Mehr als ein Dutzend Reisen hat der Worpsweder Fotograf Rüdiger Lubricht in die Sperrzonen rund um Tschernobyl unternommen, um das Unzeigbare zu zeigen. Die Strahlung, die die Reaktorkatastrophe vor 35 Jahren auslöste, ist unsichtbar, man kann sie nicht hören oder riechen, die Folgen aber sind mit aller Eindrücklichkeit spürbar. Die Bilder Lubrichts zeigen nicht nur die verseuchten Landstriche in der Ukraine und Weißrussland mit ihren verlassenen Geisterstädten, die auf 100.000 Jahre unbewohnbar geworden sind, sie zeigen auch die Menschen, die die Folgen des atomaren Unfalls trugen und – so sie denn überlebt haben – noch immer tragen.
Die sogenannten Liquidatoren, die nach Explosion am 26. April 1986 die Feuer löschten, den Unglücksort reinigten und versuchten, die radioaktive Strahlung zu verringern, bezeichnet Lubricht als die „vergessenen Retter Europas“. Sie kämpften gegen eine Katastrophe an, die sie zwar nicht besiegen, so aber doch eindämmen konnten. Die Angaben darüber, wie viele von ihnen das mit dem eigenen Leben bezahlten, gehen auseinander. Lubricht vermutet, dass kaum einer der von ihm Porträtierten heute noch lebt.
Die Fotografien zeigen etwa stolze Feuerwehrleute, in Uniformen und mit zahlreichen Orden dekoriert, aber mit Gesichtern, die schon von den tödlichen Krankheiten gezeichnet sind. Genauso wie die sogenannten Samosely – meist ältere Menschen, die sich illegalerweise wieder in ihren Heimatorten ansiedelten, – lebten die Helden in einfachsten Verhältnissen. Reich sind die Retter von einst nicht geworden, aber ihre Würde haben sie in diesen Bildern zurück bekommen.
Die Bilder, die in einer Langzeitstudie zwischen 2003 und 2011 entstanden sind, sind eine einzigartige Dokumentation, die in mehreren Büchern und bislang über 80 Ausstellungen international gezeigt wurde. Heute wären die Aufnahmen – vor allem wegen der politischen Entwicklung in Belarus – so nicht mehr möglich, ist Rüdiger Lubricht überzeugt. Schon seinerzeit gelang es ihm nur mit vielen Tricks, über die er lieber schweigt, in die verbotenen Gebiete zu kommen und die Menschen zu finden, die die Geschichte von Tschernobyl erzählen konnten.
Viele kurze Reisen in die Region
Auch am 11. März 2011 war der Fotograf, begleitet von einem Fernsehteam, in den Sperrgebieten unterwegs, als die Nachricht vom Reaktorunglück im japanischen Fukushima eintraf. Lubricht fotografierte vor einem leer stehenden Kindergarten ein einsames Vogelbauer im Schnee. Der Vogel war schon lange fort, verschwunden wie alles Leben aus der Stadt Pripjat. Ob er einfach in die Freiheit hinaus geflogen oder gestorben ist, kann keiner mehr beantworten. Mittlerweile haben sich in der Region Wildtiere angesiedelt, die Abstand von Menschen suchen. Für sie ist die Strahlung offenbar die geringere Gefahr. Auch Katastrophen-Touristen können Pripjat inzwischen besuchen.
Der Faktor Zeit hat auch Lubricht geholfen: Er ist immer wieder in die Region gereist, aber nie lange geblieben, sodass er keine gesundheitlichen Spätfolgen fürchten muss. Losgelassen hat ihn das Thema aber nie mehr. Aktuell arbeitet er an einem Buch, das sich der nächsten Opfergeneration widmet: Kinder aus Belarus, die mit strahlungsbedingten Missbildungen auf die Welt kommen, und ihre Eltern, die vor ethischen Fragen stehen, die sie nie richtig beantworten werden können. Auch sie geben der unsichtbaren Gefahr ein Gesicht, und wer Lubrichts preisgekrönte Arbeiten kennt, kann sich sicher sein, dass auch sie leise und poetisch, gleichsam schmerz- und doch würdevoll ihre Geschichte erzählen.