Der Najadenbrunnen im Schloss Schönbrunn in Wien: "Ich kletterte über die Mauer, zog mich aus und schwamm."

Illustration: Max Müller

Am 5. Oktober vor 30 Jahren kam der junge Tex Rubinowitz morgens in Wien an, an "einem Dienstag", wie er schreibt, "um mich an der Hochschule für angewandte Kunst bei Professor Oswald Oberhuber als Student zu bewerben, als einer von 150, und als einer von fünf wurde ich sogar aufgenommen."

Foto: Tex Rubinowitz

Tex Rubinowitz, geboren 1961 in Hannover, lebt in Wien. Cartoonist, Musiker, Reisejournalist und Bachmannpreisträger 2014.

Foto: privat

Ich bin vor 30 Jahren, am 4. Oktober 1984 um 22 Uhr in Hamburg in einen Zug gestiegen, und am 5. Oktober morgens in Wien angekommen, einem Dienstag, um mich an der Hochschule für angewandte Kunst bei Professor Oswald Oberhuber als Student zu bewerben, als einer von 150, und als einer von fünf wurde ich sogar aufgenommen, wie ich drei Tage später, am Freitag erfahren sollte, an einem wunderschönen, warmen Herbsttag.

Ich inskribierte, studierte eine Woche, das heißt ich sah mir den Betrieb von innen an - und entschied: Nein, das ist es nicht. Um zur Unselbstständigkeit erzogen zu werden, brauche ich keine geschützte Werkstätte, und eine Woche später ließ ich mich exmatrikulieren. Meinen nun ungültig gestempelten Studentenausweis wollte ich irgendwo deponieren, um mit ihm als pathetischen Akt irgendwo und irgendwie eine Marke zu setzen, und entschied mich für das Schloss Schönbrunn, genauer gesagt für dessen Park. Dort gibt es zwei sogenannte Najadenbrunnen, einer in Form eines Rundbassins, der andere wird Sternbassin genannt. In beider Mitte jeweils eine Gruppe Najaden, Najaden sind der griechischen Mythologie nach Nymphen, die über Quellen, Bäche, Flüsse, Sümpfe, Teiche und Seen wachen. Sie waren entweder Töchter des Zeus oder des Okeanos. Trocknete das Gewässer einer Najade aus, so musste sie sterben.

Die Najaden waren oft Objekte örtlicher Kulte, die sie als Fruchtbarkeitsgöttinnen verehrten. Ihren Gewässern wurde mitunter eine magische heilende Wirkung oder prophetische Kräfte zugesprochen.

Zu viel in die Sonne schauen

Die Najaden waren darüber hinaus für ihre extreme Eifersucht bekannt. Einer Erzählung des Theokritos nach war der Hirte Daphnis der Liebhaber der Najade Nomia. Da Daphnis ihr einige Male untreu war, strafte sie ihn aus Rache mit Blindheit.

Im Rundbassin ist die Najade mit einem Wasservogel spielend dargestellt. Im bekannteren und häufiger fotografierten Sternbassin reckt sich eine Najade aus dem Wasser, schaut schräg nach oben, und hält, wohl zum Schutze vor allzu viel grellem Licht, die Hand wie einen die Augen beschattenden Schirm an ihre Stirn.

Und in diesen Brunnen sprang ich eines frühen Morgens, es war vielleicht fünf Uhr, ich hatte wohl durchgemacht, macht man beizeiten, wenn man jung ist und glaubt, man könne den Schlaf besiegen, da kommt man auf wunderliche Ideen, der Schlosspark war noch versperrt, ich kletterte über die Mauer, zog mich aus, und schwamm, den Studentenausweis zwischen den Zähnen, zur eifersüchtigen Nymphe. Ich wollte ihn ihr in die Hand drücken, als Sonnenschirm sozusagen, denn auch zu viel in die Sonne zu schauen kann zu Blindheit führen. Ich bestieg die Nymphe regelrecht, mir fiel auf, wie groß sie eigentlich ist, ich würde sie, wenn sie aufrecht stünde, auf zwei Meter fünfzig schätzen, ich bestieg sie wie einen Berg, und hielt mich, um nicht abzurutschen an dem fest, was so da war, Hüfte, Brüste und leider auch an ihrem abgespreizten Daumen, und in diesem Moment brach der Daumen ab, die Brunnen samt Figuren stammen aus der Zeit um siebzehnhundert, der Zement ist wohl inzwischen etwas mürbe geworden, ich flog rückwärts samt Ausweis und Daumen zurück in den Brunnen, im Fallen fielen mir die Zeilen des bekannten Schlagers von Drafi Deutscher ein, dessen Refrainzeile ich jetzt leicht abwandelte:

Marmor, Stein und Daumen bricht
Aber meine blinde Nymphenliebe nicht.
Jedes Studium geht vorbei,
Doch ich bleib dir treu.

Aber nun konnte ich den Ausweis natürlich nicht mehr dort deponieren, man hätte mich als Najadenvandalen, als Studien- und Daumenabbrecher ja leicht ausmachen können. Ich zog mich wieder an, steckte Ausweis und Daumen ein und ging nach Hause, schlafen.

Und ich schlief lange, genauer gesagt zehn Jahre, bis 1994. In diesem Jahr gründete ich mit Gerhard Potuznik meine Band Mäuse. Durch Vermittlung Falcos, der uns auf unserem allerersten Konzert, im Gasthaus Vorstadt, sah, landeten wir auf dem Label Gig Records, auf dem seine (fast) unaufhaltsame Karriere begann und unsere stetig bergab ging, was insofern eine reife Leistung ist, als man ja mit nichts in den Händen, wenn man sich also noch am Start befindet, gar nicht abwärts bewegen kann, das ist physikalisch gar nicht möglich, dennoch schafften wir es, weil wir nämlich mit unserem Debütalbum John Lennon beim Betreten einer Bar in New York nicht nur der größte Flop in der Geschichte des Labels wurden, sondern es auch noch gleichzeitig ruinierten, wir waren nicht nur jenseits jeden braven Erfolgs, sondern ließen andere, uns eigentlich Wohlgesinnte, auch noch daran teilhaben. Die Band siechte noch ein paar Jahre so vor sich hin, na ja, immerhin spielten wir einmal in Paris vor 1000 Leuten, wurden sogar mit Rotweinflaschen und Camembert beworfen und haben eine treue Fangemeinde in Portugal, aber wir wurden von den hiesigen Medien einfach falsch verstanden, also lösten wir uns auf.

Mit seinem Latein am Ende

Gerhard erfand in der Folge die Chicks on Speed, produzierte sie, und fuhr den Ruhm ein, der ihm mit Mäuse versagt geblieben ist. Ich wurde Schauspieler und bekam eine Rolle in Before Sunrise von Richard Linklater. Ich schrieb diese Rolle der Einfachheit selber, denn Richard und seine beiden Protagonisten Ethan Hawke und Julie Delpy hatten von Wien so wenig Ahnung wie ich von der englischen Sprache, ich gab ihnen Wientipps, sie unterrichteten mich in ihrer Sprache, seit dieser Zeit weiß ich beispielsweise was Kennel (Hundehütte) und Coracle heißt (walisisch cwrwgl), ein sehr kleines kielloses Boot überwiegend für Binnengewässer. Das meist für eine Person gebaute Fahrzeug ist aus Korbgeflecht und hat eine meist ovale oder kreisrunde Form und ähnelt einer Walnussschale. Der Bootsköper ist mit einer Haut oder einem Regenmantel bezogen, in jenem Jahr stand Vic Reeves Song Empty Kennel hochnotiert in den Hitparaden, das sollte unser Lied werden, Ethan, Julie und ich sangen es von Drehbeginn bis -ende, wenn die Klappe mal ruhte oder Richard mit seinem Latein am Ende war und nicht mehr weiter wusste.

Empty Kennel
He was a friend and a hairy companion,
Two big brown eyes just a starin' at the sun,
His tail would wag in the summer breeze,
And gently caress my cheek.
The swimming pool attendant couldn't save him,
That old fella he weighed too much,
He waved good bye as he sank out of sight,
Like a crab in a workman's lavvy.
I yelled, what a gay old alsation he was,
He was like a brother to me,
I remember he was so portly his saddle wouldn't fit properly
And I had to use an old mattress.
Sometimes on warm summers evenings
I used to get into the kennel with him
And we'd sip hot water
And examine his collection of Nazi regalia for hours.
But now that old kennel is empty,
But I might use it for storing engine parts,
I'll block up the hole, and turn it upside down,
And use it as a coracle.
But for now I'm gonna use it for private reasons,
At midnight when the moon is full,
And tonight I'd like to use it with you,
And you,
And you,
And you,
And you,
Infact, all of yous.

Als die Dreharbeiten vorbei waren, war in gewisser Weise auch das Lied aus, wir hatten uns daran totgehört und müdegesungen, wir waren zerstritten, Julie bekam jetzt fast jeden Tag Nasenbluten, und wollte stets, dass für sie deshalb ein Krankenwagen gerufen werden sollte, Ethan war am Rande der Verzweiflung, und Richard war gedanklich schon lange bei seinem nächsten Film, School of Rock mit Jack Black. Ich wurde bezahlt, die Crew reiste ab, und ich fiel wieder in eine bleischwere Müdigkeit und einen langen Schlaf, wieder zehn Jahre, 2004 wachte ich auf.

Eine frische geschlüpfte Motte

Noch benommen streckte ich meine Glieder, klopfte mir den Staub aus den Augen und torkelte wie eine frisch geschlüpfte Motte die Gumpendorfer Straße hinunter, schräg gegenüber dem Café Sperl (das intern Specht genannt wird, wie ich aus sicherer Quelle weiß) war etwas Neues entstanden, ein auf den ersten Blick nicht eindeutig zuordenbares Lokal. War es Buchhandlung, Möbellager oder Wirtshaus? Der Name Phil ließ auf den Besitzer schließen, der vielleicht Philipp heißen mochte oder Philanthrop ist oder beides, oder er ist einfach nur Fan von Thin Lizzy und Motörhead.

Thin Lizzys Kopf und Sänger hieß Phil Lynott, Phil "Philthy Animal" Taylor war bis 1992 Schlagzeuger bei Motörhead. Arbeitete gar Philthy Phil hier, oder war es eine Thin-Lizzy-Bedarfshandlung? Interessanterweise plante Taylor nach seinem Rauswurf gemeinsam mit Phil Lynott die Gründung einer Band. Das Projekt scheiterte aber am mangelnden Engagement von Lynott. Kann ja sein, dass er nach all den Rückschlägen jetzt hier gelandet war.

Beide Bands mochte ich, also betrat ich den Laden, und registrierte sogleich, dass ich in all meinen Vermutungen, bis auf jene bezüglich des Namensgebers, recht haben sollte, es gab sogar einen Thin-Lizzy-Schrein in einer Ecke, auf ihm stand als Motto "The boys are back in town".

Ich wurde hier sogleich heimisch, lernte Beleg- wie Kundschaft kennen, unter anderem den Jungregisseur David Schalko, der immer mit einem phlegmatischen Borderline-Collie unterwegs war, den er Schlacko nannte.

Schalko lud mich nach ein paar fruchtbaren Gesprächen und ein paar Drinks vom Fleck weg ein, in seiner neu gegründeten Filmproduktionsfirma Okay-Film mitzuarbeiten. Ich arbeitete dort in der sogenannten Volten-Abteilung, das heißt, ich entwickelte für Filme Twists, Wendungen, Szenen und Settings, wenn beispielsweise der Erzählfluss stagnierte, man draufkam, dass, was sich im Buch so flüssig las, nur verstolpert abbildbar ist.

Mit dem Biopic über die britische Band The Smiths, dessen Drehbuch von Daniel Kehlmann (auch ihn lernte ich natürlich im Phil kennen) stammte, trat Schalko auf der Stelle, er kam nicht weiter, "ein Fall für die Volten-Polizei", wie er scherzhaft sagte, als er mir das problematische Buch im Phil überreichte. Es fiel mir nicht schwer, ein Szenario für eine Lösung zu entwickeln. Ich ging davon aus, dass es ein Bedürfnis von Fanseite gäbe, dass sich The Smiths reformieren, alle außer Morrissey wären dabei, weshalb sie eine Audition für die vakante Stelle des Sängers machen, es melden sich verschiedene Sänger, Ozzy Osbourne, Ian Astbury (The Cult), Tony Hadley (Spandau Ballet) und Howard Carpendale ("Ich geb mir selbst 'ne Party"), Hadly gewinnt am Ende die Audition, aber wenn The Smiths jetzt auftreten, und etwa "Hang the DJ" singen, kommen immer reflexartige, irritierende Einschübe von Hadley:

Panic in the streets of London
Gold
Panic in the streets of Birmingham
Always believe in your soul
Burn down the disco
You've got the power to know
Because the music that they constantly play
You're indestructible

Johnny Marr ist verzweifelt, Morrissey voller Häme in seinem Blog (er nennt es Spandau-Tourette), dann in einer Szene, Marr sitzt allein in einer Bar, die dem Phil nachempfunden ist, grübelnd über eine Lösung, diskutiert er später mit einem Gast, der verblüffende Ähnlichkeiten mit mir hat (ich hab mich dreisterweise einfach selbst ins Buch geschrieben), was wohl Howard mit "Ich geb mir selbst 'ne Party" meint, ob damit Masturbation gemeint ist? Der Film wurde ein Riesenerfolg, ich durfte mich spielen, während Johnny Marr von Ursula Strauss gegeben wurde, der Allzweckwaffe des österreichischen Films.

Erstmalig verschlief ich ein Jahrzehnt nicht. Letztlich hatte ich das dem Phil zu verdanken. Heute kann ich sagen, dass mir das Phil ganze zehn Jahre geschenkt hat, dass ich auf diesem Wege auch noch eine liebe Frau, keine Geringere als Ursula Strauss, und zwei prachtvolle Kinder bekommen habe, ist nur "the icing on the cake", der Zuckerguss auf der Geburtstagstorte, die ich dem Phil auf diesem Wege schenken möchte. Statt Kerzen stecken in ihr aber zehn Nymphendaumen aus Zement. (Tex Rubinowitz, Album, DER STANDARD, 27./28.9.2014)