Bezahlt hat Iraks Bevölkerung

Die geheimen Irak-Protokolle berichten über zivile Opfer, Übergriffe privater Sicherheitsdienste und systematische Folter. Die USA verurteilen «WikiLeaks» erneut als unverantwortlich.

Thomas Spang
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Bilder der Demütigung irakischer Häftlinge kommen nicht nur aus dem Gefängnis der US-Truppen in Abu Ghraib. (Bild: ap/Maya Alleruzzo)

Bilder der Demütigung irakischer Häftlinge kommen nicht nur aus dem Gefängnis der US-Truppen in Abu Ghraib. (Bild: ap/Maya Alleruzzo)

Washington. Der «Feldbericht» vom 2. Januar 2007 «aus der Umgebung von Falluja» über die Misshandlung zweier Iraker wirkt banal. «Ein unbekannter irakischer Polizist (IP) – Namen geschwärzt – brachte xxx und xxx (Namen geschwärzt) zu einem Gymnasium und danach in ein verlassenes Haus in Husaybah, wo der IP sie schlug.» Einer der Gefangenen sei «infolge der Misshandlungen ums Leben gekommen».

Statt der Sache auf den Grund zu gehen, hakt der Berichterstatter den Vorgang als Routine ab. Da keine Koalitionstruppen beteiligt gewesen seien, «besteht keine Notwendigkeit zu einer weitergehenden Untersuchung».

Leben von Irakern wenig wert

Doch der «Feldbericht» beschreibt keinen Einzelfall, sondern die Regel. In Hunderten Protokollen, die Missbrauch, Folter, Vergewaltigung und Mord durch irakische Sicherheitskräfte festhalten, bleiben die Besatzungstruppen untätig. Statt aktiv einzugreifen, meldeten sie die Vorgänge der irakischen Seite.

Oft genug bei denselben Einheiten, die für die Übergriffe verantwortlich waren.

In den geheimen Kriegsprotokollen, die Angehörige der US-Streitkräfte verfasst haben, entsteht das Bild eines Konflikts, in dem das Leben eines Irakers auch für die internationalen Truppen wenig zählt.

Schiesswütige private Dienste

Militärjuristen erlauben den Piloten eines Kampfhelikopters, sie dürften auf mutmassliche Kämpfer schiessen, obwohl diese sich ergeben wollten.

US-Marines feuern auf ein ziviles Auto, das sich einem Kontrollpunkt nähert, weil sie auf den reflektierenden Scheiben nicht sehen können, wer im Fahrzeug sitzt. Die Fahrerin kommt ums Leben. Ihr Mann und drei Töchter werden verletzt.

Auch private Sicherheitsdienste agieren wie im Wilden Westen. Ihre Schiesswut wird immer wieder mit dem Adjektiv «ungerechtfertigt» bezeichnet.

Die Irak-Protokolle lassen keinen Zweifel, dass die Zivilbevölkerung den höchsten Preis des sechsjährigen Kriegs zahlte. Eine Analyse des Materials durch «Iraq Body Count» kommt auf 109 000 Opfer, darunter 15 000 bisher nicht erfasste Fälle.

Die Rolle Irans

Neue Einblicke vermitteln die nur zum internen Gebrauch bestimmten «Feldberichte» auch in die Rolle Irans. Das Mullah-Regime bildete demnach Widerstandskämpfer als Scharfschützen, Bombenbauer und Geiselnehmer aus. Und es belieferte die schiitischen Milizen gezielt mit besonders tödlichen Sprengfallen (IEDs).

Die IEDs erwiesen sich als besonders gefürchtet. In dem Kriegsarchiv werden 65 347 Explosionen festgehalten. Nie zuvor gelangten so viele militärische Geheimdokumente durch eine gezielte Indiskretion an die Öffentlichkeit.

Die etwa 400 000 Dokumente stellen die 77 000 Afghanistan-Protokolle in den Schatten, die bereits im Juli ans Tageslicht kamen. Anders als damals ersetzte «WikiLeaks» diesmal die meisten Namen im Text mit gestrichelten Linien.

US-Aussenministerin Clinton verurteilte die Veröffentlichung dennoch als unverantwortlich: «Die Preisgabe von Informationen durch Einzelpersonen oder Organisationen, die das Leben von Angehörigen der Streitkräfte der USA und ihrer Partner riskiert, weisen wir in aller Schärfe zurück.» Nato-Generalsekretär Fogh Rasmussen sprach von einer «sehr unerfreulichen Situation».

Assange verteidigt Publikation

«WikiLeaks»-Gründer Julian Assange verteidigte das «grösste Leck» in der Geschichte als notwendig. «Bei dieser Enthüllung geht es um Wahrheit», rechtfertigt er die Veröffentlichung. Neben dem deutschen Magazin «Der Spiegel» erhielten die «New York Times», die französische «Le Monde», der britische «Guardian» und der arabische Sender Al Jazira die Irak-Protokolle vorab. Das gesamte Material kann auf der Internetseite «wikileaks.org/ iraq/diarydig» abgerufen wer-den.