Wissenschaftlich erwiesen

Warum Selenskyj zu den Verhandlungen mit Russland unbedingt Frauen mitnehmen sollte

Ein ukrainischer Soldat hält während einer Beerdigung inne.

Ein ukrainischer Soldat hält während einer Beerdigung inne.

Lautes Gelächter war im Bundestag zu hören, als Außenministerin Annalena Baerbock vier Wochen nach Beginn des russischen Krieges am Rednerpult energisch eine „feministische Außenpolitik“ forderte. „Das ist kein Gedöns, sondern auf der Höhe dieser Zeit“, versuchte Baerbock vor allem die Männern im Bundestag zu überzeugen. „Es zerreißt mir das Herz“, sagte Baerbock, als sie über die systematischen Vergewaltigungen im Jugoslawien-Krieg und von ihrem Besuch bei Müttern in Srebrenica berichtete, die auch mehr als 25 Jahre nach dem Völkermord noch unter den Folgen des Krieges leiden. Der lachende Friedrich Merz fasste sich bei diesen Worten theatralisch an die Brust. Offenbar hatte er nicht begriffen, worum es hier wirklich geht.

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In aller Brutalität zeigt sich in der Ukraine gerade, was Baerbock mit den Worten „auf der Höhe dieser Zeit“ meint: Russland setzt in seinem grausamen Krieg Vergewaltigungen als Waffe gegen die ukrainische Bevölkerung ein. Es sind erschütternde Berichte von Frauen und Mädchen, die von sexuellem Missbrauch durch russische Soldaten erzählen, von Gruppen- und Massenvergewaltigungen und Vergehen an Minderjährigen. Niemand weiß, wie viele Frauen in der Ukraine bereits vergewaltigt wurden und viele der Berichte lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Aber alles deutet darauf hin, dass Russland mit diesen Gräueltaten systematisch die ukrainische Bevölkerung brechen will. Der blanke, überwältigende Terror hat System.

Es geht dabei meist nicht um die Befriedigung sexueller Bedürfnisse von Soldaten, betonen Expertinnen und Experten wie die Historikerin Regina Mühlhäuser vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Vergewaltigung als Kriegswaffe ist der sexuelle Ausdruck von Aggressionen. Gewalt wird sexualisiert. Den Soldaten geht es um die Demütigung, Erniedrigung und Einschüchterung des Feindes. Nicht einmal die eigenen Frauen könne der Feind schützen, so die Botschaft. Im Krieg werden Frauen entmenschlicht, ihre Körper sind zu einem zweiten Schlachtfeld geworden, der die ukrainische Gesellschaft im Kern trifft. Viele Frauen sind traumatisiert, manche wurden vor den Augen ihrer Familie vergewaltigt und womöglich sogar vom mordenden Feind geschwängert. Das soziale Gefüge der Gesellschaft droht zu kollabieren.

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Schon vor Ausbruch des Krieges hat die russische Kriegsrhetorik die Ukrainerinnen und Ukrainer zu Menschen zweiter Klasse degradiert, um die Hemmungen der russischen Soldaten zu minimieren. Gerade in der Atmosphäre des militärischen Erfolgs gehen Soldaten davon aus, Verfügungsgewalt über die Frauen des Feindes zu besitzen. Doch auch nach der Niederlage in der Region Kiew kamen immer mehr Fälle ans Licht. Soldaten könnten aus Trotz und Enttäuschung sagen: Wenn wir uns schon zurückziehen müssen, dann wollen wir unsere Macht vorher noch einmal demonstrieren, so der Militärpsychologe Hubert Annen von der Militärakademie der ETH Zürich im Gespräch mit dem RND.

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Diese Taten sind Teil des russischen Kriegssystems, so Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations. Vergewaltigungen und andere Gräueltaten müsse man den Soldaten gar nicht befehlen. „Sie sind bereits ideologisch darauf getrimmt, solche Taten zu verüben“, sagte er dem RND.

Die Dunkelziffer dürfte enorm sein, insbesondere bei den männlichen Opfern. Denn lange Zeit war an Männern ausgeübte sexuelle Gewalt stark tabuisiert und noch heute melden sie nur selten Fälle oder lassen sich in einer Klinik untersuchen. Doch immer häufiger brechen auch männliche Vergewaltigungsopfer ihr Schweigen. Mit dem Finger auf Russland zu zeigen greift aber zu kurz. Denn Vergewaltigungen in der Ukraine sind kein typisch russisches Phänomen. Es gibt sie in jedem Krieg, sagen Historiker, wenn auch in einem unterschiedlichen Ausmaß.

In Bosnien wurden während des Krieges mindestens 25.000 muslimische Frauen systematisch vergewaltigt, unter anderem in der Kleinstadt Srebrenica. Im Irak sollen britische Soldaten zwischen 2003 und 2007 Gefangene vergewaltigt haben. Auch aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib gibt es Berichte, dass Hunderte Gefangene Opfer systematische sexueller Gewalt wurden. Die Terrormiliz IS soll unzählige Jesidinnen gefangen gehalten und vergewaltigt haben. In Deutschland gehen Historiker davon aus, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg 900.000 Vergewaltigungsopfer hierzulande durch die Alliierten gegeben hat.

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Zuvor sollen Wehrmachtsoldaten in Polen und der Sowjetunion Tausende Frauen vergewaltigt haben. Schon der Sanitätsdienst der Wehrmacht hatte Bedenken geäußert, ob es den jungen Soldaten womöglich auf Dauer schaden würde, dass ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit Kriegsgewalt in Verbindung stehen. Denn wie auch viele der russischen Soldaten an der Front heute, waren damals die Wehrmachtssoldaten sehr jung, fern der Heimat, außerhalb der sozialen Kontrolle ihrer Elternhäuser und ihres Umfelds und wollten etwas erleben.

Schon in der NS-Zeit hatte man sich gefragt, wie ganz normale Männer zu Vergewaltigungen fähig sind. Menschen, die dies vorher selbst nicht für möglich gehalten haben. Damals wie heute ist es schwierig, darauf eine eindeutige Antwort zu finden. Ist es die Gruppendynamik unter Soldaten, in der niemand als Schwächling dastehen will und manch einer selbst Schikanen des Vorgesetzten ausgeliefert ist? Ist es die Extremsituation, in der Soldaten bereit sein müssen, jederzeit zu töten und getötet zu werden? Oder ist es der weitgehend gesetzlose Raum, in dem sich die Soldaten im Krieg aufhalten, und in dem selbst Vergewaltigungen nicht bestraft werden? Militärexpertinnen und -experten sowie Psychologinnen und Psychologen sehen in allen dieser Faktoren eine Erklärung, aber keine Entschuldigung.

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Natürlich könnte man an den Menschenverstand appellieren und fragen, ob nicht auch im Krieg ein Minimum an Selbstkontrolle möglich ist. Doch Krieg ist ein Ausnahmezustand, auch für Soldaten. Es braucht eine ausgeprägte Werthaltung und eine mentale Vorbereitung, so Psychologinnen und Psychologen, um sich im Krieg der Gruppendynamik unter Soldaten zu widersetzen. Das ist aber selten. In den meisten Armeen gibt es explizit militärische Gesetze, die sexuelle Gewalt verbieten. Ob die eingehalten werden, steht jedoch auf einem anderen Blatt.

Die russischen Kommandeure wissen ganz genau, wie ihre Soldaten in der Ukraine ticken. Wenn militärische Befehlshaber Vergewaltigungen verhindern wollen, sprechen sie normalerweise strikte Verbote aus und bestrafen jede Form von sexueller Gewalt. Tun sie das nicht, machen sie sich ganz bewusst das Verhalten der Soldaten für ihre Zwecke zunutze – und sind dann auch für diese Taten mitverantwortlich.

Am Ende aber Soldaten für sexuelle Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten zur Rechenschaft zu ziehen ist äußerst schwierig. Erst seit diesem Jahrtausend wird Vergewaltigung ausdrücklich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen im Völkerstrafrecht angeführt. Verurteilungen sind aber trotzdem selten, auch bei sexueller Gewalt außerhalb von Kriegen. Häufig wollen Opfer nicht vor Gericht erneut ihrem Peiniger gegenüberstehen und die Vergewaltigung schildern müssen. Wenn es überhaupt Zeuginnen und Zeugen für die Tat gibt, werden diese laut Prozessbeobachterinnen und -beobachtern immer wieder eingeschüchtert und ziehen ihre Aussage zurück.

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Es müssen daher Bedingungen geschaffen werden, die Frauen ermöglichen, geschützt auszusagen, und zu zeigen, auf welche Weise sie Opfer des systematischen militärischen Angriffs sind. Genau dieser Ansatz entspricht dem Kern feministischer Außenpolitik. Es geht darum, den Blick vom rein militärischen Kampf um Macht und Einfluss auszuweiten auf Frauen und Kinder, queere Menschen und Personen mit dunkler Hautfarbe sowie Minderheiten und die Folgen für die Menschen im Krieg. Eine feministische Außenpolitik kämpft gegen mangelnde Bildungschancen und Ungleichheit, gegen Unterdrückung und fehlende Sicherheit, und das nicht nur im Krieg.

Mit diesem feministischen Ansatz ist Baerbock nicht alleine. Mexiko, Luxemburg, Schweden, Frankreich, Kanada und Spanien haben sich ebenfalls der feministischen Außenpolitik verschrieben. Schwedische Waffen dürfen zum Beispiel nur in Staaten exportiert werden, in denen Frauen nicht unterdrückt werden. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj denkt die Folgen des Krieges für Frauen und Familien mit. Er appellierte jüngst in einer Videoansprache an die Mütter russischer Soldaten, ihre Söhne nicht in den Krieg ziehen zu lassen.

Ob das etwas bringt? Der Einfluss von Frauen auf den Frieden darf jedenfalls nicht unterschätzt werden. Das haben schon die Proteste der russischen Soldatenmütter während des Tschetschenien-Krieges gezeigt. Mit ihrer lauten Kritik konnten sie die Regierung in Moskau unter Druck setzen – mit Erfolg.

Wie wichtig Frauen für den Frieden sind, hat auch eine Studie der Vereinten Nationen gezeigt. Friedensverträge werden demnach häufiger geschlossen, wenn Frauen an den Verhandlungen beteiligt sind. Dann steigt auch die Wahrscheinlichkeit um 35 Prozent, dass der Friedensvertrag länger als 15 Jahre hält. Präsident Selenskyj wäre also gut beraten, einige Frauen zu seiner nächsten Friedensverhandlung mit Russland mitzunehmen.

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