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Meinung Gefängnis Abu Ghraib

Die Folter-Bilder verfolgen die USA bis heute

Zehn Jahre nach den Schockbildern aus Abu-Ghraib

Ein Jahrzehnt ist vergangen, seit diese verstörenden Bilder aus dem irakischen Abu-Ghraib die Öffentlichkeit erreichten. Sie zeigen Folter an irakischen Inhaftierten durch amerikanische Soldaten.

Quelle: N24

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Vor zehn Jahren kam ans Licht, dass irakische Gefangene von US-Soldaten schwer misshandelt worden waren. Zur Wahrheit gehört aber auch: Keine andere Großmacht verfolgt solche Taten härter als die USA.

Vor zehn Jahren kamen die widerlichen Bilder ans Licht. Der angekettete Gefangene von Abu Ghraib mit dem Sack über dem Kopf hat seit 2004 das europäische Bewusstsein fast so geprägt wie die Darstellung der untergehenden „Titanic“. Das Foto ist im Hinterkopf präsent, es beeinflusst Meinungen und Reaktionen auf amerikanische Äußerungen und Vorhaben, es nährt Vorbehalte, Skepsis und Ablehnung.

Aus amerikanischer Sicht ist das ungerecht. Für Europa aber waren die Horrorbilder aus Sex, Folter und Erniedrigung schlichtweg ein Schock. Die USA schienen nach dem Ende des kalten Krieges enthemmt zu sein, notfalls bereit, über Leichen zu gehen. Bilder sind Mächte.

Was Amerika da im Irak getan hatte, war kein Antiterrorkampf, kein Feldzug gegen den Aggressor Saddam Hussein und auch kein Befreiungskrieg mehr. Das war Hexenjagd, düsteres Mittelalter, Entfesselung niederster Instinkte, der Blick in eine Welt der Seelenlosigkeit.

Überforderte Reservisten aus Kentucky

Publiziert wurden die Fotos in den USA am 29. April. Aber erst am langen Mai-Wochenende 2004 sanken sie weltweit in das allgemeine Bewusstsein. Sie haben sich dort als Symbolbilder amerikanischer Politik, ja sogar amerikanischer Charaktereigenschaften eingenistet.

Die Welt nahm keine Notiz mehr davon, dass es sich um die Taten einer kleinen Gruppe völlig überforderter Reservisten handelte. Einer Gruppe, die mental und organisatorisch unvorbereitet von Kentucky nach Bagdad verfrachtet worden war und dort ein Gefängnis übernahm, dessen Disziplin durch Überfüllung dabei war zusammenzubrechen.

Es war eine Reservistenschar, die auch noch einem doppelten Befehlsstrang gehorchen sollte – hier die Gefängnisleitung, dort die knallharten Vernehmer der Militäraufklärung. Alle Vorbedingungen für die Entstehung unkontrollierter, unkontrollierbarer Emotionen, für Angst, für die Flucht in immer mehr Gewalt und schließlich Exzesse waren gegeben.

Solche Reservisten, ohnehin eher einfach gestrickte Menschen, über Nacht aus dem friedlichen Kentucky in eine solche Vorhölle zu schicken – das war ein organisatorisches und politisches Versagen erster Güte. Im Krieg reagieren Menschen gänzlich anders als im normalen Leben, das gehört zum psychologischen Basiswissen. Die Verantwortlichen haben es ignoriert.

Ein Amerikaner brachte die Sache ins Rollen

Gefeuert aber wurden nicht sie, sondern nur die Gefängnisdirektorin. Die Verantwortlichen – Generäle im Irak, Generäle in den USA, die Chefs der Militäraufklärung, die Planer im Pentagon, Kontrolleure im Weißen Haus – verwendeten viel Zeit darauf, vor und hinter den Kulissen ihre Haut zu retten.

Dasselbe geschah Jahre später, als eine US-Eliteeinheit in Afghanistan abscheuliches Verhalten gegenüber getöteten Taliban an den Tag legte. Verantwortung ganz oben auch dann zu tragen, wenn es um Verbrechen geht, ist keine Stärke des amerikanischen Militärs. Zu vieles hängt an der Karriere.

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Die Welt nahm auch keine Notiz mehr davon, dass die Fotos nicht von einem Whistleblower stammten, der die Weltöffentlichkeit informieren wollte, sondern aus den Akten der amerikanischen Militärjustiz. Es hatte in Abu Ghraib in der Tat einen Zeugen mit Gewissensbissen gegeben. Zum Glück.

Aber er hatte sich mit den Bildern der Folterei nicht an die Medien gewandt, sondern an die Ermittler am Ort. Diese Militärermittler hatten schon mehrere eigene Untersuchungen laufen. Die schaurigen Bilder gaben ihnen genug Material in die Hand, um Washington zu informieren. Der Kongress wurde tätig.

Wie wäre das in China oder Russland gelaufen?

Es gehört zu den Seltsamkeiten besonders der amerikanischen Demokratie, dass Gipfel und Abgründe dicht an dicht zu finden sind. Die Fotos aus Abu Ghraib haben in den Vereinigten Staaten nicht entfernt dieselbe Wirkung entfaltet wie in Übersee.

Es waren eben ein paar Reservisten, ein paar Offiziere, die menschlich versagt haben, und im übrigen seien die Häftlinge ja nun doch meistens Saddam-Anhänger gewesen, die im umgekehrten Fall mit amerikanischen Gefangenen noch ganz andere Sachen gemacht hätten, so ungefähr klang es außerhalb Washingtons.

In keiner anderen weltpolitisch so wichtigen Nation aber würden Verbrechen wie in Abu Ghraib von den politischen Institutionen so öffentlich diskutiert. Möchte sich jemand vorstellen, in China oder Russland würden Militärpolizisten so zur Rechenschaft gezogen wie diejenigen in Abu Ghraib?

Parallelen zu Nürnberg 1949/50

In keiner anderen Weltmacht auch würden Misshandlungen und Folter an Kriegsgegnern mit dem Argument untersucht, eine solche Behandlung widerspreche der Moral und Verfassung des eigenen Landes.

Der US-Kongress hat sich am Beispiel Abu Ghraib ja nicht zum ersten Mal mit Haft- und Verhörbedingungen amerikanisch verwalteter Gefängnisse in einem besiegten Land beschäftigt. Das hatte er vielmehr ausgerechnet wegen der Nürnberger NS-Angeklagten getan, besonders der inhaftierten Waffen-SS-Leute.

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Die Umwandlung der Todes- in Haftstrafen 1949/50 kam nicht zustande, weil Washington die Kriegsverbrecher plötzlich als nützlich angesehen hätte, wie die Legende geht. Die Todesstrafen wurden aufgehoben, weil Kongress-Untersuchungsausschüsse festgestellt hatten, dass die Verhöre und Ermittlungen oft von Misshandlungen und Folter begleitet waren und die Urteile deshalb nicht amerikanischen Rechtsstandards genügten.

Europa hat ähnliche Erfahrungen gemacht

Die Siegermacht prüft sich selbst, ob sie die Besiegten angemessen behandelt – auch darauf wird man im Lande Wladimir Putins oder Xi Jinpings lane warten. Und doch geschehen amerikanische Verbrechen dann wieder. 20 Jahre später kam das Massaker von My Lai.

Abu Ghraib war wie My Lai ein amerikanischer Moment der widerlichen Wahrheit über Menschen im Krieg, und solche Wahrheit ist politisch teuer. Sie kostet Sympathien, sie lässt Verbündete auf Abstand gehen, sie mindert amerikanische Politikoptionen ebenso wie europäische.

Europa hat auf dem Balkan Ähnliches gelernt. Die Bilder niederländischer Uno-Soldaten, die mit einem serbischen Kriegsverbrecher in der Nähe eines Massaker-Tatorts anstießen, waren zwar optisch längst nicht so drastisch wie Abu Ghraib. Aber auch sie haben gezeigt, wie dicht Krieg, Moral, Ratlosigkeit und Schande beieinanderliegen – gleichgültig aus welchem Anlass es zum Krieg gekommen ist.

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