Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf schrieb sein literarisches Werk im Wettlauf gegen einen Hirntumor

Vor zehn Jahren ist der Autor und Künstler in Berlin durch Suizid aus dem Leben geschieden. Eine grosse Biografie zeichnet das kurze, intensive Leben nach.

Paul Jandl 4 min
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Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf.

Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf.

Sven Simon / Imago

Die Lebensgeschichte von Wolfgang Herrndorf ist eine Geschichte grosser Freundschaften. Über Jahrzehnte hat er an Verbindungen festgehalten, und es waren am tragischen Ende die Freunde, die ihn aufrecht hielten. Vielleicht gehörte damals auch etwas anderes zum engeren Kreis: eine Magnum-Pistole der Marke Smith & Wesson, gekauft im Juli 2010 in einem Hinterhof in Berlin-Neukölln. Der unheilbar an einem Gehirntumor erkrankte Herrndorf wollte nicht mehr miterleben, wie sein Ich sich auflöst, wie er zum Pflegefall wird. Mit der Pistole beendet er in der Nacht zwischen 26. und 27. August 2013 am Hohenzollernkanal sein Leben.

Der Journalist Tobias Rüther hat jetzt eine grosse Herrndorf-Biografie geschrieben. Gemessen am kurzen Leben des 1965 geborenen Autors, der mit dem Roman «Tschick» berühmt wurde, ist sie geradezu monumental. Sie wirkt detailversessen auf eine hagiografische Art, bis man merkt, worum es hier geht: eine Kunst zu erklären, die an altmeisterlichen Idealen festhält, um der ephemeren Jugendlichkeit zu entkommen. Wolfgang Herrndorf war auch ein grossartiger Maler, der Jan Vermeer höher geschätzt hat als die Gimmicks der Moderne. Stendhals Roman «Rot und Schwarz» hat er auf seiner Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen immer wieder gelesen.

Schon früh muss beim Sprössling segensreich antiautoritärer Eltern die Diagnose gegolten haben: Wunderkind. Wolfgang, der Lehrerssohn, kann bald alles, was er können will. Zeichnen, Gedichte schreiben. Bumerangs schnitzen. In Nürnberg studiert Herrndorf Malerei und porträtiert sich selbst in hyperrealistischen Ölbildern. Nackt oder mit Bohrmaschine in der Hand. Einmal in Dürer-Manier mit einem Stoffhasen.

Genie und Fleiss

Was Herrndorf macht, ist aus der Zeit gefallen. Das sagt ihm seine Akademie-Professorin, die sich später in den Büchern karikiert wiederfinden wird. Berühmt wird Herrndorf, als er seine Gemälde zu Satire erklärt. In den Kohl-Jahren malt er für das Magazin «Titanic», und dieses gibt Herrndorfs Kalender mit lauter Kanzler-Kunstpersiflagen heraus: Helmut Kohl auf Vermeer-Art gemalt, im Stil von Picassos Blauer Periode oder nach van Gogh.

Der Perfektionist und Genaunehmer kann sich jedes Gewand der Kunst überstreifen und hat selbst nur zwei paar Hosen. Finanziell bringt das professionelle Malen und Zeichnen für Magazine und Buchcovers wenig. Herrndorf schreibt auch für die «Titanic». Es sind Fingerübungen einer wieder anderen Artistik. Als sich in den späten neunziger Jahren im noch neuen Internet das Forum «Wir höflichen Paparazzi» formiert, ist Wolfgang Herrndorf bald mit dabei.

Eine nicht eben verlotterte Bohème zwischen Berlin und Wien entwickelt dort eine schöne Kunst des Schreibens: bissig, hart und eben höflich. Herrndorf und Kathrin Passig sind Köpfe dieses Vereins. Sie werden den Bachmann-Preis in Klagenfurt mit ihren Texten aufmischen und der Literatur beweisen, dass Genie und Fleiss Zwillingsbrüder sind. Im Idealfall sind sie voneinander nicht zu unterscheiden.

Wolfgang Herrndorf bekommt 2004 in Klagenfurt den Publikumspreis. Er war gegen Uwe Tellkamp, Richard David Precht, Juli Zeh und Arno Geiger angetreten. Kathrin Passig gewinnt 2006 den Hauptpreis mit einem genialen, weithin unterschätzten Text.

Wolfgang Herrndorf arbeitet akribisch an seinem literarischen Werk. Der Roman «In Plüschgewittern» geht 2002 ziemlich unter. Bei «Diesseits des Van-Allen-Gürtels» ist es 2007 nicht viel anders. Anfang 2010, nach Wochen mit schweren Kopfschmerzen und Wahrnehmungsstörungen, kommt die ärztliche Diagnose: Glioblastoma multiforme, ein in der Regel tödlicher Gehirntumor. Der Schriftsteller rechnet sich die ihm statistisch verbleibende Zeit aus.

Gegen die verrinnende Zeit schreibt er an. Den Thriller «Sand», den Roman «Tschick», dieses zeitlose Epochenbuch über Freundschaft und über das Jungsein. Daneben entsteht das Journal «Arbeit und Struktur». Tobias Rüthers Biografie beschleunigt sich mit diesem Zeitpunkt, wird zur einfühlsamen Mitschrift einer sozialen und literaturbetrieblichen Dynamik.

Rückverzauberung des Lebens

«Tschick» wird der grosse Erfolg, und Neider gibt es auch. Juli Zeh stellt damals auf Facebook Überlegungen darüber an, wie es wäre, wenn sich Herrndorf seine Krankheit nur ausgedacht hätte. Ein Gedankenspiel, wie es heisst. Die tatsächliche Krankheit des Schriftstellers war kein Spiel. Die Therapien in den Berliner Kliniken ermöglichen nur vorübergehende und immer kürzere Wachzustände in einem Albtraum.

Wolfgang Herrndorf war ein trainingsjackentragender Streuner der Romantik. Das Sentimentale ist bei ihm Erkenntnismittel und erzählerischer Zweck in einem, und seine Bücher leben von einer Schönheit des Intimen, die nicht durch popliterarische Ego-Coolness aufgelöst ist. Romane wie «In Plüschgewittern» oder «Tschick» sind cool, gerade weil sie Gefühle haben.

In einem Bild meint Tobias Rüther Wolfgang Herrndorfs Idee des Romantischen gespiegelt zu sehen: Es ist der Blick aus dem Norderstedter Kinderzimmer, hinweg über die flache, von Feldern gewellte Landschaft und hinauf in den Himmel. Die Weite der Welt, durch die man auch in die Weite der Zeit zu schauen scheint, war ein Ideal, das Herrndorf in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts genauso gefunden hat wie in Norderstedt.

Viele Jahre verbringt Herrndorf in Berliner Hinterhöfen. Dort, an der Schreibmaschine und früh am Computer, montiert er das Offene in seine Bücher. Im Roman «Tschick», der Geschichte von zwei Jungen, die im gestohlenen Lada Niva in die Welt ziehen, steckt genauso viel Transzendenz wie Pubertät. Es ist eine Rückverzauberung des Lebens, wie sie altmodischer und zukunftsglücklicher kaum sein könnte.

Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2023. 384 S., Fr. 36.90.

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