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Literatur Wolfgang Herrndorf

Die Weltformel ist endlich in Sicht

Chefkorrespondent Feuilleton
Wirft jetzt schon einen langen Schatten: Wolfgang Herrndorf in der nordafrikanischen Wüste Wirft jetzt schon einen langen Schatten: Wolfgang Herrndorf in der nordafrikanischen Wüste
Wirft jetzt schon einen langen Schatten: Wolfgang Herrndorf in der nordafrikanischen Wüste
Quelle: Rowohlt/www.wolfgang-herrndorf.de
Drei Monate nach Wolfgang Herrndorfs Tod erscheint sein Blog „Arbeit und Struktur“ als Buch. Es ist ein Protokoll vergehender Tage und erzählt vom Entstehen der großen Romane „Tschick“ und „Sand“.

Das ist ein Buch zum Drinversinken, wie früher, als man Kind war und ins Bett gekuschelt oder im Versteck des Kirschbaumgeästs las. Sein Thema ist traurig, nicht nur, aber auch und immer. Diese Traurigkeit ist eigentlich eine Art Dauerverzweiflung, an die man sich bloß irgendwann so gewöhnt, dass man sie Traurigkeit nennt. Das ist aber nicht der Grund, dass man versinkt. Man versinkt, weil das Buch so gut geschrieben ist wie die besten Bücher der Kindheit, Franz Werner Schmidts „Pik reist nach Amerika“ oder Salingers „Neun Stories“. Erich Kästner hat einmal von seiner Schule geschrieben, „wo ich viel vergessen habe“. Wolfgang Herrndorf ist eine Schule, wo man sich wieder an alles erinnert.

Obwohl dem Erzähler seines neuen Buchs, das diese Woche bei Rowohlt erscheint, das Gedächtnis abhanden kommt. Das Buch heißt „Arbeit und Struktur“, der Erzähler Wolfgang Herrndorf, und der Ausgang ist bekannt. Es ist keine Schande, wenn man bis zur letzten Seite vorblättert, die leer ist bis auf einen einzigen Satz: „Wolfgang Herrndorf hat sich am Montag, den 26. August 2013 gegen 23.15 Uhr am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.“ Das ist, wie alles, was in diesem Buch steht, die Wahrheit.

„Der einfachste Weg zu gutem Stil“, schreibt Herrndorf am 20. November 2011 um 10.31 Uhr, geht so: „Sich vorher überlegen, was man sagen will. Dann sagt man es einfach, und wenn es einem dann zu einfach erscheint, kann das zwei Gründe haben. Erstens, die Sprache ist nicht aufgeladen genug von ihrem Gegenstand, oder der Gedanke ist so einfach, dass er einen selbst nicht interessiert. In diesem Fall löscht man ihn.“

Böse gefoult vom eigenen Kopf

Der Gegenstand von „Arbeit und Struktur“ ist Wolfgang Herrndorf, Jahrgang 1965, früher Maler in Nürnberg, später Schriftsteller in Berlin. Ein anarchistischer Reaktionär, der die Lasurmalerei liebt und für Satirezeitschriften altmeisterliche Helmut-Kohl-Cartoons verfertigt. Er ist umschweiflos unglücklich verliebt, dafür umso ausdauernder. Er kann sehr schnell tippen, 600 Anschläge pro Minute, was überhaupt nur sinnvoll ist, weil er auch entsprechend schnell denkt. Er ist ein unsentimentaler Romantiker, ein pragmatischer Nostalgiker. Er ist mit vielen Menschen befreundet, die in Deutschland mehr oder weniger das Internet erfunden haben, Kathrin Passig und Sascha Lobo von der Zentralen Intelligenz Agentur zum Beispiel. Er spielt gern Fußball, wobei er eines Tages Ende 2009 an einem unsichtbaren Gegenspieler hängen bleibt und fluchend auf ein Foul tippt.

Es war auch ein Foul, aber der Gegenspieler ist der eigene Kopf. Drei Monate später, nach einer Woche mit Kopfschmerzen, die ihn umkippen und im Bad umherkriechen lassen, finden die Ärzte ein Glioblastom, einen bösartigen Hirntumor, garantiert tödlich. Es ist eine Frage von Monaten, bestenfalls ein, zwei Jahren. Andere würden zusammenbrechen, Herrndorf reißt sich zusammen, er weiß, was er braucht: Arbeit und Struktur.

Er fängt sofort mit dem gleichnamigen Blog an, eine Dokumentation seines Lebens und Sterbens, eine Selbstvergewisserung, der Strohhalm von einem, der schreiben muss wie andere atmen. Man konnte jederzeit mitlesen und kann es auch jetzt noch, auf www.wolfgang-herrndorf.de. Während in seinem Hirn der Krebs wucherte, bestrahlt und weggeschnitten wurde, wuchs unter seinen Händen der Text, der jetzt zwischen zwei Buchdeckel gepresst für die Ewigkeit haltbar gemacht wurde, wenn die NSA oder die Zentrale Intelligenz Agentur das Internet längst abgeschaltet haben.

Abgesehen von ein paar Rückblenden, gibt es 42 durchnummerierte Kapitel – was auf seltsame Weise an Douglas Adams erinnert und die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. Sie beginnen am 8. März 2010 um 13 Uhr mit den Sätzen „Gestern haben sie mich eingeliefert. Ich trug ein Pinguinkostüm“ und enden knapp dreieinhalb Jahre später. Irgendwo in der Mitte schreibt Herrndorf, dass in jedes gute Buch unbedingt eine Liste gehöre.

„Ich bin übrigens nicht verrückt“

Was also ist „Arbeit und Struktur“, als Liste gefasst? Ursprünglich ein Mitteilungsorgan für seine Freunde, seht her, ich lebe noch. Dann ein Literaturersatz für seine Leser, die ihn nach dem sensationellen Erfolg des Jugendbuchs „Tschick“ verehren, das erst während der Krankheitszeit erscheint; diese Leser platzen gewissermaßen mittendrin herein und legen zum Dank schon mal ein warmes Brot vor die Tür seiner Wohnung im Berliner Wedding. Aber „Arbeit und Struktur“ ist viel mehr: Tagebuch, Poetologie, Deutschstunde, Geschichtsunterricht, Gegenwarts- und Traumkunde, Stadtplan von Berlin.

Der Anfang ist sagenhaft rasant, bedrückend, komisch. Einer liefert sich selbst ein, weil er den Wahnsinn, der schon lange anklopft, nicht länger aussperren kann. „Ich bin übrigens nicht verrückt“, erklärt er der Frau am Empfang der neuropsychiatrischen Abteilung der Charité. Zum Spaß hat er sich ein Pinguinkostüm angezogen. Wenn schon „Einer flog über das Kuckucksnest“, dann richtig. Die Empfangsdame entgegnet, ohne mit der Wimper zu zucken: „Das hatte hier auch niemand gedacht.“

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Ach nein, das ist ja gar nicht der Anfang. Also die Einlieferung schon, aber nicht der Wortwechsel. Der kommt erst viel später in „Rückblende, Teil 10: Der Pinguin“. Herrndorf schraubt eine hartnäckig realistische Chronologie mit unbarmherzigem Gestaltungs- und Unterhaltungswillen zusammen. Genau wie er das auch schon in „Tschick“ und „Sand“ gemacht hat. In „Tschick“, diesem Roadmovie über zwei Jugendliche, die einen Lada klauen, in die Walachei fahren, ohne zu wissen, wo das eigentlich liegt, und sich in ein schönes und rätselhaftes Mädchen verlieben, also der eine, der andere ist da weniger empfänglich.

In „Arbeit und Struktur“ gibt es einen Eintrag, wo Herrndorf von seinem Entschluss erzählt, den beiden Ausreißern die genretypische identitätsstiftende Musik zu verweigern, weil das Auto nur einen „verfilzten“ Kassettenrekorder hat. „Und dann finden sie“, schreibt er, „während der Fahrt unter einer Fußmatte die Solid Gold Collection von R. Clayderman, und ich weiß auch nicht, warum mich das so wahnsinnig lachen läßt, aber jetzt kacheln sie gerade mit Ballade pour Adeline ihrem ungewissen Schicksal entgegen.“

„Im Roman ist Wahrheit lächerlich“

Das steht im Präsens, weil er das Buch gerade schreibt. Genau wie „Sand“, den Gegenentwurf zu „Tschick“. Jemand nannte es sogar einmal dessen „Zurücknahme“. Jedenfalls ein mörderisch komisches, quentintarantinohaft brutal überästhetisiertes, hingeschlenzt kompliziertes Ding, so heiß und kalt wie die nordafrikanische Wüste, in der es spielt. Beide Bücher konzipiert Herrndorf seit Jahren, aber weil er dazu neigt, monatelang Varianten jedes einzelnen Satzes auszuprobieren, sind sie über das Entwurfsstadium nicht hinaus. Das ändert sich mit der Diagnose. Jetzt entscheidet er sich schneller – und haut meisterhafte knapp 800 Seiten in kaum zwei Jahren zusammen.

Ein Jugendbuch-Bestseller, eine psychotische Wüstenei, ein in seiner Nüchternheit emphatischer Werkstattbericht, der von der gleichzeitigen Genese der Romane erzählt – es ist so richtig, dass „Arbeit und Struktur“ jetzt auch als Buch erscheint. Denn zusammen bilden diese unwahrscheinlichen drei eine literarische Trilogie, wie sie die deutsche Literatur seit Jahrzehnten nicht gesehen hat. Vor allem „Tschick“ und „Sand“ passen auf den ersten Blick nicht zusammen, so wie in der Physik Gravitationstheorie und Quantenmechanik. Doch durch das Bindeglied des Blogs verwandeln sie sich in die Weltformel, nach der der atheistische Herrndorf nie aufhörte zu suchen: „Weltformel nicht in Sicht: vermutlich alles sinnlos“, schreibt er einmal.

Hat er sie schließlich also selbst geliefert, zumindest für die Literatur. „Ich halte den Roman für den Aufbewahrungsort des Falschen“, sagt Herrndorf. „Richtige Theorien gehören in die Wissenschaft, im Roman ist Wahrheit lächerlich.“ Und diese Lächerlichkeit, könnte man ergänzen, ist die ganze Größe, zu der Menschen in der Lage sind. Das sieht von außen zynisch aus, fühlt sich von innen aber nicht so an. Herrndorf, der ununterbrochen Stendhal und Dostojewski liest, hält diesen Spagat jederzeit aus. Deshalb ist er mehr als jeder andere deutsche Schriftsteller, der einem einfällt, uneitel und bullshitabstinent. Deshalb schreibt er so gut.

Die Liebesfähigkeit der Jugend

Man könnte noch tausend Sachen sagen über dieses große Buch. Zum Beispiel darauf hinweisen, dass es sich zu den meisten Tagebüchern der Weltliteratur komplementär verhält. Wenn Leute wie Thomas Mann oder Samuel Pepys ihre Verdauungsprobleme registrieren oder dass sie einer hübschen Kellnerin auf den Hintern gehauen haben, geschieht das vor einem Horizont ewiger Gegenwart, gewissermaßen im Modus potenziell ewigen Lebens. Wolfgang Herrndorf hingegen schreibt mit dem Tod im Nacken. Selbst Phasen der Begeisterung verdanken sich dem Wissen um das nahende Sterben. Es ist ein Buch nicht kommender, sondern vergehender Tage.

Trotzdem macht es glücklich. Weil die komische, ernsthafte, poetische Unbestechlichkeit des Blicks auf die Welt und in den eigenen Kopf von einer Erkenntniskraft und Liebesfähigkeit zeugt, wie sie normalerweise der Jugend vorbehalten ist. So schnurrt zum Beispiel ein Tag in Riad auf ein kleines, leichtes Bild zusammen, das dennoch bleibt, so wie der, der es aus dem Gestrüpp der Gegenwart pickte: „Der Ginster auf der Rollbahn.

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