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Wiedergeburt des Bernsteinwunders

Technik
Wiedergeburt des Bernsteinwunders

Das verschwundene Bernsteinzimmer von St. Petersburg galt vielen als achtes Weltwunder. Nicht weniger Bewunderung verdient seine Rekonstruktion. Schreinermeister Johannes Meyer aus Waging hat den Handwerkern beim Umgang mit dem schwierigen Material zugesehen.

Der Sommerpalast der Zaren in Zarskoje Selo ist seit der 300-Jahr-Feier von St. Petersburg vor gut einem Jahr die Heimat des rekonstruierten Bernsteinzimmers – vorläufiger Endpunkt einer bewegten Geschichte, die 1701 in Berlin begann. Damals wurde die kostbare Wandtäfelung aus Baltischem Bernstein für das Schloss Charlottenburg geschaffen. Dort bewunderte sie später Zar Peter der Große – mit Erfolg: 1716 schenkte ihm Preußenkönig Friedrich Wilhelm I das barocke Prunkzimmer, zur Pflege der nachbarlichen Beziehungen …

Es dauerte, bis die Bernsteintafeln in Russland einen festen Platz erhielten. Zarin Elisabeth ließ sie 1755 in ihren neuen Sommerpalast in Zarskoje Selo bei St. Petersburg einbauen. 1763 verlieh Katharina die Große dem Bernsteinzimmer sein endgültiges Aussehen. Danach war es fast 200 Jahre lang das Schmuckstück des Schlosses.
1941 demontierten deutsche Soldaten den kostbaren Wandbelag und schafften ihn als Kriegsbeute nach Königsberg, wo er zwei Jahre lang im Stadtschloss ausgestellt war. Seit Kriegsende ist er verschwunden. Wilde Spekulationen ranken sich um seinen Verbleib. Wenige Teile sind inzwischen wieder aufgetaucht, nach dem Rest wird gesucht.
In den Siebziger Jahren fiel der Beschluss, das Bernsteinzimmer zu rekonstruieren – Startschuss für eine wahre Sisyphusarbeit. Als Anhaltspunkte für die Restauratoren gab es gerade mal ein einziges Farbbild, ein paar Schwarzweißfotos, Skizzen und Pläne. Aus den Abbildungen wurden dreidimensionale Daten errechnet und in ein komplettes Computermodell umgewandelt.
Das Bernsteinzimmer besteht aus einer halben Million Bernsteinplättchen. Bernstein ist ein fossiles Harz. Das Material des alten Bernsteinzimmers stammte aus der Gegend von Königsberg und war 50 Millionen Jahre alt. Bei der Rekonstruktion wurde ausschließlich Material aus diesem Raum verwendet.
Jedes Bernsteinplättchen musste in Handarbeit nach dem Original gefertigt werden. Das Rohmaterial wurde mit einer Trennscheibe geschnitten und mit der Dekupiersäge in die gewünschte Form gebracht. Es ließ sich gut mit normalen Bohrwerkzeugen bearbeiten. In der Bernsteinwerkstätte verwendete man auch Zahnarztwerkzeuge mit Bohr- und Fräsaufsatz. Nachgearbeitet und geglättet wurde mit Feile und Schleifpapier. Zum Schluss brachte man die Plättchen mit Polierscheiben auf Hochglanz. Bernstein lässt sich auch wunderbar schnitzen. So können Kerbschnitzereien erzeugt, aber auch plastische Figuren geschaffen werden.
Das Farbspektrum des Bernsteinzimmers reicht von flammend roten bis zu zitronengelben Tönen. Für jedes einzelne Plättchen musste man die richtige Farbe ermitteln. Dazu wurde eine Methode entwickelt, mit der sich aus den Graustufen der Schwarzweißfotos die Farbstufe ablesen lässt. Um bestimmte Farbeffekte zu erreichen, hinterlegte man den Bernstein z. B. mit farbigen Papieren, oder man behandelte ihn nach alten Rezepten und erhitzte ihn z. B. in Honig. Solche Verfahren mussten die Restauratoren erst wieder mühsam aufspüren und erlernen.
Einst wurden die fertigen Plättchen auf Holzträger aufgeleimt. Dabei galt es, das unterschiedliche Schwundverhalten von Harz und Holz zu beachten. Häufig fielen Plättchen herunter. Mehrere Bernsteinschnitzer waren nur damit beschäftigt, abgefallene Plättchen anzukleben – nach einer streng geheimen Rezeptur. Bei der modernen Rekonstruktion dienten als Trägermaterial Multiplexplatten, mit denen eine hohe Stabilität erreicht wird.
Man ahnt den riesigen finanziellen Aufwand, den die Neuschaffung des Bernsteinzimmers erforderte. Teuer war neben den Arbeitskräften – hochkarätigen Spezialisten – vor allem das Material: Ein Kilogramm Bernstein kostet rund 400 Euro, und der Gesamtbedarf lag bei sechs Tonnen. 1997 drohte das Projekt an Geldmangel zu scheitern. Zum Retter in der Not wurde ausgerechnet die deutsche Ruhrgas AG, die durch das Erdgasgeschäft enge Beziehungen nach Russland unterhält: Mit einer Spende von 3,5 Millionen US-Dollar brachte der Energieriese 1999 die unterbrochenen Arbeiten wieder in Schwung. In den Bernsteinwerkstätten waren jetzt bis zu 50 Handwerker beschäftigt.
Und so gelang, was zeitweilig keiner mehr erhofft hatte: Rechtzeitig zum 300. Geburtstag von St. Petersburg war das Wunderwerk vollendet: Am 31. Mai 2003 öffneten Präsident Putin und Kanzler Schröder der Öffentlichkeit die Türen zum Blick auf die kostbare, 55 m2 große Wandtäfelung. Die Rekonstruktion ist ein schönes Zeugnis russisch-deutscher Zusammenarbeit, vor allem aber ein Triumph zielstrebiger Restauratoren und einfallsreicher Handwerker.
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