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Weltgeschehen Jörg Kachelmann

Freilassung ist eine Ohrfeige für Mannheimer Justiz

Die Richter aus Karlsruhe haben für eine entscheidende Wende im Fall Kachelmann gesorgt. Die Richter aus Mannheim wurden abgewatscht.

Sie, das mutmaßliche Opfer, hat rund um die Uhr Polizeischutz. Seit ihre wahre Identität in Internetforen bekannt gemacht wurde und Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit aufkamen, traut sich die 37-jährige Blondine, die mit zweitem Vornamen Simone heißt, kaum mehr aus dem Haus.

Er, der angebliche Vergewaltiger, ist ein freier Mann. Wortlos zwar, aber lächelnd, trat Jörg Kachelmann aus dem Gefängnistor ins Blitzlichtgewitter der Kameras. Von seinem Aufseher verabschiedet er sich mit einer Umarmung. Nach 132 Tagen in Haft darf er reisen, wohin er will, ohne Kaution, ohne Auflagen, ohne Einschränkung. Es steht nicht einmal mehr fest, dass am 6. September tatsächlich der Prozess gegen ihn beginnt. Auf einen Schlag ist alles anders, alles seitenverkehrt in der „Causa Kachelmann“.

Das Oberlandesgericht Karlsruhe (OLG) hat dem Fall um die angebliche Vergewaltigung von Kachelmanns Ex-Freundin eine dramatische Wende beschert. Der Schweizer Wettermoderator sei umgehend auf freien Fuß zu setzen, urteilte der 3.Senat in der badischen Stadt.

Wirklich überraschend dabei war weniger die Entscheidung selbst als ihre Begründung. Damit haben die Karlsruher Kollegen der Mannheimer Justiz regelrecht eine Ohrfeige versetzt. Womöglich wird sogar der Ausgang des Prozesses, der auf jeden Fall stattfinden soll, beeinflusst.

Die Richter erklärten ihren Entschluss nämlich keineswegs mit der Tatsache, dass keine dringende Fluchtgefahr mehr bestehe. Damit hatten viele Beobachter gerechnet, nachdem bereits der Prozesstermin feststand. Doch das Karlsruher OLG ging wesentlich weiter: Es betonte ausdrücklich, dass derzeit auch „kein dringender Tatverdacht“ mehr bestehe. Darauf hatten in Mannheim der Staatsanwalt und das Gericht stets beharrt. Nicht auszuschließen sei außerdem, dass das mutmaßliche Vergewaltigungsopfer den 52-jährigen Kachelmann falsch belasten wolle, hieß es in der Karlsruher Begründung. Der Strafrechtsexperte Ulrich Wehner aus Berlin sprach denn auch von einer „U-Haft-Beendigung erster Klasse“ und einem „sehr deutlichen Signal“.

Und so lächelte der frisch rasierte Kachelmann, ein wenig blass um die Nase, also sichtlich erleichtert in die Menge der Journalisten und Kameraleute. Die hatten seit Stunden vor dem sternförmigen Mannheimer Gefängnis ausgeharrt und bei jeder Toröffnung ihre Kameras draufgehalten.

So mancher, der an diesem Tag seine Verwandtschaft im Knast besuchen wollte, dürfte sich wenig gefreut haben über den Medientrubel. Doch auf keinen Fall wollte einer der Fotografen jene Sekunde verpassen, in der Kachelmann nach vier Monaten ins Freie schreitet.

Und dann war wie von Zauberhand wieder einmal das schwere, stählerne Tor aufgeschwungen, hinter dem die Schleuse zur JVA liegt. Zuerst hatte Kachelmanns Kölner Anwalt Reinhard Birkenstock das Gefängnis verlassen, danach seine Frau Johanna, die in seiner Praxis mitarbeitet. Und schließlich kam Kachelmann selbst, im schlichten, weißen Shirt, als stehe er völlig mittellos in der Welt, als habe man ihm damals, am 20.März, bei der Verhaftung im Frankfurter Flughafen nicht einmal eine warme Jacke gelassen.

Lange hat Kachelmann nicht ausharren müssen an diesem Tag. Gegen 11 Uhr war die Entscheidung in Karlsruhe bekannt gemacht geworden. Danach hat man ihn wohl umgehend aus dem Trakt für Untersuchungshäftlinge in den vorderen Teil des Gefängnisses gebracht.

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Dort sind schmucklose Entlassungszellen eingerichtet, mit nicht viel mehr ausgestattet als fest am Boden verschraubten, braunen Tischen und einer langen Bank an der Wand. Das einzige bewegliche Utensil ist eine große, leere Blechdose in der Ecke. Eine Kantinenportion Gurken aus dem Spreewald war dort einst drin, jetzt können Gefangene ihre letzten Zigaretten in der Büchse entsorgen, während sie auf ihre Entlassungspapiere warten.

Zweieinhalb Stunden später also steht der Wettermann, der sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere so sehr im Blitzlichtgewitter gesonnt hat, zurückhaltend vor der wartenden Journalistenmeute.

Einen Kommentar lässt er sich nicht entlocken, dafür geht sein Anwalt, der bisher kaum je öffentlich aufgetreten war, regelrecht aus sich heraus. Der Kölner bedankt sich im Namen von Kachelmann bei den Vollzugsbeamten und Mitgefangenen für die Unterstützung während der „ungerechten Untersuchungshaft“, spricht von einem „Justizskandal“. Doch jetzt sei zum Glück die „Unschuldsvermutung wieder auferstanden“.

Auch für Reinhard Birkenstock ist dieser Tag einer der glücklichsten seiner Karriere. Sein Kalkül, Kachelmann dadurch herauszuhauen, dass die Entscheidung über das Schicksal des Schweizers von Mannheim nach Karlsruhe verlagert wurde, ist aufgegangen.

Dafür hatte er sich Unterstützung des Karlsruher Juristen Klaus Schroth eingeholt, der Erfahrung mit Vergewaltigungsprozessen hat: Vor über zehn Jahren verteidigte er einen Heilpraktiker aus Bruchsal, der von einer Angestellten bezichtigt wurde, sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen zu haben. Schroth ließ damals ein Gutachten erstellen, in dem nachgewiesen wurde, dass der Mann anatomisch zu den ihm vorgeworfenen Sexualpraktiken gar nicht in der Lage war. Der Beschuldigte wurde freigesprochen.

Birkenstock war in einem Bericht der Wochenzeitung „Die Zeit“ zuvor heftig attackiert worden. Die renommierte Gerichtsreporterin Sabine Rückert hatte Mitte Juni analysiert: Kachelmann wäre längst frei, wenn er nur einen anderen Anwalt hätte. Er sei viel zu zögerlich gewesen. Auf diese Weise könne man vielleicht einen Steuerhinterzieher aus dem Knast holen, aber nicht einen mutmaßlichen Gewalttäter. Der Kölner hat sie widerlegt.

Für viele Deutsche war Jörg Kachelmann, der im Gefängnis seinen 52.Geburtstag feiern musste, ohnehin schon lange kein Verbrecher mehr. In einer Umfrage im Auftrag des Magazins „Stern“ zeigten sich gerade 47 Prozent der Befragten davon überzeugt, dass das mutmaßliche Opfer sich nur rächen wollte, weil Kachelmann noch andere Frauen hatte. Nur jeder Fünfte glaubt der Frau, der Rest wollte sich kein Urteil bilden.

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Den Zweifel hat nicht zuletzt eben jene Rückert-Attacke in der „Zeit“ gesät. Darin wurde nämlich ein Gutachten bekannt, wonach sich das mutmaßliche Opfer die blauen Flecken auf ihren Beinen wahrscheinlich selbst geboxt hat. Kurz zuvor hatte zudem der „Spiegel“ behauptet, dass die 37-Jährige die Ermittler in Detailfragen lange angelogen haben soll und nur durch eine Untersuchung ihres Computers überführt worden sein soll. Da begann sich die öffentliche Meinung zu drehen.

Auch für das Landgericht Mannheim, das sich derzeit auf einen der schlagzeilenträchtigsten Prozesse seiner Geschichte vorbereitet, kann es also kaum mehr schlechter laufen. Jüngst war nämlich zu allem Überfluss ausgerechnet der für das Verfahren eingeplante Richter ins Visier geraten. Schweizer Zeitungen hatten gemeldet, Michael Seidling, Vorsitzender Richter der 5. Großen Strafkammer, sei befangen, weil er den Vater von Kachelmanns Ex-Freundin Simone kenne. Dieser hatte seine Tochter seinerzeit aufgefordert, die Polizei anzurufen und Kachelmann anzuzeigen.

Wann das Verfahren nun starten wird, ist unklar. Der ursprünglich geplante Termin für den Prozessbeginn am 6. September wird womöglich nicht gehalten. Doch all diese Details zählen erst einmal nichts gegen das große Ganze: Kachelmann ist frei, darf nach der kurzen Ansprache seines Anwalts in dessen Range Rover klettern. Nachdem er Johanna Birkenstock formvollendet die Tür aufgehalten hat, klettert er auf den Rücksitz. Ein kleiner Junge klopft an das dunkle Fenster des Wagens und ruft „Jörg, Jörg“. Doch der schaut nur stur geradeaus. Dann fährt der Wagen davon. Wohin, weiß niemand. Aber sicher schnell weit weg. Von Mannheim.

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