Das Mädchen, das durch die Zeit sprang

Mamoru Hosoda (Summer Wars) gilt als einer der bekanntesten Anime-Filmregisseure der jüngeren Gegenwart. Nachdem er schon einige Film- bzw. Episodenregieposten in bekannten Kinderfranchises wie Digimon Adventures und Doremi innehatte, gelang ihm mit dem 2006er Anime-Film Das Mädchen, das durch die Zeit sprang der internationale Durchbruch. Über ein Jahrzehnt nach dessen Erscheinen in Deutschland durch Kazé Anime im Jahr 2007 wagen wir nochmal einen Sprung zurück.

    

Makoto Konno, 17 Jahre, ist ein Wildfang an einer japanischen Oberschule. Chiaki Mamiya und Kosuke Tsuda sind gute Freunde von ihr und die drei verbringen die sommerlichen Nachmittage meist gemeinsam mit Baseball spielen. An einem dieser typischen Tage geht im Schulleben alles Mögliche schief: Makotos Schwester hat ihren Pudding gegessen, sie verspätet sich beinahe auf dem Weg zur Schule und bekommt an der Tür noch schnell von ihrer Mutter einen Botengang zur Tante aufgedrückt. In der Schule gibt es einen Überraschungstest, den sie verpatzt, bei der Kochstunde brennt das heiße Öl an und sie wird im Schulcampus von herumtollenden Schülern umgeworfen. Putzdienst hat sie auch noch. Als sie Hefte wegbringt, wähnt sie den Schatten einer Gestalt im Laborraum zu sehen. Stattdessen fällt sie jedoch hin, knallt auf ein walnußförmiges Objekt und verstreut die Hefte. Nach der Schule fährt sie mit dem Fahrrad den Hügel runter, die Bremsen versagen. Das Mädchen wird über die Gleise geschleudert und ist drauf und dran, von einem einfahrenden Zug überfahren zu werden – da findet es sich auf einmal oberhalb des Hügels wieder, unmittelbar vor Eintreffen des Zugs. Bald kann Makoto bewusst durch die Zeit springen und was gibt es Besseres, als den vermasselten Tag zu ihren Gunsten zu wenden?

Lebhaft, intensiv und temporeich inszeniert

Ein Anliegen bei der Produktion des Films lag darin, Makoto enthusiastisch und impulsiv zu gestalten. Während Kosuke organisiert und stets freundlich wirkt, strahlt Chiaki einen gechillten laissez-faire Charakter aus, dem alles ohne große Mühe gelingt. Makoto ist als ausgelassener Wildfang in dem Trio nicht die große Leuchte – sie wird von anderen im sogar als Dummkopf bezeichnet – und stellt meist das unmittelbare Vergnügen vorne an. Über die Zukunft hat sie sich noch keine wirklichen Gedanken gemacht, als zuverlässig und verantwortungsvoll kann man sie auch kaum bezeichnen. Das spiegelt sich in ihren Zeitsprüngen wieder, die sie vor allem zum Spaß und den eigenen Vorteil einsetzt. Wenn sie andere im Sinn hat, sitzt ihr Herz zwar am rechten Fleck, doch machen ihre Handlungen oft alles nur schlimmer. Aber was ist schon dabei. Sie kann ja einfach zurückspringen – oder?

Die Zeit wartet nicht

Originaltitel Toki wo kakeru Shoujo
Jahr 2006
Laufzeit 98 Minuten
Genre Drama, Science-Fiction, Comedy
Regisseur Mamoru Hosoda
Studio Madhouse

Schon zu Beginn des Filmes wird Makotos Tendenz zum Hinausschieben und zur Flucht vor unangenehmen Situationen etabliert. Gedanken über  Zukunft und Verantwortung für die Umwelt ereilen sie regelmäßig. In diesen Momenten hat der Film schon von Anfang an kleinere Momente stillerer Nachdenklichkeit. Die quirlige Makoto spielt die Bedeutung allerdings regelmäßig leichtfertig herunter. Die Zeitsprünge nehmen ihr zunächst auch die unmittelbare Notwendigkeit ab, sich damit zu befassen. Aber alsbald muss sie feststellen, dass sie auch mit Zeitsprüngen nicht allem aus dem Weg gehen kann. Ebenso lernt sie auch, dass die eigenen Handlungen Konsequenzen nach sich ziehen. Selbst die kleineren harmlosen Dinge, die sie mit ihren ersten Sprüngen korrigierte. Mit dem Gemälde, das ihre Tante restauriert und aus einer Zeit von Hunger und Krieg stammt, spiegelt sich eine andere Zeit wieder. Doch weder das, noch dass sich die Zahl der möglichen Sprünge als begrenzt entpuppt, verleitet Makoto dazu, ihre Nachlässigkeit abzulegen. Als sich ein Augenblick von Leben und Tod vor ihren Augen auftut und sie keinen Sprung mehr übrig hat, kann sie jedoch nicht mehr fliehen.

Flüssige Animationen vs. Stillleben vor detaillierten Hintergründen

Animationstechnisch braucht sich der Film kaum vor aktuellen Produktionen verstecken. Die Figuren sind von Yoshiyuki Sadamoto (Neon Genesis Evangelion) eher einfach aber realistisch designt und proportioniert. Makoto rennt, springt und rollt fast ohne Unterlass über die Leinwand. Auch in den Gesichtern der Figuren spiegelt sich viel Mimik wider. Doch nicht nur den Hauptfiguren ist Bewegung gegönnt: Selbst unbenannte Statisten im Hintergrund haben immer etwas zu tun und unterstreichen die Lebhaftigkeit des Alltags. Umso stärker wirken die stilleren Szenen im Kontrast bis buchstäblich die Zeit im Bild gefriert. Die Hintergrundbilder in diesen ruhigen Szenen sind besonders detailliert gehalten. Man sieht dem Film dennoch an, dass er vor der HD-Ära produziert wurde. Die Animationen sind stets vorhanden und die Bewegungen im Ganzen akkurat. Schaut man den Film aber in Blu-ray-Auflösung, sind viele kleinere Figuren im Bild offensichtlich wenig detailliert gehalten und wirken mitunter etwas krakelig.

Mehr Coming of Age Drama als Science-Fiction

Die Mechanik hinter den Zeitsprüngen wird nicht weiter erklärt, bis auf einen sehr kurzen Abriss durch Makotos Tante. Genauso wird die Zeit, aus der Chiaki  kommt, nur mit wenigen Sätzen umrissen. Es gibt keine Flüsse mehr, kein Fahrrad, kein Baseball oder den weiten Himmel. Auch existieren es nicht mehr viele Menschen. Hinweise auf eine Dystopie, doch wie diese entstand oder aussieht, wird nicht weiter beleuchtet. Damit hebt sich der Film ehr stark von der gleichnamigen Vorlage von Yasutaka Tsutsui ab, die den Fokus vor allem darauf legt, wie die Zeitreise als Kreuzung von Zeitsprung und Teleportation sowie die immer komplexer werdende Gesellschaft der Zukunft funktionieren. Im Anime wird der Schulalltag stärker betont. Lernen oder Mobbing spielen eine Rolle, genauso wie jugendliche Verliebtheit. Gleichzeitig ist die romantische Komponente mit Makotos Tante auch relativ bodenständig gehalten. Ihre ganze Schulzeit hat sie damit verbracht, auf jemanden zu warten. Und dann verging die Zeit und nun ist sie immer noch unverheiratet.

Eigentlich keine Adaption, sondern eher Spin-Off-Sequel der Vorlage

1967 erschien erstmals die gleichnamige Vorlage. Darin bekommt Kazuko Yoshimiya – Makotos Tante – vorübergehend die Fähigkeit für Zeitsprünge. Sie nennt Makoto auch den Namen ihrer neuen Fähigkeit. Die Anime-Fassung von Das Mädchen, das durch die Zeit sprang spielt an mehreren Stellen sehr klar auf die Originalerzählung an. Wie Makoto bildet Kazuko mit zwei Jungs ebenfalls ein befreundetes Trio. Ihre Fähigkeiten bekommt Kazuko ebenfalls im Labor der Schule, während jemand Klavier übt. (In der Erzählung Chopins Polonaise, im Anime Bachs Aria.) Ebenso wird ihr wie im Film am Ende in einer Szene, in der die Zeit durch den zeitreisenden Freund aus der Zukunft stillsteht,  der Hintergrund des Zeitreisens erklärt. Eine Stelle zeigt auch die Nahaufnahme eines Fotos von ihr und ihren beiden Freunden aus der Schulzeit. Der Film übernimmt das Grundgerüst für die eigene Erzählung, doch die Akzente stehen Kopf: Kazuko ist ruhig, bedacht, intelligent, hübsch und weiß sich mit der Zeitreisefähigkeit gar nicht anfreunden. Das klassische japanische Idealbild eines Mädchens. Makoto ist das genaue Gegenteil. Die Kenntnis der Vorlage ist für den Film nicht notwendig, doch an vielen Stellen auf jeden Fall hilfreich. Unter anderem erklärt sie, wieso neben Zeitsprüngen auch ein Zeitanhalten möglich ist und auch zwei Personen gleichzeitig befördert werden können. Da Makotos Tante noch immer unverheiratet ist, handelt es sich beim Anime auch um eine Fortsetzung von Kazukos Geschichte[/spoiler]

Ich mag den Film. Das ist ein Mamoru Hosoda-Werk, bevor er mit Summer Wars begann, nur noch familienfreundliche Filme zu produzieren. Das zentrale Motiv Verantwortung zu übernehmen und nicht vor Konflikten wegzulaufen ist etwas, von dem Jung wie Alt etwas mitnehmen können und das hier prägnant und facettenreich präsentiert wird. Der Film ist auch einfach wirklich gut animiert. Er ist eine Destillation wertvoller Aspekte des Doremi-Franchises. Tatsächlich ist der Film des Produzenten Maruo Maruyama als erwachsenere Version dessen intendiert gewesen. Das Ende wird wohl nicht jedermanns Sache sein, denn es ist so offen wie der Kreisel in Inception es einige Jahre nach dem Film wurde. Viele haben sich schon die Köpfe eingeschlagen und meistens kreist es auch darum, ob sich die zwei Liebenden irgendwie doch wiederfinden. Nimmt man Kazuko als Parallele, wäre die Antwort wohl nein. Nimmt man den Kontrast an, dass Kazuko die passiv Wartende ist, während Makoto im Gegensatz aktiv springt und sucht, wohl ja. Auch wie die Zukunft konkret auszusehen hat, bleibt offen, da Makoto selbst vor Kosuke (und den Zuschauern) geheim hält, ob sie nun den wissenschaftlichen oder sozialwissenschaftlichen Zug wählt oder gar etwas darüber hinaus. An dieser Stelle ist es schade, dass die deutsche Übersetzung einen Fehler gemacht hat: In der Zukunft ist das Bild nicht “verbrannt” sondern “verschwunden”. Findet Makoto einen Weg, um in die Zukunft zu springen? (Womöglich mit dem Bild? Jedes Mal wenn sie sagt, sie sorgt für irgendwas, sind Zeitsprünge gemeint.) Das wäre der Science-Fiction-Ansatz und beim Betrachten der Vorlage auch gar nicht unmöglich. Dort wird das Zeitreisen durch Zutaten aus der Gegenwart ermöglicht. Oder Makoto wird z.B. Restauratorin wie ihre Tante und bewahrt auf die Art das Bild irgendwie für die Zukunft und das Warten bezieht sich nicht auf Makotos Person, sondern ihr Versprechen? Das wäre der realistischere Ansatz. Doch wie der Inception-Kreisel ist die konkrete Antwort gar nicht so wichtig, sondern vielmehr Makotos Ansage, dass sie sich der Zukunft entgegenstellt. Und die kann je nach Entscheidung Verschiedenes bereithalten, wie schon das “Ab hier”-Straßenschild symbolisiert. Das ist auch ein besonderes Referenz Leckerbissen für Folge 40 der vierten Doremi Staffel.

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Luna

Luna residiert auf dem Mond mit ihren beiden Kaninchen. Als solche hat sie eine Faible für flauschige Langohren und ist auch nicht um die ein ums andere Mal etwas entrückte Sicht auf die Weltordnung verlegen. Im Bestreben, sich verständigt zu bekommen, vertreibt sie gerne die Zeit mit dem Lernen und Erproben verschiedener Sprachen und derer Ausdrucksformen.

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