WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. ICONIST
  3. Unterwegs
  4. Wiener Kaffeehäuser: Über die Kultur des Kaffeehauses von A bis Z

Unterwegs Wiener Kaffeehäuser

Hier kann man allein und doch in bester Gesellschaft sein

Zweckfreies Vergehenlassen der Zeit: Gäste im „Café Sperl“ im 6. Wiener Bezirk Zweckfreies Vergehenlassen der Zeit: Gäste im „Café Sperl“ im 6. Wiener Bezirk
Zweckfreies Vergehenlassen der Zeit: Gäste im „Café Sperl“ im 6. Wiener Bezirk
Quelle: Getty Images
Der Wiener Verleger Christian Brandstätter hat sein halbes Leben in den berühmten Cafés seiner Heimatstadt verbracht und kann sich keine schönere Art des Zeitvergeudens vorstellen. Hier erklärt er die Kultur des Kaffeehauses von A bis Z.

Architektur: Die meisten großen Wiener Kaffeehäuser wurden zwischen 1850 und 1900 während des Historismus gebaut und sind entsprechend prunkvoll ausgefallen. Ihre Gestaltung hat große Architekten bewegt, darunter Adolf Loos, der das berühmte „Café Museum“ als Antwort auf den vorherrschenden Bombast betont puristisch und schlicht einrichtete. Sein Funktionalismus war revolutionär, das Lokal entwickelte sich schnell zum Treffpunkt der Künstlergruppe Wiener Secession um Gustav Klimt. Ironischerweise, denn Loos war erklärter Gegner der Secessionisten und verabscheute ihren überladenen Stil.

Billard: Das Billardspiel war einst ein ebenso wichtiger Teil der Kaffeehauskultur wie das Schachspiel. Um den Zeitvertreib vom Verdacht der Anrüchigkeit zu befreien, mussten die Tische in Räumen mit großen Fenstern aufgestellt werden und von der Straße aus einsehbar sein. Sie waren meist grün – nur im „Café Museum“ hatte der Architekt Adolf Loos dafür gesorgt, dass sie mit rotem Tuch bespannt werden.

Lesen Sie auch

Café Central: Um die Jahrhundertwende ein sehr bedeutender Literatentreff in der Herrengasse. Der Schriftsteller Alfred Polgar entwickelte eine Theorie, nach der das „Central“ kein Kaffeehaus sei, sondern eine Weltanschauung, die im Innersten darin bestehe, die Welt nicht anzuschauen. Er sagte ferner: „Im Kaffeehaus sitzen Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen.“

Dichter und Denker: Die Tradition der Literatenkaffeehäuser begann mit dem „Café Griensteidl“, das in den 1880er-Jahren und bis zur Schließung im Jahr 1897 alle Autoren der Stadt versammelte, die etwas auf sich hielten, darunter Arthur Schnitzler und Hugo von Hoffmannsthal. Ein weiterer Stammgast war der junge Karl Kraus, der sich in einer selbst verlegten Broschüre mit dem Titel „Die demolierte Literatur“ über das eitle Gebaren der Schriftstellergesellschaft lustig machte.

So sah es einst im „Café Griensteidl“ aus
So sah es einst im „Café Griensteidl“ aus
Quelle: © Wien Museum/IMAGNO/picturedesk.com

Eierspeisen: Die Österreicher lieben Eierspeisen in allen Variationen, typisch für das Wiener Kaffeehaus sind zwei pochierte Eier im Glas. Sie haben den Vorteil, dass man sie nicht aufhacken muss, da sie bereits geschält sind. Eine weitere Speise, die man heute fast nur noch im Kaffeehaus findet, ist die Schinkenrolle, die mit Gemüsemayonnaise gefüllt und für heutige Ernährungsgewohnheiten viel zu fettig ist.

Hawelka: Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich das „Café Hawelka“ zum geistigen Zentrum. Manche haben es als ihre Universität betrachtet, denn man konnte sich leise dazusetzen, wenn die Schriftsteller Heimito von Doderer oder Friedrich Torberg ihre Stammtische hielten – oder wenn Elias Canetti aus Zürich angereist war und man seiner Suada zuhören durfte. Ab Mitte der 70er kamen die Touristen, und die Schriftsteller zogen weiter. Thomas Bernhard etwa schätzte das „Café Bräunerhof“.

Stammgast im „Café Bräunerhof“: Der Schriftsteller Thomas Bernhard
Stammgast im „Café Bräunerhof“: Der Schriftsteller Thomas Bernhard
Quelle: © Otto Breicha/IMAGNO/picturedesk.com

Immaterielles Kulturerbe: Status, der dem Wiener Kaffeehaus im Jahr 2011 von der Unesco zuerkannt wurde, um seine eigenständige Kultur zu würdigen. Heute wird diese Kultur hauptsächlich von Touristen am Leben gehalten, die dafür zum Teil um drei Ecken in der Schlange stehen. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es auf der Wiener Ringstraße 27 große Cafés, inzwischen ist nur noch ein halbes Dutzend übrig geblieben – aber diese Häuser halten sich auch.

Kapuziner: Die Kaffeehäuser hatten oft über 20 Kaffeevariationen im Angebot, vom Einspänner über die Melange bis zum Kapuziner, einem Mokkamit einer üppigen Krone aus Schlagobers. Im „Café Herrenhaus“ gab es einen berühmten Ober, der genau wusste, welches Mischungsverhältnis von Kaffee und Milch oder Sahne seine Stammgäste bevorzugten. Heute bestellt man auch in Wien meist Cappuccino.

Licht: Bis Anfang des 19. Jahrhunderts hinaus waren die Kaffeehäuser dunkle Spelunken, ab etwa 1820 wurden sie dann hell. Die großen Fenster und die riesigen Spiegel sorgen für ein ganz spezielles Kaffeehauslicht. Der Eindruck von Großzügigkeit, der sich daraus ergibt, wird von den meist sehr hohen Decken noch verstärkt.

Das Café als Alma Mater: Christian Brandstätter im „Café Ritter“
Das Café als Alma Mater: Christian Brandstätter im „Café Ritter“
Quelle: Brandstätter Verlag
Anzeige

Marmortisch: Eines der beiden prägenden Möbelstücke im Kaffeehaus. Das zweite ist der Kaffeehaussessel aus Buchholz, der speziell für diesen Zweck entworfen wurde. Der Stuhl Nr.14 von Thonet kam zuerst im „Café Daum“ zum Einsatz. Bis 1930 wurde er über 50 Millionen Mal verkauft.

Nostalgie: Heimito von Doderer hat gesagt, die Wesensmerkmale des Kaffeehauses seien einerseits die meditative Stille und andererseits das zweckfreie Vergehenlassen der Zeit – also das Gegenteil der Beschleunigung, die wir heute erleben. Für die wohlfeile Eintrittsgebühr vom Preis eines kleinen Schwarzen konnte man den ganzen Tag sitzen, ohne Weiteres zu konsumieren – und bekam sogar alle halbe Stunde ein Glas Hofquellwasser nachgeschenkt.

Oberkellner: Zentrale Figur, die nicht serviert, sondern nur kassiert und über den Hilfskellnern steht, den sogenannten Piccolos. Es bedarf seiner Gunst, um als Stammgast anerkannt und am bevorzugten Tisch platziert zu werden – und die erwirbt man am besten durch großzügiges Trinkgeld.

Und hier berichten drei Berliner Barkeeper, was sie in ihrem Alltag beobachten

Powidltascherl: Die imperialen Kaffeehäuser am Ring haben heute Powidltascherl (mit Pflaumenmus gefüllte Teigtaschen), Apfelstrudel und andere Süßigkeiten im Angebot. Das war zur Zeit der Donaumonarchie anders, da fand man Süßspeisen eher in der Konditorei. In die Kaffeehäuser ging man wegen des Kaffees – oder um „Erfrischungswasser“ zu trinken. Im Sommer wurden dazu Limonadenhütten vor der Tür errichtet, die „Soda Zitron“ und „Gefrorenes“ servierten, also Speiseeis.

Qualm: Bis zur Revolution im März 1848 war das Rauchen im Kaffeehaus strengstens verboten, danach wurde es zum Symbol der Freiheit – allerdings zunächst nur für Männer. Seit einem Jahr muss man dafür vor die Tür gehen. Als eines der letzten Länder in Europa hat Österreich ein Rauchverbot in der Gastronomie eingeführt.

Lesen Sie auch

Rechnung: Diese musste man bis um 1900 bei einer sogenannten Sitzkassiererin begleichen, die direkt am Ausgang platziert war. So sollte verhindert werden, dass klamme Gäste ihren Mantel überwerfen und sich verabschieden, ohne ihre Konsumation zu bezahlen.

Anzeige

Stammgäste: Das „Café Central“ wurde auch von Lew Dawidowitsch Bronstein frequentiert, besser bekannt als Leo Trotzki, der um 1907 gern zum Schachspielen kam. Als er nach fünfjähriger Abwesenheit zurückkehrte, brachte ihm der Oberkellner unaufgefordert die russische Tageszeitung zum Tisch, die Trotzki dort immer gelesen hatte.

Unsitten: Es wird nicht gern gesehen, sich zu einem Fremden an den Tisch zu setzen, auch wenn dieser dort unbegleitet sitzt. Es stört das gepflegte Alleinsein und gehört sich daher nicht.

Wein: War nicht immer üblich, aber viele Gäste trinken im Kaffeehaus gern ein Achtel Grünen Veltliner oder Gemischten Satz, für den verschiedenen Rebsorten aus einem Weingarten zusammengetan werden und der in Wien sehr beliebt ist.

Ein Stapel Zeitungen im "Café Hawelka" in Wien
Ein Stapel Zeitungen im "Café Hawelka" in Wien
Quelle: picture alliance / dpa

Zeitungen: Die traditionellen Häuser waren Umschlagplätze für Neuigkeiten aller Art, die Zeitungslektüre zählte zu den zentralen Tätigkeiten. Damit sie nicht zerfleddern, werden sie bis heute in spezielle Halterungen eingespannt, die das Umblättern nicht immer erleichtern. Um 1910 gab es im „Café Central“ 235 Zeitungen und Zeitschriften in 23 Sprachen. Vertrauliche Nachrichten flüsterte man sich zu.

Christian Brandstätter, Jahrgang 1943, ist Gründer des Brandstätter-Verlags und Herausgeber zahlreicher Bücher. Sein Bildband „Das Wiener Kaffeehaus“ ist gerade erschienen (70 Euro).

Quelle: Brandstätter Verlag

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

Packshot WamS S1 für N24_13_12_2020[1]
Quelle: Welt am Sonntag
Aufgezeichnet von Heiko Zwirner

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema