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Geschichte Tod an DDR-Grenze

So mörderisch waren die Selbstschussanlagen

Im März 1976 begann Michael Gartenschläger, Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze zu demontieren. Bis die Stasi einen Funkspruch des Bundesgrenzschutzes abfing – und ihn erschoss.

Schwarzer Mantel, schwarz geschminktes Gesicht, so schlich sich Michael Gartenschläger in den frühen Morgenstunden des 30. März 1976 in Richtung DDR-Grenze. Vom Westen her, bei der Gemeinde Bröthen in Schleswig-Holstein. Er verschüttete Pfeffer gegen Ost-Spürhunde und verteilte Zweige gegen neugierige West-Grenzer über die Wege, damit sie sich durch lautes Knacksen verraten und ihm nicht in die Quere kommen. Und er hatte eine Leiter in der Hand. Im Schutz von Dunkelheit und Gebüsch ging er weiter bis an den hohen Zaun, der schon 50 Meter weit auf DDR-Gebiet lag.

Dort, am Gitter, fand er, was er gesucht hatte, auf östlicher Seite anmontiert: eine Selbstschussanlage, trichterförmig. Verbunden mit einem Draht, den jeder berühren musste, der von drüben versuchte, über den Zaun zu klettern – und schon würde er beschossen, mit einer tödlichen Ladung aus 90 scharfkantigen Stahlwürfeln.

Michael Gartenschläger (1944-1976) wurde am 30. April 1976 an der innerdeutschen Grenze von Stasi-Mitarbeitern erschossen
Michael Gartenschläger (1944-1976) wurde am 30. April 1976 an der innerdeutschen Grenze von Stasi-Mitarbeitern erschossen
Quelle: picture-alliance / dpa/dpaweb

Gartenschläger stieg auf die Leiter, knipste die Kabel durch, schraubte in aller Ruhe die Halterungen ab und hob das Gerät, samt Gestänge fünf Kilo schwer, herüber, unbehelligt von Grenzern aus Ost wie West. Am nächsten Tag brachte er die Trophäe zur Redaktion des „Spiegel“, die ihm dafür 12.000 Mark zahlte und daraus eine große „Story“ machte.

60.000 solcher Anlagen, Typ „SM-70“, waren damals an den unübersichtlichen Abschnitten der innerdeutschen Grenze montiert. Die DDR-Regierung bestritt ihre Existenz hartnäckig. Bis zu Gartenschlägers Coup, danach ging es nicht mehr, das Regime war bloßgestellt. Und sann von dem Moment an auf Rache.

Ein halbes Jahr zuvor hatte Gartenschläger ebenfalls im „Spiegel“ über die Geheimapparate gelesen: „Obwohl der SM-70-Automat seit 1971 verwendet wird, weiß der Bundesgrenzschutz bis heute nicht, wie er funktioniert“. Man hatte keine Ahnung, „wie er etwa von einem Flüchtling gefahrlos entschärft werden könnte“. Das habe ihn zu seiner Tat veranlasst. „Wenn die so ’n Ding brauchen und nicht haben, wirst du denen eben so ’n Ding besorgen“, sagte er dem „Spiegel“, der „das Ding“ anschließend akribisch untersuchen ließ.

So sahen die Selbstschussapparate der DDR aus, die Michael Gartenschläger demontierte
So sahen die Selbstschussapparate der DDR aus, die Michael Gartenschläger demontierte
Quelle: picture alliance / dpa

Nun war nicht nur der Bundesgrenzschutz im Bilde, auch die Öffentlichkeit. Ein weiteres Bauteil der Todesmaschinerie der DDR war offenbart. Eines mit denkwürdiger Vergangenheit: Das Prinzip der Selbstschussanlage hatten einst SS-Ingenieure für KZ-Zäune entwickelt.

Der Automat vom 30. März war nicht der einzige, mit dem Gartenschläger die DDR-Organe foppte. Zwei Nächte zuvor hatte er bei einem anderen in der Nähe mit einem Stab die Zündung ausgelöst und so eine Ladung Eisenwürfel den „antifaschistischen Schutzwall“ entlanggeschossen. Ebenfalls im selben Grenzabschnitt baute er dann am 23. April ein weiteres Gerät ab. Die „Arbeitsgemeinschaft 13. August“, damals schon Betreiber des Mauermuseums am Berliner Checkpoint Charlie, hatte ihm dafür 3000 Mark in Aussicht gestellt. Dort steht es noch heute.

Gartenschläger hatte es nicht mal nötig, für seine Coups den Ort zu wechseln. Stets schlug er im selben Abschnitt zu – umso beschämender für den Staatssicherheitsdienst, der das Grenzregime unterhielt. So sollte es sein. Der 32-Jährige hatte mit den DDR-Organen noch eine Rechnung offen.

Der in Strausberg bei Ost-Berlin geborene Gartenschläger lernte früh die finsterste Seite des SED-Staates kennen. Als er nach dem Mauerbau 1961 mit Freunden Protestparolen an Wände malte und eine Scheune anzündete, wurde er mit 17 Jahren zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.

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Gartenschläger erging es übel in der Haft, aber er ließ sich nicht unterkriegen. Einmal kletterte er auf einen hohen Schornstein, aus Protest. Zweimal wäre ihm fast die Flucht aus dem Knast geglückt. Ob er in der DDR weit gekommen wäre? 1971, zehn Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer, kaufte ihn die Bundesregierung frei, für 40.000 D-Mark.

In der Bundesrepublik schlug er sich als Tankstellenpächter durch. Als er nach ein paar Jahren wieder die Transitwege nach Berlin benutzen durfte, betätigte er sich nebenbei als Fluchthelfer, aus Ostdeutschland, aus Rumänien, selbst aus Libyen. Insgesamt 31 DDR-Bürgern half er in den Westen.

Jetzt aber, 1976, ging es ihm nicht nur darum, Menschen durch die Grenze zu bringen, jetzt wollte er die Grenze selbst schwächen. Einen Monat nach seinem ersten Schlag, in der Nacht zum 1. Mai 1976, fuhr er erneut mit seinem BMW zu jenem rechtwinkligen Grenzknick bei Bröthen. Er wolle nur die Leiter abholen, hatte er Bekannten zuvor anvertraut. Stimmte das, oder ging es doch um eine weitere SM-70? War es eine falsche Fährte? Er fühlte sich von der Stasi beschattet. Wieder betrat er DDR-Gebiet, wieder ging er zum Zaun.

Was Gartenschläger in dem Moment nicht wusste: Vier Tage vorher, am Morgen des 26. April 1976, war vom Bundesgrenzschutz-Kommando Schwarzenbek in Schleswig-Holstein ein Funkspruch an Kollegen gegangen, die an der Grenze Streife fuhren. Sie sollten auf den Fahrer eines BMW achten. „Falls dieser Mann DDR-Gebiet betritt, rufen sie uns über Funk an. Nicht in Gewahrsam nehmen, bloß die SM-70, die er wahrscheinlich holt, abnehmen, festhalten, bis jemand rauskommt.“ So ist der Funkspruch protokolliert. Von der Stasi.

Die beiden Männer, die Michael Gartenschläger am 30. April 1976 an die Grenze begleiteten, konnten entkommen
Die beiden Männer, die Michael Gartenschläger am 30. April 1976 an die Grenze begleiteten, konnten entkommen
Quelle: picture alliance / dpa

Die Anweisung an die West-Grenzer hatte die Funkaufklärung auf östlicher Seite mitgeschnitten. Ihr Inhalt ging kurz darauf nach Berlin, an Stasi-General Karl Kleinjung. Sein sofortiger Befehl: Jener BMW-Fahrer solle „verhaftet bzw. vernichtet“ werden. Die Bundesbeamten hatten Gartenschläger davon abhalten wollen, sich in tödliche Gefahr zu begeben. Richtig gefährlich wurde es für ihn allerdings erst durch ihren Funkspruch.

Am 26. April wurde er nicht mehr gesehen, weder von West- noch von Ost-Grenzern. Doch die Stasi blieb auf der Lauer, auch am 1. Mai noch, als Gartenschläger erneut über die Grenze kam.

Das weitere Geschehen ist umstritten. Seine beiden Begleiter, die er auf West-Gebiet zurückließ, sagten später, er sei kurz darauf ohne Anruf und ohne selbst einen Schuss abgegeben zu haben, von Salven aus Maschinenpistolen der DDR-Grenzer zunächst niedergestreckt und, nach kurzer Feuerpause, am Boden liegend getötet worden.

Die Angeklagten im Gartenschläger-Prozess, der im November 1999 in Schwerin begann: Peter Raupbach (v. l.), Walter Lieberam und Hans-Uwe Wienhold
Die Angeklagten im Gartenschläger-Prozess, der im November 1999 in Schwerin begann: Peter Raupbach (v. l.), Walter Lieberam und Hans-Uwe Wienhold
Quelle: picture-alliance / ZB
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Im Jahr 1999 kam es zum Prozess gegen die Schützen. Ihre Version: Gartenschläger habe aus einer Pistole zuerst geschossen, sie hätten ihn dann angerufen und darauf erst die tödlichen Schüsse abgegeben. Ihre Aussage konnte nicht widerlegt werden, das Gericht erkannte auf Notwehr. Freispruch.

Einen Monat nach Gartenschlägers Tod hatte irgendjemand eine Hommage an ihn vollbracht und die nächste SM-70 geklaut. In der Zeit auch stellte sich ein Freund Gartenschlägers der Polizei und offenbarte sich als inoffizieller Stasi-Mitarbeiter.

Auch er gehörte zu den einst verurteilten von Strausberg, auch er war aus dem DDR-Knast freigekauft worden. Und auch er war später wieder über die Transitstrecken gefahren, geriet dort aber in die Fänge der Stasi, die ihn fortan als Agenten an der Angel hatte. Jetzt, so sagte er der Polizei, fühle er sich von den anderen Freunden Gartenschlägers bedroht, die seine Stasi-Mitarbeit geahnt hatten und ihn verdächtigten, den DDR-Behörden vor dem 1. Mai den Tipp gegeben zu haben. Das stritt er vehement ab.

Dass es vor allem der abgehörte Funkspruch war, der die Stasi alarmiert hatte, kam erst nach der Wende heraus.

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