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Literatur Deutscher Buchpreis

Wolfgang Herrndorfs Wüsten-Tschick

Am 8. Oktober wird der Deutsche Buchpreis verliehen. Sechs Kandidaten stehen auf der Shortlist. Wir stellen sie der Reihe nach vor. Diesmal: Wolfgang Herrndorf und sein Roman „Sand“.

Der Trend geht zum Tumor, sagte neulich ein amerikanischer Freund mit nie zur Veröffentlichung bestimmter Flapsigkeit. Da hatte er innerhalb weniger Tage Tom Tykwers „Drei“ auf DVD gesehen (Mann in Dreiecksbeziehung hat Hodenkrebs). Und den Kinotrailer zu Andreas Dresens neuem Film (Familienvater hat inoperablen Hirntumor).

Und er hatte erfahren, dass Wolfgang Herrndorf, auf dessen neues Buch alle warten, ein ein Blog über sein Leben mit einem unheilbaren Hirntumor führt.

Der amerikanische Freund machte die üblichen ironischen Kommentare über die Leichtigkeit der deutschen Kultur. Und man selbst las die Inhaltsangabe zu Herrndorfs neuem Roman „Sand“: „Während in München Palästinenser des ,Schwarzen September“ das olympische Dorf überfallen, geschehen in der Sahara mysteriöse Dinge.“

Wo bleibt da die Autobahn?

Wie bitte? 1972? Palästinenser? Afrika? „Was soll der Scheiß?!“, wollte man dem Autor da in Anlehnung an dessen eigene, freilich höchst kunstfertige Umgangssprache zurufen. Wo sind die liebenswerten Loser, die blasierten Mädchen, wo der Alkohol und die Großstadtbalkone, auf denen in „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ und „In Plüschgewittern“ so lässig die Gegenwart verhandelt wurde? Und vor allem: Wo ist die Autobahn?

Ein Wolfgang-Herrndorf-Werk ohne Autobahn, das ist wie Thomas Mann ohne Bürgertum oder Charlotte Roche ohne Sex. In „Van-Allen-Gürtel“ kommt kaum eine Erzählung ohne Autos aus, „Plüschgewitter“ beginnt „auf der Autobahnraststätte Würzburg-Haidt“, und die Road-Novel „Tschick“ hat ihn im vergangenen Jahr endlich berühmt gemacht.

Das 14-jährige Bürgersöhnchen Maik und sein russlanddeutscher Freund Tschick klauen im Buch einen hellblauen Lada und erleben in der ostdeutschen Provinz Abenteuer dergestalt, dass man fast Mitleid hat mit Tom Sawyer und Huckleberry Finn und ihrem blöden Floß auf dem langweiligen Mississippi.

Furchtbar kompliziert, oder doch nicht?

„Das kann ja heiter werden“, dachte man und machte sich an die Arbeit, 475 Seiten „Sand“ zu lesen. Danke, Herr Herrndorf. Wieder ein cooler deutscher Gegenwartsschriftsteller, dem sein Label nicht passt und der jetzt seinen Kritikern beweisen will, dass er auch „richtige“ Romane schreiben kann, in denen große Politik vorkommt und Religion, und die furchtbar kompliziert zu lesen sind.

Und auf der ersten Seite predigt ein Irrer von einer Lehmziegelmauer und man versteht schon kein Wort mehr. Glückwunsch, Herr Herrndorf. Beweis gelungen, Leser totgelangweilt.

Auf Seite 12 hebt sich die erste Augenbraue. Da ist von Polizisten die Rede, die Polidorio heißen und Canisades und einen IQ von 102 haben – ja, sind wir hier in einem Louis-de-Funès-Film? Und wenige Seiten später ist man auf einem Kreuzfahrtschiff im Hafen von Targat, mit einer geheimnisvollen Blondine. Und dann in einer Wüstenoase namens Tindirma, in der ein paar Hippies eine Kommune gegründet haben.

Ein halber Meter Trotzki

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Und wie das beschrieben ist mit den „orientierungslos herumtappenden Kommunarden“ und dem „halben Meter Trotzki“, der zwischen Kerouac und Castaneda „verschimmelt“ – „die Idee eines dauerhaft ineinander verflochtenen Humankapitals scheiterte am Widerstand uneinsichtiger Frauenzimmer“ –, da steht man auf und geht schnell googeln. Gibt es dieses Tindirma? Targat? Nein, gibt es nicht.

Und doch: Tindirma und Targat nehmen Gestalt an, Seite für Seite, Figur für Figur. „Wie in den Märchen für 1001 Nacht!“, könnte man kalauern, aber da hat man längst mit dem Selbstgesprächsgeschwafel aufgehört.

Es gibt schließlich viel zu tun, es gilt, den Fall eines geheimnisvollen Fremden mit Gedächtnisverlust zu lösen. Hinter dem Mann, der sich irgendwann nach dem Etikett in seinem Mantel Carl Gross nennen wird, sind alle her, weil er irgendetwas Wertvolles besitzen soll, dummerweise hat er keine Ahnung was.

Ein Buch wie ein Puzzle

Von wegen Palästina, Schwarzer September! Oh ja, „Sand“ ist ein anstrengendes Buch, aber angenehm anstregend, wie ein Puzzle. Die Kapitel sind kurz, eher Szenen, und je mehr man davon sammelt, desto mehr versteht man. Manchmal trifft man auf eine Szene, die beim Puzzeln ein Rand- oder gar Eckstück wäre, die sind dem Begreifen des Ganzen besonders zuträglich.

Oder es tauchen Requisiten auf, an die sich der aufmerksame Leser aus früheren Kapiteln erinnert, dann kann er aufgeregt zurückblättern und sich über einen kleinen Ermittlungserfolg freuen.

Manchmal scheint die chronologische Reihenfolge nicht zu stimmen, manchmal gehen Gedankengänge zwei Kapitel später erst weiter. Und wie Wolfgang Herrndorf das alles dosiert und konstruiert hat – vertrackt genug, um spannend zu sein, gerade so durchschaubar, dass kein Frust aufkommt – das ist große Erzählkunst.

Lange Nacht der Thriller

„Sand“ ist nicht einfach ein Buch gewordener Agententhriller. Nein, er ist, was in einem Programmkino gleich „Die lange Nacht der Thriller“ hieße. Mit einem erinnerungslosen, sympathischen Helden und einer kühlen Schönheit an seiner Seite wie bei Hitchcock. Mit durchgerüttelter Chronologie wie in „Memento“. Mit Folterszenen und mit Gangstern, die absurde, schreiend komische Dialoge über Petitessen führen.

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In seinem Blog schrieb Herrndorf am 2. September: „Der Verlag geht davon aus, einen Teil der Tschick-Leser mitnehmen zu können, kann man vergessen. Über weite Strecken parallel geschrieben ist der im Wüstenroman Kapitel für Kapitel wiederholte und gegen Ende völlig aus dem Ruder laufende deprimierende Nihilismus ja eine direkte Reaktion auf die Freundlichkeit der Welt in Tschick. Bzw. umgekehrt. Denn eigentlich war ‚Sand‘ zuerst.“

Spione mit Gedächtnisverlust

„Deprimierender Nihilismus?“ Ohne zu viel über das Ende zu verraten, kann man dazu nicht viel sagen. Nur: Ganz falsch ist das nicht. Andererseits: „Sand“ ist ein großer Spaß, da kann der Autor in dunkler Stunde noch so viel herumnihilieren. Deshalb muss dem Verlag unter die Arme gegriffen werden beim Tschick-Leser-Mitnehmen.

Zumal die Piste zwischen Targat und Tindirma eine zentrale Rolle bei verschiedensten Erkundungs- und Verfolgungsfahrten spielt. Schreiben wir also einen Satz, den wir spätestens bei der Taschenbuchausgabe als Zitat auf dem Klappentext sehen möchten: „Sand“ ist ein Wüsten-“Tschick“. Nur viel besser, weil der Roman viel länger ist, und weil Spione mit Gedächtnisverlust darin vorkommen, coole Blondinen wie bei Hitchcock, trottelige Gangster wie bei Tarantino, und Kamele und Tarotkarten wie bei David Lynch.

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