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Wolfgang Herrndorf "Stimmen" "Guck mal, da sind ganz viele Kinder. Vielleicht kannst du da mitspielen"

Eine Junge guckt unglücklich in die Kamera
Pubertät bedeutet leiden, weil man zwischen zwei Welten lebt
© jeremyiswild / Getty Images
Mit der Veröffentlichung von "Tschick" im Jahr 2010 ist Wolfgang Herrndorf schlagartig berühmt geworden. Als der Autor 2013 starb, hinterließ er "Texte, die bleiben sollten", die er meist unter dem Pseudonym "Stimmen" geschrieben hat. Nun erschien ein Teil davon als Buch.

Der stern darf einen der Texte aus Wolfgang Herrndorfs "Stimmen" veröffentlichen. Das Buch erschien am 25. September 2018 und bei der Lektüre wird einem schmerzhaft bewusst, wie sehr der geniale Autor fehlt. Und wie schön es ist, etwas "Neues" von ihm zu lesen. Viel Vergnügen!

Zu Beginn meiner Pubertät begann sich der Freundeskreis meiner Kindheit langsam aufzulösen, und es folgte nicht viel nach. Ich war oft allein, litt aber keine Langeweile. Nur meine Mutter muss um meine Entwicklung besorgt gewesen sein; sie unternahm allerlei Versuche, mir Spielkameraden zu besorgen. Ich hatte sie nicht darum gebeten, und es war grauenvoll. Schon als ich noch ganz klein war, sagte sie auf dem Spielplatz oder am Strand oder sonst wo, kaum dass wir angekommen waren, immer in dringlichem Tonfall: "Guck mal, da sind ganz viele Kinder. Vielleicht kannst du da mitspielen." Das hatte ich meistens ohnehin vorgehabt, aber nach dieser Aufforderung wurde mir der sensible Prozess des Kennenlernens erschwert durch den Gedanken: "Hallo, ich soll hier mitspielen, weil es meine Mutter glücklich macht."

Porträt Wolfgang Herrndorf
Wolfgang Herrndorf (12.6.1965–26.8.2013) war Schriftsteller, Maler und Illustrator. Sein bekanntestes Buch "Tschick" (von 2010) erschien im gleichen Jahr, nachdem bei dem Autor ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert worden war. Herrndorf nahm sich 2013 das Leben. "Tschick" wurde von dem Hamburger Regisseur Fatih Akin verfilmt und kam 2016 in die deutschen Kinos.
© Patrick Seeger / DPA

In der Pubertät wurde alles anders, meine Mutter änderte ihre Strategie. Ob sie das tat, weil ich zu dieser Zeit vereinsamte, oder ob ich vereinsamte, weil sie die Strategie änderte, lässt sich nicht mehr so klar sagen. Jedenfalls plante sie Verabredungen für mich. "Ich habe dich zusammen mit Oliver Grmbrm (Name geändert) aufgehängt", eröffnete sie mir eines Tages im Tennisclub. (An einer grünen Tafel wurden die Namensmarken aufgehängt, um einen Platz zu reservieren. Ein verbindliches Ritual.) "Was?", rief ich, denn mir schwante Übles. Ich kannte keinen Oliver Grmbrm. Meine Mutter zeigte diffus in eine Richtung, wo gerade ein Spacken zusammen mit seiner Mutter das Gelände verließ.

"Auf gar keinen Fall", sagte ich. "Da geh ich nicht hin. Ich weiß überhaupt nicht, wer das ist."

"Aber warum, vielleicht ist er doch ganz nett."

"Vielleicht auch nicht! Und ist mir wurscht, ob er nett ist."

"Aber jetzt haben wir euch schon aufgehängt."

"Du hättest mich vorher fragen müssen!"

"Aber du warst gerade nicht da."

"Nein! Nein! Nein!" etc.Dabei war mir damals schon klar, wie solche Dinge zustande kamen. Meine Mutter und Frau X saßen auf der Terrasse und unterhielten sich über ihre Söhne. Sagt die eine: Er hat ja nicht viel Freunde. Sagt die andere: Oh, meiner auch nicht! Der Rest war reine Formsache, und das Ergebnis lautete: Samstag, acht Uhr früh, Tennisspielen mit Oliver Grmbrm.

Buchcover
"Stimmen" von Wolfgang Herrndorf, Rowohlt Berlin Verlag, 18 Euro, hier bestellbar
© Rowohlt Berlin Verlag

Oliver Grmbrm war mir auf Anhieb unsympathisch, ein kontaktgestörter Dreizehnjähriger, hühnerbrüstig, ergeben, nerdisch, mein Spiegelbild, und ich dachte, gut, bringen wir die Peinlichkeit hinter uns, sieht ja keiner. Wir spielten ein paar Bälle übers Netz, und nach wenigen Sekunden ging Oliver Grmbrm auf seiner Seite in die Knie, krabbelte wie ein Hund die Grundlinie entlang und verharrte dort. Ich stand auf der anderen Seite des Platzes und sah mir das an. Dann rief ich: Was machst du da? Und Oliver Grmbrm bedeutete mir stumm, rüberzukommen. Ich weigerte mich. Er verharrte. Nach fünf Minuten ging ich auf die andere Seite. Mein neuer Spielgefährte sah mich an, senkte dann seinen Kopf und schien irgendetwas mikroskopisch Kleines zu beobachten, das zwischen seinen beiden Händen als schwarzer Punkt die Grundlinie entlangkrabbelte.

"Ein Sowieso-Sowieso-Käfer", sagte Oliver Grmbrm zu mir.

"Und, können wir jetzt weiterspielen?", sagte ich.

Aber das war nicht das Schlimmste daran. Das Schlimmste, der Albtraum, war die Pubertätserkenntnis, dass es einen Grund haben musste, warum es immer nur diese Trottel waren, mit denen ich verbandelt wurde, und niemals coole Kinder. Dass mich von diesen Trotteln vermutlich nicht viel unterschied. Nur behämmerte Kinder werden von ihren Müttern mit anderen behämmerten Kindern zwangsbefreundet. Das Einzige, was mir auffiel, war: Mir war das furchtbar unangenehm. Oliver Grmbrm nicht. Vielleicht hat mich das gerettet. Im Nachhinein ist das Ganze auch meiner Mutter peinlich.

Der Rowohlt Berlin Verlag zu "Stimmen": Der vorliegende Band präsentiert eine Auswahl, Texte, die mal an "In Plüschgewittern" erinnern, mal an "Tschick", mal an die magischen Erinnerungsfragmente aus "Arbeit und Struktur". Es gibt u.a. eine Fahrt mit einem gestohlenen Schrottauto über Land, nur sind es keine Jugendlichen und das Auto ist kein Lada; Herrndorf selbst verirrt sich nachts mit dem Fahrrad im Wald und klingt wie Isa auf ihren Wanderungen im Mondschein. Nichts findet sich hier, das nur Dokument oder Autorenreliquie wäre; alles ist Literatur, auch das unvollendet Gebliebene, wo es vom Autor selbst in die Tradition des romantischen Fragments gestellt wird. Ein Schatz für Wolfgang Herrndorfs Leser.

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bal

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