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Tschernobyl: Das waren und sind die Folgen für Bayern

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Erste Reparaturarbeiten am zerstörten Reaktor im Oktober 1986
Erste Reparaturarbeiten am zerstörten Reaktor im Oktober 1986. © dpa

München - In der Nacht auf den 26. April 1986 - also vor 30 Jahren - explodierte der Reaktor 4 in Tschernobyl. Die tz beleuchtet die Folgen der verhängnisvollen „Havarie“ des Sowjet-Reaktors.

Es war eine der größten Katastrophen in der Geschichte der Menschheit: Als um 1.23 Uhr in der Nacht zum 26. April 1986 Reaktor 4 des ukrainischen Atomkraftwerks Tschernobyl explodierte, kam es zu einer Kernschmelze im Reaktorblock. Eine Strahlenwolke breitete sich über weite Teile Europas aus – auch über Oberbayern ging radioaktiver Regen nieder. Die Strahlung in Tschernobyl war etwa 500 Mal stärker als nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima 1945.

Es ist eine Katastrophe, die auch nach 30 Jahren längst nicht überwunden ist – und die es auch in Jahrhunderten nicht sein wird: Caesium-137 hat eine Halbwertzeit von 30 Jahren, Strontium von 29 Jahren. Gerade einmal die Hälfte davon ist also jetzt zerfallen – und erst in 300 Jahren wird die Strahlung wieder auf dem Vor-Tschernobyl-Level sein. Die tz beleuchtet die Folgen der verhängnisvollen „Havarie“ des Sowjet-­Reaktors.

Die Folgen für die Wirtschaft

Die volkswirtschaftlichen Schäden der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sind laut einer Studie des Münchner ifo-Instituts und der Katholischen Uni Eichstätt deutlich höher als bislang berechnet. „Die negativen psychischen Langzeitfolgen wurden bislang nicht berücksichtigt“, so die Co-Autorin der Studie, Natalia Danzer. Die Forscher beziffern den Wohlstandsverlust auf vier bis acht Milliarden US-Dollar. Diese Kosten in Höhe von bis zu sechs Prozent des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts müssten zu den Aufwendungen hinzugerechnet werden, die die Ukraine jährlich zur Sicherung des zerstörten Kraftwerks und seiner Umgebung sowie für direkt Betroffene ausgebe. Die gigantische Stahlhülle, die über dem brüchigen Sarkophag gebaut werden soll, wird etwa 2,1 Milliarden Euro kosten. Die 108 Meter hohe Hülle soll im November 2017 fertig sein und die Umgebung 100 Jahre lang vor Strahlung schützen.

Da die vom Krieg im Osten gebeutelte Ukraine ohnehin kurz vor der Pleite steht, muss die Weltgemeinschaft für den Großteil der Kosten aufkommen. Vor einem Jahr konnte eine Geberkonferenz in London den aus Geldmangel drohenden Baustopp gerade noch abwenden: Damals kamen 530 Millionen Euro zusammen. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung übernimmt mit 350 Millionen Euro den größten Batzen. Insgesamt 165 Millionen Euro steuern die EU-Kommission und die G7-Staaten, darunter Deutschland, bei. Es fehlen aber immer noch rund 85 Millionen Euro für die Fertigstellung des gigantischen Bauwerks. Und dann ist da noch die Entsorgung des radioaktiven Mülls: „Die gewaltigen Mengen Atommüll aus dem Reaktor zu bergen, wird eine zweistellige Milliardensumme kosten“, fürchtet Tobias Münchmeyer von Greenpeace.

Die Folgen für die Natur

30 Jahre nach dem Reaktorunglück leben heute mehr Wildtiere als zuvor in dem 4200 Quadratkilometer großen Sperrgebiet rund um Tschernobyl. Der Hauptgrund dafür, dass die Bestände an Wölfen, Elchen oder Wisenten sich trotz der immer noch hohen Strahlung erholen konnten, ist die Tatsache, dass deren größter Feind – der Mensch – sich aus dem Gebiet zurückgezogen hat. Einzelne Fehlgeburten oder Missbildungen durch die Strahlung sind für die Population insgesamt also weniger schlimm als der Mensch.

Jim Smith von der Uni Portsmouth ermittelte per Helikopterzählung, dass sich die Zahl der Wölfe sogar versiebenfacht hat. Auf zehn Quadratkilometern zählte Smith im Schnitt rund zehn Elche – in anderen Naturreservaten Weißrusslands und der Ukraine sind es nur ein bis sechs Tiere. Diese Artenvielfalt macht die Todeszone inzwischen sogar bei Touristen beliebt: 2015 besuchten knapp 15.000 Menschen die verstrahlte Zone! Bei Insekten registrieren die Forscher jedoch einen Rückgang der Artenvielfalt. Bei Spinnen ist zu beobachten, dass viele ihre Netze asymetrisch bauen – ein Hinweis auf strahlenbedingte Mutationen.

Die Folgen für Bayern

Auch 30 Jahre nach dem Supergau im Atomkraftwerk Tschernobyl werden in Pilzen und Wildschweinen in Bayern manchmal noch stark erhöhte radioaktive Werte gemessen. Nach Stichproben des Landesamtes für Umwelt gab es bei Caesium-137 im vergangenen Jahr in Einzelfällen noch Spitzenwerte im vierstelligen Bereich. Bei Pilzen aus Garmisch-Partenkirchen wurden beispielsweise am 18. Dezember 2015 bis zu 4900 Becquerel gemessen. Ein Wildschwein aus Nürnberg kam im September auf 1200 Becquerel. Bei einer Probe im Mai aus dem schwäbischen Landkreis Ostallgäu waren es 2100 Becquerel.

Bei Pilzen warnt der Münchner Strahlen­forscher Prof. Edmund Lengfelder vor allem vor dem Maronenröhrling, „weil der ein Mehrfaches der Cäsium­nuklide aufnimmt, anders als Pfifferlinge und Steinpilze“. Um Ängsten vor verstrahltem Wild entgegenzutreten, hat der Landesjagdverband Bayern (BJV) ein flächendeckendes Netz von 111 Messstationen eingerichtet. Dort wird das Schwarzwild-Fleisch kontrolliert, bevor es in den Handel kommt.

Die radioaktive Wolke aus dem Osten hatte Bayern besonders stark betroffen. Vor allem in Teilen Schwabens, des Bayer­ischen Waldes und im südlichen Oberbayern spülte der Regen den radioaktiven Fallout nieder.

Caesium-137 hat eine Halbwertzeit von 30 Jahren. Gerade einmal die Hälfte davon ist also zerfallen. Während es auf Feldern in tiefere Schichten verteilt ist, kann es sich auf allen sauren Böden – in Wäldern und Mooren – nah an der Oberfläche halten. Doch das Bayerische Landesamt für Umwelt versichert: „Die äußere Strahlenbelastung in Bayern entspricht bereits seit Beginn der 1990er-Jahre wieder der natürlichen Umgebungsstrahlung.“

Die Folgen für die Gesundheit

Die gesundheitlichen Folgen der Reaktorkatastrophe sind immer noch extrem umstritten. Denn der Zusammenhang zwischen Krebserkrankungen und Tschernobyl-Strahlung lässt sich nur schwer nachweisen. Die Umweltorganisation Greenpeace geht langfristig von 100.000 Tschernobyl-Todesopfern aus. Hier einige Fakten:

Strahlentote: 134 von Hunderttausenden Liquidatoren (also Helfern, die den brennenden Reaktor zu löschen versuchten und halfen, radioaktives Material zu beseitigen) wurden so stark verstrahlt, dass sie an akuter Strahlenkrankheit litten. 28 von ihnen starben innerhalb von Tagen und Wochen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass insgesamt rund 2200 Arbeiter vorzeitig an Strahlenschäden starben oder noch sterben werden. Andere Studien kommen zu weit höheren Zahlen: Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW und die Gesellschaft für Strahlenschutz (GfS) gehen davon aus, dass 50.000 bis 100.000 Liquidatoren gestorben sind. Zwischen 540.000 und 900.000 Liquidatoren sollen Invaliden sein.

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Schilddrüsenkrebs: Seit 1990 wurden mehr als 6000 Fälle von Schilddrüsenkrebs in Weißrussland, Russland und der Ukraine gemeldet – eine weit höhere Zahl, als statistisch gesehen zu erwarten wäre. Weil sich Schilddrüsenkrebs sehr gut behandeln lässt, starb nur etwa ein Prozent der Betroffenen an den Folgen der Krankheit. Laut IPPNW seien in Weißrussland seit 1986 sogar über 10.000 Menschen an Schilddrüsenkrebs erkrankt. Bis 2065 werden rund 16.000 Schilddrüsenkrebserkrankungen und 25.000 sonstige Krebserkrankungen zusätzlich auftreten.

Genetische Schäden: Bei 12.000 bis 83.000 in der Tschernobylregion geborenen Kindern seien genetische Schäden aufgetreten, so die IPPNW-Studie.

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