Miyu ist eingenickt. An der Schulter von Takumi. Das japanische Pärchen wartet, wie viele weitere Touristen, auf das Sonnenwunder. Es ist erst halb Vier morgens vor dem Ramses-Tempel in Abu Simbel, der seit 1979 auf der Weltkulturerbeliste der Unesco steht. Nur die, die ganz vorn am Eingang ausharren, insgesamt vielleicht 100 bis 150, werden das Sonnenwunder in Echtzeit und hautnah erleben können. Die beiden Japaner haben gute Karten, sie warten weit vorn. Für alle Nachkommenden wird es eng.
Denn das Sonnenwunder von Abu Simbel dauert gerade mal 20 Minuten. Es zeigt sich genau zweimal im Jahr: stets am 22. Februar und am 22. Oktober. 5000 Neugierige werden jedes Mal erwartet.
„Das Sonnenwunder bedeutet, dass das Sonnenlicht direkt bis in das rund 65 Meter hinter dem Tempeleingang gelegene Heiligtum fällt“, erklärt Mohamed El Bialy, „dort beleuchtet es drei der vier Götterstatuen: von rechts gesehen den Sonnengott Re, dann Ramses II. mit mächtiger Doppelkrone, dann Reichsgott Amun. Ptah, der vierte Gott ganz links, bleibt auch in diesen 20 Sonnenminuten stets im Dunkeln.“ Das passt, schließlich ist er Erdgott, sein „Reich“ umschließt Himmel, Erde, Luft und die dunkle Unterwelt.
El Bialy ist Direktor der antiken Stätten von Assuan und Nubien, damit also auch für Abu Simbel, denn der Tempel liegt im südlichen Nubien, rund 20 Kilometer von der Grenze zum Sudan entfernt. Für ihn belegt das Sonnenwunder „die große Kenntnis der alten Ägypter in Astronomie wie Technologie“.
Der Nassersee erforderte einen Umzug des Tempels
Inzwischen ist es 4.10 Uhr und immer noch stockdunkel. Seit zwei Uhr sind Miyu und Takumi auf den Beinen. Um drei Uhr wurde der Haupteingang der weitläufigen Anlage geöffnet. Nun warten sie und mit ihnen inzwischen gut 100 andere Neugierige aus Japan, Deutschland, den USA und Frankreich, direkt zu Füßen der vier kolossalen, 22 Meter hohen Ramses-Statuen von Abu Simbel, die aus einem Steinblock gemeißelt wurden.
Die Touristen hocken auf mitgebrachten Kissen, liegen auf Decken oder Hotelhandtüchern in Open-Air-Konzert-Atmosphäre. Miyu und Takumi sind fünf Tage in Ägypten, für 2500 Euro pro Person. Das Sonnenwunder soll das Highlight ihrer Reise werden. Sie haben gehört, dass ein paar andere Japaner 5000 Euro Bakschisch extra bezahlt haben, nur um in der Nacht vom 21. auf den 22. im Tempel meditieren zu dürfen.
Abu Simbel wurde zwischen 1964 und 1968 ab- und 65 Meter höher sowie 185 Meter weiter landeinwärts wieder aufgebaut. Dadurch hat sich das Sonnenwunder um einen Tag nach hinten verschoben. Aber ohne diesen Umzug wäre der Tempel durch den aufgestauten Nassersee, der durch den Assuan-Staudamm entstand, überflutet worden. Im 13. Jahrhundert v. Chr. ließ Pharao Ramses II. die gigantische Felsentempelanlage errichten.
Bis zu 20 Jahre dauerte die Vollendung von nur einem der 20 geplanten Tempel, für die Ramses als Bauherr verantwortlich zeichnete. Zehn weitere Tempel okkupierte er einfach, indem er die Namenskartuschen der Tempel austauschte und auf sich „umschreiben“ ließ. Das ist ungefähr mit einem widerrechtlichen Wechsel des Klingelschildchens an der Haustür vergleichbar.
Besucht hat Ramses Abu Simbel nur zweimal – und damit immerhin einmal mehr als die meisten anderen seiner Tempel, die er nur zur Eröffnung aufsuchte. Nach Abu Simbel kam Ramses ein zweites Mal, um nach dem Tod seiner geliebten Frau Nefatari, der in unmittelbarer Nähe ein eigener Tempel gewidmet ist, zu trauern.
Der Tempel zeigt Ramses auf dem Weg von Mensch zu Gott
Um 4.30 Uhr zieht eine Hundertschaft der Polizei in Paradeuniform zum Tempel. Mit Seilen sperren sie die Mitte vor dem Tempeleingang ab, den Weg, den die Sonnenstrahlen später bis ins Heiligste nehmen werden.
Die meisten Wartenden, inzwischen sicher schon um die 500 Leute, schlafen inzwischen. Aber nicht alle: Ein paar Jungs aus Belgien saufen ungeniert Bier, ein anderer ist ganz vertieft in einen Ägypten-Reiseführer. Seine Handylampe beleuchtet ein Foto von Ramses’ Mumie, die unter Glas im Nationalmuseum von Kairo liegt.
Der Gottkönig muss ein stattlicher Mann gewesen sein, sechs Fuß groß, also etwa 1,80 Meter, erhaben mit Hakennase und langer Kinnpartie. Er soll einen sehnigen Körper gehabt haben, mit schmalen, langen Zehen. Die Kalksteinfiguren von Abu Simbel wirken da deutlich fülliger. Im Tempel von As Subu, 100 Kilometer nördlich von Abu Simbel, ließ sich Ramses als Sphinx darstellen, in vielen anderen Anlagen als kräftiger Kämpfer und siegreicher Krieger.
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„Der Tempel von Abu Simbel zeigt Ramses auf dem Weg von Mensch zu Gott“, erklärt Wissenschaftler El Bialy. „Draußen ist er in vierfacher Form noch Mensch, begleitet von seiner Familie zu seinen Füßen, im Heiligtum drinnen hat er sich dagegen schon in die Reihe der bedeutendsten Götter eingereiht, die man in der 19. Dynastie verehrte.“ Er galt als weise, erfolgreich und barmherzig, aber: „Die Menschen sollten ihn als Gott verehren!“ Das Sonnenwunder sollte diese Vergöttlichung unterstreichen, wird vermutet.
Polizisten treiben die Besucher wie Vieh voran
Plötzlich erschallt grausig laute Musik. Welch ein Affront an diesem ruhigen Ort! Es ist 5.20 Uhr, der Sonnenaufgang naht. Noch sind die steinernen Ramses-Figuren von elektrischem Licht angestrahlt. Um 5.45 Uhr gehen Lichter und Musik aus. Es dämmert, die Spannung steigt. Zumal ein Dunstschleier den Weg der ersten direkten Sonnenstrahlen in den Tempelgang verhindert. Endlich, um 5.56 Uhr, stechen die Sonnenstrahlen aus dem Himmel und dringen wie die Menschen in das Innere des Tempels.
Doch mit der Würde des Augenblicks ist es nun vorbei: „Yallah! Yallah!“, rufen die Polizisten und schieben die Leute in den Tempel wie eine Viehherde. „Weiter! Weiter!“ So viele wie möglich sollen das Sonnenwunder erleben können. Wer stehen bleibt, wird weiter geschubst. Immer weiter! „Yallah! Yallah!“
Der Weg ist genau vorgegeben. Bis man endlich vor den vier Göttern steht: Ptah im Dunklen, die anderen drei tatsächlich angestrahlt vom rot-orangenen morgendlichen Sonnenlicht. „Yallah! Yallah!“, „weiter, weiter!“ – in gebückter Haltung, damit kein Schatten auf die Figuren fällt, wird man flugs weitergeschoben. Schade. Die paar Sekunden reichen kaum, um die Einmaligkeit und Erhabenheit des Augenblicks zu erfassen.
Faszinierend bleibt das Erlebnis trotzdem. Und fröhlich wird es auch noch: durch das Sonnenfest auf dem Vorplatz. Derwisch-Tänzer geben dort alles, drehen sich minutenlang, posieren mit Touristen für Fotos. Auch Miyu und Takumi lassen sich ablichten.
Tempeltürsteher Awad Hassan, einer von elf Tempelwächtern, die sich im 24-Stunden-Schichtdienst abwechseln, steht mit seinem überdimensionalen Schlüssel herum, wie bestellt und nicht abgeholt. Es wird noch dauern, bis er den Tempel wieder verschließen kann, zu sehr ist die Masse aus dem Häuschen. Es ist Awad Hassans elftes Sonnenwunder. „Ihr habt Glück gehabt heute“, sagt er nüchtern, „zweimal gab es nichts zu sehen, weil zu dichte Wolken da waren.“
Flüge nach Abu Simbel zum Sonnenwunder sollte man rechtzeitig buchen, ab Kairo fliegt Egyptair. Schön ist eine Flusskreuzfahrt ab Assuan, vier Tage kosten ab 750 Euro (verschiedene Anbieter). Die Tempelanlage ist auch ohne Sonnenwunder eine Reise wert. Weitere Auskünfte findet man unter egypt.travel.