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Panorama Seeräuber

Als die Piraten noch echte Demokraten waren

Mary Read / Radierung Mary Read / Radierung
Quelle: picture alliance / akg images
Sie entführen Supertanker, Yachten und Besatzungen: Die Seeräuber aus Somalia bauen das Piratengeschäft immer weiter aus. Jedes Jahr erpressen sie Millionen. Ihr Rückzugsort ist Puntland, eine echte Piratenrepublik mit einem historischen Vorbild – das legendäre Libertatia, eine der ersten Demokratien der Neuzeit.

Über tausend Kilometer musste der gekaperte Supertanker „Sirius Star“ vergangene Woche Kurs Nord halten, nachdem die somalischen Piraten die Befehlsgewalt an sich gerissen hatten. Erst dann waren sie mit ihrer mehrere hundert Millionen Dollar schweren Prise vor ihrem Seeräubernest angekommen. Dort, in Puntland, wo ihre Paläste stehen, mit den dicken Autos in der Garage. Alles bezahlt aus den vielen Millionen, die sie bei Überfällen auf Frachtschiffe erbeutet hatten. Die Welt ist entsetzt, weil in ihre Orte im Norden Somalias – Eyl, Hobyo, Harardere – kein Arm des Gesetzes vordringt. Weil sie dort in einer Piratenrepublik leben, wo schon lange kein Polizist, kein Richter mehr seines Amtes waltet.

Vor 300 Jahren hätte die Bande es lange nicht so weit gehabt. Ein paar hundert Kilometer südöstlich nur, ein halber Tag durch den Indischen Ozean, und sie wäre mit ihrer Beute in einer der legendärsten Piratenrepubliken der Geschichte gelandet: Libertatia. Ideal gelegen in einer geschützten Bucht an der Nordspitze Madagaskars.

250 Quadratkilometer, knapp so viel wie München, misst der Meerbusen an der äußersten Nordspitze der Afrika vorgelagerten Insel. Im Süden davon, auf einer Landzunge, wacht heute, auf einem Sockel stehend, der steinerne Marschall Joffre über Recht und Gesetz auf dem Meer. Hinter sich ein verschlafenes, etwas verstaubtes Städtchen, Antseranana, in dem Flamboyant-Bäume allenthalben leuchtend rote Farbtupfer setzen, und wo auf den Verkehrsinseln die Ziegen und anderes Vieh das Gras kurz halten.

Vor gut 100 Jahren überführte Joffre Madagaskar in eine französische Kolonie. Doch er und seine Soldaten waren nicht die ersten Europäer, die sich hier niedergelassen hatten. 200 Jahre zuvor, kurz vor der Wende zum 18. Jahrhundert, war dieser Ort für mehrere Jahre Mittelpunkt eines der bizarrsten sozialen Gebilde der Weltgeschichte. Es war eine der ersten Demokratien der Neuzeit, mit Parlament und Regierung. Und er dürfte damals der einzige Ort gewesen sein, in dem Schwarz, Weiß und andere nicht nur gleichberechtigt sondern auch in gegenseitiger Anerkennung miteinander lebten – und in dem sich nebenbei alle Mitglieder auch den gesamten Wohlstand teilten. Sein Makel: Das ganze Staatengebilde mit sozialistischen Zügen gründete sich auf Kriminalität, auf einem schweren Verbrechen, auf das damals in den meisten Staaten Todesstrafe stand, das heute wieder als Gefahr für den freien Welthandel Schlagzeilen macht: Libertatia, so nannte sich das Gemeinwesen, lebte ausschließlich von Piraterie.

Ein gewisser „Captain Charles Johnson“ berichtet uns in seiner „Allgemeinen Geschichte der Piraten“ ausführlich über Libertatia. Hinter dem Pseudonym, davon sind Experten aufgrund von Sprachanalysen überzeugt, verbirgt sich Daniel Defoe, der Autor von „Robinson Crusoe“. Einige Kritiker zweifeln an seiner Autorenschaft, andere am Wahrheitsgehalt des Buches, manche an beidem. Der Mangel an Jahreszahlen, an weiteren Quellen sowie an anderen Hinweisen – etwa archäologische Funde – stimmt sie skeptisch.

Und doch spricht vieles dafür, dass es sich so ereignet haben könnte. Deshalb gehen auch Piraterie-Historiker davon aus, dass Libertatia tatsächlich existierte. So ist Defoe zwar ein Romancier, aber erstens beruht sogar sein berühmtestes Romanabenteuer, das mit Robinson Crusoe, auf einer wahren Geschichte, zweitens ist Libertatia nur eines von mehreren Kapiteln in „Johnsons“ Sachbuch. Auch spielen in seiner Schilderung bekannte Protagonisten eine Rolle, deren Lebenslauf sich mit der „Allgemeinen Geschichte“ zusammenfügt. Schließlich war Libertatia nur eine von mehreren Piratenrepubliken, die aus der als „goldenes Piratenzeitalter“ verbrämten Epoche des 17. und 18. Jahrhunderts überliefert sind. Auf der Bahama-Insel Nassau etwa existierte zur selben Zeit der womöglich größte Seeräuberstaat aller Zeiten, vor dessen Hafen zeitweise bis zu 500 Piratenschiffe gleichzeitig ankerten, wo bekannte Figuren wie Blackbeard, Thomas Barrow und Calico Jack stets sicheren Unterschlupf fanden.

Als Staatengründer Libertatias gilt der Franzose Misson. Einen Vornamen teilt uns Defoe nicht mit, dafür viele Details aus seinem Vorleben. Zwischen 1660 und 1680 kam der Spross eines alten provencialischen Geschlechtes auf die Welt, studierte mit 15 Jahren an der renommierten Akademie von Angers. Den Wunsch des Vaters, eine Offizierslaufbahn bei den königlichen Musketieren, schlägt er aus, geht zur See und gilt auf dem Kriegsschiff „Victoire“ bald als ausgezeichneter Navigator. Einen Halt in Neapel nutzt er zum Pilgergang nach Rom, wo ihn das exzessive Leben des Klerus abstößt. Wo er auch gleich einen Dominikanermönch namens Caraccioli – insgeheim ein Anhänger des „Deismus“, ja ein freidenkerischer Herätiker – von der Lasterhaftigkeit der heiligen Stadt überzeugt und ihn mit auf See nimmt.

Wenig später soll die Victoire einen Handelskonvoi in Richtung Karibik begleiten. Auf der Überfahrt über den Atlantik bewegt Caraccioli mit seinen leidenschaftlichen Reden, Predigten und Verheißungen die Mannschaft für seine humanistischen Ideale. Als dann der Kapitän bei einem Gefecht mit einem englischen Schiff fällt, der Gegner dennoch bezwungen wird, befällt die Mannschaft allgemeine Euphorie: Sie wählt – ganz demokratisch – Misson zum neuen Schiffsführer, schwört sich, fortan „das Joch der Tyrannei abzuschütteln“, und „den Mächten Europas zu trotzen.“ Caraccioli, zum ersten Offizier ebenfalls gewählt, insgeheim aber so etwas wie ein Chefideologe, gibt schon die Richtung zur Weltrevolution vor: „Mohammed hat mit ein paar Kameltreibern ein Weltreich gegründet“, und das könne man schließlich auch.

Monatelang hält sich die Besatzung durch Raubzüge auf hoher See über Wasser – ohne sich Grausamkeiten zu leisten –, bis Misson und Caraccioli dazu übergehen, rund um Afrika vor allem Sklaventransporter anzugreifen und die afrikanischen Sklaven zu befreien, die sich mit mehreren Schiffen dann anschließen.

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Als Misson und seine Männer sich schließlich bis nach Madagaskar vorgearbeitet haben, entdecken sie jene Bucht: Diego-Suarez. Den Namen hatten ihr die Portugiesen gegeben, für die Madagaskar als Zwischenhalt auf dem Weg zu ihren indischen und fernöstlichen Gewürzinseln dient. Dort sitzen sie wie die Spinne im Netz der damaligen Handelslinien: Die arabischen Daus, die zwischen Indien und Mosambik verkehren, aber auch die Portugiesen auf dem Weg von der Südspitze Afrikas zu den Molukken – alles sichere Beute.

300 Einwohner hat Libertatia bei seiner Gründung, wenige Monate später schon doppelt so viele. Immer wieder kommen aus der Sklaverei befreite Schwarze hinzu, auch mancher Seemann eines überfallenen Schiffes lässt sich von der Piratenromantik locken und verlässt seinen Kapitän. Der Amerikaner Thomas Tew, bekannter Protagonist der Piratengeschichte, gesellt sich mit Schiff und Mannschaft hinzu. Das stärkt die Piratenrepublik, doch es kommt zu ernsthaften Streitigkeiten zwischen Amerikanern und Franzosen. Caraccioli muss seine ganze von Gott verliehene Wortgewalt einsetzen, um zu schlichten.

Die Liberi, wie sich die Einwohner nennen, wählen ein Parlament, und zimmern dafür ein eigenes Gebäude. Die gewählten Räuberhauptleute wie Misson, Caraccioli und auch Tew haben beileibe keine absolute Befehlsgewalt, wie Defoe an mehreren Beispielen dokumentiert. Als die Kapermannschaften zum Beispiel von einem indischen Moghulschiff nicht nur die Kostbarkeiten sondern auch hundert ledige Frauen rauben mit der Absicht aus der reinen Männergesellschaft ein Volk zu begründen, will Misson einschreiten. Doch er wird überstimmt. Ebenso ergeht es ihm, als eines Tages eine portugiesische Flotte vor der Bucht auftaucht und von den Liberi zusammengeschossen wird. Zwei Portugiesen fallen ihnen in die Hände, die schon einmal in Libertatia weilten und nur mit dem Gelübde entlassen worden waren, den Ort nicht zu verraten. Sie hatten sich nicht daran gehalten und wurden nun gehenkt – nach Parlamentsbeschluss und gegen den Widerstand Missons und Caraccioli, der durch den Galgen und auch den Raub der Inderinnen seine Ideale schwer verletzt sah. Im Übrigen allerdings kann – oder will – Defoe nur Gutes und Harmonisches über die Piratenrepublik berichten – aufgrund von Aufzeichnungen, wie er schreibt, die ihm von einem Liberi übergeben worden sein sollen.

Mehrere Jahre soll das Gemeinwesen Bestand gehabt haben. Bis es eines Tages – bei schwacher Besetzung, weil fast alle auf Kaperfahrt waren – eine französische Flotte dem Piratensozialismus ein Ende bereitete. Tew war da allerdings schon unterwegs nach Amerika, wo er den Finanziers seiner Kaperreise mit langjährigem Zwischenhalt in Libertatia das Vierzehnfache ihres Einsatzes auszahlen konnte. Misson kam soll gerüchteweise bei einem Sturm vor dem Kap der Guten Hoffnung ertrunken sein.

So endete die Piratenrepublik Libertatia. Die heutigen, in Somalia, leben fort. Bis auf weiteres.

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