Wanderverhalten beim Rotwild: Hirsche nutzen Fernwechsel

Rotwild nutzt uralte Fernwechsel als Trassen zu Äsung, Sexualpartnern und neuen Lebensräumen. Dennoch nehmen sie ab …
Robin Sandfort
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25. August 2023
Hirsch-mit-Kahlwild

Wir fahren mit dem Suzuki langsam die Eder entlang. An zwei Stellen senkt sich das Ufer ab, und frische Fährten verraten, dass in der vergangenen Nacht ein Rudel Rotwild den Fluss durchquert und auf den Rapsäckern in den Ederauen geäst haben muss. Ein alter Fernwechsel führt an dieser Stelle das Rotwild aus dem Hochsauerland in die hessischen Auwälder des ehemaligen Reviers meines Vaters. Ein Förster aus dem Sauerland bestätigte uns sogar einmal „seinen“ Hirsch, nachdem ihn mein Vater in unserem Revier in Nordhessen erlegt hatte. 

Solch seltene Zufälle geben uns schon seit langer Zeit Hinweise, bis wohin die alten Fernwechsel reichen. Warum aber verlassen einzelne Stücke oder ganze Rudel überhaupt ihr angestammtes Streifgebiet und tauchen überraschend in neuen Gegenden auf? Eines ist sicher: Rotwild bewegt sich nicht zufällig im Raum, sondern nutzt im Jahresverlauf das sich ändernde Angebot von Äsung, Ruhe, Deckung und Artgenossen.

Rotwildgebiete sind von Freizonen umgeben: Im Hinblick auf eine weit wandernde Wildart eine ungünstige Konstellation.
Rotwildgebiete sind von Freizonen umgeben: Im Hinblick auf eine weit wandernde Wildart eine ungünstige Konstellation.

Wanderkulturen in Wildbeständen

Wenn die Information zu Fernwechseln durch soziales Lernen weitergegeben wird und über Rotwildgenerationen erhalten bleibt, spricht man bereits von einer „Kultur“. Eine aktuelle amerikanische Studie zeigt, wie wichtig der Erhalt dieses sozialen Wissens bei Schalenwild ist. In der Untersuchung wurden wilde Dickhornschafe und Elche gefangen und in neuen Gebieten angesiedelt. 

Man besenderte die Stücke und untersuchte ihr Wanderverhalten. Die umgesiedelten Stücke konnten ihre Fähigkeit zu wandern im neuen Habitat nicht mehr anwenden. Ihnen fehlte das soziale Wissen über die Fernwechsel, die Vegetation und das Gelände. Erst mehrere Jahrzehnte später bildeten sich bei den umgesiedelten Populationen neue Wandertraditionen aus.

„Dank der Rotwildbezirke werden Fernwechsel zu ökologischen Fallen.“

Wetter beeinflusst Wanderungen

Neben dem „wohin“ ist auch der richtige Zeitpunkt für eine Wanderung entscheidend. Im Gebirge ist oft der erste Schnee oder die Ergrünung im Frühjahr der Startschuss für die Rotwildwanderungen zwischen den Sommer- und den Wintereinständen. 

In den meisten Populationen wandern nicht alle Rudel gleich. Im selben Tal gibt es Rudel, die jedes Jahr eine Wanderung machen, und andere Rudel, die das ganze Jahr über im selben Einstand stehen. Warum sich Stücke für oder gegen eine Wanderung entscheiden, ist dabei noch nicht vollkommen klar.

Die Rekordwanderung von Nr. 255

Im Frühjahr 2016 besenderten Wildbiologen um Matt Kauffman von der Universität Wyoming ein Maultierhirschtier und nannten sie „255“. Zwischen ihrem Winter- und dem Sommereinstand legte sie jedes Jahr rund 400 Kilometer zurück und überstieg dabei jeweils einen Gebirgspass bis auf fast 3.000 Meter Seehöhe. Sie legte den Wissenschaftlern offen, wo die Landschaft noch durchlässig ist und wo verbaute Flaschenhälse die Wanderungen einschränken.

Die Forschungen in Wyoming zeigen, wie stark Fernwechsel durch Traditionen von einer Hirschgeneration zur nächsten weitergegeben werden. Matt arbeitet intensiv mit der Jägerschaft in Wyoming zusammen, um die Wanderungen von Maultierhirsch, Gabelbock und Wapiti auch für zukünftige Generationen zu erhalten.

Junge Hirsche wandern ab

Der zweite Grund, sein angestammtes Streifgebiet zu verlassen, ist die dauerhafte Abwanderung von jungen Stücken. Sie kehren dabei meist nicht mehr in das Gebiet zurück, in dem sie gesetzt worden sind. Eine solche Abwanderung ist immer risikoreich. Ein junger Hirsch stößt dabei auf Straßen, deckungslose Flächen und unweigerlich auch auf juristisch rotwildfreie Zonen. 

Was bewegt einen Hirsch dann, ein solches Risiko einzugehen? Kurz gesagt: Äsung und Kahlwild. Eine langjährige Studie in Norwegen hat gezeigt, dass bei steigender Dichte an Kahlwild im Geburtsgebiet die Wahrscheinlichkeit für einen Hirschen abzuwandern, sinkt. Wandert er aber doch ab, so legt er eine weitere Strecke zurück, bis er Gebiete mit einer geringeren Rotwilddichte erreicht hat. 

Anders als bei echten Wanderungen zieht der Hirsch dabei zum ersten Mal durch ein Gebiet und kann sich nur durch kleinere Exkursionen entlang von Geländestrukturen vorwärtstasten. Dieses Abwanderungsverhalten ist für den genetischen Austausch und die Wiederbesiedlung von Lebensräumen besonders wichtig. Eine aktuelle Studie zur genetischen Vielfalt von 20 hessischen Rotwildgebieten zeigt akuten Handlungsbedarf und weist auf die Notwendigkeit eines Austauschs zwischen den Beständen hin.

Genetischer Austausch wird durch Grünbrücken möglich, wenn kurz dahinter kein rotwildfreies Gebiet lauert. Über Blutauffrischung muss man diskutieren dürfen.Rotwild spielt eine große Rolle als Leitart bei der Vernetzung. Nach seinen Bedürfnissen werden immer mehr Grünbrücken gebaut.
Genetischer Austausch wird durch Grünbrücken möglich, wenn kurz dahinter kein rotwildfreies Gebiet lauert. Über Blutauffrischung muss man diskutieren dürfen.Rotwild spielt eine große Rolle als Leitart bei der Vernetzung. Nach seinen Bedürfnissen werden immer mehr Grünbrücken gebaut.

Seit vielen Jahren wird versucht, die Durchlässigkeit unserer zersiedelten Landschaft zu erhalten. Alte Fernwechsel werden identifiziert und Grünbrücken über gezäunte Autobahnen errichtet. Die Ausweisung dieser „Wechselkorridore“ beschränkt sich heute nicht mehr nur noch auf die Befragung der örtlichen Jägerschaft und die Sichtung der Wildunfallstatistiken, sondern nutzt auch die Methoden der Populationsgenetik, Besenderung und Landschaftsmodellierung.

Von den Karpaten in die Alpen

Der Alpen-Karpaten-Korridor im Osten von Österreich ist eines dieser Beispiele. Er verbindet nicht nur die Kleinen Karpaten mit den Ausläufern der Alpen in Österreich, sondern verläuft auch durch eine der wirtschaftlich am schnellsten wachsenden Regionen Europas zwischen Bratislava, Sopron und Wien. Die Rotwildgebiete der Donau- und der March-Auen bilden an dieser Engstelle zwischen Wien und Bratislava einen sehr wichtigen Trittstein. Denn das Rotwild erfüllt dort eine Indikatorfunktion für die Lebensraumeigenschaften einer Landschaft.

Neue Zäune, alte Probleme

Vor einigen Jahren berichteten Kollegen, wie besendertes Kahlwild auf der tschechischen Seite des Böhmerwalds noch nach Jahren der Grenzöffnung vor dem ehemaligen Eisernen Vorhang Halt machte. Auch zwischen Österreich und der Slowakei blieb der flache Grenzfluss March lange Zeit eine virtuelle Grenze für unser besendertes Kahlwild. Als Reaktion auf die Flüchtlingskrise wurden seit 2015 neue Zäune entlang von Grenzen gezogen und Rotwildfernwechsel zwischen Ländern wieder vollständig unterbrochen. In der Diskussion um die Afrikanische Schweinepest werden Zäune gebaut und die Sperre von Grünbrücken angedacht. Erst die Zeit wird zeigen, ob das erlernte Wanderungsverhalten das überlebt hat.

Dort, wo Rotwild die offenen Felder und die Auwälder nutzen kann, profitieren auch andere Tierarten von einer vernetzten Landschaft. Südlich der Donau war der Alpen-Karpaten-Korridor lange Jahre durch eine gezäunte Autobahn zerschnitten und so gut wie unpassierbar. Erst 2013 konnte der alte Fernwechsel konnte durch eine neu gebaute Grünbrücke wieder durchgängig gemacht werden.
Hat es ein Rothirsch trotz der zahlreichen Hürden geschafft, in ein neues Gebiet vorzudringen, dann steht er vor der nächsten Herausforderung. In Deutschland und Österreich wechselte er durch einen Flickenteppich von Rotwildgebieten, Randzonen, Freihaltezonen, Dünnzonen und Rotwildbezirken. Oft sind inselartige Rotwildgebiete von Freizonen umgeben, in denen jedes vorkommende Stück Rotwild erlegt werden muss. Ein Austausch zwischen Rotwildbeständen wird so behördlich unmöglich gemacht. Fernwechsel werden so zu ökologischen Fallen.
Robin Sandfort
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25. August 2023
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