Hallo Frau Peirano,
Vor einem halben Jahr habe ich (35) eine Frau (33) kennengelernt. Bei unserem ersten Treffen erzählte sie mir, dass sie sich erst vor kurzem getrennt hätte. Ihre alte Beziehung war wohl schon länger in Schieflage und eine Belastung für sie.
Außerdem sagte sie gleich zu Anfang, dass sie momentan noch nicht bereit für eine neue Beziehung ist. Wir haben dann abgemacht, dass wir trotzdem Zeit miteinander verbringen wollen und gucken, was passiert. Seitdem treffen wir uns ungefähr einmal in der Woche und haben eine schöne Zeit zusammen.
Leider scheint ihr Ex-Freund ernsthafte Problemen haben. Er droht mit Suizid, falls sie den Kontakt abbricht. Anfangs hatte ich das Gefühl, dass der Kontakt zu ihrem Ex weniger wird. Jetzt hat er ihr vor kurzem einen Wochenendtrip zum Geburtstag geschenkt. Sie ist mit ihm gefahren. Sie verheimlicht mir gegenüber nichts, aber langsam bekomme ich Bauchschmerzen ob ihres Verhaltens. Er ist völlig unselbstständig, depressiv und bekommt sein Leben nicht auf die Reihe. Ich verstehe nicht, warum sie sich nach wie vor mit ihm trifft, obwohl er sie anscheinend zurück will. Sie sagt, dass sie ihn nur als Freund sieht. Von mir hat sie ihm auch nichts erzählt, da er das wohl nicht vertragen würde.
Mein Gefühl sagt mir, dass eine ungesunde Abhängigkeit zwischen den beiden besteht und sie von ihm emotional erpresst wird. Ich frage mich ständig, ob sie von ihm loskommen wird, denn der Status quo ist auf Dauer nicht zu ertragen.
Haben Sie eine Erklärung für ihr Verhalten?
Liebe Grüße,
Paul S.
Lieber Paul S.,
ehrlich gesagt frage ich mich gerade nicht so sehr, warum Ihre Freundin sich Ihnen und auch ihrem Ex-Partner gegenüber so unklar verhält. Vielmehr frage ich mich, warum Sie das mit sich machen lassen. Es klingt so, als wenn Ihre Freundin Ihnen gleich am Anfang die Karten offen auf den Tisch gelegt hat: Sie sagte, dass sie noch nicht für eine neue Beziehung bereit ist und emotional noch in einer schwierigen Beziehung steckt. Leider ist es ja meistens so, dass die Hindernisse, die eine gleich in der Anfangszeit auffallen, später erst richtig zum Thema (oder zum Problem!) werden. Hier trifft das auf jeden Fall zu.
Ihre Freundin hatte eine komplizierte Beziehung mit einem psychisch schwerkranken Mann und ist noch nicht frei davon. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass Ihre Freundin, so merkwürdig das klingen mag, in ihrem Ex-Freund jemanden gefunden hat, der zu ihren eigenen Problemen passt. Er ist krank, depressiv und unselbstständig. Ihre Freundin wird sich viel um ihn gekümmert haben. Sie wird versucht haben, ihm zu helfen und seine Probleme für ihn zu lösen. Ihre Freundin ist offensichtlich co-abhängig, das heißt, sie sucht sich jemanden mit Schwierigkeiten, um den sie sich drehen kann. Das gibt ihr das Gefühl, gebraucht zu werden. Zudem muss sie sich nicht um ihre eigenen Probleme und Gefühle kümmern, da sie immer auf ihren kranken Partner schauen kann, der ja viel offensichtlichere Probleme hat.
Oft haben co-abhängige Menschen dieses Muster schon in ihrer Kindheit gelernt, zum Beispiel weil die Mutter alkoholabhängig oder psychisch krank war und sich nicht angemessen um das Kind kümmern konnte. Die betroffenen Kinder sind schon früh wahre Meister darin, zu helfen: Schon als kleine Kinder führen sie den Haushalt, versuchen, Geld zu verdienen und geben sich Mühe, möglichst unauffällig und pflegeleicht zu sein.
Als Erwachsene suchen sich Menschen, die co-abhängig sind, aus einer Art Wiederholungszwang heraus Partner, die dem kranken Elternteil ähneln. Dann können sie wieder das gleiche Verhaltensmuster an den Tag legen, das sie in ihrer Kindheit erlernt haben. Und sie hoffen insgeheim, dass sie in ihrer Partnerschaft Erfolg haben werden und ihren Partner stellvertretend für die Mutter bzw. den Vater heilen können. Leider funktioniert das in der Regel nicht, wie man ja auch an dem Ex-Freund Ihrer Freundin sehen kann.
Ich denke, dass Ihre Freundin aufgrund des Wiederholungszwanges sehr schwer von Ihrem Ex-Partner loskommt. Denn auf eine dysfunktionale Art passen die beiden in ihren psychischen Mustern wunderbar zusammen. Sie hingegen wollen ihr eine schöne Beziehung auf Augenhöhe bieten. Dazu ist ihre Freundin (noch?) nicht in der Lage: Sie sucht und braucht die Problem anderer und ist von ihnen abhängig. Damit übertönt sie auch eigene Unsicherheiten und innere Leere..
Paradoxerweise scheinen Sie selbst mit Ihrer Freundin selbst in ein co-abhängiges Muster zu geraten: Sie versuchen, ihr Verhalten zu erklären, stellen Ihre eigenen Gefühle zurück und drehen sich mit ihrem Problemstrudel mit.
Ich würde Ihnen empfehlen, hier sehr wachsam zu sein. Bleiben Sie bei Ihren eigenen Gefühlen und benennen Sie das, was Sie stört. Setzen Sie ihrer Freundin klare Grenzen, z.B. ein Kontaktverbot zu ihrem Ex-Freund oder dass sie ihm zumindest von Ihnen erzählt. Denn auch darin können Sie Ihrer Wahrnehmung trauen: Die beiden verbindet keine Freundschaft! Sie sind immer noch in einer Beziehung, selbst wenn sie keinen Sex haben.
Bleiben Sie bei sich, und fragen Sie sich bitte ernsthaft, warum Sie sich das antun, mit einer Frau zusammen zu sein, die sich nicht zu Ihnen bekennen kann.
Herzliche Grüße, Julia Peirano