, politischen Einfluss zu nehmen, andererseits
müssen sie auch als Symptome einer veränderten Wahrnehmung von Abu Ghraib gelesen
werden. Deutlich zu Tage tritt jedoch der symbolische „spill over“-Effekt von Abu Ghraib,
das heißt sein ansteckender Einfluss auf das Gefangenenlager in Guantanamo Bay. Die
Grenzen zwischen bedauerlichen Missbrauchsfällen, regulären Verhörtechniken und
staatlicher Folter geraten in diesen Filmen ins Fließen. Insbesondere in Torture Question
versuchte man, einen Zusammenhang zwischen den Missbrauchsfällen von Abu Ghraib und
Anweisungen von höchster politischer Ebene, aus dem Weißen Haus und dem Pentagon,
herzustellen.783 Der Druck, der von oben nach unten weitergegeben wurde, Informationen um
jeden Preis zu beschaffen, soll letztendlich zu den Missbrauchsfällen geführt haben. Eine
weitere Dokumentation, Big Storm: The Lynndie England Story, geht der Rolle der
prominentesten Frau auf den Bilder nach und zeichnet, zumindest in den Augen der TimesKommentatorin Kate Aurthur, ein äußerst negatives Bild von dieser: „Her flat affect and
inability to discern right from wrong contrasts with the still-shocking images of the American
soldiers’ abuse games“.784
Einige Dokumentationen zu Abu Ghraib und zu verwandten Themenkomplexen wurden
auch, mit relativ großem Aufwand, für das Kino und das DVD-Geschäft produziert. Im
Gegensatz zu den bereits erwähnten Dokumentation erlangten diese Filme einen
internationalen Bekanntheitsgrad und wurden zum Teil mit Filmpreisen ausgezeichnet.
Dementsprechend wurde auch in der Presse und im Fernsehen viel über diese Filme berichtet
(sogar in Deutschland). Im Folgenden sollen vier Dokumentationen näher bertrachtet werden,
von denen die ersten beiden die Inhaftierung von Gefangenen in Guantanamo Bay, Kuba, und
in Bagram, Afghanistan, thematisieren (10.2.1). Die Bezüge zu Abu Ghraib sind in beiden
782
„Sunday“, The Washington Post, 9. Juli 2005; „What‘s on tonight“, The New York Times, 18.Oktober 2005.
783
„The Slow Rise of Abuse That Shocked the Nation“, The New York Times, 18. Oktober 2005.
784
„Television“, The New York Times, 19. März 2006.
583
Filmen so deutlich, dass ihre Behandlung im Rahmen dieser Arbeit mehr als gerechtfertigt
erscheint. Danach wird es um die beiden Dokumentation Ghosts of Abu Ghraib (10.2.2.) und
Standard Operating Procedure (10.2.3) gehen, die sich direkt mit den Missbrauchsfällen in
Abu Ghraib auseinandersetzen.
10.2.1. Road to Guantanamo (2006) und Taxi to the Dark Side (2007)
Die beiden Dokumentation bzw. „Doku-Dramas“, auf die nun einzugehen ist, haben beide
nicht die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib als ihren primären Gegenstand. Vielmehr
beschäftigen sie sich mit dem Schicksal von Gefangenen, die von amerikanischen Soldaten in
Afghanistan aufgegriffen und in Guantanamo bzw. in Bagram inhaftiert wurden. Dennoch, so
soll im Folgenden gezeigt werden, profitierten beide Dokumentationen von dem Klima, das
durch den Abu-Ghraib-Skandal geschaffen wurde. Einerseits beeinflusste das soziale
Imaginäre von Abu Ghraib die Produktion und Rezeption dieser Filme, andererseits wirkten
die Dokumentationen auch auf die Rahmung der Vorfälle von Abu Ghraib zurück.
Michael Winterbottoms Film Road to Guantanamo (2006) ist der erste „Dokumentar“Film, der hier behandelt werden soll. Er erzählt die Geschichte von drei jungen Engländern,
die während eines Besuches bei Verwandten in Pakistan aus Neugierde einen Kurzbesuch
nach Afghanistan unternehmen, wo sie von amerikanischen Streitkräften festgenommen und
nach Guantanamo Bay überführt werden. Der Film greift damit ein Motiv auf, das schon im
Abu-Ghraib-Skandal eine Rolle gespielt hatte, nämlich die Tatsache, dass viele unschuldige
Gefangene im Krieg gegen den Terror ihrer grundlegenden Rechte beraubt wurden.785 Die
Bezüge zu Abu Ghraib sind vor allem impliziter Natur. Die symbolische und ikonische Nähe
zwischen Guantanamo und Abu Ghraib rührt in erster Linie von den verhüllten Köpfen der
Gefangenen her. Diesen Verweis auf den Abu-Ghraib-Skandal versuchten die Macher aber
auch explizit für die Vermarktung des Filmes zu nutzen. So war es geplant, den Film mit dem
Foto eines gefesselten Mannes zu bewerben, dessen Kopf von einem Sandsack oder einer
Kapuze verhüllt war. Dieses Plakat wurde den Machern von Road to Guantanamo in den
Vereinigten Staaten jedoch von der zuständigen Behörde aus Jugendschutzgründen untersagt
– eine Entscheidung, die von den Filmemachern wie auch von Journalisten mit der
Intransparenz der Bush-Regierung in Verbindung gebracht wurde.786
785
Ein ähnlich gelagerter Fall stellte in Deutschland die Kurnaz-Affäre dar.
786
„MPAA Rates Poster an F; Documentary Ad’s Image of Guantanamo Prisoner Abuse Deemed
Inappropriate“, Washington Post, 17. Mai 2006.
584
Der Film selbst stellt den Leidensweg der jungen Engländer mit Hilfe von Schauspielern
nach, lässt aber auch immer wieder die echten Opfer zu Wort kommen. Auf diese Weise
verbindet er ein realistisches Re-Enactment mit dem authentisierenden Auftritt von
Zeitzeugen. Zu Beginn der hier erzählten Geschichte wird der Rezipient mit der jugendlichen
Naivität der Protagonisten konfrontiert, die sich bei ihrem Ausflug nach Afghanistan zunächst
nicht viel gedacht haben, aber dann von den Amerikanern für Dschihadisten gehalten werden.
Der Film lässt sie als unfreiwillige Märtyrer, Opfer und Helden zugleich, eine innere
Wandlung durchleben, die einen von ihnen sogar Gott näher bringt. Dennoch lässt sich der
Film nur begrenzt als ein Bildungsroman lesen, weil der jugendliche Leichtsinn und das
Leiden der Protagonisten in keinem Verhältnis zueinander stehen. Darin liegt, trotz des
„Happy Ends“ ihrer Freilassung, seine Tragik. Im Zentrum des Films steht aber letztlich die
Kritik an der Gefangenenpolitik und den unmenschlichen Verhörtechniken der Amerikaner.
Ähnlich wie im Falle des Abu Ghraib-Skandals entpuppen sich die vermeintlichen Terroristen
als hilflose Opfer, während die amerikanischen Helden als skrupellose Täter desavouiert
werden.
Der Film Taxi to the Dark Side (2007) von Alex Gibney, der unter anderem auch 2008 auf
der Berlinale lief, wurde mit dem Oscar für den „besten Dokumentarfilm“ ausgezeichnet. Er
widmet sich der Rekonstruktion des Todes von Dilawar, einem afghanischen Taxifahrer.
Dieser war von amerikanischen Soldaten aufgegriffen worden, wurde daraufhin im
afghanischen Gefängnis Bagram inhaftiert und kam dann dort unter mysteriösen Umständen
ums Leben. Ähnlich wie Road to Guantanamo unterläuft auch Taxi to the Dark Side eine
wichtige Prämisse der Gefangenenpolitik der Bush-Administration und des amerikanischen
Militärs: die Schuld des Inhaftierten. Die Verhaftung von Dilawar wird hier als ein
unglücklicher Zufall und Willkürakt dargestellt, der auf eine Denunziation zurückgehe.
Die Dokumentation ist außerordentlich verstörend.787 Sie beginnt überraschenderweise mit
Aufnahmen der einschlägigen Fotografien aus Abu Ghraib. Einerseits soll dies den Zuschauer
wohl auf den doch relativ unbekannten Fall „Dilawar“ einstimmen, der damit in den
vertrauten Kontext von Abu Ghraib gestellt wird. Andererseits erfolgt das Zeigen der Bilder
auch in einer kritischen Absicht: Die Bilder von Abu Ghraib, auch wenn sie für die Debatte
787
Der Verfasser dieser Arbeit hatte das zweifelhafte Vergnügen, diesen Film auf einem alternativen
Filmfestival in Berlin vorstellen zu dürfen. Der Film kam bei den Zuschauern gut an, allerdings war kaum
einer von ihnen für eine anschließende Diskussion über den Film zu gewinnen. Dies lag nicht alleine an der
fortgeschrittenen Stunde, sondern auch an der geistigen Tortur, der der unbedarfte Zuschauer unterzogen
wurde. Der Film nimmt einen mit und lässt einen auch nicht so schnell wieder los.
585
über Missbrauchsfälle sensibilisiert haben, lenkten, so die explizite These des Films, von
jenen Ereignissen ab, die nicht dokumentiert worden sind bzw. deren Dokumentation nicht
öffentlich gemacht wurde. Zugleich täuschen die meisten Bilder von Abu Ghraib und auch
ihre Skandalisierung im öffentlichen Diskurs darüber hinweg, dass in amerikanischen
Gefängnissen im Irak wie auch in Afghanistan immer wieder Gefangene zu Tode kamen. Die
rituelle Demütigung und sexuelle Erniedrigung von Gefangenen in Abu Ghraib stellte
keineswegs die schlimmste Form der Misshandlung von Häftlingen durch amerikanische
Soldaten dar, wenn auch möglicherweise die fotogenste und skandalträchtigste. Auch im
Umfeld der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib kam es zu einem Todesfall, der allerdings
rechtlich nicht weiter verfolgt wurde. In diesem Sinne muss Taxi to the Dark Side auch als
eine Bildkritik an den Abu-Ghraib-Fotografien verstanden werden.
10.2.2. Autorität und vorauseilender Gehorsam – Ghosts of Abu Ghraib (2007)
Rory Kennedys Film Ghosts of Abu Ghraib wurde erstmals am 19. Januar 2007 auf dem
Sundance Festival gezeigt. Der Film beginnt mit Szenen aus Stanley Milgrams
Dokumentarfilm Obedience (1962), der von seinen berühmten Autoritätsexperimenten
handelt (vgl. 6.1.3). Schon durch das Intro wird deutlich, dass die Missbrauchsfälle im Film
gemäß einem low-mimesis-Narrativ mit tragischen Zügen gedeutet werden (2.2.1-2). So
werden die Soldaten in der Dokumentation als ganz normale Amerikaner dargestellt, die in
Abu Ghraib aufgefordert werden, die Gefangenen auf das eigentliche Verhör vorzubereiten.
Darüberhinaus werden vor allem Bilder aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis, Interviews mit
Soldaten, Häftlingen und Experten, aber auch Ausschnitte aus der Berichterstattung über Abu
Ghraib gezeigt. Im Gegensatz zu Standard Operating Procedure (2008) verzichtet dieser Film
allerdings auf eine theatralische Re-Inszenierung der Missbrauchsfälle etwa durch technischästhetische Kunstgriffe. Darüberhinaus werden die Vorfälle in den historischen Kontext von
9/11 und des Krieges gegen den Terror gestellt. So werden beispielsweise Bilder von „Ground
Zero“ und Ausschnitte aus Bushs Rede an die Nation gezeigt. Ferner erzählen einige der
Soldaten in Interviews, dass der 11. September 2001 sie maßgeblich dazu motiviert habe,
ihrem Land als Soldaten einen Dienst zu erweisen. Der Film versucht dabei, die Ereignisse in
Abu Ghraib aus der Doktrin der Bush-Administration (6.4.2) und den anhaltenden Problemen
des amerikanischen Militärs bei der Aufstandsbekämpfung heraus verständlich zu machen
(6.5.2-3). Einerseits habe es eine Aufweichung und Verwirrung der Richtlinien für Verhöre
von Gefangenen, andererseits aber auch starke Anreize gegeben, Informationen durch
Verhöre zu gewinnen, die bei der Bekämpfung der Aufständischen hätten behilflich sein
586
können. Dieser äußere Druck, der in dem inneren Drang der Soldaten, das Leben von
Kameraden zu retten, seine Ergänzung fand, paarte sich mit der bedrohlichen und anomischen
Situation in Abu Ghraib, was letztendlich zu einer systematischen Praxis der Folter geführt
habe. Bei den bekannt gewordenen Missbrauchsfällen handelte es sich nur um die Spitze des
Eisberges, wovon nicht zuletzt mehrere Interviews mit ehemaligen Häftlingen ein narratives
Zeugnis ablegen.
Kaum Rechnung getragen wird im Film hingegen der Tatsache, dass es auch zu
eigenmächtigen Misshandlungen von Gefangenen durch amerikanische Soldaten kam, wie
beispielsweise während der berüchtigten „night shift” (7.2-3). Vielmehr werden hier die
Misshandlungen auf den Skandalfotografien mit Blick auf die Todesfälle in Abu Ghraib
relativiert. Die Tatsache, dass wegen des auf einigen Bildern zu sehenden Toten, der
vermutlich an den Folgen eines Verhörs der Navy Seals oder der CIAs gestorben war,
niemand belangt wurde, wird hier zum eigentlichen Skandal. Pikanterweise kommen im
weiteren Verlauf noch einige Soldaten aus Abu Ghraib zu Wort, die berichten, dass –
nachdem die Fotos in die Hände der Militärführung fielen – die Anweisung ausgegeben
worden sei, kompromittierende Daten zu vernichten. Dem Militär wird hier also nicht nur
vorgeworfen, das wahre Ausmaß der Missbrauchsfälle verschleiert, sondern auch
Beweismittel vernichtet zu haben. Der Film endet, wie er begann: mit Szenen aus dem Film
Obedience, die eine strukturelle Analogie zwischen den Vorfällen in Abu Ghraib und
Milgrams Studien zur Autorität nahelegen sollen. Schuld, so die Botschaft des
Dokumentation, trügen vor allem die staatlichen Behörden, deren Autorität die Soldaten zu
Akten gezwungen habe, die ihren moralischen Prinzipien zuwiderliefen. Mike Hale hat dem
Film in der Times eine polarisierende Wirkung attestiert:
Depending on your sympathies, you can be irritated by the way the not-quite-openly polemical film
simplifies some of the larger questions about American involvement in Iraq, or you can be outraged by its
eyewitness accounts of what went on in the Tier 1 cellblock at Abu Ghraib.788
Genau genommen beschreibt Hale hier nicht nur die polarisierende Wirkung des Films auf die
Zuschauer, sondern differenziert auch zwischen zwei Ebenen der Glaubwürdigkeit: Während
die Empörung über die von Augenzeugenberichten untermauerten Missbrauchsfälle
gerechtfertigt erscheint, wird dem allgemeinen Narrativ über die Verstrickungen der BushAdministration in die Vorgänge in Abu Ghraib hier noch Skepsis entgegengebracht. Wie wir
bereits gesehen haben, wurde im Dezember 2008 im Verteidigungsausschuss des Senates ein
Bericht verabschiedet und anschließend öffentlich gefeiert (10.1.3), dem das allgemeine
788
„Television“, The New York Times, 18. Februar 2007.
587
Narrativ dieser Dokumentation zu Grunde liegt – ohne damit behaupten zu wollen, dass diese
Dokumentation dafür auschlaggebend war. Dasselbe Narrativ konnten wir bereits in der
frühen Phase des Skandals im links-liberalen Diskurs beobachten (6.3.2). Allerdings stieß der
Film auch in politischen Kreisen nachweislich auf Resonanz. So berichtete die Post von
einem Eklat während einer öffentlichen Vorführung des Filmes in Washington. Zu diesem
war es gekommen, weil Senator Lindsey Graham, Teil des republikanischen Triumvirats,
welches das McCain-Amendment gegen den ausdrücklichen Willen der Bush-Regierung
durchgesetzt hatte (9.2.1), in einer anschließenden Podiumsdiskussion sagte, dass auch
General Karpinski vor Gericht hätte gestellt werden müssen. Diese war aber selbst im
Publikum anwesend und entgegnete, dass man sie nicht vor Gericht hatte haben wollen, weil
sie dann die Wahrheit erzählt hätte.789
10.2.3. Hinter den Bildern – Standard Operating Procedure (2008)
Eine Arbeit über die Ursachen, Rezeption und Folgen des Abu-Ghraib-Skandals kann
natürlich nicht den Film Standard Operating Procedure ausblenden, der 2008 in die Kinos
kam. Mit dem bekannten Regisseur Errol Morris, der mit seiner Dokumentation The Fog of
War (2003) über den ehemaligen Verteidigungsminister Robert S. McNamara und den
Vietnamkrieg bereits den Oscar (bzw. den „Academy Award“) gewonnen hatte, nahm sich ein
ausgewiesener Meister des Genres des Abu-Ghraib-Stoffes an, was zu hohen Erwartungen
gegenüber dem Film führte. In Zusammenarbeit mit Philip Gourevitch erschien außerdem
eine Monographie zum Dokumentarfilm, die auch ins Deutsche übersetzt wurde (Gourevitch
& Morris 2009). Der Dokumentarfilm besteht überwiegend aus den Skandalfotografien,
Interviews mit Beteiligten und Experten, Briefen von Sabrina Harman, die dem Publikum
vorgelesen werden, sowie fiktiven Szenen, die die Abläufe in dem Gefängnis imaginieren.
Der Film geht von der Prämisse aus, dass die Fotos von Abu Ghraib mehr verbergen als sie
enthüllen. Einerseits geht es um die narrative Rekonstruktion und Rekontextualisierung der
auf den Fotografien abgebildeten Szenen, andererseits aber auch um jenen toten Gefangenen,
dem im Zuge des Skandals nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die
Dokumentation besticht durch ihre technisch aufwändige und ästhetisierende Vermittlung der
Vorfälle.790 Sehr oft wird zu Zwecken der Dramatisierung eine Zeitlupe verwendet, aber es
789
„The Reliable Source“, The Washington Post, 13. Februar 2007.
790
Während die Dokumentation in der amerikanischen Presse auf durchweg positive Resonanz stieß, äußerte
man sich in der deutschen Presse überwiegend kritisch über die Machart des Films. Das einleitende Zitat aus
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.2) ist in diesem Zusammenhang wohl das drastischste, aber auch
588
werden auch extrem nahe Detailaufnahmen gezeigt, beispielsweise von der Augenbraue eines
Gefangenen, die rasiert wird. Die Dehnung der Zeit und die räumliche Konzentration
verfremden die dargestellten Sachverhalte, verstören den Zuschauer und steigern die affektive
Wirkung der Szenen. Dadurch, dass aus den Briefen von Sabrina Harman an ihre Ehefrau
vorgelesen wird und auch viele private Fotos der Soldaten gezeigt werden, baut die
Dokumentation eine Intimität und Nähe zu den Tätern auf, statt einen kritisch-distanzierten
Duktus an den Tag zu legen. Auf diese Weise begünstigt sie eine Identifikation des
Zuschauers mit den Tätern.
Die Dokumentation reflektiert nicht nur die Missbrauchsfälle, sondern vor allem auch das
spannungsvolle Verhältnis zwischen linearer Erzählung und fotografischen Bildern.
Insbesondere die Interviews mit dem Chefvermittler Brent Pack vermitteln dem Zuschauer
einen Eindruck von der Detektivarbeit, die nötig ist, um eine ungeordnete Ansammlung von
Bildern in eine lineare Abfolge zu bringen und einzelnen Ereignissen zuzuordnen (vgl. auch
Gourevitch & Morris 2009: 277-280). Eine Pointe von Standard Operating Procedure besteht
darin, dass die Fotografien von Abu Ghraib ein falsches Bild der Missbrauchsfälle zeichnen
und eben nicht die „wahre“ Geschichte von Abu Ghraib erzählen. Bilder sagen zwar, wie der
Volksmund sagt, „mehr als tausend Worte“, aber eben nicht notwendig die Wahrheit –
zumindest wenn sie von einem ungeschulten Beobachter befragt werden. Vielmehr sind auch
Bilder auf Worte und Erzählungen angewiesen, die sie in den richtigen Kontext zu rücken.791
Diesem „Defizit“ der Bilder versuchte Morris mit seiner Dokumentation Abhilfe zu schaffen.
Trotz dieser bildkritischen Stoßrichtung schließt Standard Operating Procedure, wie im
Übrigen auch Ghosts of Abu Ghraib, mit einer Anerkennung der Bedeutung der Fotografien
für den Abu-Ghraib-Skandal. Ohne die Bilder aus dem Gefängnis hätte es keinen Skandal
gegeben. Die Skandalfotografien mögen nur ein verzerrtes und selektives Bild der
Wirklichkeit darstellen, der Öffentlichkeit boten sie dennoch einen privilegierten Zugang zur
„Wirklichkeit“, mit dem eine Erzählung oder ein theatralisches Re-Enactment nur schwer
mithalten kann.
Die von Morris befragten Soldaten rechtfertigen oder relativieren ihre Taten mit dem
anderenorts wurde von „ästhetischem Blendwerk“ (Zeit) und „ethisch-ästhetischen Entgleisungen“ (Taz)
gesprochen.
791
So auch der Spiegel, der 2007 anlässlich seines sechzigjährigen Bestehens eine Anzeige mit fünf früheren
Titelblättern mit den Worten „Bilder brauchen Worte“ veröffentlichte, unter anderem mit den
Schlüsselbildern von 9/11, Aufnahmen vom Aufschlag des zweiten Flugzeugs sowie von Abu Ghraib, der
eigentlichen Ikone des Skandals.
589
Verweis auf die bei ihrer Ankunft bereits etablierte Folterpraxis im Gefängnis: „When we
came there, the example was already set“, heißt es bei Lynndie England. Megan Ambuhl
behauptete gar, dass die Täter von Abu Ghraib die Gefangenen auf das eigentliche Verhör
hätten vorbereiten sollen. Viele der Misshandlungen seien von den beteiligten Soldaten als ein
Beitrag verstanden worden, das Leben von amerikanischen Soldaten im Irak zu retten. Auch
hier liegt eine strukturelle Ähnlichkeit zum Ticking-Bomb-Szenario vor, die unsere
Interpretation der Fotos als einer heroischen Selbststilisierung bestätigt (7.2.4). So stellte die
Dokumentation den verurteilten Soldaten eine Bühne zur Verfügung, auf welcher sie die
Gelegenheit bekamen, ihre eigene Geschichte zu erzählen, die in vielerlei Hinsicht die
hegemonialen Rahmung der Ereignisse herausfordert. Lyndie England greift beispielsweise
zu einem Opfernarrativ: Sie, das junge, unerfahrene Mädchen aus der Provinz, sei Opfer eines
älteren Mannes, Charles Graner, geworden. Sie sei seinen Verführungskünsten erlegen und
habe nur ihm zuliebe auf den Fotos posiert. Sabrina Harman, deren Briefe an ihre Frau den
Eindruck einer kritischen Distanz zu den Ereignissen in Abu Ghraib vermitteln, erzählt eine
tragische Geschichte, nach der sie die Fotos nur gemacht habe, um die Bedingungen in Abu
Ghraib ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Auf diese Weise inszeniert sich Harman als
gescheiterter „whistle blower“, als tragischer Held, der wider Willen zum Täter geworden ist.
Und auch General Karpinski sieht sich als ein Opfer des Skandals, eine gescheiterte Heldin,
die sich schützend vor ihre Soldaten stellte und die Wahrheit ans Tageslicht bringen wollte.
10.3. Abu Ghraib in der Populärkultur und die Debatte um 24
Jack Bauer’s newest nemesis isn’t a terrorist –
it’s public opinion.
Rebecca Dana, Reinventing ‘24’792
Bevor die Folterdebatte und die Präsidentschaft von Obama zur Diskussion stehen, soll
zunächst einmal ein Blick auf Abu Ghraib in der amerikanischen Populärkultur geworfen
werden. Unter „Populärkultur“ sollen hier in erster Linie kulturelle Erzeugnisse wie fiktionale
Romane, Filme und Fernsehserien verstanden werden, die den Stoff des sozialen Imaginären
792
„Reinventing ‘24’. Jack Bauer’s newest nemesis isn’t a terrorist – it’s public opinion“, The Wall Street
Journal, 2. Februar 2008.
590
in symbolische Formen gießen und – im Gegensatz zu Dokumentationen – in erster Linie der
Unterhaltung dienen. Fiktionale Gattungen beziehen sich nicht nur auf etwas Imaginäres,
sondern zugleich immer auch auf Reales (Iser 1991). Fiktionen stehen immer in einem
doppelten mimetischen Verhältnis, einerseits zur Wirklichkeit, anderseits zu anderen
fiktionalen Vorbildern. Eine gewisse Homologie zwischen öffentlichem Diskurs und
Populärkultur wird über einen geteilten kulturellen Hintergrund gesichert, aber auch durch
Marktmechanismen gestützt. Die Populärkultur ist als ein Produkt der Medienindustrie von
den kommerziellen Interessen der Sender und Verlage und dadurch letztlich auch von der
Nachfrage der Konsumenten abhängig. Ihr vorrangiges Ziel ist es, die Zuschauer und Leser zu
unterhalten, um dadurch Profite zu erzielen. Seifenopern und Realityshows zeigen, dass die
moralisierenden Inhalten in populärkulturellen Genres durchaus der Unterhaltung dienen, die
Zuschauerzahlen beflügeln und Werbekunden anziehen.793
Darüberhinaus darf aber nicht vergessen werden, dass Populärkultur nicht nur ein Spiegel
der Gesellschaft darstellt, sondern auch eine aktive Rolle in der Formung moralischer
Einstellungen und Weltbilder der Zuschauer spielt. Als kulturelles System stellt Populärkultur
nicht nur ein Modell von etwas, sondern auch ein Modell für das eigene Handeln dar (vgl.
Geertz 1987). Populärkulturelle Gattungen ahmen nicht nur eine Wirklichkeit nach, sondern
können selbst zum Gegenstand der Nachahmung oder zu einem Teil des kulturellen
Hintergrundes werden.794 Auch bei dem kulturellen Einfluss des Ticking-Bomb-Narrativs und
der Heldentypus des Folterers kann zwischen einem Mechanismus der direkten Nachahmung
und einer Resonanz, deren Einfluss zunächst auf den kulturellen Hintergrund beschränkt
bleibt, unterschieden werden (1.2.5). Für einige wenige Akteure, insbesondere Soldaten und
Geheimdienstler, konnte das Verhalten von Jack Bauer aus 24 durchaus zu einem Vorbild und
Maßstab des eigenen Handelns werden. Darüberhinaus begünstigte die Serie die
Legitimierung von Folter im öffentlichen Diskurs (6.4.3).
Viele wissenschaftliche Ansätze von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft konzentrieren
sich einseitig auf rationale Diskurse und vernachlässigen die Repräsentation moralischer
Probleme in der Populärkultur. Der Einfluss fiktionaler Medien auf zivilgesellschaftliche
793
Bei genauerer Betrachtung gilt dies auch für andere Bereiche der Wirtschaft. Gerade der Bio-Boom im
Bereich der Nahrungsmittel oder der Erfolg von Fair-Trade-Produkten zeigt, dass der Konsum von Waren
und moralische Diskurse miteinander verschränkt sind.
794
Die positive Darstellung von Homosexualität in der neueren Populärkultur beispielsweise hat
nachahmenswerte Rollenmodelle und etablierte Skripte (wie das „coming out“) geschaffen, aber auch zur
allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz von Homosexualität beigetragen.
591
Moral wird von den meisten Soziologen und Philosophen immer noch unterschätzt. Eine
löbliche Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang Jeffrey C. Alexander dar, der die
Wechselwirkung zwischen zivilgesellschaftlichen Diskursen und fiktionalen Medien
hervorhebt (2006a: 75-80).795 Ein kultursoziologischer Ansatz, wie er in dieser Arbeit verfolgt
wird, geht davon aus, dass massenmedial vermittelte Bilder, Narrative und Performanzen der
rationalen Argumentation in Diskursen vorgelagert sind. So war es in unserem Fall das
Ticking-Bomb-Narrativ in Verbindung mit den Bildern des 11. Septembers, welches zu einer
Wende in der Folterdebatte führte (6.4), und nicht etwa neue philosophische Einsichten und
Argumente. Im Folgenden soll dem Einfluss von Abu Ghraib auf die fiktionalen Medien der
Populärkultur nachgegangen werden, nachdem der Bereich der Kunst (9.4) und die
einflussreichen Dokumentarfilme (10.2) schon Gegenstand unserer Untersuchung waren.
Politische Kunstwerke und Dokumentarfilme zielen in erster Linie auf ein schmales
Publikum ab, das im Wesentlichen schon über eine „vernünftige“ politische Einstellung
verfügt. Während die symbolische Form der Kunst eine Reflexion über Form und Inhalt
ermöglicht und Dokumentationen vorrangig der Informierung und Mobilisierung der
Zuschauer dienen, zielt die Populärkultur zunächst auf ein möglich breites Publikum, das
zuallererst unterhalten werden will. Moralische und politische Stellungnahmen werden hier
selten explizit gemacht, sind aber nichtsdestotrotz von großer Bedeutung. Die Populärkultur
ist für Kultursoziologen ein besonders wichtiger Forschungsgegenstand, weil hier gerade jene
sozialen Stereotypen und vorintentionalen Hintergründe unverstellt zu Tage treten, die durch
die intentionale Einflussnahme politischer Künstler und kritischer Dokumentationen eher
verschleiert werden. Für eine Untersuchung der moralischen Ordnung und des kulturellen
Wandels
von
Gesellschaften
Forschungsgegenstand
und
eine
stellt
die
ideale
populäre
Ergänzung
Breitenkultur
zur
ein
herkömmlichen
wichtiger
Analyse
zivilgesellschaftlicher Diskurse dar.
Die Beziehung zwischen öffentlichem Diskurs und Populärkultur lässt sich auf vier
zentrale
Punkte
zuspitzen:
Erstens
ist
jede
Produktion
von
Populärkultur
in
zivilgesellschaftlichen Moralvorstellungen verwurzelt, da auch deren Produzenten an der
Gesellschaft und ihrem Imaginärem teilhaben. Gäbe es – zweitens – keine prästabilierte
kulturelle Übereinstimmung der Produzenten mit der Mehrheitsgesellschaft, so müssten
Erstere schon aus rein ökonomischen Erwägungen an die Moralvorstellungen der Mehrheit
795
So diskutiert Alexander (2006: 530-543) unter anderem den Beitrag, den Barbara Streisand, Woody Allen
und Philip Roth für die Inklusion der Juden in die amerikanische Gesellschaft geleistet haben.
592
oder zumindest eines signifikanten Anteils der Bevölkerung zu appellieren versuchen.
Drittens ist es schwerlich zu bestreiten, dass Populärkultur hinter dem Rücken der Akteure
einen Einfluss auf private und öffentliche Meinungen ausübt – so schwer dies im Einzelfall
auch nachzuweisen ist. Viertens und letztens kann die implizite Moral populärkultureller
Erzeugnisse auch selbst wieder zu einem Thema und zum Gegenstand der Kritik in
zivilgesellschaftlichen
Diskursen
werden
–
die
Auseinandersetzungen
über
den
antisemitischen Hintergrund von Mel Gibsons The Passion of Christ (2004) oder die
unzivilen Auswirkungen der TV-Show Big Brother (ab 2000) sind hierfür gute Beispiele, aber
auch die öffentliche Kritik an der Show 24, auf die noch ausführlicher einzugehen ist (10.3.2).
Populärkultur lässt sich damit also sowohl als passiver Indikator latenter kultureller Muster
als auch in ihrer aktiven Rolle als Produzentin des sozialen Imaginären untersuchen. Die Art
und Weise, wie beispielsweise Homosexualität in Filmen, TV-Serien und Magazinen
dargestellt wird, kann uns Aufschluss über die öffentliche Meinung zu dem Thema geben,
formt aber zugleich auch die Meinung der Rezipienten. Zwar gibt es bereits eine relativ breite
Medienwirkungsforschung,796 allerdings kann diese in methodischer Hinsicht nicht für diese
Arbeit fruchtbar gemacht werden. Auch wenn sich die Wirkung von Abu Ghraib oder von 24
nur schwerlich unter Laborbedingungen untersuchen lässt, können wir doch zumindest die
Spuren dieser Rezeption untersuchen, wie sie sich im öffentlichen Diskurs niedergeschlagen
haben. Die Bilder von Abu Ghraib wurden auch in populären Comicserien wie den Simpsons
oder South Park zitiert, im Folgenden wird es aber in erster Linie um Filme und Fernsehserien
gehen, die in der amerikanischen Presse im Zusammenhang mit Abu Ghraib diskutiert
wurden.
10.3.1. Post-Abu-Ghraib-Fiction – Die Renaissance des unschuldig verstrickten Opfers
Nach dem 11. September 2001 besannen sich die führenden Medienkonzerne der Vereinigten
Staaten auf ihre staatstragende Rolle. Dies schlug sich nicht nur in der regierungsfreundlichen
und teils auch bellizistischen Berichterstattung im Vorfeld des Afghanistankrieges und des
Irakkrieges nieder (selbst die New York Times ist hiervon nicht auszunehmen), sondern auch
in der Gestaltung von Serienformaten wie 24. Mit der Unauffindbarkeit jener „weapons of
mass destruction“, dem ausbleibenden Ende der Kampfhandlungen und dem moralischen
Desaster von Abu Ghraib schlug jedoch die Stimmung um. Die Medienunternehmen wandten
796
Einen Überblick findet sich in den – immer wieder auf den neuesten Stand gebrachten – Monographien von
Michael Schenk (2007), Michael Jäckel (2011) und Heinz Bonfadelli mit Thomas Friemel (2011).
593
sich wieder zunehmend ihrer kritischen Funktion zu, was sich gerade auch an den fiktionalen
Formaten festmachen lässt. Die Auswirkungen des problembeladenen Irakkrieges und des
Abu-Ghraib-Skandals auf die Medienlandschaft wurden insbesondere in der New York Times
explizit diskutiert:
The networks, which covered the early days of the invasion on tiptoe, worried that their patriotism in the
wake of 9/11 would be questioned, have grown more openly skeptical. But news programs are not the
only place where viewers are exposed to the conflict in Iraq. Since the invasion, and most particularly in
the aftermath of the Abu Ghraib scandal, the war on terror has surfaced as a subplot or subliminal theme,
not just on “24” or ripped-from-the-headline crime series like “Law & Order,” but even on reality shows
and sitcoms. […] Most of the shows echo the public’s disenchantment after Abu Ghraib and the military
failures in Iraq.797
Im Krieg gegen den terror war es der „law-defying hero”, eine – vom klassischen Western
über Dirty Harry bis hin zu Jack Bauer – typische amerikanische Heldenfigur, welche die
kollektiven
Ängste
wiederspiegelte.
798
und
Wünsche
der
amerikanischen
Gesellschaft
am
besten
Nach dem Abu-Ghraib-Skandal kam es hingegen wieder zu einer
popkulturellen Renaissance des „unschuldigen Opfers“:
The innocent bystander caught up in a complicated web of ill-doing is a familiar conceit, be it “The Count
of Monte Cristo,” Hitchcock movies like “North by Northwest” or TV series like “The Fugitive” and,
most recently, “Prison Break” on Fox. But especially nowadays big bad government seems to have a
special resonance, perhaps collateral psychic damage from the war in Iraq and Abu Ghraib.799
In dieser neuen Welle von Filmen und Serien avancierte das „big bad government“ zu einem
„unreinen“ Symbol, das in der post-Abu-Ghraib-Atmosphäre auf große Resonanz stieß.
Insbesondere Prison Break (2005) ist außerordentlich interessant in diesem Zusammenhang,
da hier in mehrfacher Hinsicht auf Abu Ghraib Bezug genommen wird. Die Serie handelt von
einem Mann, der freiwillig eine Straftat begeht, um seinen schuldlos zum Tode verurteilten
Bruder durch eine gemeinsame Flucht zu retten. Zunächst einmal zeichnet die Serie ein
düsteres Bild des US-Gefängnissystems, das von einigen Stimmen aus der Presse für die
Exzesse von Abu Ghraib in Verantwortung genommen wurde, da der mutmaßliche
Rädelsführer von Abu Ghraib, Charles Graner, vor seiner Zeit als Reservist für den
amerikanischen Strafvollzug tätig gewesen war (8.4.1). Interessanterweise wurde die Serie
2003 von dem amerikanischen Sender Fox zunächst abgelehnt, im Jahr des Abu GhraibSkandals dann aber schließlich doch angenommen. Ein Schlüsselmotiv der Serie ist der
„elektrische Stuhl“, durch den der geliebte Bruder sterben soll und der als Symbol negativ
797
798
799
„Beyond The News, Reminders Of the War“, The New York Times, 20. März 2007
„Dirty Harry“ als Verkörperung des „law-defying hero“ findet nicht nur bei Stephen Holmes Erwähnung
(2006), sondern auch in Zeitungsartikeln zum Abu-Ghraib-Skandal und den Urteilen den Supreme Courts,
z.B. „Trials of the Decade“, The New York Times, 27. Dezember 2009.
„After a Museum Is Bombed, the Real Trouble Begins“, The New York Times, 10. Mai 2007.
594
aufgeladen wird. So kommt es beispielsweise zu einem technischen Defekt bei einer
Exekution, welche den Todeskandidaten unnötig leiden lässt, und außerdem wird auf die
Notwendigkeit der Benutzung einer Windel für den Delinquenten hingewiesen. Die Serie ist
somit auch ein Beleg für die zunehmende Verunreinigung des Begriffs des elektrischen
Stuhls, wie sie von Philip Smith in einer historischen Studie herausgearbeitet wurde (2008b:
142-168).
Darüberhinaus macht Prison Break an einer Stelle auch ganz explizit Anleihen bei dem
Abu-Ghraib-Skandal. Die erste Staffel beinhaltet eine rückblickende Episode, „Brother’s
Keeper“, welche sich mit der Vorgeschichte der Hauptfiguren beschäftigt. Darin erfährt man,
dass ein Mitgefangener des Protagonisten in seinem früheren Leben als amerikanischer Soldat
im Irak stationiert war, wo er sich durch Schmuggelei, die von seinen Vorgesetzen toleriert
wurde, einen Zuverdienst erwirtschaftete. Durch Zufall wird er später Zeuge, wie ein
Gefangener mit schwarzer Kapuze auf einem Holzsessel einer elektrischen Folter unterzogen
wird. Der Soldat berichtet seinem Vorgesetzten von diesem Vorfall, der ihn aber davon
abringen will, einer höheren Instanz Bericht zu erstatten. Der Soldat weigert sich und wird
wegen des Vorwurfs der Schmuggelei unehrenhaft aus der Armee entlassen. Zuhause beteiligt
er sich allerdings erneut an illegalen Aktivitäten, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu
bestreiten, weswegen er dann schließlich im Gefängnis landet.
Diese fiktive Folterszene aus einem irakischen Gefängnis stellt nicht nur eine Beziehung
zu den Vorfällen von Abu Ghraib her, sondern versinnbildlicht diese durch die Kombination
aus Kapuzenträger und elektrischem Stuhl. Philip Smith, der in einer Arbeit gezeigt hat, wie
aus dem humanen Tötungsinstrument des elektrischen Stuhls ein negativ konnotiertes Symbol
wurde, erwähnt an einer Stelle auch die Abu-Ghraib-Bilder und argumentiert, dass die unreine
Botschaft des elektrischen Stuhls im Abu-Ghraib-Skandal wiederholt wurde (2008b: 200).
Diese Beziehung, die implizit schon bei der Rezeption der Ikone des Skandals zu Tage
getreten ist (7.1.3), wird in Prison Break explizit gemacht, indem hier der elektrische Stuhl
auf dramatische Weise mit Folter und Gefangenenmissbrauch gleichgesetzt und der
fälschlicherweise beschuldigte Bruder der Hauptfigur prinzipiell austauschbar mit den
unschuldigen Gefangenen von Abu Ghraib wird. Es ist aber keineswegs so, dass die
„dämonische“ Botschaft des elektrischen Stuhls in Abu Ghraib nur wiederholt wurde,
vielmehr überlagern sich die beiden unreinen Symbole und verstärken sich wechselseitig.
In der historischen Exposition wurde bereits das Serienremake Battle Star Galactica
(2004-2009) erwähnt, das mit seinen „terrorist aliens“, die als Schläfer unter Menschen leben,
595
als symptomatisch für die kulturellen Veränderungen nach dem 11. September 2001 gelten
kann (6.4.3). Allerdings findet im Verlauf der Science-Fiction-Serie, nämlich zu Beginn der
dritten Staffel, als ein von Menschen bewohnter Planet in die Hände des außerirdischen
Feindes fällt, ein radikaler Bruch mit dem bisherigen, eher eindimensionalen, Narrativ statt:
„Die Serie reflektiert hier auf recht direkte Weise die Sichtweise von Teilen der irakischen
Bevölkerung auf die Besatzer“ (Seiler 2009: 255). Während in den früheren Episoden
ausschließlich Außerirdische gefoltert wurden, um Anschläge zu verhindern, steht auf einmal
das Foltern von Menschen durch die außerirdischen Besatzer im Vordergrund. Zudem
verschwimmen in der Serie zunehmend die Fronten zwischen den „guten Menschen“ und den
„bösen Aliens“. Während die Aliens ein menschlichen Antlitz bekommen und auch unter
Misshandlungen durch Menschen zu leiden haben, geraten die menschlichen Figuren
zunehmend in ein moralisches Zwielicht oder werden gar zu bösartigen Diktatoren oder
Unmenschen stilisiert.
Am Beispiel von Prison Break und Battle Star Galactica lässt sich eine Verschiebung in
der amerikanischen Populärkultur aufzeigen. Allerdings änderte sich die Medienlandschaft
nicht von heute auf morgen. Auch nach dem Abu-Ghraib-Skandal erfreute sich die
preisgekrönte Erfolgsserie 24 noch großer Beliebtheit. Statt dem veränderten kulturellen
Klima seinen Tribut zu zollen, radikalisierte sie ihre Darstellung von Folter. Diesbezüglich ist
der Serie ein „pop cultural lag“ zu attestieren, der allerdings nicht von langer Dauer war, da
24 zunehmend ins Kreuzfeuer zivilgesellschaftlicher Kritik geriet.
10.3.2. Fiktive Folter in der Kritik – Die öffentliche Debatte zu 24
Adam Green verfasste im Mai 2005 einen kritischen Artikel über die fünfte Staffel der Serie
24,800 die er zu Recht als den “leader in television’s post-9/11 genre of national security
thriller” bezeichnet.801 Der neuen Staffel attestiert Green einen Rechtsruck (“rightward tilt”),
der ihm nach dem Abu-Ghraib-Skandal und dem Bekanntwerden der Versuche der BushRegierung, die Richtlinien für militärische Befragungen aufzuweichen, fragwürdig erscheint.
Zwar sei, so der Autor, die Folter als dramatisches Instrument seit dem Start der Serie im Jahr
2001 immer wieder verwendet worden, doch sei sie erst in der fünften Staffel zum roten
Faden der Erzählung (“main thread of the plot“) geworden. In einem Interview von Green mit
800
Wegen der moralischen und politischen Dimensionen der Serie wurde 24 in den letzten Jahren zum
Gegenstand unterschiedlichster Studien (z.B. Burstein & De Keijzer 2007; Peacock 2007; Weed 2008).
801
„Normalizing Torture, One Rollicking Hour At a Time“, The New York Times, 22. Mai 2005.
596
Joel Surnow, einem der Produzenten der Serie, stritt dieser den Einfluss von politischen
Erwägungen auf den Plot der Serie ab und insistierte, dass die autonome Logik der Erzählung
und die Charakterentwicklung den Plot vorantrieben. Das Publikum zu unterhalten sei das
einzige Ziel, das die Serie verfolge. Green beendet seinen Artikel mit einigen offenen Fragen
zum kulturellen Einfluss der Serie:
Has “24” descended down a slippery slope in portraying acts of torture as normal and therefore
justifiable? Is its audience, and the public more generally, also reworking the rules of war to the point
where the most expedient response to terrorism is to resort to terror? In the world beyond the show, that
debate remains heated. How it plays out on “24” may say a great deal about what sort of society we are in
the process of becoming.802
Die nur schwer ins Deutsche übertragbare Metapher des „slippery slope“ (etwa „rutschiger
Abhang“), die in diesem Zusammenhang wohl noch am besten mit der Metapher des
„Dammbruchs“ wiedergeben werden kann, wird im Folterdiskurs auch gerne von
Foltergegnern verwendet (10.4).803 Der Gebrauch dieser Metapher wie auch die
Thematisierung von 24 in Beiträgen zum Folterdiskurs machen deutlich, dass die Serie in der
Öffentlichkeit immer auch auf ihre politischen Implikationen hin gelesen wurde. Dies war
schon zu Beginn der Serie, kurz nach dem 11. September 2001, der Fall, aber auch nach dem
Abu-Ghraib-Skandal. Am Anfang der mittleren Phase des Skandals, das heißt noch vor dem
McCain-Amendment und den Kongresswahlen von 2006, konnte der von Green konstatierte
Rechtsruck von 24 noch vertretbar erscheinen. Auch die Weigerung des Produzenten, die
Serie politisch zu lesen, ließ sich noch als legitime Strategie verkaufen. In der Schlussphase
des Skandals war dies jedoch nicht mehr möglich und die Produzenten hatten, wie wir noch
sehen werden, dem wachsenden Druck der zivilen Sphäre nachzugeben – auch im Interesse
ihres Profits. So fielen die Einschaltquoten in der sechsten Staffel um ein Drittel, was im Wall
Street Journal dem Wandel der öffentlichen Meinung zugerechnet wurde.804 Auch in der
Washington Post wurde auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der abnehmenden
Popularität der Serie während der sechsten Staffel und dem veränderten politischen Klima –
„the public’s weariness of the war on terror and the scandals surrounding the abuse of
802
„Normalizing Torture, One Rollicking Hour At a Time“
803
Das „Dammbruch“-Argument besagt, dass Folter in allen Fällen verboten werden sollte, auch wenn sie in
Einzelfällen durchaus legitim erscheinen mag. Ein einziger Riss im allgemeinen Verbot, so die Befürworter
des absoluten Folterverbotes, wird es auf Dauer vollständig aushöhlen, wie auch oft ein kleiner Stein schon
reicht, um eine Lawine loszutreten.
804
„Reinventing ‘24’. Jack Bauer’s newest nemesis isn’t a terrorist – it’s public opinion“, The Wall Street
Journal, 2. Februar 2008.
597
prisoners at Abu Ghraib, Guantanamo Bay and in CIA secret prisons“ – hingewiesen.805
Die öffentliche Auseinandersetzung über 24 hat weitere entscheidende Impulse einem
Artikel von Jane Mayer zu verdanken, der am 19. Februar 2007 im einflussreichen Magazin
The New Yorker veröffentlicht wurde.806 Mayer berichtete darin von einem Treffen, das im
November 2006 zwischen dem Rektor von West Point, der berühmten amerikanischen
Militärakademie, und der Kreativcrew von 24 stattfand. Das Treffen, bei dem die Verfasserin
des Artikels auch selbst anwesend war, wurde von David Danzig, einem Vertreter der
Menschenrechtsorganisation Human Rights First, organisiert. Brig. Gen. Patrick Finnegan,
der Rektor von Westpoint, erzählte den Produzenten der Serie, dass es zunehmend
schwieriger werde, den Kadetten Achtung vor dem Gesetz und den Rechten des Einzelnen zu
vermitteln, weil 24 so außergewöhnlich populär bei seinen Studenten sei. Er berichtete weiter,
dass ihn manche Kadetten sogar fragen würden: “If torture is wrong, what about ‘24’?”.
Finnegan bestätigte, was auch schon bei Green vermutet worden war, nämlich dass die
Rezeption einer Serie wie 24 einen großen Einfluss auf die moralischen Vorstellungen ihrer
Rezipienten haben kann. Tony Lagouranis, der lange Zeit als Verhörspezialist des
amerikanischen Militärs im Irak tätig gewesen war und in dieser Funktion auch bei der
Dokumentation Ghosts of Abu Ghraib interviewt wurde (10.2.2), erzählte den Machern der
Show, dass die DVDs von Serien wie 24 unter den im Irak stationierten Soldaten die Runde
machten. In einer privaten Unterredung mit Mayer fügte er hinzu: „People watch the shows,
and then walk into the interrogation booths and do the same things they’ve just seen“. Auf
Basis seiner Erfahrungen vor Ort stellte er somit einen direkten Zusammenhang zwischen
Medienrezeption und Verhörpraxis her.
Von den bewegten Bildern von 24 gehen handlungsanleitende Impulse für die Rezipienten
aus, die sich dauerhaft zu Denk- und Wahrnehmungsschemata verfestigen können. Weil 24
scheinbar plausible Modelle von Verhörsituationen konstruiert, können diese Modelle im
Sinne von Geertz (1987) auch als Vorbild für die Verhörpraxis amerikanischer Soldaten
dienen. Praktische Handlungszwänge treiben in der Regel nicht naturwüchsig bestimmte
Lösungen aus sich hervor, wie bestimmte Formen des Pragmatismus oder der Praxistheorie
annehmen,807 vielmehr werden oft durch Massenmedien vermittelte und auf fiktionalen
805
„Day of Reckoning; As ‘24’ Returns to Face Another Dawn, Jack Bauer Is Just as Tortured as Anyone“, The
Washington Post, 10. September 2009.
806
Mayer, Jane: „Whatever it takes, The politics of the man behind ‘24’“, The New Yorker, 19. Februar 2007.
807
So Ann Swidler (2005: 191-194), aber auch Hans Joas (1992). Praktische Probleme legen die Akteure weder
auf eine bestimmte Handlung als Lösung fest, noch ist die Lösung eines Handlungsproblem alleine der
598
Darstellungen beruhende Lösungen auf die Alltagpraxis angewandt – und notfalls die
Definition der Situation an das fiktionale Modell angepasst.
Bei dem Treffen war auch ein FBI-Experte anwesend, Joe Navarro, der zu diesem
Zeitpunkt nach eigenen Angaben bereits mehr als 12.000 Verhöre durchgeführt hatte. Navarro
entgegnete gegenüber einem der Anwesenden, der auf die Nützlichkeit von Folter verwiesen
hatte, dass Folter keine besonders effektive Verhörtechnik sei. Gerade religiöse Fanatiker und
politische Terroristen würden in der Regel nicht klein beigeben, wenn man ihnen einen
Fingernagel ausreiße. Sie gehen vielmehr davon aus, gefoltert zu werden, und bereiten sich
auch darauf vor.808 Fundamentalistische Terroristen gefallen sich in der Rolle des Märtyrers
(“want to be martyred”), was sie gerade nicht zu vielversprechenden Zielen von Folter macht.
Viele Religionen, insbesondere das Christentum und der schiitische Islam, besitzen eine
ausgeprägte kulturelle Tradition des Märtyrertums, die Nachahmungswilligen genügend
Vorbilder bietet.809 Die Debatte zwischen den Militärangehörigen und dem Produzententeam,
dreht sich, zumindest in der Darstellung von Mayer, vor allem um zwei Aspekte: Einerseits
geht es um die Wirkmächtigkeit einer fiktionalen Serie wie 24, die von den Machern selbst
bestritten wird, zum anderen aber um die Effektivität – und die darauf beruhende Legitimität
– von Folter, wie sie durch das Ticking-Bomb-Narrativ suggeriert wird, das in der Serie 24 als
bevorzugtes dramatisches Mittel zur Anwendung kommt.
Kreativität des Handelns geschuldet. Es gibt immer funktionale Äquivalente zu jeder Lösung, über deren
Berücksichtigung und Nichtberücksichtigung ein Horizont des Imaginären entscheidet. Gerade Swidlers
Untersuchungen über die Liebe (2005) würden von einer stärkeren Anbindung an die Darstellung von Liebe
in der Populärkultur, in Filmen und in der Musik profitieren. Symbolsysteme, Praktiken und Institutionen
erschöpfen das Feld der Kultur nicht, sondern sind nur vor einem Hintergrund des Imaginären verständlich.
Dasselbe gilt im Übrigen auch für die Handlungsprobleme selbst, die nur vor einem schon immer
vorausgesetzten vorintentionalen Hintergrund des Handelns auftreten.
808
So werden auch amerikanische Spezialeinheiten als Teil ihrer Ausbildung einem „waterboarding“ (vgl.
10.4.3) unterzogen, um sie auf entsprechende Verhöre durch den Feind vorzubereiten. Auch Jack Bauer wird
in der zweiten Staffel von 24 bis zur Bewusstlosigkeit gefoltert, ohne seine Informationen den Terroristen
preiszugeben. Warum knicken die „Bösen“ angesichts der Folter ein, während die „Guten“ standhaft bleiben?
Dies ist nicht der Realität, sondern den Codes des zivilgesellschaftlichen Diskurses und der Logik von
populärkulturellen Narrativen geschuldet. Helden, insbesondere amerikanische Helden, müssen ihren
Antagonisten nicht nur moralisch , sondern auch physisch überlegen sein, damit die Geschichte ein gutes
Ende nimmt. Der finale Faustkampf mit dem Bösewicht, obgleich dieser oft zu unfairen Mitteln greift, fällt
immer zu Gunsten des Helden aus. Die Einheit des guten, schönen und starken Helden ist zwar unrealistisch,
wird aber durch unser Imaginäres gestützt.
809
Die Rhetorik des Märtyrertums wurde auch von den Attentätern des 11. Septembers 2001 verwendet, die im
sunnitischen Islam beheimatet waren, dem eine solche Tradition von Haus aus fremd ist. Dies macht unter
anderem deutlich, dass sich der moderne Fundamentalismus nicht aus der Tradition, sondern aus einem
globalen Imaginären speist, zu dessen Fundus eben auch die Figur des Märtyrers gehört.
599
Im Dezember 2006, so der Artikel von Mayer weiter, hat ein beratendes Gremium der
Geheimdienste einen Bericht erstellt, in dem darüber geklagt wurde, dass breite Kreise der
Bevölkerung und auch professionelle Kreise von den verzerrenden Darstellungen der
Verhörsituation in der Populärkultur in Mitleidenschaft gezogen worden seien. Die Medien
lieferten ein spektakuläres und höchst artifizielles Bild von Verhören, das sich in der Regel
durch Feindseligkeit und Gewalt auszeichne. Meyer sieht darin einen klaren Vereis auf die
Fernsehshow 24. Vom kleinen, aber einflussreichen Magazin The New Yorker ausgehend,
schwappte die Debatte in die Mainstream-Medien, wie zum Beispiel die USA Today:
In the hit TV show 24, torture almost always works. As a bomb goes tick-tick-tick, agent Jack Bauer
plunges a knife into a terrorist’s shoulder to extract information that will stop the imminent explosion. In
real life, ticking-bomb scenarios like this almost never occur, and torture rarely works. Suspects will
make up anything to stop the pain or humiliation. And torture often gets out of hand; photos of the Abu
Ghraib prison abuses in Iraq caused incalculable damage to America’s image. Now it turns out that some
military officials are concerned about U.S. interrogators confusing fiction with reality. In a bizarre
testament to the influence of pop culture, the top commander of West Point and three top interrogators
met last year with the producers of 24 to try to get them to quit showing torture in such a flattering light.
Their argument, according to an account in The New Yorker, was that TV torture was affecting
interrogators’ training and attitudes.810
Der Autor stellt die Bedeutung des Einflusses von Populärkultur in Frage und argumentiert,
dass ein anständiges Training, eine lückenlose Überwachung und eine angemessene
Bestrafung weitaus wichtiger für die Verhinderung von Missbrauchsfällen seien: „The fact no
one above the level of staff sergeant was convicted for the Abu Ghraib abuses, for example,
sent a much stronger message about tolerance of torture than a TV show“. Er kritisiert, dass
nur einfache Soldaten für die Missbrauchsfälle in Abu Ghraib zur Verantwortung gezogen
wurden, wodurch auch der Skandal im Hintergrund der Debatte unzweideutig in Erscheinung
tritt. Die Debatte über 24 wird zum Anlass genommen, um über die Lehren nachzudenken, die
aus Abu Ghraib gezogen oder nicht gezogen wurden beziehungsweise gezogen werden
sollten. 811
Bei Jane Mayer heißt es, dass die Militärangehörigen das Treffen mit der Crew von 24
ohne die Hoffnung verließen, dass dieses Treffen zu einer Änderung der Einstellung der
Fernsehleute geführt habe, die einen Wandel des Serienkonzeptes zur Folge haben könnte.812
Nichtsdestotrotz nahm sich der Mitarbeiterstab von 24 der Bedenken der Armee nicht zuletzt
wegen der öffentlichen Aufmerksamkeit, die dieses Treffen im Nachhinein erfuhr, an. Es
810
„Ticks and Chicks“, USA Today, 13. Februar 2007.
811
Zur Debatte über den Einfluss von populärkulturellen Darstellungen in 24 auf die gesellschaftliche Realität
vgl. auch „‘24’ As Reality Show“, The New York Times, 31. Juli 2007.
812
Mayer, Jane: „Whatever it takes, The politics of the man behind ‘24‘“, The New Yorker, 19. Februar 2007.
600
musste allen Mitarbeitern klar sein, dass die nächste Staffel der Serie nicht nur wieder im
Interesse der Öffentlichkeit stehen, sondern auch als politisches Statement gelesen werden
würde. Der Drehbuchautoren-Streik in Hollywood, der die Produktion der siebten Staffel um
mehr als ein Jahr verzögerte, gab dem Team ausreichend Zeit, sich ein neues Konzept für die
Show zu überlegen und sich an nichtkommerziellen Aktivitäten zu beteiligen:
Mr. Gordon and his staff also had more time to contemplate the political firestorm that erupted after a
February 2007 article in The New Yorker magazine revealed the military’s concern about the show’s
effect on soldiers. Mr. Gordon said that too helped the series gain a new focus. It also led Mr. Gordon to
participate in “Primetime Torture,” a short film produced by Human Rights First, a nonprofit organization
that helped bring the “24” producers together with the military advisers. David Danzig, who oversaw the
production, created the film for use by military educators. It uses interviews with former military
interrogators to emphasize that techniques popularized on shows like “24” are rarely effective – or legal –
in real life.813
Bei diesem hier genannten Kurzfilm wirkte auch Kiefer Sutherland mit, der in der Serie die
umstrittene Figur des Jack Bauer verkörpert. Sutherland, der sich selbst auf der linken Seite
des politischen Spektrums verortet, sagte gegenüber der Presse, dass die Folterszenen in der
Serie für ihn als Schauspieler uninteressant seien. Für die geplante siebte Staffel schien es
zunächst auch Probleme bei der Besetzung der Rollen gegeben zu haben. So berichtete etwa
das Wall Street Journal: „actors disapproved of the show‘s depiction of torture“.814
Möglicherweise hat es auch Druck von Seiten der Schauspieler gegeben. Als Howard Gordon,
einer der Produzenten der Serie, von USA Today nach der kommenden siebten Staffel der
Serie gefragt wurde, verwies dieser auf eine neue Realität, die sich nun auch in der Show
wiederspiegeln müsse:
„The show’s changed for many reasons because the country’s changed,“ Gordon says. „The post-9/11
scenario of wish fulfillment that Jack represented was replaced by some of the things that happened in the
country, from Gitmo to Abu Ghraib. Our conduct in the world became a bigger issue, and Jack became a
darker, more complex character.“ At the same time, he says, „we couldn’t renounce Jack’s behavior; it
would discredit the entire series. But the issue comes back time and again, and we give voice to the price
that’s paid for the ‘whatever it takes’ mind-set. I don’t want to over-politicize the show, but we couldn’t
ignore it.“815
In diesem Interview bietet Gordon außerdem eine psychoanalytische Lesart von Jack Bauer
und der „ticking bomb fantasy”, die für diese Arbeit nicht uninteressant ist. So erklärte er die
große Resonanz, auf welche die Serie im Amerika nach dem 11. September 2001 gestoßen
war, mit dem freudianischen Konzept der „Wünscherfüllung“ („wish fulfillment”). Dies kann
813
„New Era In Politics, New Focus For „‘24’“, The New York Times, 8. Januar 2009.
814
„Reinventing ‘24’. Jack Bauer’s newest nemesis isn’t a terrorist – it’s public opinion“, The Wall Street
Journal, 2. Februar 2008.
815
„24: Jack seeks pre-Season 7 ‘Redemption’“, USA Today, 17. November 2008.
601
nicht nur als eine Anspielung auf das Image von Hollywood als Traumfabrik verstanden
werden, sondern benennt auch eine soziale Funktion vieler fiktiver Medien. Der heldenhafte
Folterer von 24 ist damit ein Teil des sozialen Imaginären, das als Phantasma das kollektive
Bewusstsein vor der drohenden Terrorgefahr abschirmt. Die Enthüllungen von Abu Ghraib
stellen in dieser Leseweise einen Einbruch des Realen dar, der den Schirm des Phantasmas
durchlöchert und das rettende, aber leider unglaubwürdige, Narrativ des heldenhaften
Folterers in Frage stellt. Das Phantasma der Folter im Krieg gegen den Terror schützte das
amerikanische Kollektivbewusstsein nicht nur vor der nicht-eliminierbaren Bedrohung des
Terrorismus, sondern auch vor den hässlichen Seiten der Folter. Die Abu-Ghraib-Bilder
zeigen das hässliche Gesicht der Folter, und die durch sie angestoßene Folterdebatte untergrub
die beruhigende Annahme, dass harte Verhörtechniken und staatliche Folter probate Mittel
seien, um das amerikanische Volk vor der terroristischen Bedrohung zu schützen (10.4).
Alessandra Stanley knüpft in einem Artikel ebenfalls an die Debatte um 24 an, sieht aber das
eigentliche Problem der Serie nicht in der Rechtfertigung von Folter, sondern in der Illusion
ihrer Effektivität: „The problem with the Fox thriller ‘24’ is not that it justifies torture but that
it fosters the illusion that the American government is good at it. The practices of Abu Ghraib
suggest the opposite“.816
Nach der langen Sendepause wurde die siebte Staffel der Serie mit einer Szene eröffnet, in
der sich Jack Bauer vor einem Untersuchungsausschuss des Senates wegen des Gebrauchs
von Folter in seiner früheren Spezialeinheit verantworten muss.817 Damit wird den Bedenken
des Militärs und dem öffentlichen Druck unzweifelhaft Rechnung getragen.818 Am Ende des
Interviews beschwert sich Gordan über die Einseitigkeit, mit der in der Öffentlichkeit über die
implizite politische Ausrichtung der Show und ihren mutmaßlichen Einfluss geurteilt wurde.
Er verweist auf den fiktionalen afroamerikanischen Präsidenten der ersten Staffeln von 24 und
beschließt das Interview mit der Forderung nach Fairness: „If we‘re going to take the blame
for Guantanamo and Abu Ghraib, I think we should at least get the credit for Obama“.819
10.3.3. Folter und Abu Ghraib in der Populärkultur – Unthinkable und Tal der Wölfe
Die Populärkultur spiegelt bis zu einem gewissen Grade die kollektiven Stimmungen und
816
„Abu Ghraib And Its Multiple Failures“, The New York Times, 22. Februar 2007.
817
„New Era in Politics, New Focus for ‘24’“, The New York Times, 8. Januar 2009.
818
Vgl. hierzu auch „Reinventing ‘24’. Jack Bauer’s newest nemesis isn’t a terrorist – it’s public opinion“, The
Wall Street Journal, 2. Februar 2008.
819
„New Era in Politics, New Focus for ‘24’
602
Sehnsüchte einer Gesellschaft wieder, die ihrerseits wieder von Medienereignissen und
öffentlichen Diskursen abhängig sind. Die Wirkung von Ereignissen wie dem 11. September
2001 und dem Abu-Ghraib-Skandal lässt sich unter anderem auch an ihrem Einfluss auf die
Populärkultur bemessen. Sowohl für den 11. September 2001 (vgl. 6.4.3) als auch für den
Abu-Ghraib-Skandal wurde dieser Einfluss am Beispiel von einzelnen popkulturellen
Zeugnissen und Diskursbeiträgen nachgewiesen. Allerdings müsste sich auch eine
quantitative Veränderung der Darstellungen von Folter in der Populärkultur nachweisen
lassen. Die folgende Grafik zeigt den Zuwachs an Folterszenen im amerikanischen Fernsehen
während der besten Sendezeit:
Quelle: Harpers Magazine, März 2008
Die Grafik zeigt einen deutlichen, wenn auch keinen außergewöhnlichen Anstieg von
Folterszenen für die Jahre 2000 und 2001, der hier nicht erklärt werden kann. In den beiden
darauffolgenden Jahren kommt es allerdings zu einer sprunghaften Steigerung, die sich auf
den Einfluss des 11. Septembers 2001 und die aufkommende Folterdebatte zurückführen lässt.
Mit 67 Folterszenen in den ersten fünf Staffeln ist 24 zwar für einen substanziellen Anteil
dieses Zuwachses verantwortlich;820 auf die Jahre gerechnet ist dies aber nur ein Zehntel der
Folterszenen. Selbst unter Ausschluss von 24 bleibt der Zuwachs enorm. Die Abnahme der
Folterszenen im Jahr 2004 und 2005 lässt sich nicht mit der gleichen Sicherheit auf den AbuGhraib-Skandal zurückführen. Dennoch gibt es für eine solche Wirkung deutliche Hinweise.
820
Horton, Scott: „How Hollywood Learned to Stop Worrying and Love the (Ticking) Bomb“, Harpers
Magazine, März 2008.
603
Zum einen lag der Abu-Ghraib-Skandal noch vor der Sommerpause, sodass er zumindest für
einen Teil des Rückgangs im Jahre 2004 verantwortlich gemacht werden kann; zum anderen
sind in diesem Diagramm auch die vierte und fünfte Staffel von 24 berücksichtigt, in denen
die Häufigkeit von Folterszenen zunahm.821 In Anbetracht der soeben skizzierten
Kehrtwende, die 24 später vollzogen hat, ist davon auszugehen, dass sich der Abwärtstrend in
den folgenden Jahren weiter fortgesetzt hat, auch wenn die Daten darüber hier fehlen. Der
Verlauf der Kurve lässt sich – nicht zuletzt mangels alternativer Erklärungen – als Indiz für
einen Einfluss des Abu-Ghraib-Skandals auf die Darstellungen von Folter in der
Populärkultur interpretieren. Aber nicht nur die Häufigkeit von Folterszenen, sondern auch
deren Darstellung änderte sich durch den Abu-Ghraib-Skandal und die Folterdebatte in
seinem Gefolge. So schrieb etwa die amerikanische Menschenrechtsorganisation Human
Rights First 2007 einen Preis aus, der für eine kritische und zugleich realistische Darstellung
von Folter verliehen werden sollte.822
In besonders eindrücklicher Weise wird das Ticking-Bomb-Szenario in dem Thriller
Unthinkable (2010) auf die Spitze getrieben. Dabei werden die aus Serien wie 24 bekannten
popkulturellen Klischees gleich auf mehren Ebenen unterlaufen. Der Plot ist schnell erzählt:
Ein muslimischer Amerikaner begibt sich in die Hände der Regierung, nachdem er nach
eigenen Angaben drei mit Zeitzünder versehene Atombomben in verschiedenen
amerikanischen Großstädten deponiert hat, um damit den Truppenabzug der Amerikaner aus
dem nahen Osten zu erzwingen. Der erste Auftritt des Gefangenen, den Kopf mit einem
schwarzen Sack verhüllt und an seinen Armen in einer christomimetischen Pose aufgehängt,
stellt ohne Zweifel eine „Hommage“ an die Ikone des Abu-Ghraib-Skandals dar. Die Folter
und Verstümmelung durch einen Verhörspezialisten erweist sich bei dem Islamisten als
wirkungslos, da sich dieser auf sein Martyrium vorbereitet hat. Selbst die drohende und
schließlich vollzogene Tötung seiner Frau vor seinen eigenen Augen kann ihn nicht zum
Einlenken bewegen. Erst angesichts der Drohung, seine Kinder zu foltern und zu töten,
scheint er schwach zu werden und gibt den Aufenthaltsort der Bomben preis. Indem also
unschuldige Familienangehörige gefoltert und getötet werden sollen, wird hier die
utilitaristische Logik des Ticking-Bomb-Szenario auf die Spitze getrieben, ohne jedoch an
Plausibilität einzubüßen. Warum sollte man der Unversehrtheit von Kindern einen großen
821
Vgl. „Normalizing Torture, One Rollicking Hour At a Time“, The New York Times, 22. Mai 2005.
822
Informationen zu dem Preis, den Nominierten und dem Gewinner sind auf folgender Webseite zu finden:
http://www.humanrightsfirst.org/our-work/law-and-security/torture-on-tv/excellence-in-tv-award/;
letzter
Zugriff am 30. Juni 2011.
604
Wert beimessen, wenn das Leben von Millionen von Menschen auf dem Spiel steht?823 Der
Verhörspezialist glaubt allerdings bis zum Schluss, dass der Terrorist noch eine weitere
Bombe versteckt hat und möchte mit der Folterung der Kinder fortfahren, wovon ihn
allerdings eine heldenhafte Psychologin abhält. In der erweiterten Fassung des Endes sieht der
Zuschauer, dass tatsächlich noch eine vierte Bombe tickt und in Kürze explodieren wird.
Der Film unterläuft das Ticking-Bomb-Narrativ auf dreifache Weise: Erstens wird die
Annahme unterlaufen, dass jeder Terrorist einen Bruchpunkt hat. Die Standhaftigkeit, die
traditionell ein Vorrecht des Helden ist, wird auf den Terroristen ausgeweitet. Zweitens wird
gezeigt, dass die Folter eines verbrecherischen Terroristen keineswegs den natürlichen
Endpunkt des Ticking-Bomb-Szenarios darstellt. Auch die Folterung und Tötung von
unschuldigen Kindern – und genau dies ist das „Undenkbare“ – muss in Erwägung gezogen
und gegebenenfalls durchgeführt werden. Drittens verwischt der Film die Grenzen zwischen
„Gut“ und „Böse“, sodass der durchaus sympathische Terrorist als amerikanisch-islamischer
Patriot nicht eindeutig auf der „unreinen“ Seite des zivilgesellschaftlichen Codes verortet
werden kann, wie auch der traumatisierte und sadistische Folterer nur mit Einschränkungen
auf der „reinen“ Seite steht. Darüber hinaus verwenden Terrorist und Folterer dieselbe
utilitaristische Logik, um ihre Taten zu rechtfertigen. Der Film folgt einem tragischen
Narrativ, wie es aus der griechischen Tragödie bekannt ist: Alle Hauptfiguren besitzen
heldenhafte Züge, es steht Moral gegen Moral und am Ende kommt es zur Katastrophe. Filme
wie Unthinkable, die nicht für ein Massenpublikum und das Kino produziert werden, sondern
nur auf DVD erhältlich sind, stehen zwischen den Bereichen der Kunst und der Populärkultur.
Sie sind nicht nur ein Medium der Unterhaltung, sondern auch ein Medium der Reflexion.
Fiktionale Gattungen ermöglichen nicht nur eine phantasmatische Wunscherfüllung, sondern
können auch Situationen fingieren, in denen die Grausamkeit des Realen und die Dilemmata
unserer moralischen Ordnung sichtbar und daraufhin zum Gegenstand der Reflexion werden
können. Dies unterscheidet Unthinkable vom Mainstream der Populärkultur, in dem klare
moralische Unterscheidungsschemata und strahlende Helden domminieren.
Im Folgenden soll noch kurz auf den türkischen Actionfilm Tal der Wölfe – Irak (2006) als
einem Beispiel für die Rezeption des Abu-Ghraib-Skandals in einer nicht-westlichen
823
Eine ähnliche Problematik taucht auch in der zweiten Staffel von 24 auf, wo einem Terroristen die
Hinrichtung seiner Söhne vorgespielt wird, um ihn dazu zu bringen, Informationen über eine versteckte
Atombombe preiszugeben. Dadurch, dass sich die Hinrichtung in 24 am Ende als bloße Inszenierung
entpuppt, verdeckt sie die Schärfe des eigentlichen moralischen Problems, das in Unthinkable bis zur
Unerträglichkeit ausgelotet wird.
605
Populärkultur eingegangen werden.824 Den historischen Hintergrund des Filmes bildet die
sogenannte „Sackaffäre“, die Festnahme von türkischen Offizieren durch amerikanische
Truppen am 4. Juli 2003 im Irak. Die türkischen Soldaten, denen vorgeworfen wurde, einen
Anschlag auf den kurdischen Gouverneur geplant zu haben, waren mit „Säcken“, die ihre
Köpfe verhüllen sollten, abgeführt und für mehrere Stunden festgehalten worden, bis sie
schließlich nach zähen Verhandlungen mit der türkischen Regierung freigelassen wurden. In
der Türkei löste dieser Vorfall, der im Rückblick an die Bilder von Abu Ghraib erinnert, eine
kollektive Empörung aus. Die Beschämung der Soldaten wurde zu einer Frage der nationalen
Ehre, die allerdings realpolitisch nicht wiederherzustellen war.
Der Film beginnt mit einer Szene, in der ein an dieser Affäre beteiligter türkischer Soldat
einen Abschiedsbrief schreibt und dann aus Scham Selbstmord begeht. Tal der Wölfe leistet
mit fiktionalen Mitteln, was dem türkischen Militär und der gekränkten Nation realiter nicht
möglich war: die Wiederherstellung der nationalen Ehre des Landes und ihrer Soldaten. Eine
fiktive Truppe türkischer Spezialagenten, die dem türkischen Publikum aus einer
gleichnamigen Serie allesamt bekannt sind, rächt sich an dem amerikanischen
Kommandanten, der diesen Zwischenfall zu verantworten hatte. Natürlich gehört auch ein
türkischer Kurde zu der Elitetruppe, wodurch das Bild einer ethnische Differenzen
übersteigenden nationalen Einheit imaginiert wird.
Wie bei 24 handelt es sich auch bei Tal der Wölfe um eine popkulturelle Wunscherfüllung
par excellence. Neben der „Sackaffäre“ werden auch noch andere historische Ereignisse in
dem Film verarbeitet, beispielsweise das Massaker an einer Hochzeitsgesellschaft in Haditha,
die amerikanischen Soldaten zu verantworten hatten, aber auch die Vorfälle in Abu Ghraib.
So werden die Überlebenden des Massakers – was in keinster Weise den historischen Fakten
entspricht – in das Abu-Ghraib-Gefängnis gebracht, wo sie von einer fiktiven Lyndie England
zu einer Pyramide gestapelt werden. Hier zeigt sich deutlich, dass Abu Ghraib auch in das
türkische Imaginäre Eingang gefunden hat. Selbst die Enthauptung eines Amerikaners, die an
Nick Berg erinnert (8.4.3), taucht in dem Film auf, wird aber – im Gegensatz ihrem
historischen Vorbild – durch das furchtlose Einschreiten eines islamischen Geistlichen
verhindert. Neben dem Anführer der türkischen Spezialeinheit ist der irakische Geistliche der
wahre Held des Films: ein ehrwürdiger alter Mann, der sich bei jeder Gelegenheit gegen
Gewalt ausspricht und auch die Braut des getöteten Bräutigams davon abhält, eine
824
Die Frage nach der Zugehörigkeit der Türkei zum sogenannten „Westen“ soll hier nicht diskutiert werden.
Zumindest aber lässt sich dieser Film einer nichtwestlichen Populärkultur zuordnen, da hier ein türkischarabisch-islamischer Raum gegen den christlich-jüdischen Westen in Stellung gebracht wird.
606
Selbstmordattentäterin zu werden. Während der Islam im Film als eine Religion des Friedens
gefeiert wird, kommt das Christentum, dessen Gründungsereignis die grausame Kreuzigung
von Jesus Christus ist, eher schlecht weg. So wird der sadistische amerikanische Kommandant
– der wichtigste Gegenspieler der Helden – in einer Szene beim Anbeten eines Kreuzes mit
dem gemarterten Christus gezeigt, was einen wahrlich befremdlichen Eindruck von der
sozialen Imagination des Christentums in der Türkei vermittelt.825 Auch an antisemitischen
Stereotypen und Feindbildern wird in dem Film nicht gespart. So ist an der Seite des
amerikanischen Kommandanten ein jüdischer Arzt tätig, der sich um den körperlichen
Zustand der Gefangenen sorgt – allerdings nicht aus Menschenliebe, sondern weil deren
Organe in intaktem Zustand nach New York und Tel Aviv verschickt werden sollen.
Insbesondere wegen des durchaus berechtigten Antisemitismus-Vorwurfs entfachte der Film
in Deutschland eine Kontroverse, in deren Rahmen sich der damalige bayrische
Ministerpräsident Edmund Stoiber offen für ein Verbot des Filmes aussprach. Auch in der
amerikanischen Presse sorgte man sich angesichts von „Valley of the Wolves: Iraq“ und der
ägyptischen Komödie „The Night Baghdad Fell“ um das nationale Image.826
10.4. Abu Ghraib und die Folterdebatte
“Torture” as a term, tends to be a “placeholder,” an abstract word that
is made concrete by the knowledge (and imagination) of the reader.827
Sanford Levinson, Professor für Recht
an der University of Texas, Austin
Das einleitende Zitat legt nahe, dass sich die Folterdebatte als ein Diskurs beschreiben lässt,
der sich um den leeren Signifikanten „Folter“ dreht (vgl. 1.3.2). In modernen liberalen
Diskursen fungierte der Begriff der „Folter“ meist als konstitutives Außen, was sich erst mit
825
Tenor der Szene scheint zu sein: Wer einen gemarterten und getöteten Menschen ins Zentrum seiner Religion
stellt und als heilig verehrt, ja auch noch künstlerisch darstellt, der muss zu allem fähig sein.
826
„In Egyptian Movies, Curses! We’re the Heavies“, The Washington Post, 20. März 2006.
827
In der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband Torture (Levinson 2006/2004a: 27).
607
dem 11. September 2001 änderte. So wurde es zunehmend als legitim erachtet, in öffentlichen
Diskursen – und nicht nur in philosophischen Seminarräumen – für Folter zu argumentieren,
was eine Neubesetzung des leeren Signifikanten erforderte. Katastrophen und Skandale
können als Medienereignisse zu einem Wandel gesellschaftlicher Strukturen und des
kulturellen Hintergrundes führen. So hatte der Abu-Ghraib-Skandal mittelfristig einen
nachweislichen Einfluss auf die institutioneller Felder der Politik (9.2) und des Rechts (9.3).
Darüberhinaus öffnen außerordentliche Ereignisse und Krisen einen Raum für Reflexion, in
dem sich eine Gesellschaft mit den für sie zentralen Fragen – und dies sind vor allem Fragen,
die ihre kollektive Identität betreffen – auseinandersetzen kann. Nach dem 11. September
2001 wurde auf einmal die Selbstverständlichkeit des Folterverbots in liberalen Demokratien
in Frage gestellt (6.4). Mit dem Abu-Ghraib-Skandal wurde die Folterdebatte aufs Neue
entfacht – wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen. Schon in den ersten Wochen des
Skandals meldeten sich Stimmen zu Wort, die die Missbrauchsfälle zum Anlass nahmen, um
die Legitimität und Effektivität von Folter in Frage zu stellen.828
Als Seymour Hersh im Oktober 2004 in der Show des erzkonservativen O’Reilly auf Fox
News zu Gast war, um sein kurz zuvor erschienenes Buch zu Abu Ghraib vorzustellen
(2004a), wurde er in der Sendung mit der Ansage angekündigt, dass im Zentrum der neuen
Folterdebatte der Abu-Ghraib-Skandal stehe.829 Diese populäre Feststellung lässt sich
wissenschaftlich erhärten, wenn man die seit Abu Ghraib erschienenen Bücher, Sammelbände
und Artikel heranzieht. So fällt bei ihrer Durchsicht auf, dass nach der Veröffentlichung der
Bilder von Abu Ghraib die Zahl kritischer Stellungnahmen zur Folter drastisch in die Höhe
schnellte. Autoren, die gegen die rechtliche Zulässigkeit von Folter argumentierten, beriefen
sich in vielen Fällen auf Abu Ghraib830 – und das, obwohl die prominenten Missbrauchsfälle
gar nicht den Tatbestand der Folter erfüllten, da sie offensichtlich nicht im öffentlichen
Auftrag erfolgt waren und ihnen auch vom Militär und der Regierung jegliche Legitimität
828
„Torture Is Often a Temptation And Almost Never Works“, The New York Times, 9. Mai 2004.
829
„Flashback. Interview With Author Seymour Hersh“, The O’Reilly Factor (20:38), Fox News Network, 11.
Oktober 2004.
830
Alleine in dem rechtswissenschaftlich ausgerichteten Sammelband „The Torture Debate in America“
(Greenberg 2006) beziehen sich die Einleitung, die vorangestellte Podiumsdiskussion sowie mindestens elf
der zwanzig Beiträge in der einen oder anderen Weise auf die Vorfälle in Abu Ghraib (das Sachregister ist
hier unvollständig!). Die Memoranda, die im Rahmen des Abu-Ghraib-Skandals ans Tageslicht kamen,
werden in nahezu allen Beiträgen erwähnt.
608
abgesprochen wurde.831
Wie lässt sich aber dann die zentrale Bedeutung des Abu-Ghraib-Symbols in dem
Folterdiskurs erklären? Diese Frage lässt sich auf zwei unterschiedliche Weisen beantworten,
die sich allerdings nicht ausschließen, sondern vielmehr ergänzen: Einerseits stellten die
umstrittenen Memoranda eine indirekte Verbindung zwischen den Missbrauchsfällen und der
Regierungspolitik
her,
und
zwar
lange
bevor
diese
Beziehung
durch
den
Verteidigungsausschuss des Senats offiziell anerkannt wurde (10.1.3); andererseits zeigten die
Abu-Ghraib-Fotografien eine Ikonografie der Folter, die als unreines Gegenbild zu den
klinischen Folterbeispielen der Befürworter dienen konnte (6.4.3). Diese kulturelle Bedeutung
des Abu-Ghraib-Skandals darf gegenüber seiner Funktion als rationales Argument nicht
unterschätzt werden, da das soziale Imaginäre der Rationalität der Diskurse vorausgeht. Die
Abu-Ghraib-Bilder besetzten den leeren Signifikanten der Folter und setzten sich so im
kulturellen Hintergrund der amerikanischen Gesellschaft und eines global operierenden
akademischen Diskurses fest. In Anlehnung an Philip Smith, der in seiner Untersuchung des
Bedeutungswandels der Guillotine von einer grotesken „gothic imagination“ spricht (2008b:
133-141), die das fortschrittliche Image der „Tötungsmaschine“ verunreinigte, kann man in
unserem Fall von einer grotesken Imagination der Folter nach Abu Ghraib sprechen. Dafür
waren vor allem die sadistischen und pornographischen Elemente der Abu-Ghraib-Bilder
ausschlaggebend, die die symbolische Ordnung des legitimen, moralisch korrekten Folterns
unterliefen (7.5.2-3). Vor dem Hintergrund eines solchen Imaginären erschien dann auch die
kontrollierte staatliche Anwendung von Gewalt und Erniedrigung in Verhören als
problematisch – zumal diese sich den Blicken der Öffentlichkeit entzog.
In Zuge der neuen Folterdebatte gewann das „Dammbruch“-Argument, das einen
indirekten Zusammenhang zwischen der Aufweichung des absoluten Folterverbots und den
Missbrauchsfällen von Abu Ghraib postulierte, an Bedeutung. Bei der Metapher des „slippery
slope“ handelt es sich um ein tragisches Narrativ, das, wie sein romantischen Gegenstück, die
Ticking-Bomb-Erzählung, apokalyptische Züge trägt. Das Bild des „rutschenden Abhangs“
steht hier für die unintendierten Konsequenzen von Ausnahmen im Folterverbot, die für sich
genommen zunächst einmal unproblematisch erscheinen. Rechtliche Ausnahmeregelungen, so
die Vertreter dieses Arguments (z.B. Lukes 2006), führten unausweichlich zu einer
831
So war in der amerikanischen Presse anfangs noch vereinzelt von Folter („torture“) die Rede, nach wenigen
Tagen wurden die Vorfälle aber überwiegend als Amtsmissbrauch bezeichnet („abuse“), was auch die
offizielle Sprachregelung der Regierung war (vgl. Bennett et al. 2006).
609
unkontrollierbaren
Aushöhlung des
Folterverbots
und
zu
einer
Ausweitung von
Folterpraktiken, die am Ende das rechtsstaatliche und moralische Fundament liberaler
Demokratien zu untergraben drohten. Im Kern handelt es sich dabei um ein wertkonservatives
Narrativ, das den moralischen Zerfall der Gesellschaft in Aussicht stellt, sollte vom „rechten
Pfad“ einmal abgewichen werden (vgl. 5.1.2). Ohne Zweifel begünstigte die Aufweichung des
Folterverbots das Aufkommen illegaler und illegitimer Missbrauchsfälle wie in Abu Ghraib.
Trotz des argumentativen Gehalts des Dammbruch-Arguments darf die symbolische Wirkung
der Metapher wie auch die ikonische Macht der Bilder nicht unterschätzt werden. Die
Fotografien von Abu Ghraib zeichneten ein hässliches und unmoralisches Bild von Folter, das
sich in den Köpfen festsetzte und so den Diskurs maßgeblich beeinflusste.
10.4.1. Die Akademische Folterdebatte – Abu Ghraib als Argument und Symbol
Im Folgenden sollen einige der wichtigsten Artikel und Sammelbände diskutiert werden, die
nach Abu Ghraib zum Thema „Folter“ erschienen sind. Am interessantesten ist wohl der von
Sanford Levinson (2006/2004) herausgegebene Sammelband, dessen Beiträge vor dem AbuGhraib-Skandal geschrieben wurden. In der leicht erweiterten zweiten Auflage des
Sammelbandes, die zwei Jahre später erschienen ist, werden die Konsequenzen des Skandals
im Vorwort des Herausgebers und in den hinzugenommen Beiträgen mitreflektiert. Im
Vorwort zur zweiten Auflage setzt sich Levinson explizit mit dem Einfluss von Abu Ghraib
auf den Diskurs und dem mutmaßlichen Unbehagen einiger seiner Autoren auseinander:
The essays in this book were all written before the may 2004 disclosures of abuses—including allegations
of torture—in Iraq and Afghanistan (not to mention the secret CIA prisons around the world). No doubt
many of the authors would wish to rewrite some of their remarks. (Levinson 2006/2004b: 20)
Der Herausgeber ließ es sich nicht nehmen, den Sammelband – zur Not auch gegen die
Verfasser der Beiträge – in Schutz zu nehmen: „The brutal fact is that far less rewriting would
be necessary than some might wish“. In der zweiten Auflage des Buches wurden allerdings
auch zwei folterkritische Artikel mit hinzugenommen, die sich mit den Konsequenzen des
McCain-Amendments für die Anwendung von Folter befassen. Alan Dershowitz, der zu
diesem Band einen Artikel mit dem Titel „Tortured Reasoning“ beisteuerte (2006/2004), gerät
spürbar in die Defensive. Er sei grundsätzlich „opposed to torture as a normative matter“
(257, vgl. auch 266f.), was ihn allerdings nicht davon abhält, sich auch weiterhin für eine
Legalisierung von Folter stark zu machen, da diese einer unreglementierten und
610
intransparenten Folterpraxis vorzuziehen sei.832 Mit Blick auf Abu Ghraib argumentiert
Dershowitz, dass eine juristisch kontrollierte Folter die Gefahr eines möglichen Missbrauchs
erheblich reduzieren würde:
Finally, the requirement of securing advanced written approval would reduce the incidence of abuses,
since it would be a rare case in which a high ranking official, knowing that the record will eventually be
made public, would authorize extraordinary methods and never methods of the kind shown in the Abu
Ghraib photographs. (276f.)
Mit diesem originellen Gebrauch der Abu-Ghraib-Fotografien als einem Argument für die
Legalisierung und Institutionalisierung von Folter beschließt Dershowitz den Artikel – und
zog sich aus der Folterdebatte zurück.833 So kreativ diese Verwendung von Abu Ghraib als
Argument für die Legalisierung von Folter auch sein mag, sie ist alles andere als
repräsentativ. Die überwiegende Mehrheit der Beiträge sieht in Abu Ghraib eine
Exemplifizierung der „slippery slope“, die für die Vereinigten Staaten nach 9/11 geltend
gemacht werden könne (z.B. Sullivan 2006/2004).
Ein weiterer Sammelband mit dem Titel Torture (Roth et al. 2005), der von der
amerikanischen NGO Human Rights Watch herausgegeben wurde, verfolgt mit seiner
Sammlung überwiegend folterkritischer Beiträge ein explizit normatives Anliegen: Die
globale Bekämpfung von Folter, insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika. Unter
den Autoren ist auch der republikanische Senator und spätere Präsidentschaftskandidat John
McCain.834 Auch in diesem Band spielen die Vorfälle von Abu Ghraib eine wichtige Rolle. In
den Beiträgen, die sich mit der gegenwärtigen Bedeutung von Folter befassen, ist Abu Ghraib
ein zentraler Referenzpunkt. Diese Bezugnahme auf die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib ist
indes nicht auf die englischsprachige Folterdebatte beschränkt. Auch der deutschsprachige
Sammelband Rückkehr der Folter eröffnet mit folgenden Worten: „Die Bilder aus dem
irakischen Gefängnis Abu Ghraib haben weltweit Entsetzen und Abscheu ausgelöst“
832
Zur Kritik von Dershowitz vgl. insbesondere die Arbeiten von Uwe Steinhoff, Elain Scarry und Bob Brecher.
In „The Case for Dirty Harry and against Alan Dershowitz“ argumentiert Steinhoff (2006), der Folter in
bestimmten Fällen für moralisch legitim hält, gegen eine Institutionalisierung von Folter. Scarry (2006/2004)
weist in ihrer Kritik von Dershowitz unter anderem darauf hin, dass es absurd und unverhältnismäßig wäre,
imaginäre Folterszenarien angesichts tausender tatsächlicher Folterakte zur Rechtfertigung einer
Institutionalisierung von Folter zu verwenden. Brecher (2007) argumentiert, dass eine Gesellschaft, in der
Folter legalisiert wäre, eine unanständige und groteske Gesellschaft wäre. Alle drei Autoren haben
gemeinsam, dass sie anerkennen, dass Folter in bestimmten Fällen moralisch geboten sein kann. Allerdings
lehnen sie eine rechtliche Institutionalisierung von Folter ab.
833
Seither hat sich Dershowitz allerdings aus der Folterdebatte zurückgezogen. In seinem Buch Is There a Right
to Remain Silent? stilisiert er sich wieder zum Bürgerrechtler und streift das Thema der Folter nur am Rande
(2008).
834
Dessen Beitrag wurde ursprünglich im Wallstreet Journal veröffentlicht, 1. Juni 2004.
611
(Beestermöller & Brunkhorst 2006: 7).
Der wohl interessanteste Fall, an dem sich die Wende in der Folterdebatte aufzeigen lässt,
ist Michael Ignatieff, Professor für Menschenrechtspraxis an der Harvard University und
späterer Oppositionsführer im kanadischen Parlament. Kurz nach der Veröffentlichung der
Abu-Ghraib-Bilder erschien in der New York Times ein kurzer Artikel, in dem er seine
Position zu kritischen Fragen aus einer kurz davor erschienen Monographie (Ignatieff 2004)
zusammenfasste.835 Ignatieff argumentiert sehr differenziert und fordert seine Leser zu einer
Auseinandersetzung mit den ethischen Dilemmata der Terrorbekämpfung auf. So spricht er
sich für eine offene Debatte zur Folter aus, obwohl er Folter persönlich ablehne. Allerdings
sind für ihn beispielsweise Formen des Schlafentzugs, die keinen bleibenden Schaden
verursachen, oder Techniken der Desorientierung („like keeping prisoners in hoods“)
durchaus vertretbar. Kurz nach Abu Ghraib gab es jedoch nur noch wenig Spielraum für
solche Zwischentöne und auch die harmlos erscheinende Verwendung von Kapuzen ist durch
die Skandalbilder schwer in Verruf geraten. In seinen späteren Artikeln war Ignatieff
gezwungen, sich explizit mit Abu Ghraib und seinen Konsequenzen auseinanderzusetzen.836
In seinem Artikel für den oben erwähnten Sammelband Torture wird Bedeutung von Abu
Ghraib deutlich:
A position in favour of outright prohibition of both torture and coercive interrogation has gained strength
from the abuses at Abu Ghraib, and from the memos of the office of legal counsel and the White House
parsing the torture convention into permission for coercive interrogation. It seems clear from the dire
experience of Abu Ghraib that outright prohibition of both torture and coercive interrogation is the only
way to proceed. (Ignatieff 2005: 27)
Einerseits vertritt Ignatieff hier eine konsequente Ablehnung von Folter und Zwang,
andererseits weist er auch, wie in seinem früheren Artikel, auf die moralischen und
politischen Probleme einer absoluten Prohibition hin. Dennoch stellt dieser Artikel eine
deutliche Abkehr von seiner früheren Position dar. Die Prohibition von Folter ist nun keine
rein persönliche Präferenz des Autors mehr, die sich im politischen Diskurs erst noch
beweisen müsste, sondern folgt als Imperativ aus der politischen Identität von Demokratien:
„We cannot torture, in other words, because of who we are“ (Ignatieff 2005: 27). Die Abu835
„Lesser Evils“, The New York Times, 2. Mai 2004.
836
„What Geneva Conventions?“, The New York Times, 17. Oktober 2004; „The Terrorist as Auteur“, 14.
November 2004; „Wir Auserwählten, nach Abu Ghraib. Amerika muss Bescheidenheit lernen. Die Welt ist
nicht bloß dazu da, von uns erlöst zu werden“, Die Zeit, 15. Juli 2004. Aus gut unterrichteten akademischen
Kreisen hat der Verfasser dieser Arbeit in Erfahrung bringen können, dass die Enthüllungen von Abu Ghraib
in dem damaligen akademischen Umfeld von Ignatieff in Harvard kontrovers diskutiert wurden – gerade
auch mit Blick auf das schlechte Timing seines Artikels.
612
Ghraib-Fotos verliehen der Folter ein unmenschliches Antlitz – ungeachtet der strittigen
Frage, ob es sich bei den Missbrauchsfällen selbst um Folter handelte. Dieser Einfluss von
Abu Ghraib auf die Folterdebatte wurde auch von Kritikern dieser Wende, wie beispielsweise
Mike McConnel, dem nationalen Sicherheitsdirekter der Vereinigten Staaten unter Bush,
erkannt:
My personal view is the tragedy of Abu Ghraib, which was out of the bounds of law and out of
proportion, caused a vision or mind-set that people see that and relate to what I’m talking about when I
say enhanced interrogation techniques.837
Die Tragödie von Abu Ghraib schuf ein „mind-set“, das die Protagonisten der Debatte um
Verhör- und Foltertechniken als erstes an die Demütigungen auf den Skandalbildern denken
ließ. Die Fotografien aus Abu Ghraib haben der Folter ein hässliches Gesicht gegeben – wie
zutreffend dies auch immer sein mag. Die Konsequenzen von Abu Ghraib dürfen nicht alleine
auf der institutionellen Ebene verortet werden (9.2-3), sondern lassen sich auch auf der
kulturellen Ebene der öffentlichen Diskurse und des sozialen Imaginären nachweisen. Sie
haben, wie zuvor schon 9/11, den kulturellen Hintergrund des Handelns und Erlebens von
einigen Intellektuellen und Millionen von Menschen verändert – und das auf der ganzen Welt.
Natürlich hat es nach Abu Ghraib auch weiterhin Befürworter der staatlich legitimierten
Folter gegeben. Im Anschluss an Winfried Brugger, der in Deutschland schon vor dem 11.
September mit der Analogie von Folter und finalem Rettungsschuss argumentiert hatte,
versuchte Rainer Trapp (2006) die Debatte um die Folter verbal zu entschärfen. So ist hier
von „selbstverschuldeter Rettungsbefragung“ statt von „Folter“ die Rede. Das Buch, das Ende
2005 fertiggestellt wurde, aber wahrscheinlich schon vor dem Abu-Ghraib-Skandal begonnen
worden war, meidet den Krieg gegen den Terror und das Ticking-Bomb-Szenario als
Referenzrahmen für die Rettungsbefragung. Stattdessen legt Trapp seiner Analyse das
sogenannte
„SRB-Szenario“
zu
Grunde
(eine
Abkürzung
für
„selbstverschuldete
Rettungsbefragung“), das sich vor allem auf die Entführungsfälle von Hintze (1997) und
Metzler (2002) stützt. Aber auch in der deutschen Debatte zur Folter, die in hohem Grade von
der Entführung des Jakob von Metzler und der anschließenden Anordnung von Folter durch
Wolfgang Daschner geprägt war (6.4.3), dominierten nach Abu Ghraib die kritischen
Stimmen. Man sprach sich gegen die Analogie zur Rettungsbefragung aus, oder versuchte am
Fall Daschner die Schwächen des SRB-Szenarios zu demonstrieren, die sich in weiten Teilen
837
„Political Headlines. Fox Special Report with Brit Hume“, Fox News Network, 16. Januar 2008.
613
mit den Schwächen des Ticking-Bomb-Szenarios decken.838
10.4.2. Der öffentliche Diskurs zum Waterboarding – Verhörtechnik oder Folter?
Der durch den Abu-Ghraib-Skandal ausgelöste Wandel in der Folterdebatte lässt sich
besonders gut an der öffentlichen Diskussion über den Status und die Anwendung des
sogenannten „waterboarding“ demonstrieren. Dabei handelt es sich um eine Verhörtechnik,
bei welcher der Mund und die Nase des Opfers von einem Tuch bedeckt werden, das mit
Wasser begossen wird. Bei einer korrekten Anwendung dieser Technik soll diese keine
Gefahr für Leib und Leben des Opfers darstellen und angeblich auch keine bleibenden
Schäden hinterlassen. Als Beleg für die Harmlosigkeit dieser Folterpraktik wurde oft
angeführt, dass etwa 20.000 amerikanische Soldaten im Rahmen ihrer Ausbildung einem
solchen Waterboarding routinemäßig unterzogen worden sind. Die Bush-Administration
stufte das Waterboarding als „harsh interrogation technique“ und damit als prinzipiell
zulässige Verhörmethode ein, die auch in mehreren Fällen in Guantanamo Bay angewendet
wurde. Die Obama-Regierung verbot das Waterboarding bei ihrem Amtsantritt, was bei
einigen Konservativen für Unmut sorgte. Vor allem Dick Cheney und John Yoo, die beide
unter Präsident Bush tätig waren, sprachen sich auch nach dem Regierungswechsel öffentlich
gegen eine Einstufung des Waterboardings als Folter und damit gegen sein Verbot aus. Eine
Studie von Studenten der Harvard-Universität zeigt, dass das Waterboarding vor dem 11.
September 2001 in der amerikanischen Presse überwiegend als eine Form der Folter
bezeichnet und demzufolge negativ bewertet wurde.839 Eine grundsätzliche Neubewertung des
Waterboarding erfolgte dann jedoch nach 9/11, als die Amerikaner damit begannen, diese
Technik im Krieg gegen den Terror selbst zu verwenden. In die Öffentlichkeit rückte das
Waterboarding allerdings erst nach dem Abu-Ghraib-Skandal und der Enthüllung der
einschlägigen Memoranda:
838
Versucht man, die idealtypischen Szenarien auf konkrete Fälle anzuwenden, so wird deutlich, dass ihre
Kriterien in den seltensten Fällen eindeutig erfüllt werden. Die Anordnung zur Folter wird in den meisten
Fällen auf Basis von unvollständigen Informationen getroffen. Dieser Einwand spielte schon in der
Urteilsbegründung der Richter zum Fall Daschner eine Rolle. Florian Lamprecht (2009) hat diese
Problematik in einer vorzüglichen Arbeit zum Fall Daschner im Detail nachverfolgt. So sei die
Wahrscheinlichkeit, das Opfer überhaupt noch lebend zu finden, außerordentlich gering gewesen, da es mit
dem Entführer persönlich gewesen sei. Außerdem lässt sich zeigen, dass zum Zeitpunkt der Anordnung von
Folter noch nicht alle anderen zur Verfügung stehenden Mittel ausgeschöpft waren.
839
Desai, Neil, Andre Pineda, Majken Runquist and Mark Fusunyan: „Torture at Times. Waterboarding in
the Media“, Harvard Student Paper, April 2010,
http://www.hks.harvard.edu/presspol/publications/papers/torture_at_times_hks_students.pdf; letzter Zugriff,
10. Dezember 2011.
614
The media’s modern coverage of waterboarding did not begin in earnest until 2004, when the first stories
about abuses at Abu Ghraib were released. After this point, articles most often used words such as “harsh
” or “coercive” to describe waterboarding or simply gave the practice no treatment, rather than labeling it
torture as they had done for the previous seven decades. 840
Auf den ersten Blick mag es überraschend und paradox erscheinen, dass gerade der Abu
Ghraib-Skandal zu einer verharmlosenden öffentlichen Wahrnehmung des Waterboarding
geführt habe. Dies scheint – zumindest auf den ersten Blick – einer These dieser Arbeit,
nämlich dass Abu Ghraib zu einem Wandel im Folterdiskurs und damit letztlich zu einer
Ausweitung des Folterbegriff und zu einer Stärkung des absoluten Folterverbots geführt habe,
zu widersprechen. Dem ist aber mitnichten so. Zunächst ist festzuhalten, dass sich die
Regierung erst im Zuge des Abu-Ghraib-Skandals und der veröffentlichten Memoranda dazu
genötigt sah, die tatsächliche Anwendung von Waterboarding in einzelnen Verhören
öffentlich zuzugeben. Das Field Manual, das nach dem McCain-Amendment von der Armee
herausgegeben worden war (9.2), verbot – neben den durch Abu Ghraib diskreditierten
Techniken des „hooding“ und der „sexual humiliation“ – ausdrücklich auch die Anwendung
von Waterboarding in Verhören durch Armeeangehörige.841 Dieses Verbot bezog sich
allerdings nicht auf die amerikanischen Geheimdienste weswegen die Debatte über das
Waterboarding noch lange nicht beigelegt war, sondern immer noch eine Rolle im
öffentlichen Diskurs und im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von 2008 spielte
(10.1.1-2). Am 22. Mai 2009 war es dann so weit: Anlässlich der gescheiterten Performanz
eines Kollegen erklärte der liberale Fernsehmoderator Keith Olbermann die Folterdebatte –
auch wenn hier vor allem der umstrittene Status des Waterboarding gemeint war – für
beendet:
The torture debate ended today. It was at 8:40 a.m. Central Daylight Time, it was in the most unlikely of
venues – the radio studio of a Chicago shock-jock named Eric “Mancow” Muller, folly of the right to the
degree that he once claimed on-air that Barack Obama was a secret Muslim, then called then-DNC
chairman, Howard Dean, a, quote, “traitor” and once insisted, with no qualifications, that waterboarding
was not torture.842
Der oben genannte rechts-konservative Radiomoderator unterzog sich bei laufender Kamera
freiwillig einem professionellen Waterboarding, um zu beweisen, dass es sich dabei nicht um
eine Folter handele. Olbermann zeigte die Aufnahme in seiner Sendung und schlachtete sie
genüsslich aus, um damit seine These vom Ende der Folterdebatte zu untermauern. Vor dem
840
Desai, Neil, Andre Pineda, Majken Runquist and Mark Fusunyan: „Torture at Times. Waterboarding in
the Media“, S. 14f.
841
„New Pentagon rules ban ‚abusive‘ interrogation; Use of dogs, hoods forbidden; psychological“, USA Today,
7. September 2006.
842
„Countdown“, MSNBC, 22. Mai 2009.
615
Waterboarding wurde Mancow noch darüber aufgeklärt, dass ein durchschnittlicher Mensch
diese Behandlung etwa 14 Sekunden aushalte. Nach nur sechs Sekunden wurde das
Experiment auf Wunsch des Probanden hin abgebrochen. Auf die Frage, ob es sich bei dieser
Behandlung denn nun tatsächlich um eine Form von Folter handele, antwortet er wie folgt:
Look. All that’s been done to this country and I heard about water being dropped on someone’s face, and
I never considered it torture even when I was laying there, I thought this will be no big deal. I go
swimming – it’s going to be like being in the tub. It is such an odd feeling having water being poured
down your nose and your mouth with your head back. It was instantaneous. I thought I could hold out, 30
seconds, 60 seconds. It was instantaneous. And I don’t want to say. I do not want to say this. Absolutely
torture. Absolutely. I mean, that’s drowning.
Aus mehreren Gründen ist diese Episode für uns von besonderem Interesse. Zunächst einmal
gibt sie Aufschluss über die populäre Imagination des Waterboarding bei seinen Befürwortern
– und die Diskrepanz zu seiner Realität, die im Scheitern der Demonstration von Mancow
überdeutlich wird. Des Weiteren zeigen Olbermann und Mancow, dass die Folterdebatte auch
jenseits der nationalen Presse in den amerikanischen Diskursen eine Rolle spielte. So
versuchte der lokale Radiomoderator mit dieser spektakulären Inszenierung nicht nur,
Zuschauer für seine Sendung zu gewinnen, sondern auch um Zustimmung für eine
fortgesetzte Legalisierung des Waterboarding zu erzielen. Diese gescheiterte Performanz,
deren Ausgang konträr zur ursprünglichen Intention des Performers stand, wurde von
Olbermann genutzt, um auf nationaler Ebene für eine Unterstützung des Verbotes von
Waterboarding zu werben. Gegen seinen Willen entlarvte der rechtskonservative
Radiomoderator die Einordung des Waterboarding als bloßer Verhörtechnik als Euphemismus
und gab zu Protokoll, dass es sich dabei ohne Zweifel um Folter handele. Später fügte er noch
hinzu: „I would confess to anything“. Es gab auch weitere öffentliche Demonstrationen des
Waterboarding mit ähnlichem Ausgang, beispielsweise von Christopher Hitchens, einem
Autor des Magazins Vanity Fair.843
Anhand dieser Demonstrationen könnte man den Eindruck gewinnen, dass es sich bei
Waterboarding zwar um eine Form von Folter, aber dennoch um eine äußerst effektive
Befragungstechnik handele. Dennoch muss die Aussage von Mancow, „I would confess to
anything“, in ihrer Ambivalenz betrachtet werden. Folter schützt nicht vor Falschaussagen,
sondern setzt vielmehr Anreize, die dazu führen können, dass sich auch unschuldige Opfer
mit Falschaussagen belasten und damit auch Verhörspezialisten in die Irre führen. Schiebt
man diese Einwände beiseite, so bleiben immer noch genügend Zweifel an der Effektivität der
ABCDE
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616
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Technik, gerade dann, wenn sie gegen hartgesottene Terroristen eingesetzt wird. Nach
offiziellen Angaben wurde der Gefangene Khalid Sheikh Mohamed in Guantanamo Bay
insgesamt 183 „Güssen“ unterzogen, verteilt auf eine unbekannte Anzahl von Sitzungen.
Auch wenn die Bush-Administration versicherte, dass diese Verhöre zu Informationen geführt
hätten, dank derer weitere Anschläge verhindert werden konnten, gab es sowohl berechtigte
Zweifel an der Wahrheit dieser Behauptung als auch an der Effektivität des Waterboarding als
einer Verhörtechnik. Wenn Waterboarding so effektiv und abschreckend ist, warum waren
dann so viele Wiederholungen nötig? Wie dem auch sei, das grundsätzliche Problem jedweder
Foltertechnik bleibt bestehen: Es kann nur schwer zwischen Wahrheit und Lüge, Fakten und
Fiktion unterschieden werden. Auch eine Falschaussage eines Gefolterten führt zum Abbruch
der Prozedur und die Ermittler auf eine falsche Fährte. Oder die Folterer zweifeln an der
Aussage und setzen das Verhör auf unbestimmte Zeit fort.
Im Jahr 2009 waren es nur noch die Mitglieder der ehemaligen Bush-Regierung und
Kommentatoren
vom
äußersten
rechten
Rand,
die
an
der
sicherheitspolitischen
Unverzichtbarkeit des Waterboarding festhielten. In der Debatte setzte sich der Moderator
Olbermann nicht nur mit den Experimenten seiner Kollegen auseinander, sondern nahm auch
die Beiträge des ehemaligen Vizepräsidenten Dick Cheney auseinander:
As he did yesterday in his speech, defending the Bush administration’s torture program, the former vice
president claiming that the rest of us have failed to understand exactly what happened at the Abu Ghraib
prison in Iraq, and more importantly, why it happened.
Daraufhin ließ Olbermann eine Aufnahme von Cheney im O-Ton abspielen, der die
öffentliche Verquickung der Waterboarding-Debatte mit den Missbrauchsfällen von Abu
Ghraib kritisiert:
In public discussion of these matters, there has been a strange and some sometimes willful attempt to
conflate what happened at Abu Ghraib with the top-secret program of enhanced interrogations. At Abu
Ghraib, a few sadistic prison guards abused inmates in violation of American law, military regulation and
simple decency. For the harm they did to Iraqi prisoners and to America’s cause, they deserved and
received Army justice.
Der empirischen Beobachtung von Cheney ist aus einer kultursoziologischen Perspektive
zuzustimmen. Die symbolische Assoziation von Folter, Abu Ghraib und Guantanamo machte
– so das Ergebnis dieser Arbeit – einen beträchtlichen Teil der Wirkung des Abu-GhraibSkandals aus. Dieser Zusammenhang von Guantanamo und Abu Ghraib wird auch auf der
liberalen Seite des Diskurses anerkannt, aber nicht als Problem gesehen. General Karpinski,
die ebenfalls bei Olbermann zu Gast war, unterstellte der Performanz von Cheney unlautere
Motive: „he is defending himself and his service during the eight years of the administration“.
Indem sie seinen Beitrag als eigennützig und unzivil disqualifizierte, stellte sie Cheneys
617
Authentizität und Legitimität in Frage. Dieser, so Karpinski, spreche nicht im öffentlichen,
sondern alleine in seinem eigenen Interesse. Die Überzeugung, dass die Bush-Administration
und ihre Aufweichung des Folterverbots eine maßgebliche und ursächliche Rolle bei der
Entstehung der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib spielte, hatte derweil, wie die
Berichterstattung über den überparteilichen Bericht des Verteidigungsausschusses gezeigt hat
(10.1.3), die politische und öffentliche Hegemonie errungen. Die Apologeten der BushAdministration standen mit ihrer Wahrnehmung des Abu-Ghraib-Skandals und des
Waterboarding auch innerhalb des konservativen Mainstreams auf verlorener Flur. Die
Mehrheit der Republikaner warf den Demokraten keinen „soft war on terror“ vor, sondern
kritisierte diese wegen der geplanten Reform des Gesundheitssystems und ihrem Management
der Wirtschaftskrise.
10.4.3. Die Unabweisbarkeit der Folterfrage und die Phantasmen der Interrogation
Trotz des im Zuge des Abu-Ghraib-Skandals ausgelösten Wandels in der Wahrnehmung von
Folter lässt sich keine vollständige Restauration der moralischen Ordnung im Sinne einer
Rückkehr in das Denken vor dem 11. September 2001 konstatieren. Auch wenn der
Terrorismus an Aufmerksamkeit und Bedeutung verloren hat, ist die terroristische Bedrohung
nach wie vor virulent. Die kollektive Überzeugung der Möglichkeit des Eintretens eines
Ticking-Bomb-Szenarios ließ sich durch die Subversion von Abu Ghraib nicht aus der Welt
schaffen. Der hypothetische Fall eines solchen Szenarios wurde im Zuge des 11. September
2001 von einer „toten“ zu einer „lebendigen Hypothese“ – um eine Unterscheidung von
William James aufzugreifen (1956/1896). Die (außerhalb eines Kreises von Spezialisten)
undenkbare Möglichkeit, dass Atomwaffen in Terroristenhände gelangen könnten, wurde auf
einmal zur denkbaren Möglichkeit, der auch in Zukunft Rechnung getragen werden musste.
Die viel zitierte „Büchse der Pandora“ wurde durch 9/11 geöffnet. Sind die Dämonen der
Vorstellung einmal entfesselt, so lassen sie sich nicht mehr so ohne Weiteres bändigen.
Michael Ignatieff (2005) hat in diesem Zusammenhang auf zwei Probleme hingewiesen,
die jedem Befürworter eines strikten Folterverbots Kopfschmerzen bereiten dürften. Das erste
Problem resultiert daraus, dass das Ticking-Bomb-Szenario eine realistische Möglichkeit
bleibt. Ignatieff folgert daraus, dass man am strikten Folterverbot nur festhalten könne, wenn
man rechtliche Normen von moralischen Fragen entkoppelt. Folter mag zwar rechtlich
verboten, kann aber in manchen Situationen dennoch moralisch geboten sein. Im Gefolge des
Abu-Ghraib-Skandals errang diese Position die diskursive Hegemonie. So spricht sich etwa
Richard Posner (2006/2004) gegen Dershowitzs „torture warrants“ und für eine Trennung von
618
Legalität und Moralität in Sachen Folter aus. Steven Lukes (2006) plädiert in einem Artikel
im British Journal of Political Science dafür, die Anwendung von Folter als individuelle
„tragic choice“ zu verstehen. Bei ihm wird das Ticking-Bomb-Szenario zu einem moralischen
Dilemma, das sich einer Verrechtlichung prinzipiell entzieht. Während Dershowitz die
Position vertritt, dass auch „Demokratien“ tragische Entscheidungen treffen können, und
deswegen eine Institutionalisierung der Folter befürwortet (2002: 131-163), überantworten
Posner (2006/2004: 298) und Lukes (2006) die alleinige Verantwortung dem Amtsträger als
Privatperson. In ähnlicher Weise argumentiert auch Ulrich Steinhoff (2006), der den
fiktionalen Helden „Dirty Harry“ als bessere Alternative gegen die von Dershowitz
propagierte Verrechtlichung von Folter ins Felde führt. Die Vorzüge einer solche Lösung
liegen auf der Hand: Im Rückgriff auf die gesellschaftlich etablierte Unterscheidung von
Recht und Moral kann auf einen Eingriff in die Grundfesten des Rechtsstaates und eine
Absage an die universelle Erklärung der Menschenrechte verzichtet werden. Was für das
Rechtsystems eine Paradoxie darstellen würde, wird in den Bereich der Moral ausgelagert und
auf den individuellen Entscheider abgewälzt. Gesellschaft und Staat bewahren sich so ihre
Identität und Unschuld, während die Individuen die auftretenden Widersprüche auf dem
eigenen Rücken auszutragen haben.844
Das zweite Problem resultiert daraus, dass sich die Effektivität von Folter als einer
Verhörtechnik – auch nach Abu Ghraib – nicht ganz von der Hand weisen lässt (so Ignatieff
2005: 25f.). Ignatieff zufolge haben wir davon auszugehen, dass jene Agenten, die Sheikh
Mohammed im Jahr 2003 einem mehrfachen Waterboarding unterzogen haben, im dem guten
Glauben gehandelt haben, durch Anwendung dieser Technik an Informationen zu gelangen,
die das Leben ihrer amerikanischen Mitbürger sicherer machen. Ignatieff unterlässt es aber,
nach den möglichen Ursachen dieses Glaubens und der Bereitschaft des Publikums, diesen
Glauben anzunehmen, zu fragen. Etwas zu voreilig schließt er – vermutlich selbst etwas zu
gutgläubig – vom guten Glauben der Folterer auf die praktische Effektivität des Folterns. Den
Glauben an die Effektivität peinlicher Befragungen lässt sich als „nützliche Fiktion“
(Vaihinger 1927) oder als gesellschaftliches Phantasma verstehen (1.3.3). Was dem Verfasser
von La Question oder einem fiktionalen Helden wie Jack Bauer gut zu Gesicht steht, nämlich
844
Es verwundert sehr, dass Luhmann in seiner Diskussion des Ticking-Bomb-Szenarios einige für ihn selbst
unbefriedigende und auch nicht ganz ernst gemeinte Lösungsvorschläge unterbreitet (2008/1993: 248), doch
nicht in Erwägung zieht, die von ihm konstatierte Paradoxie an die Moral auszulagern. Dies liegt
möglicherweise an einem blinden Fleck von Luhmann: seiner grundlegenden Skepsis gegenüber Moral als
einer möglichen Lösung von gesellschaftlichen Problemen.
619
als Held einer Geschichte jeglicher Anwendung von Folter bis zur Bewusstlosigkeit und zum
Herzstillstand widerstehen zu können, verwandelt sich in der Imagination des Bösen
unversehens in einen Alptraum. Ein standhafter religiöser Fundamentalist und selbsterklärter
Märtyrer wäre ein Alptraum für die populäre Imagination, der ihr allerdings – von
Unthinkable einmal abgesehen (10.3.3) – bisher erspart blieb. Zweifel an der Effektivität von
Folter und anderen Verhörtechniken führt letztendlich zu der unbefriedigenden Einsicht, dass
es kein wirksames Mittel gegen die Bedrohung durch terroristische Anschläge gibt. Sie sind
ein systemisches Risiko in modernen Gesellschaften, das durch den Ausbau von Infrastruktur,
die Konzentration von Populationen in Städten und die Kristallisation von kollektiven
Symbolen in immer größeren Maße zunimmt. Die moderne Weltgesellschaft schafft Zentren
der Verwundbarkeit und stellt diese zugleich unter mediale Dauerbeobachtung. Dies sind
ideale Bedingungen für Terroristen, die durch spektakuläre Gewaltakte in der Bevölkerung
Angst und Schrecken verbreiten wollen.
Diejenigen Diskursteilnehmer, die Folter unter bestimmten Umständen für moralisch
geboten halten, müssen auch am Glauben an die Effektivität von Foltermethoden festhalten.
Verteidiger des Folterverbots weisen zwar gerne auf die Effektivität von gewaltfreien und
kooperativen
Verhörmethoden
hin,
aber
auch
diese
Techniken
bieten
keinen
hundertprozentigen Schutz. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich der physische Zwang und
die Verhängung negativer Sanktionen im konservativen Folterdiskurs wie auch der
„zwanglose Zwang“ des besseren Arguments und die Anwendung positiver Sanktionen im
liberalen Folterdiskurs, die im Übrigen der von Lakoff (2006) konstatierten Differenz im
Erziehungsstil konservativer und liberaler Eltern entspricht (4.3.5), als zwei Seiten ein- und
desselben Phantasmas. In beiden Fällen geht es letztendlich um den technisch abgesicherten
Durchgriff von Seiten des sozialen Systems auf das psychische System des mutmaßlichen
Terroristen. Diese Allmachtsphantasien sind ebenso verständlich wie unrealistisch.
Terroranschläge sind – ähnlich wie Amokläufe – eine gesellschaftliche Bedrohung, die
systemischer Natur ist und sich nicht ausschalten lässt. Aus dieser Perspektive erweist sich
der Glaube an die Effektivität von Verhörmethoden als ein gesellschaftlicher Umgang mit der
unvermeidbaren Verwundbarkeit und fundamentalen Unsicherheit moderner Gesellschaften.
Es ist wohl diese gesellschaftliche Affektstruktur, welche die Entstehung und die
Reproduktion des Phantasmas der Interrogation ermöglicht.845
845
Der Film Unthinkable spielt diese Unverfügbarkeit des psychischen Systems am Beispiel der Folter bis an
die Vorstellungs- und Schmerzgrenze durch (10.3.3). Der Preis, den er für ein solches Reflexionsniveau
bezahlt, ist seine Untauglichkeit für den Massengeschmack.
620
Die Auswirkungen des Abu-Ghraib-Skandals auf den Folterdiskurs lassen sich in drei
Punkten zusammenfassen. Abu Ghraib hatte erstens zur Folge, dass die Anwendung von
physischer Gewalt und psychischer Erniedrigung zu Verhörzwecken, einschließlich des
sogenannten Waterboarding, mit negativen Gefühlen, Bildern und Narrativen aufgeladen
wurde. „Folter“ als umkämpfter Platzhalter und leerer Signifikant des zivilgesellschaftlichen
Diskurses (Levinson 2006/2004a: 27; 1.3.2) wurde zunehmend von den Abu-Ghraib-Bildern,
die ein abstoßendes (wenn auch nicht unbedingt zutreffendes) Bild der amerikanischen
Verhörpraxis zeichneten, eingenommen. Zweitens wurde die Plausibilität des Ticking-BombSzenarios untergraben, wenn auch nicht vollständig aufgehoben. Im akademischen Diskurs
setzte sich die Einsicht durch, dass zwischen Recht und Moral zu trennen sei. Aus der
moralischen Tatsache, dass Folter in bestimmten Fällen geboten sein kann, folgt noch nicht
die Notwendigkeit einer Legalisierung von Folter. Trotz der engen strukturellen Kopplung
von Recht und Moral in der modernen Gesellschaft tritt am Beispiel der Folter deren jeweilige
Eigenlogik und Autonomie zu Tage. Dennoch kann den moralischen Zwängen in der
rechtlichen Bemessung des Strafmaßes Rechnung getragen werden – so geschehen in der
milden Verurteilung von Wolfgang Daschner. Die Trennung von moralischen und rechtlichen
Fragen ist im akademischen Folterdiskurs mittlerweile Commonsense – sowohl bei den
Kritikern, als auch bei den leisen Befürwortern der Folter. Drittens lässt sich eine Persistenz
des Phantasmas der Interrogation konstatieren. Die stillschweigende Hintergrundannahme,
dass das Verhör von Terrorverdächtigen, sei es durch Gewalt, sei es durch Kooperation,
effektiv zur Gewinnung von Informationen genutzt werden kann, liegt dem Folterdiskurs zu
Grunde und schützt als imaginärer Schirm vor der realen Zumutung des Anschlagsrisikos.
Dass dies illusionär ist, zeigen nicht zuletzt die sogenannten „Amokläufe“ – heimische
Ausbrüche sinnloser Gewalt, die kaum vorhersagbar, geschweige denn zu verhindern sind.
621
10.5. Die Obama-Präsidentschaft – Bewältigung oder Verdrängung?
Plus ça change, plus c’est la même chose.846
Jean-Baptiste Alphons Karr
Als Barack Obama zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, hofften viele
seiner Anhänger auf einen radikalen Wandel in den Vereinigten Staaten. Ein Teil dieser
Hoffnungen knüpfte sich an die baldige Schließung des Gefangenenlagers in Guantanamo
Bay sowie an eine offizielle Untersuchung der Rolle der früheren Regierung bei den AbuGhraib-Missbrauchsfällen. Trotz dieser Erwartungen wählte die Obama-Regierung eine
politisch pragmatischere, aber moralisch ambivalentere Strategie. Auf der einen Seite
signalisierte die neue Regierung eine Abkehr von der Politik ihrer Vorgängerregierung, auf
der anderen Seite forcierte Obama eine schnelle Schließung des Skandals – der nationalen
Einheit wegen.
Die Position der neuen Regierung lässt sich an drei Punkten aufzeigen: an ihrem
erweiterten Folterverbot (10.5.1), das noch über die Beschränkungen des McCainAmendments hinausreichte; an ihrer Weigerung, strafrechtliche Untersuchungen gegen
Offiziere und ehemalige Mitarbeiter der Bush-Regierung wegen der Missbrauchsfälle in Abu
Ghraib einzuleiten; schließlich aber an ihrer Entscheidung, kein weiteres Fotomaterial aus
Abu Ghraib zu veröffentlichen. Alles in allem ist das Maß der Kontinuität in der
amerikanischen Sicherheitspolitik erstaunlich. Dies machte eine symbolische Distanzierung
von der symbolisch verunreinigten Vorgängerregierung umso dringlicher. So verbannte
Obama die Bezeichnung „Global War on Terrorism“ aus dem offiziellen Sprachgebrauch, wie
auch die Bezeichnung „enemy combatant“.847 An der Situation der Gefangenen in dem
amerikanischen Gefangenenlager auf Kuba änderte dies allerdings nicht viel.
10.5.1. Das Folterverbot unter Obama
Schon vor dem offiziellen Beginn seiner Präsidentschaft kündigte Obama die Einstufung des
Waterboarding als einer Form von Folter an, was gleichbedeutend mit ihrem Verbot war. Bis
dato galt Waterboarding als „harsh interrogation technique“, die im Verhör von maßgeblichen
Terroristen von Geheimdiensten eingesetzt werden durfte und in den ersten Jahren des
846
Zu Deutsch: „Je mehr sich ändert, desto mehr bleibt gleich.“
847
Vgl. „Geste zu Guantánamo. Häftlinge nicht mehr ‚feindliche Kämpfer‘„, Frankfurter Allgemeine Zeitung,
16. März 2009.
622
Krieges gegen den Terror, also noch vor Abu Ghraib, auch zur Anwendung gekommen war.
Obama wurde nach der Wahl bei dem geplanten Verbot von seinem ehemaligen Rivalen John
McCain unterstützt – auch wenn dieser im Wahlkampf gegen Obama für kurze Zeit von
einem Gegner zu einem Verteidiger des Waterboarding wurde (10.1.2). Der scheidende
Vizepräsident, Dick Cheney, kritisierte dieses Verbot als ein unverantwortliches
Sicherheitsrisiko für die Vereinigten Staaten.848 Als eine der ersten Amtshandlungen nach
seiner offiziellen Ernennung zum Präsidenten am 22. Januar 2009 verfügte Obama
darüberhinaus die Schließung der Geheimgefängnisse der CIA, leitete ein Verfahren zur
Schließung von Guantanamo binnen eines Jahres ein und erklärte den Verzicht auf Folter als
staatliches Mittel zur Gewinnung von Informationen.849
Die New York Times pries das Folterverbot als ersten Schritt Amerikas, sein
rechtsstaatliches Erbe und moralisches Fundament wiederzugewinnen, und als effizientes
Mittel im Krieg gegen den Terror, da es das wichtigstes Rekrutierungsthema der Al Quaida
untergrabe: Die Darstellung der Vereinigten Staaten als einer unehrlichen und unmoralischen
Supermacht, welche die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib billige („a dishonorable
superpower that sanctions the type of abuses so graphically captured in the images from Abu
Ghraib”).850 Trotz der Bekräftigung des allgemeinen Folterverbotes und der Einstufung von
Waterboarding als Folter erlaubte Präsident Obama auch weiterhin den Gebrauch von
„milden“ Formen physischer Gewalt in Verhören. Dies wurde ihm von vielen liberalen
Kommentatoren übel genommen, wie z.B. von Diane McWhorter in der USA Today.851 Alles
in allem stieß Obamas Reform der Verhörtechniken jedoch auf allgemeinen Zuspruch, selbst
wenn sie so manchem liberalen Kritiker nicht weit genug ging. Am Ende scheiterte jedoch der
ambitionierte Plan, Guantanamo binnen eines Jahres zu schließen, und das nicht zuletzt
aufgrund von pragmatischen und rechtlichen Erwägungen. Dies zeigt zugleich, dass
Guantanamo als unreines Symbol mit der Wahl von Obama an Bedeutung verlor, da seine
geplante Schließung fortan einem profanen Kalkül unterworfen und immer weiter
aufgeschoben wurde.
848
„Turnabout on torture“, USA Today, 12. Januar 2009
849
„An Honor Guard Comes Out for Obama‘s Ban on Torture“, The New York Times, 24. Januar 2009.
850
„Try a Little Tenderness“, The New York Times, 11. März 2009.
851
„Don‘t punt on torture; Obama is uniquely positioned to restore America‘s moral standing on this issue. For
the victims, and for this nation, he must pursue possible crimes committed on his predecessor‘s watch“, USA
Today, 11. Februar 2009.
623
10.5.2. Verarbeitung und Verdrängung – Abu Ghraib, ein kulturelles Trauma?
Nach dem Machtwechsel im Weißen Haus hegten einige Republikaner die Befürchtung, dass
es nun zu einer liberalen Vergeltung und strafrechtlichen Verfolgung von ehemaligen
Mitarbeitern der Bush-Administration kommen würde – unter anderem wegen der
umstrittenen Memoranda aus der ersten Amtszeit (6.4.2; 9.1.1). Dahlia Lithwick, eine liberale
Kommentatorin, befürchtete das Gegenteil: Gerade die einmütige und überparteiliche
Verurteilung der Bush-Administration durch den Verteidigungsausschuss des Senats, die
keinerlei rechtliche Konsequenzen hatte, schürte bei ihr den Verdacht, dass es der künftigen
Regierung um eine schnelle und oberflächliche Bewältigung des Skandals gehe – und diese
gar kein Interesse daran habe, Ermittlungen gegen frühere Regierungsmitglieder einzuleiten.
Noch vor Obamas Amtseinführung tat sie ihre Bedenken in der New York Times kund:
Indeed, the almost universal response to the recent bipartisan report issued by the Senate Armed Services
Committee – finding former Secretary of Defense Donald H. Rumsfeld and other high-ranking officials
directly responsible for detainee abuse that clearly rose to the level of torture – has been a collective
agreement that no one need be punished so long as we solemnly vow that such atrocities never happen
again.852
Lithwick zufolge erfüllte diese „Jetzt-haben-wir-alles-hinter-uns-Einstellung“ („it’s all behind
us”) eine doppelte Funktion. Zunächst habe sie eine Schließung des Skandals ermöglicht,
indem sie die Missetaten der Amtsinhaber anerkannte und ihnen im gleichen Zug vergab.
Letztlich fungiert diese Einstellung als ein Mechanismus zur Bewältigung des Konfliktes um
Abu Ghraib, der auf eine symbolische Exklusion und Reintegration der Täter abstellt. Die
zweite Funktion dieser Einstellung ist für Lithwick noch zentraler: Letztendlich sei es darum
gegangen, dass sich die amerikanische Öffentlichkeit die Taten selbst zu vergeben hatte
(“forgiving ourselves”). Oder, um es soziologisch auszudrücken: Der Versuch zur Schließung
hat dazu gedient, das beschädigte Selbstbild bzw. die Identität der Vereinigten Staaten
wiederherzustellen.
Der
Abu-Ghraib-Skandal
führte
nämlich
zu
einem
doppelten
Imageproblem (8.2.1). Auf dem internationalen Parkett war Abu Ghraib ein PR-Desaster, das
dem Ansehen der Vereinigten Staaten nachhaltig schadete, im nationalen Diskurs wirkte Abu
Ghraib als traumatisches Ereignis, das die kollektive Identität der Amerikaner in Frage stellte.
Im weiteren Verlauf des Artikels interpretiert Lithwick die Wahl von Obama zum Präsidenten
als kollektiven Wunsch der Amerikaner, mit dem Erbe der Bush-Jahre zu brechen. Bei der
Wiederwahl von Obama ginge es aber weniger um eine neue Politik oder um eine rechtliche
Bewältigung der Vergangenheit, als vielmehr darum, das in der Amtszeit von Bush
852
„Forgive Not“, The New York Times, 11. Januar 2009.
624
beschädigte amerikanische Selbstbild wiederherzustellen. Mit Obama habe sich das
amerikanische Volk einen Imagewechsel verordnet. Lithwick vertritt die These, dass diese
Bewältigung der Identitätskrise in Wirklichkeit die Verdrängung einer traumatischen
Erfahrung sei. Anstatt sich in therapeutischer Weise mit den traumatischen Ereignissen
auseinanderzusetzen – beispielsweise, indem die Beteiligung der Regierung an den Folterund Missbrauchsfällen gründlich aufgearbeitet würde – hätten Obama und das amerikanische
Volk beschlossen, nach vorne und nicht zurück zu schauen.
Würde man Lithwicks Argumentation folgen, so könnte man – im Anschluss an Bernhard
Giesens Arbeiten zum deutschen „Tätertrauma“ (2004a, 2004c) – von Abu Ghraib als dem
Auslöser eines amerikanischen Tätertraumas sprechen. Vor dem Hintergrund des
Vietnamkrieges lässt sich Abu Ghraib aber auch als Wiederkehr eines verdrängten und nie
ganz verarbeiteten Tätertraumas deuten (6.2.3). Während die Rede vom amerikanischen
Tätertrauma von Vietnam durchaus seine Berechtigung besitzt, da es als kulturelles Trauma
zwar nicht unumstritten ist, aber dennoch von einer breiten Trägerschicht gestützt wird, ist die
Anwendung des Begriffes auf Abu Ghraib fragwürdig. Auch wenn es sicherlich überzogen
wäre, von Abu Ghraib als einem kulturellen Trauma zu sprechen – die Rede von Abu Ghraib
als einem traumatischen Ereignis, das das Selbstverständnis der Amerikaner in Frage stellte,
ist vor dem Hintergrund der bisherigen Analysen durchaus angemessen (7.5; 8.2). Ob sich,
wovon Lithwick auszugehen scheint, Abu Ghraib tatsächlich zu einem kulturellen
Tätertrauma entwickeln wird, das sich aufgrund seiner Verdrängung erst nach einer gewissen
Latenzphase wieder in der Öffentlichkeit manifestieren wird, bleibt abzuwarten.853 Genau dies
geschah in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg, dem prototypischen Tätertrauma
(Giesen 2004a), auch wenn das Ausmaß der jeweiligen Verbrechen nicht wirklich
vergleichbar ist. Trotzdem ist es nur folgerichtig, wenn Lithwick ihr Plädoyer für eine
Strafverfolgung
der
Bush-Administration
mit
einem
Zitat
des
amerikanischen
Hauptanklagevertreters bei den Nürnberger Prozessen, Robert Jackson, beschließt: „Law shall
not stop with the punishment of petty crimes by little people. It must also reach men who
853
Der sogenannte „Arabische Frühling“ – jener Begriff, unter den die Revolutionen in Tunesien und Ägypten
im Jahr 2011 subsumiert werden können – hat nicht nur das Verhältnis der Amerikaner zur arabischen Welt,
das im Krieg gegen den Terror stark gelitten hatte, sondern auch das Bild der Amerikaner von der arabischen
Welt verändert. Seither wird die „Würde“ und „Souveränität“ der arabischen Völker vermehrt über
Revolutionen gegen eine „korrupte“ Regierung konstituiert, was das als Demütigung empfundene,
postkoloniale Verhältnis zu den Vereinigten Staaten zunehmend in den Hintergrund rücken lässt. Eine
Wiederkehr von Abu Ghraib als kulturellem Trauma ist unter diesen Bedingungen sehr unwahrscheinlich.
625
possess themselves of great power“.854
In derselben Ausgabe der New York Times wendet sich Charles Fried, Professor für Recht
in Harvard, entschieden gegen diese Argumentation, die die Verfehlungen der BushRegierung mit den großen Kriegsverbrechen der Menschheitsgeschichte gleichsetze. Er
besteht darauf, dass nicht nur ein quantitativer Unterschied, sondern auch eine qualitative
Differenz vorliege. Kriegsverbrechen seien etwas ganz anderes als politischen Vergehen, die
von einer Regierung im Namen des Volkes begangen werden, um dieses gegen eine
Bedrohung von außen zu schützen.855 Fried argumentiert, dass die Missetaten der BushRegierung als politische Fehler angesehen werden sollten. Wer politische Fehler begehe, solle
durch demokratische Wahlen abgestraft und nicht mit strafrechtlichen oder gar
völkerrechtlichen Verfahren zur Verantwortung gezogen zu werden:
Our veneration of the rule of law makes us believe that courts and procedures and judges can put right
every wrong. But we must remember: our leaders, ultimately, were chosen by us; their actions were often
ratified by our representatives; we chose them again in 2004. Their repudiation this Nov. 4 and the public,
historical memory of them is the aptest response to what they did.856
Fried weist darauf hin, dass die Angehörigen der früheren Regierung nur ihren Job gemacht
hätten – wofür die Regierung im Jahr 2004 wiedergewählt worden sei. Sie sollten nicht als
Kriminelle, sondern als Politiker betrachtet werden, deren Entscheidungen sich im
Nachhinein als Fehler herausstellten. Damit spricht er die Politiker der Bush-Administration
von einer etwaigen moralischen Schuld frei, da es sich nur um handwerkliche Fehler
gehandelt habe.857 Fried grenzt die Fehler bei der Ausübung eines Amtes von dem Vorwurf
des Amtsmissbrauchs ab, auch wenn sich über seine Anwendung dieser Unterscheidung auf
die Bush-Administration durchaus streiten lässt. Die offensichtlichen Versuche der
Täuschung der Öffentlichkeit (Tilman, Zerstörung von Aufzeichnungen etc., vgl. 8.4.3)
könnten auch als kriminelle Tatbestände und als eine klare Missachtung der Amtspflichten
gerahmt werden.
Im Februar 2009 kündigte Obama anlässlich einer geplanten Untersuchung von möglichen
kriminellen Akten der Bush-Regierung an, dass er es vorziehe, „nach vorne statt nach hinten“
854
Zitiert nach Dalia Lithwick, „Forgive Not“
855
„History’s Verdict“, The New York Times, 11. Januar 2009.
856
„History’s Verdict“
857
Eine ähnliche Strategie versuchte auch Karl-Theodor von Guttenberg in seiner Plagiats-Affäre zu fahren –
hier allerdings mit mäßigem Erfolg.
626
zu schauen („get it right moving forward“).858 Damit konterkarierte er die Versuche, im Senat
eine sogenannte „Wahrheitskommision“ zur Aufklärung der letzen beiden Amtsperioden
einzurichten. Auch zu anderen Gelegenheiten stieß Obamas Weigerung, zurückzuschauen, auf
Kritik: Als er vor einem großen Publikum in Kairo eine Rede hielt, entschuldigte er sich
weder für Abu Ghraib, noch erwähnte er auch nur den Namen seines Vorgängers.859 In der
New York Times unterzog Joseph Finder die Position der Obama-Regierung einer kritischen
Untersuchung. Er wies darauf hin, dass der Justizminister im Obama-Kabinett, Eric Holder,
im Laufe seiner Karriere durchaus widersprüchliche Positionen zu kritischen Fragen vertreten
habe: Anfänglich unterstützte er den Entzug von elementaren Gefangenenrechten in
Guantanamo, später bezeichnete er aber die Existenz des Gefangenenlagers als internationale
Peinlichkeit („embarrassment“).860 Dabei macht er deutlich, dass Holders Konversion mit
einem Wandel des politischen Klimas einherging. Dieser politische Klimawandel muss, so
das Ergebnis dieser Arbeit, als eine Folge des Abu-Ghraib-Skandals aufgefasst werden.
Finder verweist auf Abu Ghraib, wenn er dem Justizminister vorwirft, nicht die systematische
Folter des CIAs untersuchen zu wollen. Im Ziel der Untersuchung ständen einmal wieder nur
individuelle Einzeltäter, die gegen Richtlinien verstoßen hätten – „bad apples“ eben:
This doesn’t look much like justice; it looks like politics. This is scarcely different from what the Bush
administration did after the Abu Ghraib prisoner-abuse scandal, scapegoating only low-level military
police officers. Nothing will change for the better: President Obama has, fortunately, already renounced
torture. We’ll learn nothing from this. 861
Finder schließt mit der Feststellung, dass die eigentliche Lehre, die aus Abu Ghraib hätte
gezogen werden sollen, nicht gelernt worden sei. So wird die Obama-Regierung als eine
Fortsetzung der Bush-Regierung gedeutet und wegen ihrer politischen Konzessionen auf
Kosten der Durchsetzung des Rechts scharf kritisiert. Mit der Wahl von Obamas zum
Präsidenten spielten die großen Fragen Amerikas bezüglich seiner kollektiver Identität und
der gemeinsamen Werte, zumindest im Krieg gegen den Terror, keine Rolle mehr. Es ging nur
noch um die politischen Details und Kompromisse – die Zeit fürs Grundsätzliche schien
zunächst einmal vorüber zu sein. Zwar waren in der liberalen Presse des Jahres 2009 in erster
858
„Don‘t punt on torture; Obama is uniquely positioned to restore America‘s moral standing on this issue. For
the victims, and for this nation, he must pursue possible crimes committed on his predecessor‘s watch“, USA
Today, 11. Februar 2009.
859
„Purification starts with the truth; Catholics. Lutherans. Muslims. Americans. We all need a moment of selfreflection to process our transgressions and move forward toward a better self. And this doesn‘t mean
dilution“, USA Today, 6. Juli 2009.
860
„The C.I.A. in Double Jeopardy“, The New York Times, 30. August 2009.
861
„The C.I.A. in Double Jeopardy“
627
Linie kritische Kommentare zu Obamas Umgang mit den Themen Abu Ghraib, Guantanamo
und Folter vorherrschend, allerdings handelte es sich dabei nur um vereinzelte Artikel. Daran
lässt sich die geringe Bedeutung ablesen, die diesen Themen nunmehr in der amerikanischen
Öffentlichkeit beigemessen wurde. Die Finanzkrise und ihre Folgen haben den Krieg gegen
den Terror von der Tagesordnung der politischen Öffentlichkeit abgelöst. So konnte kein
öffentlicher Druck auf die Regierung und die Sphäre der Politik aufgebaut werden. Dass die
Debatte um die Untersuchung der Bush-Administration in erster Linie innerhalb des liberalen
Lagers stattfand, verdeutlichen die Umfragewerte, die von O’Reilly referiert wurden:
The latest Rasmussen poll asked three simple questions. One, should Congress hold hearings to determine
if President Bush and members of his administration committed war crimes? 60 percent said no, 28
percent yes, 12 percent don't know. Two, are President Bush and senior members of the Bush
administration guilty of committing war crimes? 54 percent say no, 25 percent yes, 21 percent not sure.
And three, if President Bush and his administration are brought to trial for war crimes, would that be good
or bad for the United States? A whopping 70 percent say bad. Just 19% say good. 11 percent not sure.862
Wir sehen, dass mehr als die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung (also die Konservativen
plus ein größerer Teil der gesellschaftlichen Mitte) gegen eine Untersuchung waren und die
Bush-Regierung von dem Vorwurf der Kriegsverbrechen freisprachen. Nur ein Viertel war
davon überzeugt, dass die Bush-Administration Kriegsverbrechen zu verantworten habe und
deswegen zur Verantwortung gezogen werden solle.
10.5.3. Die unveröffentlichten Abu-Ghraib-Bilder und die Wiki-Leaks-Affäre
Am 13. Mai 2009 zog Obama seinen ursprünglichen Plan zurück, das bisher noch
zurückgehaltene Fotomaterial aus Abu Ghraib zu veröffentlichen. Er begründete seine
Entscheidung mit der Befürchtung, dass eine Veröffentlichung dieser Fotografien
antiamerikanische Ressentiments entfachen und dadurch die Sicherheit amerikanischer
Truppen gefährden könnte.863 Kritiker dieser Entscheidung sahen auch hier wieder eine
Fortsetzung der Politik der Bush-Ära.864 Unterstützung fand Obama diesmal nicht nur bei
John McCain,865 sondern auch bei dem Autor Philip Gourevitch, der seine kritische
Einstellung zur Politik der Bush-Administration durch einen Dokumentarfilm zu Abu Ghraib,
Standard Operating Procedure (10.2.3), bereits unter Beweis gestellt hatte: “Releasing
862
„Polling Bush Hatred“, O’Reilly Factor, Fox News Network, 27. Januar 2009.
863
„Images, The Law And War“, The New York Times, 17.Mai 2009.
864
„Obama Can’t Turn the Page on Bush“, The New York Times, 17. Mai 2009; siehe auch, ebenfalls in der New
York Times: „Photographs and Kangaroo Courts“, 17. Mai 2009, „Who Are We?“, 23. Juni 2009.
865
„McCain Backs Obama on Blocking Abuse Photos“, 15. Mai 2009, The New York Times on the Web
628
additional photographs would not be telling us anything that we don‘t already know“.866 Eine
mögliche Veröffentlichung des noch unveröffentlichten Materials wurde zwar noch unter
Demokraten und Liberalen diskutiert – sie drang aber nicht ins Zentrum der öffentlichen
Debatte vor. Dies kann man unter anderem daran ablesen, dass sich kein einziger Artikel der
USA Today dieses Themas annahm. Obama, der als Präsidentschaftskandidat für eine
größtmögliche Transparenz und – wie im übrigen auch McCain – für ein „media shield“, d.h.
für einen Schutz von Informanten, geworben hatte, vollzog mit seiner Präsidentschaft einen
Wandel. Die Staatsräson siegte immer wieder über das vermeintliche Recht der Öffentlichkeit
auf Information. Dies wird ebenfalls an Obamas Verhalten in der Wiki-Leaks-Affäre deutlich.
Auch wenn sie aus dem Zeitrahmen der hier unternommenen Diskursanalyse fällt (20042009), lässt sich ein abschließender Blick auf die Wiki-Leaks-Affäre mit ihrer
symptomatischen Bedeutung für die Obama-Präsidentschaft und die Spätfolgen des AbuGhraib-Skandals rechtfertigen.
Im Laufe des Jahres 2010 wurde das amerikanische Militär und die Obama-Administration
mehrmals von den Enthüllungen einer Webseite namens „Wikileaks“ heimgesucht. Diese
bietet potenziellen Informanten die anonyme Veröffentlichung geheimer Dokumente an. Den
ersten Coup landete Wikileaks mit einem Video, das aus der Bordperspektive eines
amerikanischen Kampfhubschraubers den „collateral murder“ an mehreren Zivilisten und
einem Reuters-Reporter zeigt.867 Was an dem Video verstört, ist nicht die dargestellte
Kampfhandlung. Verstörend wirkt vielmehr die Videospielästhetik der Aufnahme, das
Drängen der Hubschrauberbesatzung auf Freigabe der Ziele zum Abschuss, die wüsten
Beschimpfungen des Gegners und die unverhohlene Freude der Soldaten über erzielte Treffer.
Wie schon im Fall der Fotografien von Abu Ghraib stand auch hier weniger im Vordergrund,
was die Soldaten taten, als vielmehr, wie sie es taten. Die bloße Tötung von irakischen
Zivilisten hätte noch, beispielsweise mit Verweis auf die Unübersichtlichkeit des
Schlachtfeldes, als bedauerliches Versehen gerechtfertigt werden können. Das anstößige
Betragen der Soldaten wurde allerdings – ähnlich dem Grinsen der Soldaten auf einigen
Bildern aus Abu Ghraib (vgl. 7.2) – von der Öffentlichkeit für untragbar befunden und sorgte
dementsprechend für kollektive Empörung.
Angesichts der Loblieder, die Obama noch zu Zeiten des Wahlkampfes auf jene „whistle866
„The Abu Ghraib We Cannot See“, The New York Times, 24. Mai 2009.
867
Das Video ist auf folgender Seite zu sehen: http://www.collateralmurder.com; letzter Zugriff am 15.
September 2011.
629
blower“ und auf das Recht der Öffentlichkeit, umfassend informiert zu werden, angestimmt
hatte, hätte man davon ausgehen müssen, dass die Obama-Administration die Affäre nun mit
Nachsicht verfolge. Dies war aber mitnichten der Fall. So setzten die Obama-Administration
und das amerikanische Militär alles daran, die Quelle des Lecks ausfindig zu machen und
wurden schließlich auch fündig, da der Informant unvorsichtigerweise in einem Internetforum
mit seinen Enthüllungen geprahlt hatte. An Obamas Handeln zeigt sich, dass die Interessen
eines Akteurs zum Teil durch seine institutionellen Rollen mitbestimmt werden. Bis dato
lagen die Sympathien der Öffentlichkeit, natürlich weniger bei den Konservativen als bei den
Liberalen, noch bei Wikileaks. Die Hubschrauber-Affäre bildete jedoch nur den Auftakt zu
Enthüllungen ungeahnten Ausmaßes. Mit dem Afghan War Diary gelangte am 25. Juli 2010
eine Sammlung von zunächst 76.911 Dokumenten an die Öffentlichkeit, die in den folgenden
Wochen noch um mehrere tausend Dokumente erweitert wurde. Dabei kooperierte Wikileaks
mit der New York Times, dem Guardian und dem Spiegel, die vor der Veröffentlichung einen
exklusiven Zugang zu den Daten bekommen hatten und aus ihrer ein Bild der Lage zu
zeichnen versuchten. Nach dieser Enthüllung wurde der Sprecher von Wikileaks von
amerikanischen Behörden gesucht. Die Iraq War Logs folgten nur wenige Monate später mit
391.832 Feldberichten amerikanischer Soldaten, die ein düsteres Bild von der Besatzung des
Iraks zeichneten. Die War Logs, wie der Spiegel nicht ohne Bedauern feststellte, bargen zwar
keine neuen Erkenntnisse über hochsensible Ereignisse wie Abu Ghraib, aber enthielten
dennoch Informationen über Folter und Misshandlung von Gefangenen – nur diesmal durch
irakische Sicherheitskräfte. Im Zuge dieser beiden Enthüllungen geriet Wikileaks zunehmend
selbst in das Kreuzfeuer öffentlicher Kritik. So wurde der Plattform vorgeworfen, dass es mit
den Veröffentlichungen das Leben der in den Dokumenten genannten Informanten gefährde.
Trotz der ambivalenten Rolle von Wikileaks lässt sich festhalten, dass die Öffentlichkeit durch
den Abu-Ghraib-Skandal in einem hohem Maße für Normverstöße und deren Enthüllung
sensibilisiert wurde.
630
IV. Schlussbetrachtung
Die Behandlung in Moulay Yacoub ist die Rache für Abu Ghraib.
Oliver Stolle, Journalist, über den Besuch in einer
Wellness-Oase in Marokko, Neon (Dezember 2010)868
Das vorangestellte Zitat aus einem in einem bekannten deutschen Magazin erschienenen
Reisebericht demonstriert, dass „Abu Ghraib“ als ein Symbol des Missbrauchs und der Folter
auch in der deutschen Populärkultur und in deutschsprachigen Diskursen Verbreitung
gefunden hat. Abu Ghraib hat sich in unserem kulturellen Hintergrund festgesetzt und ist von
dort noch immer nicht verschwunden. Die vereinzelte Erwähnung von „Abu Ghraib“ bedarf
in dem Bericht keiner weiteren Erläuterung, sondern wird von dem Autor als ein allgemein
verbreitetes Hintergrundwissen vorausgesetzt – und seine Herausgeber teilten diese
Einschätzung offensichtlich. In derselben Weise sind auch die Bilder von Abu Ghraib zu
einem Teil unseres kulturellen Bildrepertoires geworden. Gerade die Ikone des Skandals
(7.1), aber auch die „menschliche Pyramide“ (7.2) oder Lynndie England mit dem angeleinten
Gefangenen (7.3.3) besitzen nach wie vor einen hohen Wiedererkennungswert. Wie im
siebten Kapitel gezeigt wurde verdankten die Bilder aus Abu Ghraib ihre öffentliche
Resonanz der kulturellen Bedeutung ihrer Bildelemente. Vor dem kulturellen Hintergrund der
jeweiligen Rezipienten generierten diese visuellen Elemente sowohl konsonante und vertraute
als auch dissonante und befremdliche Bedeutungen, wobei erst ihr Zusammenspiel den
unheimlichen und schockierenden Effekt der Bilder erklärt. Die Bilder von Abu Ghraib sind
nun ihrerseits wieder zu kulturellen Mustern geworden, die wiedererkannt und nachgeahmt
werden können. Sie sind in den kulturellen Hintergrund einer Weltgesellschaft eingegangen.
Auch wenn davon auszugehen ist, dass die kollektive Erinnerung an die Missbrauchsfälle
allmählich verblassen wird, werden die Bilder von Abu Ghraib in der Latenz kultureller
Muster überdauern und spätestens anlässlich des nächsten Folterskandals wieder aktualisiert
und dem interessierten Publikum in Erinnerung gerufen werden.
868
„Wellness-Oase. Zu viel Entspannung macht müde. Unser Autor suchte: die härteste Massage der Welt“, in:
Neon, Dezember 2010, 106-115. Die Metapher der Folter wird von dem Autor Oliver Stolle auch in
folgendem Vergleich bemüht: „Konnte man Saids Behandlung mit den wirkungsvollen, aber von einer
demokratischen Verfassung eingeschränkten Griffen etwa der deutschen Polizei vergleichen, bin ich jetzt in
einem jener Foltergefängnisse gelandet, deren Existenz die CIA so lange geleugnet hat“ (114).
631
1. Abu Ghraib als Zäsur
In der Einleitung haben wir zwei Hypothesen formuliert, die uns dabei helfen sollten, die
Wirkung des Abu-Ghraib-Skandals abzuschätzen. Die Minimalhypothese lautete: Der AbuGhraib-Skandal hat zu keinen nennenswerten Veränderungen geführt. Die Maximalhypothese
lautete: Bei dem Abu-Ghraib-Skandal handelt es sich um eine Zäsur, die gravierende
Umwälzungen zur Folge hatte. Als konkrete Messlatte für die Maximalhypothese bot sich der
11. September 2001 an, dessen Folgen unter dem Etikett „Krieg gegen den Terror“ behandelt
wurden (6.4). Hat die Enthüllung der Missbrauchsfälle von Abu Ghraib zu Effekten geführt,
die die durch den Krieg gegen den Terror ausgelösten Veränderungen zurücknahmen oder
diese sogar überkompensierten? Wird diese Frage bejaht, so ist der Maximalhypothese
zuzustimmen. Vor dem Hintergrund dieser beiden Thesen sollen nun die empirischen Erträge
dieser Arbeit noch einmal rekapituliert werden.
Es lässt sich schwerlich bestreiten, dass der Skandal für sich genommen schon eine
bemerkenswerte Konsequenz der Veröffentlichung der Abu-Ghraib-Bilder darstellt. Dass
gegen einige amerikanische Soldaten ein Verfahren wegen des Missbrauchs von Gefangenen
und unanständiger Akte eingeleitet worden war, war der amerikanischen Öffentlichkeit schon
vor der Veröffentlichung der Bilder bekannt. Aber erst die Enthüllung der Skandalfotografien
entfachte einen Sturm der Entrüstung, der alle anderen Ereignisse des Irakkrieges in den
Schatten stellte. Im achten Kapitel wurde gezeigt, dass der Skandal vier Wochen lang im
Zentrum der amerikanischen und weltweiten Öffentlichkeit stand, Leser und Intellektuelle zur
öffentlichen
Stellungnahme
motivierte,
amerikanische
Politiker
zu
öffentlichen
Entschuldigungen zwang, externe Untersuchungen nach sich zog sowie eine vergleichsweise
schnelle und harte Bestrafung der Schuldigen zur Folge hatte.
Trotz dieser beachtlichen Effekte muss konstatiert werden, dass der Skandal in seiner
frühen Phase im Jahr 2004 die Maximalhypothese nicht bestätigt hat. So hatte der
amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld trotz wiederholter Forderungen nicht
zurücktreten müssen, und sein direkter Vorgesetzter, George W. Bush, wurde ein halbes Jahr
nach Ausbruch des Skandals als Präsident der Vereinigten Staaten wiedergewählt. Die
Untersuchung hat gezeigt, dass einer frühen „Vollendung“ des Skandals vor allem zwei
Faktoren, ein eher struktureller sowie ein kontingenter, im Wege standen. Bei dem
strukturellen Faktor handelte es sich um den bevorstehenden Wahlkampf, der die
Öffentlichkeit polarisierte, eine parteiübergreifende Mobilisierung erschwerte und so eine
Fortführung des Skandals als profanen politischen Konflikt erscheinen ließ (8.5.3). Als
632
kontingenter Faktor lässt sich die Enthauptung des Amerikaners Nick Berg anführen, bei
welcher sich die Täter zur Legitimation ihres Gewaltaktes auf die Missbrauchsfälle von Abu
Ghraib beriefen (8.4.2). Die Veröffentlichung des Hinrichtungsvideos führte dazu, dass die
Missbrauchsfälle auf dem Höhepunkt des Skandals von einer Gräueltat des Feindes
überschattet wurden. Eine Bilanzierung der Konsequenzen des Skandals zum 31. Dezember
des Jahres 2004 hätte – gemessen an 9/11 – wohl eher für die Minimalhypothese gesprochen.
Ungeachtet der Tatsache, dass es sich beim Abu-Ghraib-Skandal um das Medienereignis des
Jahres 2004 handelte, waren seine institutionellen Konsequenzen in der frühen Phase des
Skandals vernachlässigbar – wenn man einmal von dem Verbot des „hooding“ durch die
Armee und der Niederlage der Regierung vor dem Supreme Court absieht (9.2.1). Zu diesem
Zeitpunkt war noch nicht zu ahnen, dass der Skandal einen langen Schatten auf die zweite
Amtszeit des Präsidenten werfen sollte.
In der mittleren Phase des Skandals, die im neunten Kapitel dieser Arbeit behandelt wurde
und die ersten beiden Jahre von Bushs zweiter Amtszeit umfasst, kam es zu einem
unerwarteten Comeback des Themas „Abu Ghraib“. Die geplante Ernennung von Alberto R.
Gonzales zum Justizminister, der sich als ein Verfasser umstrittener Memoranda beim
Präsidenten verdient und bei der Öffentlichkeit unbeliebt gemacht hatte, erwies sich im
Rückblick als folgeschwerer Fehler – auch wenn die Folgen dieser Entscheidung zum
damaligen Zeitpunkt kaum abzusehen waren (9.1.1). Die Anhörung des Kandidaten vor dem
amerikanischen Senat zeigt, dass der Skandal als soziales Drama eine öffentliche Bühne
braucht und in seinem Verlauf von kontingenten Performanzen und Ereignissen abhängig ist.
Das offene und relativ komplexe Modell des Skandals als einem sozialen Drama (5.3) erfährt
durch den Verlauf des Abu-Ghraib-Skandals eine empirische Bestätigung. Obwohl der
Präsident am Ende seinen Wunschkandidaten bekam, entpuppte sich dieser Erfolg bald als ein
Pyrrhussieg. Die Anhörung von Gonzales rückte den unvollendeten Skandal und die
umstrittenen Foltermemoranda nach Monaten der Abwesenheit wieder ins Licht der
Öffentlichkeit; sie weckte die Geister von Abu Ghraib, die im kulturellen Hintergrund der
Vereinigten Staaten überdauert hatten.
Die allgemeine Ablehnung von Bushs Kandidaten für den Posten des Justizministers legte
den Grundstein für das McCain-Amendment. Dessen parteiübergreifende Verabschiedung –
gegen den erklärten Willen des Präsidenten – bescherte Bush wohl die schwerste politische
Niederlage seiner Amtszeit (9.2). Die in dieser Arbeit durchgeführte Diskursanalyse hat
gezeigt, dass Abu Ghraib als Argument, Symbol und Hintergrund dieser Debatten einen
633
entscheidenden Einfluss ausübte. So handelte es sich bei diesem Skandal nicht um eine
hinreichende Bedingung für das McCain-Amendment – was auch eine theoretische
Widersinnigkeit wäre, da in dieser Arbeit von der Kontingenz und Offenheit sozialer Prozesse
ausgegangen wurde. Gleichwohl muss der Abu-Ghraib-Skandal als wesentliche Ursache, ja
als notwendige Bedingung des McCain-Amendments begriffen werden: Ohne den AbuGhraib-Skandal (und die Gonzales-Anhörung) hätte es das Amendment nie gegeben.
Vielmehr markiert das McCain-Amendment, das allgemeine Standards der Behandlung von
Häftlingen festlegte, eine deutliche Abkehr von der bisherigen Politik. Aufgrund dieser
politischen Vermittlung lässt sich der Abu-Ghraib-Skandal als eine Zäsur im Krieg gegen den
Terror begreifen, weswegen die Maximalhypothese in seiner mittleren Phase wieder an
Plausibilität gewinnt.
Die institutionellen Konsequenzen von Abu Ghraib blieben nicht auf den politischen und
militärischen Bereich beschränkt. So konnte unter anderem die Niederlage der
amerikanischen Regierung im Fall Rasul v. Bush (2004), wo es um die Rechte der Inhaftierten
auf Guantanamo gegangen war, auf den Einfluss des Skandals zurückgeführt werden (9.3.1).
Die Entscheidung des Supreme Courts, mit der vor der Veröffentlichung der Abu-GhraibBilder
niemand
gerechnet
hatte,
wurde
offensichtlich
unter
dem
Eindruck
der
Missbrauchsfälle von Abu Ghraib gefällt, ohne dass diese für den Fall juristisch relevant
gewesen wären. Die Befunde der Analyse stützen somit den kultursoziologischen Verdacht,
dass auch die Rechtsprechung unter dem Einfluss einer kollektiven Stimmung, eines
politischen Klimas, eines kulturellen Hintergrundes steht. Mehr noch: Rasul vs. Bush bildete
den Auftakt einer Serie von Niederlagen der Regierung vor dem höchsten Gericht der
Vereinigten Staaten, in deren Folge sich die Rechtsverhältnisse in Guantanamo sukzessive
„normalisierten“ – ohne dass freilich in Guantanamo jemals zivilrechtliche Standards erreicht
worden wären (9.2-3). Angesichts der rechtlichen Konsequenzen, die der Skandal von Abu
Ghraib für die Häftlinge in Guantanamo Bay hatte, muss die Minimalhypothese mit
Vehemenz zurückgewiesen werden, wobei auch die Maximalhypothese verfehlt wird. Zwar
wurde der rechtliche Ausnahmezustand im Krieg gegen den Terror, dessen Ausdruck die
Errichtung des Gefangenenlagers auf Kuba war, durch die Urteile des Verfassungsgerichts
und die öffentliche Meinung in seine Schranken gewiesen, doch blieb Guantanamo Bay – die
Verkörperung dieses Ausnahmezustands – trotz des parteiübergreifenden Willens, dieses
Lager zu schließen, bis zum heutigen Tag bestehen. Alles in allem muss dem Abu-Ghraib-
634
Skandal jedoch eine beachtliche Wirkung auf die Rechtsprechung und die politische Kultur
der Vereinigten Staaten attestiert werden.
Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangten wir auch in unserer Analyse des Folterdiskurses
(10.4). Es lässt sich nur schwerlich bestreiten, dass der Abu-Ghraib-Skandal zu einer
Kehrtwende in der neueren Folterdebatte geführt hat, die der 11. September 2001 entfacht
hatte. Wie bereits in der Interpretation der Skandalfotografien im siebten Kapitel gezeigt
wurde unterliefen die Bilder von Abu Ghraib die bis dato verbreitete Vorstellung von einer
ethisch und moralisch „sauberen“ Folterpraxis. Der heldenhafte Folterer, der nach 9/11 in
„Jack Bauer“ aus 24 (2001-2010) seine zeitgemäße popkulturelle Verkörperung besaß, fand in
der heldenhaften Pose der Soldaten von Abu Ghraib sein unreines Zerrbild (7.2). Dies zeigt
auch der Einfluss des Skandals auf die Populärkultur, der in dieser Arbeit – beispielsweise in
Form des öffentlichen Drucks, der die Macher von 24 schließlich zum Einlenken bewegte
(10.3) – ebenfalls nachgewiesen werden konnte. Auch wenn die Foltergegner eine Brücke
zwischen den verschärften Verhörmethoden der Bush-Regierung und den Missbrauchsfällen
in dem irakischen Gefängnis zu schlagen versuchten, konnte Abu Ghraib in der Folterdebatte
nur eingeschränkt als Argument verwendet werden, da es sich bei den abgebildeten Akten
nicht um eine staatlich autorisierte Anwendung von Gewalt gehandelt habe. So blieb den
Gegnern nur noch das Dammbruchargument, nämlich dass eine Aufweichung des
Folterverbortes zu Missbrauchsfällen wie in Abu Ghraib führe – was allerdings nicht die
Omnipräsenz von Abu Ghraib in dem kritischen Folterdiskurs zu erklären vermag. Es war
vielmehr die Wirkung von Abu Ghraib als einem Symbol – und nicht sein Nutzen als
Argument –, die für die Kehrtwende in der Folterdebatte verantwortlich war. Der theoretische
Rahmen, der im ersten Kapitel aufgespannt wurde, erlaubte es, die Wirkungen von Abu
Ghraib auf den kulturellen Hintergrund, der allem Handeln und Erleben zu Grunde liegt, in
den Blick zu bekommen und diese als durchaus folgenreich zu deuten. Die Enthüllungen von
Abu Ghraib unterliefen das gängige Ticking-Bomb-Narrativ, indem sie die gesellschaftliche
Imagination von Folter veränderten.
Dennoch führte diese Kehrtwende in der Folterdebatte nicht zu einer vollständigen
Restauration der moralischen Ordnung vor 9/11, für die eine apodiktische Ablehnung der
Folter charakteristisch war. Die hegemoniale Position, die sich im Folterdiskurs nach Abu
Ghraib etablierte, lehnte zwar eine rechtliche Institutionalisierung der Folter ab, hielt aber
zugleich an der moralischen Zulässigkeit von Folter in Ausnahmefällen fest (10.1.3). Das
Szenario eines terroristischen Anschlags, der sich durch rechtzeitiges Foltern verhindern
635
ließe, war vor dem 11. September 2001 nur eine abstrakte Möglichkeit – danach wurde es zu
einer Denknotwendigkeit. Auch wenn der Abu-Ghraib-Skandal die Büchse der Pandora, die
am 11. September 2001 geöffnet wurde, wieder schließen konnte – die Vorstellung des
Ticking-Bomb-Szenarios war bereits entwichen und ließ sich nicht mehr zurücknehmen. Sind
die Kräfte der gesellschaftlichen Imagination erst einmal entfesselt, kann man sich ihrer nicht
mehr so ohne Weiteres entledigen. Der Abu-Ghraib-Skandal stellt eine Zäsur und einen
Wendepunkt in der Folterdebatte dar – allerdings ohne die Maximalhypothese zu bestätigen.
2. Abu Ghraib als totales soziales Phänomen
In der amerikanischen Politik, in der amerikanischen Rechtsprechung und auch im
Folterdiskurs hat der Abu-Ghraib-Skandal beachtliche Wirkungen gezeitigt. Dies alleine
würde wohl kaum rechtfertigen, von Abu Ghraib als einem totalen sozialen Phänomen zu
sprechen. Allerdings konnte in dieser Arbeit auch gezeigt werden, dass der Abu-GhraibSkandal auch jenseits der politischen Öffentlichkeit und der Handlungssphären der Politik und
des Rechts in de unterschiedlichsten gesellschaftlichen Teilbereichen thematisiert wurde.
Es wurde gezeigt, dass Abu Ghraib, seine Bildmotive und seine politischen Implikationen
auf große Resonanz bei politischen Aktivisten, aber auch in der Theater- und Kunstszene
stießen (9.4). Nicht nur auf der Ebene der sogenannten „Hochkultur“ wurde Abu Ghraib zum
Thema
gemacht,
sondern
auch
auf
der
Ebene
der
Populärkultur
und
ihren
Unterhaltungsformaten (10.3). So änderte sich unter dem Einfluss des Abu-Ghraib-Skandals
die Darstellung von Folter in den fiktionalen Medien, was ein weiterer Beleg dafür ist, dass
die Bilder von Abu Ghraib die gesellschaftliche Imagination der Folter infizierten. Dies zeigte
sich unter anderem darin, dass fiktionale Inszenierungen von Folter auf das Vorbild Abu
Ghraib zurückgriffen und einzelne Bildmotive zitierten.
Dass das Thema Abu Ghraib in der Popkultur definitiv angekommen ist, wird in zahllosen
Details ersichtlich: an den Rolling Stones, die Lynndie England das Lied Dangerous Beauty
widmeten, an den Zitaten des Skandals in den Fernsehserien Simpsons und South Park, an
seiner Nachstellung mit Legofiguren in der Blogosphäre und nicht zuletzt an dem eingangs
zitierten Reisebericht – wobei sich diese Auflistung noch lange fortführen ließe. Die Bilder
aus Abu Ghraib, die durch das Prisma der öffentlichen Diskurse und Massenmedien
gebrochen wurden und von dort aus in die anderen Sphären der Gesellschaft hineinstrahlen
636
konnten, manifestierten sich in Bildern, Erzählungen und Performanzen. Vereinzelte Aspekte
des Skandals schlugen sich auch in der Wirtschaft, der Religion und der Erziehung nieder.869
Ein gesellschaftlicher Bereich, der bisher ausgeklammert wurde, sich aber durch die ganze
Arbeit zieht, ist die Rezeption des Skandals in der Wissenschaft, genauer: in den Sozial- und
Kulturwissenschaften. Dutzende von Sammelbandbeiträgen und Artikeln sind zu Abu Ghraib
erschienen, wobei die meisten von ihnen auch eine moralische und politische Motivation zu
erkennen geben. Während sich Sozialpsychologen und Soziologen fast ausschließlich mit der
sozialen Dynamik und institutionellen Rahmung von Gewalt und Erniedrigung in Abu Ghraib
beschäftigten, zogen es Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler vor, über die Skandalbilder
zu sprechen. Im Vergleich zu der Fülle an Literatur, die es zu den Missbrauchsfällen und den
Bildern gibt, sind Diskursanalysen zu dem Skandal faktisch nicht existent.870 In dieser
Hinsicht schließt diese Arbeit eine auffällige Lücke in der anderweitig durchaus beachtlichen
Forschungsliteratur zu diesem Thema. Monographien und Sammelbände zu Abu Ghraib sind
ebenfalls rar gesät, da sich die Auseinandersetzung mit Abu Ghraib dann doch meist auf eine
wissenschaftlich informierte Polemik, auf Nebenprojekte oder die Erprobung bewährter
Paradigmen beschränkte.
Die vorliegende Arbeit, die die Missbrauchsfälle, die Skandalbilder und den öffentlichen
Diskurs nicht nur in ihrer Bandbreite darzustellen, sondern auch miteinander zu verknüpfen
und aufeinander zu beziehen versuchte, stellt eine Ausnahme im wissenschaftlichen Diskurs
zu Abu Ghraib dar. Zugleich ist die vorliegende Arbeit aber auch selbst ein Symptom der
Wirkung des Skandals, ein Teil jener Resonanz, auf die er im wissenschaftlichen Diskurs
gestoßen ist; sie ist ein Teil, der ein Bild des diskursiven Ganzen zu zeichnen versucht, zu
dem sie selbst gehört; sie ist eine soziologische Erzählung, die die Entstehung, den Verlauf
und die Wirkungen des Skandals geschildert hat, eine wissenschaftliche Performanz, die
hoffentlich auf Resonanz stoßen wird.
In Anbetracht dieser Arbeit drängt sich der Verdacht auf, dass es sich bei „Abu Ghraib“
nicht nur um einen exemplarischen soziologischen Untersuchungsgegenstand handelt,
sondern gewissermaßen auch um ein „totales soziologisches Phänomen“, das heißt um einen
869
So wirkte sich der Skandal im Irak für die Branche der privaten Sicherheitsdienste wegen der
fragwürdigen Rolle, die private Söldner – sogenannte „contractor“ – in Abu Ghraib gespielt hatten,
geschäftsschädigend aus, vgl. „Stock Analysts Often Are Left in the Dark On Firms’ Activities“, The
Washington Post, 20. Mai 2004; für das Erziehungssystem siehe „Education after Abu Ghraib“ (Giroux
2004).
870
Vgl. die Diskussion der wenigen und größtenteils unbrauchbaren Ansätze am Anfang des achten Kapitels.
637
Kreuzungspunkt wesentlicher theoretischer Diskurse der letzten Jahre. In Abu Ghraib treffen
die disziplinären, aber auch transdisziplinären Debatten zur Zivilgesellschaft und zu
öffentlichen Diskursen, zum iconic turn und zum performative turn, zur Gewalt- und
Skandalforschung mit den normativ geladenen Debatten über Menschenwürde und
Menschenrechte in Zeiten des Krieges gegen den Terror aufeinander. Der Abu-GhraibSkandal als totales soziales Phänomen demonstriert, dass es sich bei öffentlichen Diskursen
um sogenannte „Interdiskurse“ handelt, die unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche
miteinander verzahnen können – wenn sie über hinreichend starke Symbole, in unserem Fall
die Bilder von Abu Ghraib, verfügen.871
Fast sechs Jahre nach dem Ausbruch des Skandals und fünf Jahre nach der oben gezogenen
Zwischenbilanz muss dem Skandal nun zum Ende des Untersuchungszeitraumes – dem 31.
Dezember 2009 – eine weitaus größere Wirkmächtigkeit zugesprochen werden, als dies die
frühe Phase des Skandals und seine unmittelbaren Konsequenzen noch nahegelegt haben. Das
soziale Drama kam mit der Wiederwahl von Bush nur zu einem vorläufigen Ende. Der soziale
Konflikt um die Deutung der Missbrauchsfälle schwelte im Hintergrund weiter und brach in
der Auseinandersetzung um die Nominierung von Gonzales und um die Verabschiedung des
McCain-Amendments wieder hervor (9.1-2). So hatte sich jenseits der Bush-Administration
ein neuer, parteiübergreifender politischer Konsens etablieren können, der schließlich in
jenem Bericht des Verteidigungsausschuss eine unübertroffene Verkörperung fand, in dem die
scheidende Regierung explizit in die Verantwortung für die Missbrauchsfälle genommen
wurde (10.1.3). Dieser Bericht markiert auch das vorläufige Ende des Abu-Ghraib-Skandals.
Mit dem Regierungswechsel bot sich zwar die Möglichkeit, den Skandal, insbesondere aber
die Beteiligung von hochrangigen Militärs und der Bush-Regierung an den Missbrauchsfällen,
noch einmal juristisch aufzurollen, doch Präsident Obama hatte seine Gründe, eine
Schließung des sozialen Dramas zu forcieren (10.5).
3. Abu Ghraib als ikonische Wendung im Krieg gegen den Terror
Wie wir gesehen haben reicht der Skandal in seinen Wirkungen nicht an jene des 11.
Septembers 2001 heran. Die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen jedoch, dass Abu Ghraib das
politische Programm des Krieges gegen den Terror in wesentlichen Punkten korrigierte. Auch
871
Der Begriff des „Interdiskurses“ stammt von Jürgen Link und Ursula Link-Heer (1990; vgl. auch Link
2006). Interdiskurse sind in der ganzen Gesellschaft verbreitet und vor allem in der Literatur und in den
Massenmedien zu finden. Sie müssen von den „Spezialdiskursen“ in den gesellschaftlichen Teilbereichen
unterschieden werden, fungieren aber auch gleichzeitig als Schnittstelle verschiedener Diskurse.
638
wenn der Abu-Ghraib-Skandal letztlich kein epochales Ereignis war, das – wie beispielsweise
der Zweite Weltkrieg, der Zusammenbruch des Ostblocks oder der 11. September 2001 – eine
neue historischen Epoche eingeleitet hätte, so stellt er doch einen – wenn nicht sogar den –
Wendepunkt innerhalb der kurzen Epoche des Krieges gegen den Terror dar. Wir können
„Abu Ghraib“ daher auch mit Fug und Recht als „Zäsur“, als die ikonische Wendung im
Krieg gegen den Terror bezeichnen. Die Veröffentlichung der Abu-Ghraib-Bilder am 28.
April 2004 markierte vielleicht nicht das Ende des Krieges gegen den Terror, aber sie war ein
Anfang – der Anfang vom Ende des Krieges gegen den Terror. Was das eigentliche Ende des
Krieges gegen den Terror anbelangt, so sind es vor allem drei Ereignisse, die den epochalen
Einschnitt nach 9/11 markieren: der Crash der Investmentbank Lehman Brothers am 15.
September 2008, mit der die globale Finanzkrise ihren Anfang nahm; die Wahl von Barack
Hussein Obama zum Präsidenten der Vereinigten Staaten am 4. November 2008; schließlich
der Tod Osama bin Ladens am 2. Mai 2011. Die Finanzkrise selbst stand in keiner direkten
Beziehung zum 11. September 2001, obgleich die drastische Senkung der Leitzinsen durch
die amerikanische Notenbank, die eine Rezession nach 9/11 verhindern sollte, maßgeblich an
der Entstehung der Blase auf dem amerikanischen Immobilienmarkt beteiligt war, deren
Platzen zur Finanzkrise führte. Der Crash von Lehman Brothers und die Finanzkrise stellen
deshalb eine Zäsur dar, weil die öffentlich wahrgenommene Gefahr, die von den entfesselten
und kollabierenden Finanzmärkten ausging, die Gefährdungen durch den Terrorismus, aber
auch das öffentliche Interesse am Kriegsverlauf in Afghanistan und im Irak, in den
Hintergrund drängte. Die Finanzkrise kann als Ende des „Krieges gegen den Terror“
bezeichnet werden, weil sie 9/11 und seine Folgen medial und politisch in den Schatten
stellte. Sie veränderte die kulturelle Rahmung der Weltpolitik, indem sie das Problem des
Terrorismus marginalisierte – freilich ohne dass sich an der grundsätzlichen Bedrohung durch
den Terrorismus etwas geändert hätte.
Die Präsidentschaftswahl 2008 war aufs Engste mit den Folgen des Abu-Ghraib-Skandals
verknüpft (10.1). John McCain, der sich als innerparteilicher Kritiker von Bush für die
republikanische Kandidatur qualifiziert hatte, und Barack Hussein Obama, dessen Name ihn
eigentlich schon als Kandidaten hätte disqualifizieren müssen, standen beide für einen Bruch
mit der Vorgängerregierung, die durch den Abu-Ghraib-Skandal und das militärische Desaster
im Irak zu einem unreinen Symbol geworden war. Mit der Wahl von Barack Obama
entschieden sich die Wähler für den radikaleren Bruch mit dem „unreinen Erbe“ der
Vorgängerregierung, aber auch für einen Kandidaten, dem noch am ehesten die Bewältigung
639
der Finanzkrise zugetraut wurde. Der Verlauf der Vorwahlen und das Ergebnis der Wahl am
4. November haben gezeigt, dass die Präsidentschaftswahl 2008 als ein Ende des Kriegs
gegen den Terror verstanden werden kann, da dieser im Wahlkampf nur eine untergeordnete
Rolle spielte und beide Kandidaten der Sicherheitspolitik der Bush-Administration eine (mehr
oder weniger) klare Absage erteilten. Präsident Bush, der als Repräsentant des
amerikanischen Volkes (und der „freien Welt“) dem Terrorismus den Krieg erklärt hatte,
verkörperte diese Epoche wie kein zweiter – vielleicht mit Ausnahme von Osama bin Laden.
Mit dem Regierungswechsel wurde der Begriff des „Global War on Terrorism“ aus dem
offiziellen Sprachgebrauch gestrichen, obgleich er aus dem öffentlichen Diskurs noch nicht
völlig verschwunden ist.
Weder die Finanzkrise an der „Wall Street“, die das benachbarte „Ground Zero“
überschattete, noch der Amtsantritt Obamas, der den amerikanischen Präsidenten und
„Hauptdarsteller“ dieser Epoche, George W. Bush, ablöste, konnten die Erzählung vom Krieg
gegen den Terror zu einem befriedigenden Abschluss bringen. Eine narrative Schließung fand
die Epoche erst mit der Tötung Osama bin Ladens, dem mutmaßlichen Drahtzieher hinter den
Anschlägen vom 11. September 2001. Zwei Tage nach diesem Ereignis stellte die New York
Times fest: “The killing of Osama bin Laden provoked a host of reactions from Americans:
celebration, triumph, relief, closure and renewed grief”.872 Wenn man einmal vom erneuten
Gedenken an 9/11 absieht, waren die kollektiven Gefühle, die die Amerikaner gegenüber der
Tötung von Osama bin Laden hegten – zumindest dem Artikel zufolge – durchweg positiver
Natur. Der erfolgreiche Militärschlag war für die Amerikaner ein Grund zu feiern – nicht
umsonst trafen Glückwünsche aus aller Welt bei den Amerikanern und ihrem Präsidenten
ein.873 Mit dem Tod des Antagonisten, der zugleich einen heldenhaften Triumph für die
Amerikaner darstellte, fand die Erzählung vom Krieg gegen den Terror dann doch noch ein
glückliches und stimmiges Ende.
Nach bin Ladens Tod kam es im zivilgesellschaftlichen Diskurs der Vereinigten Staaten zu
einem kurzen Wiederaufflackern der Folterdebatte, was einen zentralen Punkt dieser Arbeit
berührt. War die Wirkung von Abu Ghraib auf den Folterdiskurs doch nicht so tiefgreifend
und nachhaltig, wie es zunächst den Anschein hatte? Präsident Obama führte die erfolgreiche
Aufspürung von Osama bin Laden auf die Geheimdiensttätigkeit während seiner
872
„The Torture Apologists“, New York Times, 4. Mai 2011.
873
Angela Merkels freudige Reaktion auf die Nachricht wurde in Deutschland zu einem kleinen Skandal, der
eine Debatte darüber entfachte, ob man sich überhaupt über die Tötung eines Menschen freuen dürfe.
640
Administration und die Unterstützung durch Informanten zurück. Auf dem rechten Flügel der
Republikaner gab es allerdings Stimmen, die behaupteten, dass entscheidende Informationen,
die nach Jahren zum Aufenthaltsort von bin Laden geführt hatten, den „harsh interrogation
techniques“ der Bush-Regierung zu verdanken waren. Dabei hatten sie allerdings nur mäßigen
Erfolg. Ihre Mutmaßungen schienen zum einen auf reiner Spekulation zu beruhen, zum
anderen liefen sie auch dem neuen gesellschaftlichen Konsens nach Abu Ghraib zuwider –
weswegen sie in der Öffentlichkeit auf wenig Resonanz stießen.874 Das Narrativ war nicht
plausibel genug, um sich vor dem Hintergrund von Abu Ghraib behaupten zu können. Der
republikanische Abgeordnete Robert T. King, der von der Wirksamkeit der verschärften
Verhörmethoden unter Bush überzeugt war, äußerte sich gegenüber dem Wall Street Journal
folgendermaßen: „The limits should be relaxed but, unfortunately, I believe it‘s a closed
chapter“.875 Damit sollte er, bis auf Weiteres, Recht behalten. Die Tötung von Osama bin
Laden ermöglichte so eine narrative Schließung des Krieges gegen den Terror und führte
nicht zu einer Abkehr von dem nach Abu Ghraib beschrittenen Weg in der Folterdebatte.
Damit besitzt eine zentrale These dieser Arbeit, nämlich dass der Abu-Ghraib-Skandal zu
einem nachhaltigen und tiefgreifenden Wandel im Folterdiskurs geführt hat, nach wie vor ihre
Gültigkeit.
4. Theoretische Implikationen – Plädoyer für eine starke Kultursoziologie
Der kultursoziologische Ansatz hat sich in dieser Arbeit als außerordentlich fruchtbar
erwiesen. So konnte gezeigt werden, dass nicht nur die Interessen einzelner Akteure für die
Entstehung und den Verlauf des Skandals maßgeblich waren, sondern das öffentliche
Interesse bzw. die kollektiven Emotionen, die sich vor dem kulturellen Hintergrund der
amerikanischen Gesellschaft bilden konnten. Aber auch das (rationale) Handeln einzelner
Akteure kann nicht losgelöst von bestimmten kulturellen Narrativen verstanden werden. Dies
gilt für die Politiker und Journalisten, die nach dem 11. September 2001 eine Aufweichung
des Folterverbotes befürworteten, aber auch für die Täter von Abu Ghraib, die sich nach 9/11
freiwillig zur Armee meldeten und ihre Tätigkeit im Irak als ihren individuellen Beitrag im
Krieg gegen den Terror begriffen. Gerade der Wandel vom moralischen Tabu zum
874
Dass bloße Mutmaßungen in einem anderen politischen Klima durchaus ausreichen können, um
öffentliche Zustimmung zu gewinnen, zeigte nicht zuletzt der Irakkrieg von 2003, der über die
berüchtigten „weapons of mass destruction” legitimiert worden war, die niemals gefunden wurden (6.5).
875
„Debate rekindled on Guantanamo“, Wall Street Journal, 4. Mai 2011.
641
ökonomische Kalkül der Folter, der dem Aufstieg des Ticking-Bomb-Narrativs geschuldet ist,
zeigt, dass die kulturelle Rahmung des Handelns seiner Rationalität vorausgeht.
An einer handlungstheoretischen Mikrofundierung von makrosoziologischen Phänomenen
führt kein Weg vorbei – ansonsten lässt sich die Logik und Wirksamkeit von diskursiven
Strukturen und kulturellen Mustern nur schwer verständlich machen. Im Rahmen der hier
vorgeschlagenen Konzeption des „kulturellen Hintergrundes“ lässt sich Kultur in den
vorbewussten, mentalen Strukturen konkreter Akteure verorten. Sie lag dem Handeln der
Wärter in Abu Ghraib, der diskursiven Praxis der Journalisten, den Performanzen politischer
Akteure und den Reaktionen des amerikanischen Publikums gleichermaßen zu Grunde. Der
im ersten Kapitel unternommene Versuch einer Rückbindung der Kultursoziologie an eine
angemessene soziologische Handlungstheorie kann allerdings nicht mehr als ein Anfang sein:
Die handlungstheoretische Fundierung der Kultursoziologie ist weiter voranzureiben; die
Kategorie der Kultur muss differenziert, der Begriffsapparat geschärft und die Methoden
weiterentwickelt werden. Vor allem der Begriff des „kulturellen Hintergrundes“ bedarf
weiterer Unterscheidungen und Spezifizierungen,876 aber auch einer stärkeren Anbindung an
die kognitionswissenschaftliche und psychologische Forschung.
Die empirische Fallstudie hat gezeigt, dass die Annahme eines kulturellen Hintergrundes dem
kausalen Einfluss von Kultur sehr wohl Rechnung zu tragen vermag – wenngleich Kausalität
weder als deterministisches Verhältnis von einer Ursache und einer Wirkung noch als
deduktiv-nomologischer Zusammenhang gedeutet werden darf.877 Die Konzeption des
kulturellen Hintergrundes als einem komplementären Verhältnis von symbolischer Ordnung
und sozialem Imaginären hat sich in der Analyse des Abu-Ghraib-Skandals ebenfalls bewährt.
Während die symbolische Ordnung eine Art „Gerüst“ darstellt, an dem sich das Handeln des
Einzelnen orientiert, ist das diffuse soziale Imaginäre die eigentliche „Quelle“ aller
Bedeutung. Die symbolischen Ordnungen und Zeichensysteme beruhen auf dem Magma des
sozialen Imaginären. Die Signifikanten treiben auf dem imaginären Bedeutungssubstrat,
876
So könnte es hilfreich sein, zwischen verschiedenen Ebenen des kulturellen Hintergrundes zu
unterscheiden, die sich durch zunehmende Distanz vom intentionalen Bewusstsein auszeichnen: Der
kognitive und normative Hintergrund, so könnte man argumentieren, beruht im Wesentlichen auf
sedimentierten intentionalen Akten; der emotionale Hintergrund der „Stimmungen“ ist hingegen vor
allem körperlicher Natur, während der evaluative Hintergrund der „Werte“ eine Extrapolation von
ideellen Handlungsorientierungen darstellt.
877
Eine deduktiv-nomologische Konzeption kausaler Erklärungen wurde beispielsweise von Karl R. Popper
(1982: 31f.) vertreten. Die gegenwärtige Debatte zu sozialen Mechanismen zeigt, dass von einem solchen
Kausalitätsverständnis inzwischen Abstand genommen wird. Zur Kritik am deduktiv-nomologischen
Modell vgl. auch Philip Gorski (2004).
642
wechseln ihre Bedeutungen, bevor sie wieder von jener amorphen Masse verschlungen
werden. Das beste Indiz für die Eigenständigkeit des Imaginären und das Driften der Symbole
ist in dieser Arbeit wohl der Begriff der „Folter“. Dieser erfuhr erst nach dem 11. September
2001 (6.4) und dann noch einmal infolge des Abu-Ghraib-Skandals einen grundlegenden
Bedeutungswandel (10.4). Solange Folter noch mit dem Ticking-Bomb-Narrativ und
medizinisch kontrollierten Praktiken assoziiert werden konnte, konnte sie in bestimmten
Fällen als „geboten“ erscheinen. Die Performanzen und Bilder von Abu Ghraib setzten sich
jedoch an die Stelle des fiktiven Ticking-Bomb-Narrativs und führten so zu einer grotesken
Imagination der Folter (7.5.3), die den Begriff nachhaltig verschmutzte.
Die im zweiten Kapitel dieser Arbeit diskutierten Formen der kulturellen Repräsentation –
das Bild, die Erzählung und die Performanz – sind in den letzten zwanzig Jahren zunehmend
in das Interesse kultursoziologischer Forschungen gerückt.878 Aber auch hier ist noch viel zu
tun. Die Kultursoziologie kann, wie diese Arbeit gezeigt hat, von der Auseinandersetzung mit
den jeweiligen Disziplinen – mit der Kunstgeschichte und der Bildwissenschaft, mit der
Literaturwissenschaft
und
der
Narratologie,
mit
der
Anthropologie
und
der
Theaterwissenschaft – etwa durch die Aneignung neuer Begriffe und Methoden durchaus
profitieren. Dies bedeutet nicht zuletzt: Sie muss ihre eigenen Fragestellungen und den
gewählten theoretischen Rahmen jeweils neu anpassen. Es würde sich weiterhin lohnen, der
wechselseitigen Interdependenz von elementaren Formen der kulturellen Repräsentation eine
stärkere Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen: Jede Performanz besitzt auch ikonische und
narrative Elemente; der Akt des Erzählens ist selbst eine Performanz, die beim Zuhörer oder
Leser mentale Bilder evoziert; Bilder können Geschichten erzählen und zeichnen sich
ebenfalls durch Performativität aus.879 Aufgabe einer künftigen Kultursoziologie wäre es, die
Vielfalt dieser Formen der Repräsentation zu erfassen und ihren inneren Zusammenhang
aufzuzeigen.
Die in dieser Arbeit deutlich zu Tage getretene Bedeutung des Visuellen und Emotionalen
für zivilgesellschaftliche Diskurse sollte Soziologen zu denken geben. Öffentliche Diskurse
sind eben nicht so „kühl“ und „rational“ wie jene vermeintlich „herrschaftsfreien“ Diskurse
878
Vgl. vor allem die Arbeiten von Bernhard Giesen (2004b, 2010) und die zusammen mit Jeffrey C.
Alexander und seinen Schülern herausgegebenen Sammelbände (2006; 2012).
879
Ansätze hierzu finden sich vor allem bezüglich des Verhältnisses von „Bild“ und „Performanz.“ So ist in
der neueren Bildwissenschaft beispielsweise von der „visual performance“ der Bilder (Burri 2008a: 349),
dem „Bildakt“ (Bredekamp 2010) und der „Ikonologie des Performativen“ die Rede (Wulf & Zirfas
2005). Ähnliche Untersuchungen zum Verhältnis von Narration und Bild bzw. Performanz stehen noch
aus.
643
des Jürgen Habermas, sondern werden von Affekten, Symbolen und polarisierenden binären
Codes getrieben.880 Erst die Fotografien von Abu Ghraib gaben den abstrakten
Anschuldigungen eine konkrete, Anstoß erregende Form, die es vermochte, Abscheu und Wut
im Betrachter zu wecken. Diese Bilder waren nicht nur ein Beweis für die Taten der Soldaten,
sondern zugleich auch kulturell codiert und mit Bedeutungen aufgeladen. Nur deswegen
waren die Fotografien der Missbrauchsfälle in der Lage, einen Skandal auszulösen, der Abu
Ghraib zu einem symbolisch verunreinigten Symbol werden ließ, das auch noch nach Jahren
nur wenig von seiner Wirksamkeit verloren hat. Ohne ein strong program der
Kultursoziologie,881 das der Autonomie und Kausalität kultureller Faktoren Rechnung trägt,
lassen sich bestimmte Phänomene der Gegenwartsgesellschaft – wie eben etwa der AbuGhraib-Skandal – nicht begreifen.
5. Ausblick – Kultursoziologische Perspektiven auf die Finanz- und Wirtschaftskrise
Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit stützen den Befund, dass die Risiken
gesellschaftlichen Handelns, seine unintendierten und kaum antizipierbaren Folgen,
gegenüber scheinbar „objektiven“ Gefahren an Bedeutung gewonnen haben.882 Für sich
genommen stellen terroristische Anschläge – wie jene vom 11. September 2001 – keine
ernsthafte Gefahr für die Vereinigten Staaten als Nation dar. Die verheerende Wirkung des
Terrorismus liegt vielmehr darin, Angst und Schrecken zu verbreiten. 9/11 war in erster Linie
ein Anschlag auf den kulturellen Hintergrund und das soziale Imaginäre einer Gesellschaft.
Nicht die brute facts, sondern die für die Akteure „real existierenden“ Bedeutungen sind für
die Erklärung menschlichen Handelns und historischer Prozesse von entscheidender
Bedeutung. Und diese Definition der Situation setzt einen vorintentionalen Hintergrund
880
Der Begriff der „Rationalität“ gehört weniger in die Werkzeugkiste des Soziologen als in seinen
Gegenstandsbereich. Sowohl in seiner normativ-kontrafaktischen Begriffsfassung in vielen Theorien der
Öffentlichkeit als auch in seiner empirisch-tautologischen Verwendung in den Theorien der rationalen
Wahl stellt der Begriff der „Rationalität“ eine Blackbox dar, die es mit dem Schlüssel der
Kultursoziologie zu öffnen gilt.
881
Der Begriff des „strong program” wurde erstmals von David Bloor (1976) zur Charakterisierung seines
Ansatzes in der Wissens- und Wissenschaftssoziologie verwendet, und später von Jeffrey C. Alexander
und Philip Smith (2001) in die Kultursoziologie importiert.
882
Diesen Wandel von Gefahren zu Risiken hat neben Luhmann (2003) vor allem Ulrich Beck (1992, 2008)
in seinen Arbeiten zur reflexiven Modernisierung konstatiert. Allerdings wurde Beck von
kultursoziologischer Seite vorgeworfen, dass er diese Risiken wiederum in unzulässiger Weise
objektiviere, ohne der kulturellen Rahmung von Risiken in ausreichendem Maße Rechnung zu tragen
(Alexander & Smith 1996).
644
voraus.883 Die kollektive Reaktion auf einen solchen Anschlag birgt ihre eigenen Risiken, die
die Gefährdungen durch den Terrorismus überwiegen können. Die Reaktion der Vereinigten
Staaten auf den 11. September 2001, der Krieg gegen den Terror, brachte große Risiken mit
sich – in militärischer, ökonomischer, aber auch in moralischer Hinsicht. Besonders deutlich
wurde dieses Risiko in der Verwahrung von Gefangenen im Krieg gegen den Terror und in
der Folterfrage. Die Reaktion auf die Terroranschläge drohte für viele Beobachter das
amerikanische Rechts- und Wertesystem zu unterminieren.
Ähnliches gilt auch für die ökonomischen Konsequenzen des Krieges gegen den Terror,
die sich unter rationalen Gesichtspunkten kaum mehr rechtfertigen lassen. Die Kosten für die
„homeland security“ sowie für die Kriege in Afghanistan und im Irak übertreffen den
ökonomischen Schaden von 9/11 um ein Vielfaches. Ob diese Kosten jemals durch
ökonomische Vorteile an den Kriegen, beispielsweise durch die Erschließung knapper
Rohstoffe für amerikanische Firmen, wieder eingespielt werden können, ist fraglich. Es wurde
bereits darauf hingewiesen, dass die Geldmarktpolitik der amerikanischen Notenbank unter
Alan Greenspan, die einer Rezession nach den Anschlägen hatte Einhalt gebieten sollen,
maßgeblich zur Entstehung der Immobilienblase beigetragen hat, deren Platzen wiederum die
Finanzkrise ausgelöst hatte. Die Steuersenkungen der Bush-Regierung, die nach 9/11 den
Binnenkonsum stärken sollten, aber auch die Mehrausgaben durch die Kriege in Afghanistan
und im Irak, trugen zu steigenden Defiziten im amerikanischen Staatshaushalt bei, die die
Krise der Finanzmärkte in eine Haushaltskrise überführten.
Der Krieg gegen den Terror hat sein vorläufiges Ende gefunden und wir sind in eine
neue geschichtliche Epoche eingetreten, in welcher der öffentliche Diskurs nicht mehr von der
Bedrohung durch den Terrorismus, sondern durch Wirtschaftskrisen geprägt ist. Auch hier
eröffnen sich aber neue Arbeitsfelder für eine Kultursoziologie. So müssen gerade die neueren
Finanz- und Währungskrisen auch als Phänomene begriffen werden, die diskursiv erzeugt
werden, aber dennoch reale Wirkungen zeitigen. Symbolische Codes und das soziale
Imaginäre strukturieren auch diese Diskurse. Metaphern wie die „sparsame Hausfrau“
entbehren zwar in ihrer Anwendung auf makroökonomische Zusammenhänge jeglicher
Plausibilität, werden aber dennoch in öffentlichen Diskursen eingesetzt, um für bestimmte
883
Man versuche einmal, eine Situation wider besseren Wissens als „real“ zu definieren. Dies ist nicht ohne
Weiteres möglich. Das hat schon Pascal in seiner berühmten Wette auf die Existenz Gottes erkannt. Die
Einsicht in die Nützlichkeit des Glaubens an die Existenz Gottes führt noch nicht zum Glauben selbst.
Pascal schlägt deswegen eine Veränderung des kulturellen Hintergrundes durch eine Nachahmung der
religiösen Praxis vor: regelmäßigen Gottesdienstbesuch, Gebete etc.
645
Positionen Zustimmung zu gewinnen. Der Verlauf ökonomischer und politischer Krisen hängt
keinesfalls nur von „harten“ Faktoren ab, sondern auch in erheblichem Maße von ihrer
kulturellen Rahmung. Daran ließen sich auch Überlegungen anknüpfen, inwieweit ein
traumatisches Ereignis wie die Hyperinflation in den zwanziger Jahren heute noch als
verantwortlich für die restriktive Geldpolitik der Bundesregierung bezeichnet werden könnte.
Gerade die Komplexität der modernen Wirtschaftspolitik und Finanzwirtschaft begünstigt
eine Moralisierung der diesbezüglichen Diskurse. Moral dient hierbei als ein Mechanismus
zur „Reduktion von Komplexität“ (Luhmann). Dies zeigt nicht nur die Suche nach
Sündenböcken, die vorzugsweise in den „gierigen Bankern“ ausgemacht werden. In dem
Maße, wie wirtschaftspolitische Fragen unentscheidbar werden, weil von Ökonomen
gegensätzliche Mechanismen und Theorien in Anschlag gebracht werden, wird den
moralischen Argumenten in der öffentlichen Debatte ein immer höherer Wert beigemessen.
Wo zwei Experten sich streiten, freut sich die Öffentlichkeit. Der Erfolg eines Rettungsplans
für eine darbende Volkswirtschaft mag ungewiss sein; wer sich aber gegen eine Übernahme
„fremder Schulden“ ausspricht oder die „europäische Solidarität“ beschwört, der weiß sich
wenigstens moralisch auf der richtigen Seite. Die Wirtschaft der Gesellschaft ist zu wichtig,
um sie den Ökonomen zu überlassen. Gerade ein kultursoziologischer Zugang zur Wirtschaft
verspricht Einsichten, die den Horizont einer klassischen Wirtschaftstheorie übersteigen. Eine
kultursoziologische
Rekonstruktion
wirtschaftlicher
Krisen,
insbesondere
aber
der
Wechselwirkung von öffentlicher Meinung, politischen Maßnahmen und wirtschaftlicher
Entwicklung, dürfte uns sehr viel darüber verraten, in was für einer Gesellschaft wir
eigentlich leben. Mit Prognosen oder praktischen Handlungsanweisungen sollte sich die
Kultursoziologie allerdings zurückhalten. Es ist nicht zu erwarten, dass sich die Eigenlogik
und Kontingenz komplexer Prozesse irgendwann sozialtechnologisch einhegen oder gar
aufheben lässt.
Die Einheit der Währungsunion wie auch der Europäischen Union wird nicht zuletzt davon
abhängen, mit welchen Narrativen und Metaphern im öffentlichen Diskurs gearbeitet wird
und auf welche Resonanz diese in den europäischen Teilöffentlichkeiten stoßen. Die
Kultursoziologie kann beispielsweise versuchen, die Bedeutung und Logik von Symbolen,
Bildern, Narrativen und Performanzen in der Europa-Debatte herauszuarbeiten. Das
wissenschaftliche Wissen, das eine solche Untersuchung zu Tage fördert, ist weltanschaulich
neutral. Dieses Wissen könnten sich Europa-Unterstützer wie auch Europa-Skeptiker zu
Nutze machen. Ein wenig „kulturalistisches Selbstbewusstsein“ dürfte der Debatte um Europa
646
guttun und würde vielleicht auch auf längere Sicht das Projekt „Europa“ von seinem
technokratischen Image befreien. Der jüngste Beitrag von Jürgen Habermas zu dieser Debatte
gibt Anlass zur Hoffnung, dass sich zumindest bei ihm eine späte kulturalistische Wende
abzeichnen könnte.884
Ein strong program der Kultursoziologie, wie es von Jeffrey C. Alexander und Philip
Smith vorgeschlagen wurde, ist – wie nicht zuletzt die vorliegende Arbeit zeigt – für ein
angemessenes Verständnis unserer Gegenwartsgesellschaften schlichtweg unverzichtbar. Die
Kultursoziologie als soziologisches Paradigma kann, insbesondere in Deutschland, auf eine
lange Tradition zurückblicken, aber die gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen
deuten darauf hin, dass ihre Zeit gerade erst begonnen hat. In der postindustriellen
Gesellschaft gewinnen die „means of symbolic production“ (Alexander) gegenüber den
klassischen Produktionsmitteln immer mehr an Bedeutung – und das in allen Bereichen der
Gesellschaft. Modernes Marketing ist angewandte Kultursoziologie, ebenso wie der Einsatz
von „spin doctors“ in amerikanischen Wahlkämpfen. Die gegenwärtige Gesellschaft bietet ein
weites Betätigungsfeld für Kultursoziologen – auch wenn es in der kultursoziologischen
Theorie noch einige wichtige Baustellen gibt. Dies sollte uns aber nicht abschrecken, sondern
als Ansporn dienen: Cultural sociology is now!
884
So bezeichnet Habermas seinen eigenen Vorschlag, der sich als eine Alternative zur Vorstellung eines
europäischen Demos begreift, als eine „Erzählung von der zivilisierenden Kraft der demokratischen
Verrechtlichung über nationale Grenzen hinaus“ (2011: 82). Es ist bemerkenswert, dass sich der Denker
des herrschaftsfreien Diskurses nicht mehr alleine auf den „zwanglosen Zwang“ des besseren Arguments
verlässt, sondern sich um erzählerische Plausibilität bemüht.
647
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