Akademische Vorlesungen über das Neue ... - Licht und Recht
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<strong>Akademische</strong> <strong>Vorlesungen</strong><br />
<strong>über</strong> <strong>das</strong><br />
<strong>Neue</strong> Testament<br />
von<br />
Johannes Wichelhaus,<br />
weiland Professor der Theologie in Halle.<br />
III. Band:<br />
Das Evangelium des Johannes.<br />
Die ganze Macht der Erde hat sich<br />
zum Untergang der Schrift bewaffnet<br />
<strong>und</strong> alle ihre Versuche sind zu<br />
Dampf geworden.<br />
Calvin.<br />
Herausgegeben <strong>und</strong> ergänzt<br />
von<br />
D. Adolph Zahn,<br />
Domprediger<br />
Halle, 1884.
Vorwort.<br />
<strong>Akademische</strong> <strong>Vorlesungen</strong> haben nicht den Zweck, einen vollständigen Kommentar zu ersetzen,<br />
sondern sie sollen nur <strong>Licht</strong>ungen in den dunklen Wald der Exegese schlagen <strong>und</strong> so anleiten, sich<br />
in demselben zurechtzufinden. Dies wird auch diese Vorlesung <strong>über</strong> <strong>das</strong> Evang. Joh. leisten, die von<br />
allen denen, die die Wahrheit mehr lieben als die Verwirrungen der Lüge, gerne angenommen werden<br />
wird. Meine Erfahrung ist, <strong>das</strong>s die <strong>Vorlesungen</strong> von Wichelhaus <strong>über</strong>all da mit Segen gebraucht<br />
wurden, wo man, ermattet an dem Gezänke <strong>und</strong> den tausendfachen Widersprüchen der gewöhnlichen<br />
Exegese, nach Einfalt <strong>und</strong> Gewissheit verlangte. Ob sie dabei von den Tonangebern<br />
vernachlässigt wurden, hatte geringe Bedeutung in einer Zeit, wo Gottes Ernst dem sogenannten<br />
wissenschaftlichen Protestantismus sein Wort genommen 1 <strong>und</strong> ihn in eine chaotische Finsternis dahingegeben<br />
hat, aus deren nächtlichen Schlingen er nicht mehr herauskommen wird. Es war für Luther<br />
noch möglich, aus den Abgründen des Papsttums aufzusteigen, da ihm die Autorität der Schrift<br />
feststand <strong>und</strong> er nur die verschüttete Quelle neu aufzugraben brauchte – wir haben die gef<strong>und</strong>ene<br />
Quelle vergiftet <strong>und</strong> werden kein Heilmittel gegen diesen Schaden finden. Eine nähere Beschäftigung<br />
mit dem reichen Material der Erklärungen des Evang. Joh. hat mir wieder den Beweis geliefert,<br />
<strong>das</strong>s es ein ganz vergebliches Bemühen ist, Zeitgenossen, die mit den dämonischen Kräften<br />
steten Widerspruchs <strong>und</strong> erfindungsreicher, listig unermüdlicher Kritik ihr heilloses Spiel treiben,<br />
noch die Wahrheit gleichsam wissenschaftlich beweisen zu wollen. Was ist unsere exegetische Wissenschaft?<br />
Ein Sandhaufen, der bald von diesem oder jenem Windstoß in spielendem Wechsel <strong>und</strong><br />
vielfachen Formen in die Luft getrieben wird. Nichts steht mehr fest – alles wird bestritten – alles<br />
fast ebenso wieder behauptet.<br />
Man kann es bei der kritischen Vielgeschäftigkeit der Gelehrten begreifen, <strong>das</strong>s die sachliche Exegese<br />
sehr wenig gefördert wird <strong>und</strong> es kaum nötig war, in dieser Hinsicht Zusätze zu diesem Kommentar<br />
zu machen. Glaube <strong>und</strong> stille Versenkung fördern allein die Erklärung. Sie fehlen uns. Man<br />
schreibt vielfach die Alten ab, deren Gründlichkeit <strong>und</strong> Einfalt man nicht besitzt. Dafür wiederholen<br />
die Einen bis zum Überdruss ihre ledernen <strong>und</strong> ausgepressten Gedanken von Alexandrinismus oder<br />
Gnostizismus, von Anti-Judaismus <strong>und</strong> Dualismus, die Anderen, die hierin <strong>das</strong> Geheimnis nicht finden,<br />
wissen nicht die Grenze zu treffen zwischen dem Originalsinn Jesu <strong>und</strong> seinen johanneischen<br />
Verschleierungen <strong>und</strong> Auffassungen – <strong>und</strong> wenn sie ehrlich sind, müssen sie sagen, <strong>das</strong>s in ihnen<br />
dieselben Zweifel an W<strong>und</strong>er <strong>und</strong> Weissagung festsitzen, wie bei den Übrigen. Denn wenn ein ganzes<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert an rätselhafte Machttaten Gottes nicht mehr glauben kann, woher haben die Apologeten<br />
die Gabe, daran festzuhalten? Ein so vortrefflicher Geist wie Ranke weist die bestbezeugten<br />
W<strong>und</strong>er der heil. Schrift zurück (Niederlage Sanheribs, Bekehrung Pauli), 2 woher käme es uns<br />
Theologen, tapferer zu sein als er?<br />
Zu wirklichen Ergebnissen ist es bei aller kritischer Arbeit bis jetzt noch nirgends gekommen.<br />
Nachdem man <strong>das</strong> ergiebige <strong>und</strong> bequeme Würfelspiel mit den Nummern Matthäus, Markus <strong>und</strong><br />
Lukas lange getrieben hat ohne eine rechte Zusammensetzung zu finden, wendet man sich jetzt wieder<br />
(Wetzel) müde des grausamen Spiels 3 der alten Traditionshypothese zu. Nachdem man nicht<br />
mehr <strong>das</strong> Evang. Joh. in <strong>das</strong> Ende des 2. Saec. verlegen kann, sondern gedrängt durch die patristi-<br />
1 Luther: Unsere ingratitudo, contemtus et fastidium verbi in tanta luce – die wird es tun, <strong>das</strong>s dadurch der Teufel gar<br />
zu uns hereinschlägt. Es soll wieder dazu kommen, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Wort von euch genommen wird <strong>und</strong> ihr den Teufel hören<br />
müsset.<br />
2 „Auf der Reise nach Damaskus riss sich Saulus von der Idee, <strong>das</strong>s die wahre Religion an den Tempel von Jerusalem<br />
geb<strong>und</strong>en sei, durch einen plötzlichen Schwung seiner Seele, den w<strong>und</strong>erbare Erscheinungen entweder hervorriefen<br />
oder bestätigten, unbedingt <strong>und</strong> auf immer los.“ Der hervorgehobene Zusatz zerstört den biblischen Bericht.<br />
3 Luther: Es ist der Teufel, der also gaukelt <strong>und</strong> würfelspielet mit der Schrift <strong>und</strong> drehet wie er will, <strong>das</strong>s wo man ihn<br />
angreifet, soll man den Aal bei dem Schwanz gefasset haben.
4 Vorwort.<br />
schen Forschungen bis an den Anfang des 2. Saec. zurückgehen muss, sucht man seine kritische<br />
Ehre dadurch zu sichern, <strong>das</strong>s man nun doch wenigstens einen Jünger des Joh. erdichtet, der die Erinnerungen<br />
des Meisters niedergeschrieben haben soll – ungeachtet des ernstesten Selbstzeugnisses<br />
des Apostels von seiner Autorschaft. Es ist nur eine kümmerliche Seitentür, in die man entspringt,<br />
um nicht der Wahrheit sich zu beugen. Paulus wird gewiss alle seine Briefe behalten <strong>und</strong> auch den<br />
Hebräerbrief wieder dazu empfangen (neuerdings als paulinisch wieder von Hofmann, Wichelhaus,<br />
Karl von der Heydt, Holtzheuer verteidigt), denn man weiß ja nichts Besseres <strong>und</strong> Sicheres, als <strong>das</strong>s<br />
diese Schriftstücke vom Heidenapostel sind. Seit 100 Jahren kämpft nun der Protestantismus um die<br />
heil. Schriften <strong>und</strong> hat kein einziges durchschlagendes Ergebnis gef<strong>und</strong>en, sondern nur mit Heuschreckenschwärmen<br />
die Luft verfinstert – doch schon vermodern dieselben am Boden <strong>und</strong> ein Ostwind<br />
wird sie ins Meer werfen. Ein folgendes Geschlecht wird im N. T. die Kritik aufgeben, aber<br />
nur als ein in diesen Fragen todmüdes, als ein schwerkrankes, <strong>das</strong>s sich zu dem Geständnis gedrungen<br />
sieht: es wäre immer noch <strong>das</strong> Einfachste, die Verfasser so zu nehmen, wie sie <strong>das</strong>tänden. Die<br />
Gleichgültigkeit aber <strong>und</strong> der tiefe ein Jahrh<strong>und</strong>ertlang gehegte Zweifel an der Wahrhaftigkeit der<br />
Schrift wird bleiben. 4<br />
Anders ist die Lage im A. T. Hier kann man noch Jahrzehnte mit dem Eifer der akademischen<br />
Kasten wenigstens den Pentateuch durch die Jahrh<strong>und</strong>erte verteilen, wie die Gebeine des Absyrtos<br />
im wüsten unbekannten Meer, aber <strong>das</strong> Ende wird auch wie im N. T. Ekel <strong>und</strong> Ermüdung sein.<br />
Merkwürdig ist im A. T., <strong>das</strong>s jetzt wieder der zweite Teil des Sacharja nachexilisch sein soll (Stade,<br />
Wellhausen) <strong>und</strong> <strong>das</strong>s, wenn auch konservative Exegeten den zweiten Teil des Jesaja für exilisch erklären,<br />
es ihnen nicht ganz wohl bei der Behauptung ist. (Orelli). 5<br />
Auf allen diesen Lehrer <strong>und</strong> Schüler ermattenden Untersuchungen liegt zuletzt trotz aller Anmaßung<br />
der Fluch der inneren Entleerung <strong>und</strong> der äußeren Verödung der Kirche. Bei der steten Beschäftigung<br />
<strong>über</strong> <strong>das</strong> von wem <strong>und</strong> wann der Bücher versenkt man sich nicht mehr in <strong>das</strong> was <strong>und</strong><br />
wie. Darum arbeitet man auch für eitel Nichts.<br />
4 Luther: Ich halte es wird eine große Finsternis folgen, <strong>das</strong>s man die Stimme des Evangelii nicht wird öffentlich<br />
mehr auf der Kanzel hören. – Wir werden wieder Steine <strong>und</strong> Dornen fressen müssen. – Es ist der höchste <strong>und</strong><br />
schrecklichste Zorn, wenn Gott nicht gibet, <strong>das</strong>s man sein Wort gerne höret noch achtet. Das ist ein innerliches <strong>und</strong><br />
äußerliches Unglück darinnen doch die Welt jetzt sicher hingehet.<br />
5 Ich will hier die Gelegenheit benutzen, um als Reformierter eine Lanze für einige messianische Stellen einzulegen,<br />
die die Kritik der Lutherbibel geraubt hat.<br />
Es ist zunächst die Stelle<br />
1. Mose 4,1.<br />
Ich habe den Mann den Herrn.<br />
Wenn diese Übersetzung auch erst durch die Korrekturen Rörers in den Text aufgenommen ist, so hat sie doch<br />
die entschiedene Billigung Luthers in seiner Auslegung der letzten Worte Davids (hier ein ausführlicher Beweis.<br />
„Auch alle anderen Ebräisten müssen bekennen, wenn sie den Text recht ansähen, <strong>das</strong>s dieser Weibes-Samen Jehova,<br />
der Gott <strong>und</strong> Mensch, wäre.“), in der Glosse zu der Bibel von 1545 (Ei Gott sei gelobt, da hab’ ich den Mann den<br />
Herrn, den Samen, der dem Satan oder Schlangen den Kopf zertreten soll. Der wird’s tun.) <strong>und</strong> in der Abhandlung<br />
wider <strong>das</strong> Papsttum in demselben Jahre. Die von der Kommission gegebene Veränderung: ich habe einen Mann<br />
durch den Herrn ist zunächst grammatisch unzulässig, denn wie Dillmann in seinem Kommentar zur Genesis bemerkt,<br />
kommt Et in diesem Sinne nicht vor. Es müsste Im stehen. Et kann nur nach den Parallelen <strong>das</strong> Zeichen des<br />
Akkusativ sein, wie Luther es fasst, oder es bedeutet: in der Pachtung auf Jemanden hin (Luther macht ganz feine<br />
Bemerkungen <strong>über</strong> diese Bedeutung), wie in der Redeweise: er wandelte mit Gott, auf Gott hin, oder es hat den<br />
Sinn: zur Hilfe, zum Beistande Jemandes, wie: Gott war mit dem Knaben, mit Joseph. Unsere Worte können also<br />
außer der Fassung von Luther nur noch heißen: Ich habe einen Mann erworben auf Jehova hin, was schwer verständlich<br />
ist, oder zur Hilfe Jehovas, was selbst die stolzeste Mutterhoffnung nicht aussprechen würde. Es bleibt also<br />
nur die Übersetzung Luthers, <strong>und</strong> man sollte dieselbe unbedingt wieder herstellen, da Luther mit solchem Eifer da -<br />
für eingetreten ist, denn wir haben es mit seiner Bibel zu tun.
Vorwort. 5<br />
Wo <strong>das</strong> Wort uns genommen ist, da ist uns auch <strong>das</strong> Leben genommen, denn in ihm allein ist <strong>das</strong><br />
Leben – <strong>und</strong> so geht die Masse des deutschen Volkes ohne Glauben dahin <strong>und</strong> die kleinen pietistischen<br />
<strong>und</strong> gläubigen Kreise verdorren mehr <strong>und</strong> mehr, oder raffen sich zu öffentlichen Agitationen<br />
auf, die dem stillen sich zurückziehenden Geiste Jesu fern liegen. Die Liebe ist <strong>über</strong>all erkaltet.<br />
Misstrauen <strong>und</strong> Verachtung beherrschen alles. Selbst in den innigsten Verhältnissen <strong>über</strong>liefert ein<br />
Bruder den anderen zum Tode, <strong>und</strong> wenn er die furchtbaren Folgen erkennt, tröstet er sich damit,<br />
<strong>das</strong>s er es zur größeren Ehre Gottes getan habe. Es ist nur noch <strong>das</strong> Band der Gewöhnung, was auch<br />
die Besten zusammenhält. Dabei geht die sichtbare Welt immermehr ihrer völligen Auflösung entgegen<br />
– denn <strong>das</strong> Wort entzieht sich ihr.<br />
Ich denke bei meinen bescheidenen Arbeiten immer an die reformierte Kirche Deutschlands, deren<br />
Studenten keinen akademischen Lehrer mehr haben, der sich ohne Rückhalt der Schrift <strong>und</strong> dem<br />
Bekenntnis unserer Väter unterwürfe. Diese Söhne unserer Väter werden in den <strong>Vorlesungen</strong> von<br />
Wichelhaus einen festen Stab finden durch die Öde akademischer Zweifelsucht <strong>und</strong> dabei hoch erhabener<br />
Selbstgewissheit. Wenn sie neben denselben noch die vorzüglichen durch Klarheit <strong>und</strong> Bestimmtheit,<br />
feine geschmackvolle sprachliche Form ausgezeichneten Kommentare von Karl von<br />
der Heydt zu 9 Briefen Pauli (Elberfeld bei Friderichs) hinzunehmen – auch meine Wanderung<br />
durch die h. Schrift <strong>und</strong> die Abhandlung <strong>über</strong> <strong>das</strong> Gesetz Gottes nach der Lehre Pauli (Halle bei<br />
Mühlmann) kann ich nennen, so würden sie für <strong>das</strong> N. T. ruhiger <strong>und</strong> gegründeter werden gegen<strong>über</strong><br />
den Erklärungen solcher, denen der Glaube <strong>und</strong> damit <strong>das</strong> Verständnis des Wortes geschw<strong>und</strong>en<br />
ist, <strong>das</strong> sie doch unter ihren Händen haben. 6<br />
Die reformierte Kirche ist immer – eben weil sie die Wahrheit hat – geschmäht worden, auch<br />
wieder bei der großen Grabschmückung Lutheri, dieses völlig <strong>über</strong>hörten Propheten. Kann man<br />
denn Luther nur erhöhen, indem man Zwingli erniedrigt? Er hat doch ihm gegen<strong>über</strong> die Schrift in<br />
der Abendmahlslehre 7 vertreten, <strong>und</strong> man kann wohl Luthers Maßlosigkeiten begreifen, aber man<br />
soll sie nicht billigen. Sein Verhältnis zu den Schweizern ist die Tragik seines Lebens <strong>und</strong> der ganzen<br />
evangelischen Kirche. In Einem hat Zwingli Luther ohne Frage <strong>über</strong>troffen: in der Krone des<br />
Beide Reformatoren, Luther <strong>und</strong> Calvin, haben in der Stelle eine messianische Hoffnung ausgesprochen gef<strong>und</strong>en.<br />
Obwohl Calvin <strong>über</strong>setzt: Acquisivi Domino Virum, setzt er doch hinzu: Virum appellat infantem recens natum,<br />
quia genus humanum, quod sua culpa tam ipsa quam maritus perdiderat, renovatum adspicit. Mit <strong>Recht</strong> fällt ihm der<br />
Ausdruck Isch auf, weil darin der Geborene als in den Augen der Eva gewaltig <strong>und</strong> verheißungsvoll bezeichnet<br />
wird. Auch Keil findet eine Hoffnung des Heils in den Worten der Eva. – Der Gr<strong>und</strong>, den die Kommission angibt für<br />
ihre grammatisch falsche Übersetzung, <strong>das</strong>s „der evangelischen Gemeinde durch Luthers Übersetzung alle Erkenntnis<br />
des stufenmäßigen Fortschrittes der alttestamentlichen Heilsoffenbarung unmöglich gemacht würde“ (Riehm),<br />
ist ein Zugeständnis an moderne Anschauung von Entwicklung <strong>und</strong> Wachstum, deren <strong>Recht</strong> wir nicht anerkennen.<br />
Wenn in der Genesis ein Same verheißen wird, in dem alle Völker gesegnet worden sollen, so ist damit eine gottgleiche<br />
Stellung dieses Samens ausgesprochen; wenn im Segen Jakobs ein Schilo verheißen wird, dem die Unterwürfigkeit<br />
der Völker zufallen soll, so ist dieser Schilo kein anderer als der Sohn, der Erbe der Welt.<br />
Gerade Eva konnte nach ihren furchtbaren Erfahrungen <strong>und</strong> nach der Verheißung des Weibessamens in dem mit<br />
Schmerzen geborenen Sohne einen Mann erblicken, der ihr der Herr selbst war – ein allmächtiger Erretter, der El<br />
Gibbor nach Jesaja. Sollte es denn für Maria leichter gewesen sein, zu glauben, <strong>das</strong>s sie den Sohn des Höchsten<br />
empfangen werde, als für Eva? Etwa – weil sie auf eine jahrh<strong>und</strong>ertlange Entwicklung der Verheißung zurückblicken<br />
konnte? Ein solches Bekenntnis wie <strong>das</strong> der Eva <strong>und</strong> ein solcher Glaube wie der der Maria sind lediglich<br />
Wirkungen des heil. Geistes. Unsere Ansichten von Weissagung waren nicht die Luthers <strong>und</strong> wir können dieselben<br />
nicht einmal grammatisch schützen.<br />
Psalm 8.<br />
Wir verteidigen die Auffassung <strong>und</strong> Übersetzung von Luther, <strong>und</strong> die Sache scheint uns von so unendlicher<br />
Wichtigkeit, <strong>das</strong>s wir die Kommission dringend bitten, ihre Veränderungen noch einmal gründlich zu revidieren. Die<br />
Überschrift des Psalmes würde lauten: Die Herrlichkeit des Herrn auf der ganzen Erde in dem elenden <strong>und</strong> wieder<br />
verherrlichten Menschen <strong>über</strong>trifft die Herrlichkeit der Himmel <strong>und</strong> Gestirne.
6 Vorwort.<br />
Martyriums, <strong>und</strong> davor sollten wir Weichlinge uns tief beugen. Wir weisen hier auch <strong>das</strong> Lob<br />
Zwinglis aus dem M<strong>und</strong>e der Liberalen zurück, die Bibel <strong>und</strong> Geschichte für ihre selbsterf<strong>und</strong>enen<br />
religiösen Systeme fälschen.<br />
Es ist doch gut, <strong>das</strong>s Treitschke bei seiner Lutherrede es ausgesprochen hat: Um die Mitte des<br />
sechzehnten Jahrh<strong>und</strong>erts kam <strong>über</strong> den lutherischen Zweig des deutschen Protestantismus eine lange<br />
Zeit unheilvoller Erstarrung – nur der Heldenmut seiner tatkräftigeren Schwesterkirche, nur der<br />
Kampf der Calvinisten gegen die spanische Krone bewahrte damals <strong>das</strong> verkommene Luthertum<br />
vor dem sicheren Untergange. Die reformierte Kirche war <strong>über</strong>all die Retterin des Protestantismus<br />
auch in Deutschland, wie die Brandenburger <strong>und</strong> andere Fürsten beweisen. (Vergl. <strong>das</strong> Gedächtnissbuch<br />
von Cuno).<br />
Unsere Zeit baut nicht auf, sondern zerstört. Dieser Gedanke bewegt uns Reformierte in<br />
Deutschland immer, wenn wir den ernstlichen Versuch von Dr. Kuyper in Holland beobachten, eine<br />
reformierte Universität auf calvinistischer Gr<strong>und</strong>lage hinzustellen. Die Verwirrung in Holland, die<br />
Maßlosigkeit der Kritik ist dort noch viel größerer als in Deutschland, je leidenschaftlicher <strong>und</strong> zäher<br />
man in Allem ist, je teilnehmender auch <strong>und</strong> erweckter für kirchliche Fragen. Möge dem begabten<br />
<strong>und</strong> eifrigen Führer nicht eine schwere Enttäuschung zuteil werden; möge er seine Wünsche <strong>und</strong><br />
Ziele so niedrig wie möglich stellen – denn wir stehen <strong>über</strong>all auf Triebsand – <strong>und</strong> da kann man<br />
nichts erzwingen. Die Verborgenheit Dr. Kohlbrügges in Deutschland, der dunkle Weg seiner Gemeine<br />
haben mir den Beweis geliefert, auf wie geringe Dinge in diesem Jahrh<strong>und</strong>ert die Absichten<br />
Gottes gerichtet sind. Beschränkung <strong>und</strong> Bescheidung im Kleinen ist heute unsere Pflicht.<br />
_______________<br />
Indem der Psalmist die Herrlichkeit des Herrn auf der ganzen Erde beschreiben will, sagt er, <strong>das</strong>s dieselbe so<br />
groß sei, <strong>das</strong>s auch der Himmel von derselben widerstrahle, denn gerade dort, wo der Mensch am nichtigsten erscheine<br />
als Säugling, gehe von ihm eine Verherrlichung Gottes aus. Wenn man freilich die Herrlichkeit der Himmel<br />
<strong>und</strong> der Gestirnwelt betrachte, erscheine vor unseren Augen der Mensch in seiner ganzen Nichtigkeit <strong>und</strong> Erbärmlichkeit.<br />
Der Psalmist denkt nicht an den Menschen, den Gott einst in seinem Bilde erschaffen hatte, <strong>und</strong> der als solcher<br />
alle Schöpfung Gottes an Herrlichkeit <strong>über</strong>traf, denn er war in dieser Stellung der Sohn Gottes, sondern er<br />
denkt an den Menschen, wie er jetzt in der Wirklichkeit ist; darum nennt er den Menschen Änosch, d. i. den leiblich<br />
<strong>und</strong> geistig schwerkranken (Rivetus: in statu priori homo non possit dici mortalis et miser, quod voce Aenosch notatur,<br />
neque tam abjecte debuerit in tanta gloria de eo loqui Propheta. Geyer: Voci huic respondet σάρξ.), den boshaften<br />
bei allem Elend (Ps. 9,20; 56,2), <strong>das</strong> verächtliche <strong>und</strong> gemeine Nichts; er nennt ihn Ben-Adam (Geier: Hominem<br />
hic vocat filium hominis per contemptum.), weil man von ihm als dem Sohn des Menschen von vornherein weiß,<br />
was er ist <strong>und</strong> was er treibt, wie denn der Name Sohn des Menschen nach Bengel male audit in Scriptura sacra. Dass<br />
in unseren Worten der Mensch in seiner sündhaften Erbärmlichkeit aufgefasst wird, beweist unbedingt die Parallelstelle<br />
144,3 <strong>und</strong> mit <strong>Recht</strong> führt Hupfeld auch in vollem Gegensatz gegen seine eigene falsche Erklärung Hiob 7,17<br />
an. In dem Mah liegt auch die staunende Geringschätzung des Menschen. Ja gegen<strong>über</strong> der Pracht der Gestirnwelt<br />
steht der ganz kranke Mensch in seiner tiefen Gesunkenheit da. Es hat darum der Hebräerbrief ein unumstößliches<br />
<strong>Recht</strong> c. 2,6, unsere Worte auf die Menschenart in einer vergänglichen alten Welt zu beziehen. Wenn nun auf diese<br />
völlige Entwertung <strong>und</strong> Erniedrigung des Menschen der Satz folgt: Du lässest ihn entbehren ein wenig Gottes, so<br />
kann man unmöglich dies so fassen, <strong>das</strong>s derselbe Änosch nun doch wieder nur ein wenig der Gottheit nachstehe! Er<br />
ist vielmehr toto coelo von Gott geschieden. Es ist nicht ein biblischer, sondern ein ganz heidnischer Satz, <strong>das</strong>s der<br />
tiefgesunkene Mensch doch bei nur kleiner Differenz Gott so ziemlich gleich sei! Wir fragen die Kommission in al -<br />
lem Ernste, ob sie solche unbiblischen <strong>und</strong> unchristlichen Gedanken im Volke verbreiten will? Ob es im Widerspruch<br />
mit allen Parallelen vom Volke in seiner Bibel gelesen werden soll, <strong>das</strong>s der Änosch dennoch nur wenig von<br />
Gott Abstand habe? Gott <strong>und</strong> Änosch <strong>und</strong> Menschenkind werden in der Schrift aufs tiefste geschieden <strong>und</strong> es muss<br />
zur heillosen Verwirrung gereichen, wenn <strong>das</strong> Volk solche Gedanken in der Bibel findet. Man könnte ja in bitterem<br />
Spotte fragen, wieviel ist es denn, was Gott noch Überschuss vor dem Änosch hat, wenn dieser nur ein wenig von<br />
demselben verschieden ist? Nein v. 6 heißt: Und Du wirst den Änosch eine kurze Zeit Gottes entbehren lassen, denn<br />
<strong>das</strong> ist ein Gedankenfortschritt <strong>und</strong> <strong>das</strong> ist <strong>das</strong> Gericht des Änosch, <strong>das</strong>s er eine Zeitlang Gottes entbehrt, <strong>und</strong> was<br />
sich weiter anschließt, ist gegensätzlich geredet: aber mit Herrlichkeit <strong>und</strong> Majestät wirst Du ihn krönen.
Vorwort. 7<br />
Es schien mir nötig, in diesem Vorworte eine Gliederung des Evang. zu geben, da dieselbe in einem<br />
besonderen Abschnitt in dem Kommentar nicht behandelt ist. Auch wollte ich damit zugleich<br />
einige Gedankenreihen entwickeln. 8<br />
Da Johannes ein Zeugnis inmitten der gläubigen <strong>und</strong> im Glauben zu bestärkenden Gemeinen niederlegen<br />
will, hat er <strong>das</strong>selbe wohl in einer Einteilung seines reichen Stoffes getan, auch in einem<br />
innern Zusammenhange <strong>und</strong> wachsendem Fortschritt der ihn bewegenden Gedanken, aber er hat<br />
keine „künstlerische Komposition“ oder einen besonders fein <strong>und</strong> mühevoll errichteten „Aufbau“<br />
seines Evang. gewollt. Solche Unterlegung geht von denen aus, die Johannes zu einem Dichter machen,<br />
der nicht nur die Tiefe seiner Gedanken, sondern auch deren virtuose Gestaltung <strong>und</strong> Durchführung<br />
seinen Lesern habe dartun wollen. Das Evang. ist ein spekulatives <strong>und</strong> formelles Kunststück,<br />
aber kein Bericht von Tatsachen. Es ist in Allem vollendet erdacht, aber nichts ist so geschehen.<br />
Dies beweist schon seine sinnvolle Form. Seit Baur hat man sich bemüht, bis ins Kleinste hinein<br />
die schaffende Arbeit der Hand des Künstlers nachzuweisen. Es liegt aber dem Ernste der<br />
Das sind wieder Ausdrücke, die eine Königs-Herrlichkeit beschreiben, von der der Änosch so wenig einen Rest<br />
hat, <strong>das</strong>s er noch viel weniger mit derselben gekrönt ist. Ein Änosch soll mit Kabod <strong>und</strong> Hadar gekrönt sein! Vergl.<br />
Röm. 3,23. Hier steht die gegebene Übersetzung am Rande der völligen Unbegreiflichkeit! (1. Mos. 9,6, Jak. 3,9<br />
sind hier nicht in Vergleichung zu ziehen, da dort gegen<strong>über</strong> dem Mörder <strong>und</strong> Lästerer die ursprüngliche Schöpfung<br />
festgehalten wird – hier aber ist von dem Änosch die Rede). Der Psalm sieht den gefallenen Menschen einer Zukunft<br />
entgegen gehen, wo er wieder zur vollen Lebensherrlichkeit <strong>und</strong> Lebensherrschaft umgestaltet ist <strong>und</strong> indem<br />
dies zunächst allein in Christo geschehen ist, ist der Psalm messianisch, so auch im N. T. verstanden <strong>und</strong> sehr wahrscheinlich<br />
die Ursache, <strong>das</strong>s der Herr selbst sich des Menschen Sohn genannt hat. – Die Kommission begeht ein Unrecht<br />
am N. T., an Luther, an der Tradition der christlichen Kirche, an der Mehrzahl der besten älteren Exegeten,<br />
wenn sie die Messianität des Psalmes entfernt <strong>und</strong> statt dessen eine reine Widersinnigkeit in denselben hineinbringt.<br />
Überschrift <strong>und</strong> Übersetzung sind zu entfernen <strong>und</strong> der alte Luthertext in seine heilige Ehre wieder einzusetzen. –<br />
Von Gottes Größe in der Schöpfung, namentlich am Himmel, ist in dem Psalme gar nicht besonders pointiert die<br />
Rede, sondern gerade im Gegenteil von der alle Schöpfung Gottes <strong>über</strong>strahlenden Herrlichkeit des Namens des<br />
Herrschers Jehovas auf der ganzen Erde in dem tief erniedrigten <strong>und</strong> in Christo wieder erhöhten Menschen. – Auch<br />
Hebr. 2,7 <strong>und</strong> 9 fasst v. 6 als einen vor<strong>über</strong>gehenden schmachvollen gerichtlichen Zustand. Es entspricht nicht dem<br />
gerühmten „Wahrheitssinn“, wenn nachdem alle Messianität des Psalmes entfernt ist, „nun doch wieder eine typi -<br />
sche Beziehung der Psalmworte auf Christum keineswegs ausgeschlossen sein soll.“ Worin soll dieselbe denn noch<br />
bestehen, wenn von dem Menschen der Gegenwart die Rede ist? – Will die Kommission ihre Übersetzung durchaus<br />
aufrecht halten, so setze sie wenigstens den Luthertext darunter, damit <strong>das</strong> Volk doch ein Regulativ gegen solche<br />
großen Irrtümer hat.<br />
2. Samuelis 7,19. (1. Chronik. 18,17.)<br />
Wenn es bei diesen schwierigen <strong>und</strong> dunklen Worten weder bei den Exegeten noch bei den Mitgliedern der<br />
Kommission zu einem irgendwie genügenden Resultate sicherer Erklärung gekommen ist, so wäre es gewiss besser,<br />
die Worte so zu lassen, wie Luther sie gegeben hat. Denn bei eigener Schwankung <strong>und</strong> Ungewissheit der Kommission<br />
muss immer der Luthertext den Vorzug haben. Noch mehr ist dieses Gesetz zu beachten bei der Stelle<br />
Daniel 9,24-27,<br />
wo gewiss allen verwirrten <strong>und</strong> unerquicklichen Verhandlungen <strong>über</strong> diese Worte ein Ende gemacht wird durch Beibehaltung<br />
der Übersetzung Luthers, die nach unserem Dafürhalten mit gutem <strong>Recht</strong> hier „bis auf Christum, den<br />
Fürsten“ hat. Damit wäre auch die einzige Stelle im A. T. erhalten, wo der Name Christus ausdrücklich vorkommt.<br />
6 Für <strong>das</strong> A. T. mache ich auf die Arbeiten von Prof. Böhl in Wien aufmerksam, obwohl die Anmut <strong>und</strong> Weihe, die auf<br />
den <strong>Vorlesungen</strong> von Wichelhaus ruht, denselben nicht eigen sind, auch inhaltlich man <strong>über</strong>all die systematische<br />
Vollendung <strong>und</strong> Ausreifung vermisst – doch bringen sie eine Reihe von vortrefflichen <strong>und</strong> entscheidenden Gedanken<br />
aus der Schule Kohlbrügges, dieses einzigen Lutherus redivivus in diesem Jahrh<strong>und</strong>ert, wie ihn Cuno mit <strong>Recht</strong> in<br />
der deutschen Biographie nennt.<br />
7 Vergl. den Vortrag von mir: Zwinglis Verdienste um die biblische Abendmahlslehre. Stuttgart 1884.<br />
8 <strong>Neue</strong>rdings haben sich mit dieser Frage beschäftigt: Holtzmann (Zeitschrift f. wiss. Theol. 24,3), Wild (Jahrb. d.<br />
histor. Gesellsch. Züricher Theol. 1877), Lomann (De bouw van het vierde evangelie 1877), Hausrath (Neutest.<br />
Zeitg. IV), Thoma (Die Genesis des Joh.-Evang. 1882, S. 373-732), Honig (Zeitschr. für wissenschaftl. Theol. 26,<br />
7), Franke (Studien <strong>und</strong> Kritiken 1884, Heft I).
8 Vorwort.<br />
μαρτυρία fern, durch Reize der Darstellung in bildnerischer Gruppierung zu glänzen. Sie ist nüchtern<br />
<strong>und</strong> einfach. Darum kann sie zuweilen in gleichmäßigem Flusse dahergehen <strong>und</strong> dann wieder<br />
Mitteilungen machen, welche sich nach gewöhnlicher oder künstlerischer Schreibweise gar nicht in<br />
ein vorhererdachtes Schema einfügen lassen. Der Fortschritt im Evang. ist der der Tatsachen, die allerdings<br />
zu einer Höhe menschlicher Bosheit <strong>und</strong> Offenbarung göttlicher Gnade hinaufdringen, aber<br />
darum nicht erdacht sind. Die heil. Geschichte ist vor jeder anderen Geschichte strenge Bewegung<br />
zu einem Ziele hin, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s dies Ziel erreicht werde, darauf ist alles angelegt. Ein Sieg des Logos –<br />
oder um gleich den einzig richtigen deutschen Ausdruck dafür zu geben – des Wortes ist aber etwas<br />
anderes als ein Sieg in einem weltlichen Drama oder als der Abschluss einer philosophischen Idee.<br />
Was seine Verherrlichung bei Gott erlangt, nach Pauli Rede im Gebiete des Geistes gerechtfertigt<br />
wird, verläuft nicht nach dem Programm menschlicher Phantasie. Irdische Schemata eignen sich<br />
nicht für <strong>das</strong> Evangelium.<br />
Man hat in sehr verschiedener Weise den Stoff des Evang. ordnen wollen.<br />
Die Einteilung ist zunächst nicht von den Festen oder Festreisen zu nehmen. Wenn Johannes<br />
auch bei den Wanderungen Jesu die Feste erwähnt <strong>und</strong> dieselben auf <strong>das</strong> Tun Jesu sehr bestimmend<br />
einwirken, so nehmen die darauf bezüglichen Notizen doch eine untergeordnete Stellung ein <strong>und</strong><br />
sind in keiner Weise weder zu einer klaren Übersicht seines Lebens noch zu einer Gliederung des<br />
Stoffes zu benutzen. So wenig wie bei den Synoptikern in der Zeit vor dem letzten Passah sich eine<br />
strenge geschichtliche Ordnung auffinden lässt, wie sie vielmehr nur Galiläa <strong>und</strong> Jerusalem als die<br />
großen abgetrennten Gebiete im Auge haben, ebensowenig gibt auch Johannes genügenden Anlass,<br />
seine Mitteilungen vor dem letzten Passah für streng geschichtliche Ordnung zu benutzen. Kap. 11<br />
bringt bei Joh. die einzige große Scheidung in dem geschichtlichen Stoff (<strong>und</strong> zwar dieselbe wie bei<br />
den Synoptikern): alles Vorhergehende ist in der freiesten Weise geordnet, <strong>und</strong> die Feste <strong>und</strong> Festreisen<br />
(<strong>das</strong> letzte Ostern wird sogar zuerst erwähnt) geben so wenig Anlass den Stoff zu sondern,<br />
<strong>das</strong>s sie zuweilen nur nebenbei erwähnt werden, wie 10,22; 6,4, wo des Festes nur gedacht wird, um<br />
den Volksandrang zu erklären. Von Kap. 12 an befinden wir uns wohl bleibend in der Nähe von Jerusalem<br />
<strong>und</strong> dann in Jerusalem selbst, aber auch hier hat der örtliche Rahmen keinen besonderen<br />
Wert für die Ordnung des Inhaltes, wenn auch die Leidensgeschichte <strong>und</strong> die Erscheinungen des<br />
Auferstandenen ihre wichtigen örtlichen Mittelpunkte haben. Weil der Evangelist ein Zeugnis von<br />
dem Worte gibt <strong>und</strong> seinen Stoff nach großen Erfahrungen seines apostolischen Lebens zusammengestellt<br />
hat, haben auch die Schauplätze ihren historischen Wert, aber sind nicht für seinen Gedankengang<br />
entscheidend. Wohl werden die Bewegungen Jesu von Galiläa nach Judäa <strong>und</strong> von Judäa<br />
nach Galiläa verzeichnet bis zu dem völligen entscheidenden Übertritt auf judäisches Gebiet (dem<br />
großen synoptischen: Sehet wir gehen hinauf –): in gleicher Weise offenbart sich der Herr in beiden<br />
Landesteilen, aber in dem Fortschritt der Gedanken bildet <strong>das</strong> doch keine erkennbare Sonderung.<br />
Man hat weiter in der Steigerung der W<strong>und</strong>er <strong>das</strong> Gesetz der Entwicklung finden wollen. Die<br />
W<strong>und</strong>er sollen sich zu immer größeren erheben. So sehr nun auch die W<strong>und</strong>er in dem Gang der<br />
Dinge als besondere Denkmale der Herrlichkeit Jesu hervortreten, Johannes eben sie als die Machttaten<br />
des Messias zum Glauben vorhält, so sehr sie auch die Entwicklung beschleunigen, so ist doch<br />
in den W<strong>und</strong>ern selbst kein Unterschied, sondern sie sind alle in gleicher Weise Offenbarungen des<br />
allmächtigen Wortes. Wollte man die W<strong>und</strong>er nach unberechtigter Betrachtung unterscheiden <strong>und</strong> in<br />
einer künstlichen Steigerung geschehen lassen, so wäre <strong>das</strong> zweite W<strong>und</strong>er (<strong>und</strong> Joh. fasst es ausdrücklich<br />
als σημεῖον 2,23), die machtvolle Hinausstoßung des stolz fanatischen Volkes aus seinem<br />
Tempelhause, größer als wenn die Häscher allein auf Jesu Wort zu Boden fallen, wie denn auch die<br />
Glorie eine strahlendere war, die den Herrn in jenem Augenblick umgab. Dabei ist dieses Zeichen,
Vorwort. 9<br />
<strong>das</strong> richtig nach den Synoptikern am Schluss der Tätigkeit Jesu geschah, bei Joh. an den Anfang seines<br />
Zeugnisses gesetzt, obwohl es schon allein genügte, um die Katastrophe herbeizuführen. Und<br />
gleich darauf ist von seiner Auferstehung die Rede. Das ist sehr wenig künstlerisch nach unseren<br />
Begriffen. Um eine Steigerung in den W<strong>und</strong>ern aufzuzeigen <strong>und</strong> Zahlen dabei festzuhalten <strong>und</strong><br />
zwar nach der geographischen Scheidung von Galiläa <strong>und</strong> Judäa, hat man aus Speisung <strong>und</strong> Meerwandel<br />
<strong>und</strong> Heilung des Blinden <strong>und</strong> Auferweckung des Lazarus je ein Doppelw<strong>und</strong>er gemacht:<br />
sehr unwürdige Spielereien. Joh. schwebte so wenig eine Zahl bei den W<strong>und</strong>ern vor, wie wir sie<br />
entdecken werden. Ich zähle 12 Zeichen, 5 in Galiläa (Kana, Königischer, Speisung, Meerwandel,<br />
dritte Offenbarung an die Jünger), 7 in Judäa (Tempelreinigung, Blindenheilung, Auferweckung des<br />
Lazarus, Niederwerfung der Häscher, drei Offenbarungen des Auferstandenen). Mit vollem <strong>Recht</strong><br />
kann man auch die Stimme vom Himmel <strong>und</strong> die an dem Herrn erfüllten Weissagungen als mit ihm<br />
geschehene Zeichen betrachten (12,30; 19,35 – Beziehung auf den Glauben, wie bei den übrigen<br />
Zeichen). Dann hätten wir 15 W<strong>und</strong>er: von einer Absicht ist nichts in dieser Zahl zu ergrübeln.<br />
Man hat in verschiedenen Zahlen <strong>das</strong> Gesetz der Zusammensetzung des Evang. finden wollen.<br />
Die Sieben-, die Fünf- <strong>und</strong> vor allem die Dreizahl soll sich erkenntlich machen. Letztere ist benutzt,<br />
um aus dem Evang. ein Drama zu machen, in welchem der Knoten gelegt, geschlungen <strong>und</strong> schließlich<br />
gelöst wird. Daran ist einiges Wahre, aber die Durchführung oft sehr gesucht. Die Behauptungen,<br />
nach welchen der Schreiber die W<strong>und</strong>er erf<strong>und</strong>en habe, um an sie Reden anzuknüpfen <strong>und</strong> wir<br />
so in dem Schema: symbolisches W<strong>und</strong>er <strong>und</strong> darauf folgende Rede auch eine Anleitung für die Erkenntnis<br />
„der Komposition“ des Evang. haben, sind darum nichtig, weil wir Zeichen haben, die gar<br />
keine längeren Reden nach sich ziehen (Kana, Tempelreinigung, Blindenheilung, Auferweckung<br />
Lazari). Man kommt nirgends bei dem Evangelisten mit dem Gedanken durch, <strong>das</strong>s er eine bestimmte<br />
<strong>und</strong> in allem künstlerische „Disposition“ im Voraus sich fertig gelegt habe.<br />
Auch die lehrhafte Seite des Evang., nach welcher Joh. den Nachweis liefert, <strong>das</strong>s in Jesu <strong>das</strong><br />
Leben für den Glauben sei, tritt nirgends in einer einer dogmatischen Abhandlung ähnlichen Durchführung<br />
auf, so <strong>das</strong>s wir vielleicht loci <strong>über</strong> die ζωὴ αἰώνιος auch in der Einteilung zu suchen haben.<br />
Mit diesem Begriff des Lebens hängen wohl andere Begriffe des Evang. eng zusammen, aber<br />
sie sind nicht neujohanneisch, sondern Schriftbegriffe <strong>und</strong> stehen nicht in der Einheit eines philosophischen<br />
Systems, sondern in der Gemeinschaft großer Realitäten der Wahrheit, die der Glaube<br />
fasst, die wissenschaftliche Erkenntnis aber weder erfindet noch begreift.<br />
Wäre <strong>das</strong> Evang. die Darstellung eines Sieges der Logosidee, so würde dieser Sieg – wie Philosophen<br />
sich einmal solchen Sieg denken – mehr sichtbare Erfolge aufzuweisen haben; statt dessen<br />
bleibt <strong>das</strong> Volk in hartem Unglauben, <strong>und</strong> die Jünger zeigen sich selbst nach der Auferstehung noch<br />
blind <strong>und</strong> töricht. Es ist eben nur der Sieg des Wortes für den Glauben dargestellt – von dem Triumph<br />
einer neuen Gedankenwelt weiß <strong>das</strong> Evang. nichts. Man hat aus einem gewissen Rhythmus in<br />
den Einzelheiten der Abschnitte des Evang., aus einer parallelen Gliederung, wie sie sich zuweilen<br />
zeigt, auf besondere bewusste Absichten des Joh. schließen wollen, doch ist <strong>das</strong> mehr ein Herumtappen,<br />
statt ein gewisses Erkennen.<br />
Wir haben bei der Gliederung des Stoffes von jedem Gedanken einer „künstlerischen Komposition“<br />
abzusehen <strong>und</strong> nur für <strong>das</strong> große Ganze bestimmte auch dem Joh. bewusste Abteilungen anzunehmen.
10 Vorwort.<br />
Bei der vielfach feindseligen Sucherei nach Tendenzen – diese moderne Krankheit einer erfahrungslosen<br />
Theologie, die immermehr zur knabenhaften Spielerei wird 9 – <strong>über</strong>sieht man, <strong>das</strong>s es die<br />
Art der neutestamentlichen Schreibweise, also die des heil. Geistes ist, wohl gewisse dem Schriftsteller<br />
vorschwebende Gedanken in einer Reihenfolge zur Geltung zu bringen, aber nicht wie wir<br />
arbeiten, sondern wie ein Baum wächst, der seine Art <strong>über</strong>all in jedem Zweig <strong>und</strong> Blatt bewahrt,<br />
aber doch seine Triebe frei <strong>und</strong> willkürlich sprossen lässt. Es ist dies die wachstümliche Art der<br />
Schriftstellerei, <strong>über</strong> die Oetinger manche sinnige Gedanken geäußert hat. So auch bei Johannes. Er<br />
hat seine strahlenden Gr<strong>und</strong>gedanken, er zeigt wie sie in den Taten <strong>und</strong> Worten des Herrn sich aussprechen,<br />
wie sie im Kampfe sich behaupten, wie sie trotz aller Niederlage den Sieg erringen: es<br />
geht alles geordnet <strong>und</strong> feierlich groß voran bis zu dem τετέλεσται des Herrn – aber dabei geschehen<br />
Wiederholungen, <strong>das</strong> Zeugnis ist <strong>und</strong> bleibt <strong>das</strong>selbe, es wird nicht müde immer in der gleichen<br />
Weise sich auszusprechen – <strong>und</strong> darum ist alle Mühe, jede Aussage gleichsam zu kontrollieren,<br />
ganz umsonst.<br />
Es ist nicht verständlich, wie diejenigen, welche soviel von der Monotonie des Evang. reden, nun<br />
durchaus wieder in <strong>das</strong>selbe eine „künstlerische Komposition“ hineinbringen wollen, die gar nicht<br />
mit dem ermüdenden Einerlei stimmen will.<br />
Joh. hat den Stoff seines Buches in seinem Leben oft vorgetragen; er hat ihn allmählich in Gruppen<br />
fest geordnet; die ganze Erfahrung seines leidenvollen Erdenweges warf ihm immer neues<br />
<strong>Licht</strong> auf die große Vergangenheit; er sah wie in dem Unterricht <strong>und</strong> Wandel der Gemeinen alles<br />
darauf ankam, <strong>das</strong>s dieselben <strong>das</strong> Wort vom Anfang verstanden, glaubten <strong>und</strong> dann bewahrten; er<br />
empfand tief den furchtbaren Widerstand des Unglaubens der ganzen Welt, namentlich der Juden,<br />
(deren Verwerfung Christi <strong>das</strong> große Ärgernis der Heidenwelt war, <strong>das</strong> zu beseitigen eine Anzahl<br />
neutestamentlicher Schriften – Matth., Apostelgeschichte, Römerbrief, Offenbarung Joh. – hervorgerufen<br />
hat), während nur wenige <strong>das</strong> Wort annahmen <strong>und</strong> in demselben blieben – so stellt er nun in<br />
seinem Evang. nach langjähriger Übung des Zeugen <strong>und</strong> Lehrers die Bedeutung des Wortes dar, <strong>das</strong><br />
in einer Reihe von Machttaten seine Herrlichkeit geoffenbart hat, wie es den Glaubenden <strong>das</strong> Leben,<br />
den Ungläubigen aber <strong>das</strong> Gericht bringe.<br />
Damit sind wir schon bei den Gedanken der richtigen Gliederung angekommen.<br />
Die Worte c. 12,37-50 bilden eine leicht erkennbare Scheidemarke im Evangelium. Sie beweist<br />
vor allen anderen Kennzeichen, <strong>das</strong>s Joh. von einer sachlichen Einteilung seines Stoffes ausgeht,<br />
denn geschichtlich müsste man mit c. 12 einen neuen Absatz beginnen. Jesus entzieht sich der Welt,<br />
die nicht an ihn glauben will <strong>und</strong> weilt nur noch unter den Seinen, in deren Mitte er verherrlicht ist.<br />
So gliedert sich zunächst <strong>das</strong> Evang. in zwei Hauptteile: c. 1–12, c. 13–21. Jesus in der Welt <strong>und</strong> im<br />
Kampfe mit ihr, Jesus die Welt verlassend <strong>und</strong> unter den Seinen sich <strong>und</strong> sein Werk offenbarend.<br />
Man kann in dem letzten Abschnitt wieder c. 18 <strong>und</strong> 19 besonders nehmen, da dieselben keineswegs<br />
allein von dem Gedanken der freiwilligen Selbsthingabe für die Seinen erfüllt sind, sondern<br />
auch noch eine Menge anderer Wahrheiten enthalten, wie denn namentlich hier die Feindschaft der<br />
Welt auf die Höhe steigt <strong>und</strong> Jesu entschiedenes Zeugnis ebenso hervorruft wie in den Kapiteln 5–<br />
12. Die Raserei der Feinde geht selbst soweit, die Zerbrechung der Gebeine der Gekreuzigten zu<br />
fordern. Jesus aber vollendet in dem Hass der Welt seine Liebe zu den Seinen, die wieder ihre Untreue<br />
<strong>und</strong> Schwachheit offenbaren <strong>und</strong> erst nach seinem Tode sich zu Beweisen der Liebe aufraffen.<br />
9 Luther: Gottes Wort zerreißen sie, kreuzigen es, geißeln es <strong>und</strong> legen ihm alle Marter an, bis sie es auf ihre Ketzerei,<br />
Sinn, Mutwillen deuten <strong>und</strong> dehnen, zuletzt gar verderben, töten <strong>und</strong> begraben, <strong>das</strong>s es aus der Welt gestoßen <strong>und</strong><br />
vergessen wird. – Meinest du, <strong>das</strong>s Christus Wort ein solch Rohrwanken <strong>und</strong> Windwirbeln der Herzen lehre? So er<br />
ein fest gewisser Fels sein will <strong>und</strong> soll, <strong>das</strong>s in seinem Worte ein Jeglicher wisse, wie er dran sei mit ihm <strong>und</strong> nicht<br />
hin <strong>und</strong> herfahre wie die Bulge auf dem Meere, da keine Ruhe nimmer ist.
Vorwort. 11<br />
Hätten wir es mit einer künstlerischen Komposition im Evang. zu tun, so würde, nachdem der<br />
Kampf mit der Welt c. 5–12 gestritten war, c. 18 u. 19 die Welt zurücktreten <strong>und</strong> alles in Harmonie<br />
ausklingen, während im Gegenteil die Bosheit auf der Höhe steht, die Jünger in Petro entehrt werden<br />
<strong>und</strong> nur der Herr der Gleiche bleibt, bis er sich völlig in Blut <strong>und</strong> Wasser ausgeschüttet hat. C.<br />
20 u. 21 schließen sich wieder eng an c. 13–17 an: Jesus in vierfacher Offenbarung unter den Seinen,<br />
die an seine Auferstehung nicht glauben, sondern ganz in Furcht vor der Welt leben, die vermessensten<br />
Zweifel pflegen, Jerusalem verlassen <strong>und</strong> bis zum Schluss mit Eifersüchteleien sich tragen:<br />
er aber, der Herr, der gleiche Hirte, der durch sein Wort <strong>und</strong> seinen Geist den Glauben an die<br />
Auferstehung erweckt <strong>und</strong> Thomä Bekenntnis, Petri Zerknirschung, Johannis Hoffnung auf seine<br />
Wiederkunft durch sich allein schafft. C. 13–21 stehen in einem Zusammenhange nicht strenger<br />
Kunst, sondern freier Waltung, denn <strong>über</strong>all kehren auch hier die einmal schon ausführlicher behandelten<br />
Gr<strong>und</strong>gedanken zurück.<br />
Kehren wir uns jetzt zu dem ersten Teil des Evang., so ist in den Kapiteln 1–12 eine Scheidung<br />
zu machen zwischen c. 1–5 <strong>und</strong> c. 6–12. Was zunächst c. 1–4 betrifft, so enthalten diese folgende<br />
Gedanken: Das Wort, <strong>das</strong> die Welt geschaffen <strong>und</strong> in dem allein <strong>das</strong> Leben ist, tritt in die ihm feindselige<br />
Welt <strong>und</strong> empfängt <strong>das</strong> Zeugnis des Joh. c. 1,1-34. Es findet Aufnahme in dem Kreise der<br />
Jünger c. 1,35–2. Es offenbart in zwei absichtlich zusammengestellten Zeichen seine Herrlichkeit in<br />
Galiläa <strong>und</strong> Jerusalem <strong>und</strong> erweckt den Glauben der Jünger, der aber auch eben so fehlt (c. 2,23).<br />
Nikodemus, die Samariter <strong>und</strong> der Königische werden von dem Worte <strong>über</strong>zeugt <strong>und</strong> finden in ihm<br />
<strong>das</strong> Leben. So ist der Abschnitt c. 1–4 vorwiegend an Tatsachen reich, die beweisen, <strong>das</strong>s wo man<br />
dem Worte glaubt, man durch <strong>das</strong>selbe lebt. Dabei regt sich aber auch schon hier mächtig der Unglaube<br />
<strong>und</strong> die Verwerfung, <strong>und</strong> <strong>über</strong> allen Mitteilungen steht die Warnung, <strong>das</strong>s die Finsternis <strong>das</strong><br />
<strong>Licht</strong> nicht begreift. Der Gegensatz Jesu gegen die Juden tritt <strong>über</strong>all hervor. Joh. ruft mit Schmerz<br />
aus: Und sein Zeugnis nimmt Niemand an. Bei aller Anhänglichkeit der Jünger zeigt sich auch bei<br />
ihnen viel Unverstand, (c. 4,33). C. 5 führt nun in einem Beispiel großer Undankbarkeit gleichsam<br />
als ein Vorbote des herannahenden Sturmes zu c. 6–12, welchen Kapiteln man am besten die Überschrift<br />
gibt: Das Widersprechen der Sünder wider den Heiligen. Dabei bricht durch diese Nacht des<br />
Unglaubens auch der Glaube zuweilen hindurch in Petri Bekenntnis c. 6,68 <strong>und</strong> 69, in den Empfindungen<br />
der Häscher c. 7,46, in Nikodemi Wort, in dem ganzen zerrissenen Meinungsstreit des Volkes<br />
c. 7. Die Ehebrecherin, der Blindgeborene beschämen die Juden. Jesus kennt c. 10 seine Schafe<br />
<strong>und</strong> findet auf dem alten Arbeitsfelde Johannis Glauben. Dabei aber auch wieder in c. 11 der Unverstand<br />
der Seinen, <strong>und</strong> wie <strong>über</strong>all gegen die Juden ist der Herr auch in Mitten der Seinen der, der<br />
sich allem kennt <strong>und</strong> aus freiem Triebe heraus seine Herrlichkeit offenbart. C. 12 hat in dem Glauben<br />
der Maria, in dem dankbaren Jubelruf der Galiläer, in dem Ruhm des Volkes Gegensätze zu<br />
dem neugierigen Aufdrängen der Griechen, zu dem Unglauben des Volkes, <strong>das</strong> selbst die himmlische<br />
Stimme nicht achtet – <strong>und</strong> der Evangelist schließt seinen ersten größeren Teil mit den Worten:<br />
Obwohl so viele Zeichen durch ihn vor ihnen geschahen, glaubten sie doch nicht. Was er denn noch<br />
weiter bekräftigt. In c. 13–17 verklärt sich der Herr inmitten der Seinen durch Fußwaschung, Wort<br />
<strong>und</strong> Verheißung <strong>und</strong> entfernt den aus ihrer Mitte, der nicht zu ihnen gehört. Die Jünger selbst zeigen<br />
dabei ihre große Schwachheit, die den Herrn nicht völlig versteht, aber seine ewige Liebe nicht aufhebt,<br />
die sich im hohenpriesterlichen Gebet zuletzt für sie in voller Inbrunst ausspricht.<br />
Wir unterscheiden also c. 1–4, c. 5, c. 6–12, c. 13–21. Die Mühe aber, in diesen Abschnitten wieder<br />
strenger zu sondern <strong>und</strong> in stete Bezüglichkeit <strong>und</strong> feine Vergleichung dies <strong>und</strong> jenes zu stellen,<br />
halten wir für ganz vergeblich, vielfach auch für schädlich <strong>und</strong> dem Ernste <strong>und</strong> der Nüchternheit der<br />
μαρτυρία nicht entsprechend. Wir hätten damit auch drei Teile, aber nicht in der Weise harmonisti-
12 Vorwort.<br />
scher Sucherei, sondern wie die Äste eines Baumes, die Nebenästlein haben <strong>und</strong> oft in freier Weise<br />
<strong>über</strong>einander <strong>und</strong> nebeneinander ragen.<br />
Das Nähere gehört der Erklärung an.<br />
_______________<br />
Ich habe es nicht für angewiesen gef<strong>und</strong>en, meine kleinen Zusätze in der Erklärung besonders<br />
bemerkbar zu machen. C. 20 <strong>und</strong> 21 ist die Umarbeitung so bedeutend, <strong>das</strong>s ich für diese Kapitel allein<br />
verantwortlich bin.<br />
Herzlichsten Dank schulde ich meinem teuren Fre<strong>und</strong>e Pfarrer Becker in Dachtel in Württemberg,<br />
dem gelehrten Mitarbeiter des Gedächtnissbuches von Cuno, der, wie er mir viel Liebe in meinem<br />
Leben bewiesen, auch bei der oft mühseligen Arbeit der Korrektur hingebenst geholfen hat.<br />
Ebenso bin ich Herrn Stadtvikar Schüz in Stuttgart zum Dank für seine Hilfe verpflichtet.<br />
Stuttgart Ostern 1884.<br />
Der Herausgeber.
§ 1. Von dem Leben <strong>und</strong> der Person des Apostels Johannes.<br />
Weder die Evangelien, noch <strong>das</strong> Buch der πράξεις τῶν ἀποστόλων, welches Lukas für Theophilus<br />
geschrieben, liefern uns von der Person <strong>und</strong> dem Leben auch nur eines einzigen der Apostel<br />
einen derartigen Bericht, welcher irgendwie in dem gewöhnlichen Sinn des Worts eine Geschichte<br />
oder Lebensbeschreibung derselben genannt werden könnte. Es kann dies nicht erklärt werden aus<br />
einer mangelhaften oder volksmäßigen Art der Geschichtschreibung, welche Einige den historischen<br />
Büchern des N. T. haben aufbürden wollen; denn Lukas, ein Arzt, war sicher mit griechischer<br />
<strong>und</strong> römischer Geschichtschreibung zur Genüge bekannt. Noch viel weniger aber kann es daraus erklärt<br />
werden, <strong>das</strong>s der geschichtliche Stoff dieser Bücher aus dem M<strong>und</strong>e des Volks sollte entnommen<br />
sein; denn gerade <strong>das</strong> Volk liebt es, den einzelnen Lebenszügen seiner Helden nachzugehen –<br />
wie denn auch die spätere apokryphische Literatur zeigt, <strong>das</strong>s man zu jedem Apostel-Namen auch<br />
acta <strong>und</strong> eine vita erdichtet, während die Kirchen-Scribenten mit größter Sorgfalt jede Notiz <strong>über</strong><br />
Leben <strong>und</strong> Schicksale der Apostel zusammensuchten. Da es nun auch nimmermehr Mangel an Liebe<br />
<strong>und</strong> Interesse für die Personen selbst kann gewesen sein, weshalb die Evangelisten <strong>und</strong> in der<br />
Apg. Lukas so Weniges <strong>und</strong> fast nur Beiläufiges von der Apostel Leben in ihre Erzählung verflochten<br />
haben, so kann der Gr<strong>und</strong> nur darin liegen, <strong>das</strong>s vor einem ganz anderen <strong>und</strong> höheren Zwecke,<br />
von welchem sie in der Abfassung ihrer Schriften geleitet wurden, jede Rücksicht auf die Personen<br />
<strong>und</strong> auf die zufälligen Schicksale des einzelnen in die evangelische Geschichte verflochtenen Menschen<br />
zurücktrat. Die Evangelisten haben nur <strong>das</strong>jenige aufgezeichnet, was in wesentlicher Beziehung<br />
steht zu dem Rate Gottes zu unserer Seligkeit, offenbar geworden in Christo Jesu, was charakteristisch<br />
war für die Erkenntnis Jesu von Nazareth als des von Gott gesandten Erretters der Menschen,<br />
<strong>und</strong> worin sich die Bewährung der ewigen Worte k<strong>und</strong>gab, in welchen Moses <strong>und</strong> die Propheten<br />
die Zukunft des Waltens Gottes zur Zeit der Aufrichtung seines Königreichs auf Erden abgezeichnet<br />
<strong>und</strong> zuvorbeschrieben hatten. Fassen wir diesen Zweck ins Auge, so geben uns die Evangelien<br />
<strong>und</strong> die Akten einen ganz vollständigen Aufschluss auch in Betreff der Apostel <strong>und</strong> Evangelisten.<br />
Allerdings würde es uns interessant <strong>und</strong> angenehm sein, von Johannes’ Geburt, Eltern, Erziehung,<br />
Leben, Aufenthaltsort <strong>und</strong> Tod recht spezielle <strong>und</strong> ausführliche Data zu besitzen; aber für seinen<br />
Charakter als Apostel <strong>und</strong> die Zuverlässigkeit dessen, was er geschrieben, wären alle diese Dinge<br />
zufällig <strong>und</strong> ohne Entscheidung; denn da die Apostel nicht sich selbst im Auge gehabt, haben sie<br />
auch nicht ihre Namen <strong>und</strong> Personen oder ihre Lebensbeschreibung ihren Werken vorgesetzt, <strong>und</strong><br />
ebenso wenig haben Diejenigen, welche durch die Predigt der Apostel gläubig geworden, die Person<br />
der Apostel ins Auge gefasst – vielmehr, da die Evangelisten Zeugen Christi gewesen, so gehen<br />
alle Nachrichten <strong>über</strong> sie dahin aus, uns dar<strong>über</strong> K<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Gewissheit zu geben, wie sie zu diesem<br />
Amt in den Stand gesetzt worden sind. Die Namen der Apostel werden uns zuerst – <strong>und</strong> gerade da<br />
genau <strong>und</strong> ausdrücklich mitgeteilt, wo ihre Berufung von dem Herrn gemeldet wird. Matthäus gibt<br />
sie, nachdem schon oftmals von den δώδεκα μαθηταῖς die Rede gewesen, erst im 10. Kap., wo er<br />
die feierliche Machtbekleidung <strong>und</strong> Aussendung der 12 Apostel meldet. Bei Markus finden wir sie<br />
im 3. Kap. V. 13 ff., wo er schreibt: καὶ ἐποίησε δώδεκα ἵνα ὦσι μετ᾽ αὐτοῦ καὶ ἵνα ἀποστέλλῃ<br />
αὐτοὺς κηρύσσειν usw. Gleichwie es also heißt, Joh. 15,16: nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich<br />
habe euch erwählt, <strong>und</strong> Act. 1,2: welche er auserwählt hatte, <strong>und</strong> Mk. 3: er rief zu sich, welche er<br />
wollte – so ist dies der wahre Anfang ihres Lebens, <strong>das</strong>s der Herr diese Zwölf gemacht hat<br />
(ἐποίησε), <strong>das</strong>s sie seine Zeugen seien. Nach Lk. 6,12 ff. hatte er die Nacht vorher allein im Gebete<br />
auf einem Berge zugebracht. Dass von da ab <strong>das</strong> eigentliche <strong>und</strong> neue Leben, <strong>das</strong> Geburtsjahr der<br />
Apostel eingetreten, gibt Markus weiter dadurch zu verstehen, <strong>das</strong>s er die Namennennung zuerst<br />
hervorhebt: καὶ ἐπέθηκε τῶ Σίμωνι ὄνομα Πέτρον, <strong>und</strong> V. 17 von Jakobus <strong>und</strong> Johannes: καὶ
14 § 1. Von dem Leben <strong>und</strong> der Person des Apostels Johannes.<br />
έπέθηκεν αὐτοῖς ὀνόματα (Plural) Βοανεργὲς, ὅ ἐστιν υἱοὶ βροντῆς. Diese drei, Petrus, Jakobus <strong>und</strong><br />
Johannes, galten nämlich unter den Zwölfen noch insbesondere als die Repräsentanten Aller – <strong>und</strong><br />
wir werden deshalb auch den Namen der υἱοὶ βροντῆς mit Beziehung auf <strong>das</strong> apostolische Amt zu<br />
deuten haben. Die Etymologie des Wortes Boanerges ist streitig. Hieronymus, Luther, Erasmus leiteten<br />
<strong>das</strong> ργὲς von ,רעם welche Ableitung Drusius (Comm. ad voces Hebr. N. T.) zu rechtfertigen<br />
suchte. Andere haben die radix רגש (oder (רגז angezogen, welche sich in der Peschito an dieser Stelle<br />
findet. Das oa für Schwa ist provinzielle Aussprache, so statt Nebhüm Noabhüm. Über des Wortes<br />
Aussprache cf. Lightfoot hor. hebr. ad Marc. 3, de Dieu pag. 397. Der Gebrauch des υἱοί ist dem<br />
Hebr. gewöhnlich, auch im N. T. nicht selten, als υἱοί φωτός Joh. 12,36; υἱοί ἀπει θείας Eph. 2,2 –<br />
ähnlich τέκνα Mt. 11,19. Barnabas hieß ebenso υἱός παρακλήσεως Act. 4,36. In Betreff der Bedeutung<br />
des Namens ist die Meinung der meistens neueren Theologen unrichtig. Man will den Namen<br />
Donnerskinder von dem feurigen Temperament der Söhne Zebedäi erklären, wie sie <strong>das</strong>selbe z. B.<br />
in dem fleischlichen Eifer, <strong>über</strong> die Samariter, welche den Herrn nicht aufnehmen wollten, Feuer<br />
regnen zu lassen, k<strong>und</strong>gegeben haben (Lk. 9,54). Aber der Name ist ja nicht damals, sondern bei der<br />
Berufung gegeben worden. Im Ganzen richtig, doch zu sehr von persönlichen Vorzügen erklären die<br />
Kirchenväter diese Bezeichnung, indem sie dieselbe vornehmlich bei Johannes von der Macht seiner<br />
Rede, der Donnerstimme seines Evangeliums erklären, wobei sie dem Johannes einen Vorrang<br />
vor den übrigen Aposteln einräumen, als welcher allein die eigentlichen Geheimnisse der Christologie<br />
enthüllt habe. 10 Gleichwie aber Simon genannt wurde Petrus nicht persönlicher Eigenschaften<br />
<strong>und</strong> Kräfte wegen, sondern weil er mit den Andern geglaubt <strong>und</strong> bekannt, <strong>das</strong>s Jesus der Christ war,<br />
so hat der Herr Jakobus <strong>und</strong> Johannes Donnerskinder genannt, weil ihre Predigt nicht anders als die<br />
Stimme Gottes selbst in die Herzen <strong>und</strong> Gewissen der Menschen ertönen sollte. Der Name Petrus<br />
bezieht sich auf den Glauben – der Name Boanerges auf die Predigt der Apostel. Sehr oft wird nämlich<br />
im A. T. <strong>das</strong> Wort Gottes einer Donnerstimme verglichen, wie denn auch Gottes Erscheinung<br />
immer von Donner begleitet wird. Ps. 29. Ps. 97,2 ff. Hab. 3,3.4. Ps. 68, 34. 1. Sam. 2,10. Ps. 81,8.<br />
Als eine Stimme vom Himmel kam, die Herrlichkeit des Sohnes zu bezeugen, sprach <strong>das</strong> Volk „es<br />
hat gedonnert.“ Lightfoot führt eine Stelle aus dem Talmud an, Megillah fol. 29,1, wo mit der Erscheinung<br />
der שכינא die קולרישא verb<strong>und</strong>en ist. Sehr gewöhnlich wird auch bei Profan-Scribenten<br />
die Gewalt der Rede dem Donner verglichen. So Aristophanes von Pericles, Acharnens v. 529:<br />
ἐνετεῦθεν ὀργῇ Περικλέης Οὐλύμπιος<br />
ἤστραπτεν, ἐβρόντα, ξυνεκόκα τὴν Ἑλλόδα<br />
Es lag mithin in diesem Namen die Verheißung des Herrn an seine Apostel, <strong>das</strong>s sie – ohne Bildung<br />
<strong>und</strong> Macht der Rede, ohne Einfluss <strong>und</strong> Ausrüstung der Weisheit dennoch als seine Apostel<br />
<strong>und</strong> Zeugen Donnerskinder sein würden, μεγαλοκήρυκες, wie Theophylact sagt, deren Wort erschallen<br />
werde aus Wolken <strong>und</strong> Wetterdunkel gleich der Stimme des Himmels. So hat Joh. selbst in<br />
der Apokalypse mehrmals <strong>das</strong> Zeugnis Jesu einer φωνὴ βροντῶν ἰσχυρῶν verglichen, c. 19,6 etc.,<br />
vgl. Act. 2,2. Johannes יוחœנœן) = Gott ist gnädig (Gotthold): 2. Chron. 28,12 LXX) wird fast immer<br />
mit Jakobus zusammen genannt, dessen jüngerer Bruder er gewesen zu sein scheint. Der Name des<br />
Jakobus steht immer voran, ausgenommen Lk. 9,28. Wenn die Vermutung Vieler richtig ist, <strong>das</strong>s der<br />
Joh. 1,37 neben Andreas genannte μαθητής des Täufers der Apostel Johannes gewesen sei, so würde<br />
derselbe unter den Ersten gewesen sein, die von dem Täufer an den Herrn gewiesen wurden. Der<br />
Ruf zur Nachfolge geschah aber in Galiläa. Mt. 4,21. Mk. 1,19. Lk. 5,1-11. Der Berufung des Andreas<br />
<strong>und</strong> Petrus folgte auf dem Fuße die des Jakobus <strong>und</strong> Johannes. Sie waren Fischer <strong>und</strong> wurden<br />
10 Chrysosth.: ὁ ᾽αληθῶς υἱὸς βροντῆς, ὁ εἰς τὴν οἰκονομίαν ᾽αστράψας καὶ εἰς τὴν θεολογίαν βροντήσας. Epiph.: aus<br />
den Nebeln <strong>und</strong> Finsternissen habe er der Weisheit Blitze <strong>und</strong> Donner hervorgehen lassen <strong>über</strong> die ganze Erde.
§ 1. Von dem Leben <strong>und</strong> der Person des Apostels Johannes. 15<br />
von Christo angetroffen, als sie gerade ihre Netze flickten; auf seinen Ruf verließen sie ihren Vater<br />
Zebedäus, <strong>das</strong> Schiff <strong>und</strong> die Schiffsknechte. Der Name des Vaters, hebr. זב¦ד¤י wird öfters (Mt. 4,21;<br />
10,2; 20,20) dem Namen der Söhne zugesetzt, da es besonders bei dem so sehr häufigen Namen des<br />
Jakobus dieser Unterscheidung von Andern bedurfte. Ein Jakobus ברזבדי wird auch im Talmud, Bereschit<br />
Rabba, genannt, welchen Cappellus für den Apostel hält. Die Mutter der Söhne Zebedäi, Salome<br />
(nicht eine Schwester der Mutter Jesu, (cf. Mt. 27,56 mit Mk. 15,40; 16,1) folgte oftmals Jesu<br />
nach; aus ihren Mitteln unterstützte sie mit andern Frauen den Herrn <strong>und</strong> kaufte Spezereien zu seinem<br />
Begräbnis. (Lk. 8,3. Mk. 15,41.) Sie tat die Bitte an den Herrn, <strong>das</strong>s ihre beiden Söhne zu seiner<br />
<strong>Recht</strong>en <strong>und</strong> Linken sitzen möchten in seinem Reich. Mit Petrus <strong>und</strong> Andreas waren Jakobus<br />
<strong>und</strong> Johannes Zunftgenossen (κοινωνοί ,(ח©ב¦ר¤ים vielleicht aus demselben Flecken, Bethsaida, oder<br />
dem benachbarten Kapernaum. Die Familie war nicht unbemittelt, <strong>und</strong> wenn auch Johannes Alles<br />
verlassen um des Herrn willen, so ist ihm doch ein väterliches Erbe verblieben; nach der Auferstehung<br />
begab er sich mit Petro an sein altes Handwerk zurück, <strong>und</strong> die Mutter Jesu hat er nach Joh.<br />
19,27 εἰς τὰ ἵδια zu sich genommen. Bei ihrer Vorliebe der selbst erwählten Armut lassen dagegen<br />
die Kirchenväter den Joh. in großer Dürftigkeit leben, <strong>und</strong> τὸἴδια erklärt Ambrosius davon, <strong>das</strong>s<br />
Joh. bonus verbi sapientiaeque possessor gewesen sei, Augustin aber von den officiis propria dispensatione<br />
exsequendis.<br />
Weil nach Joh. 18,15 ein Jünger, den man gemeiniglich, doch mit nicht hinreichenden Gründen,<br />
für den Joh. hält, – ἄλλος μαθητής nicht ὁ ἄλλος – γνωντὸς ἦν τῷ ἀρχιερεῖ, so hat schon Hieronymus<br />
daraus schließen wollen, der Apostel sei edlen Geschlechts gewesen. Propter generis nobilitatem<br />
notus erat pontifici et Judaeorum insidias non timebat. Vielfach ist auch die Frage behandelt<br />
worden, ein wie hoher Grad von Bildung dem Apostel zugeschrieben werden könne. Wenn nun einerseits<br />
gewiss ist, <strong>das</strong>s er ἀγράμματος <strong>und</strong> ein ἰδιώτης gewesen, von den Schriftgelehrten verachtet<br />
als ein Galiläer <strong>und</strong> der die Schrift nicht schulgemäß erlernt habe – so ist doch andererseits nicht zu<br />
bezweifeln, <strong>das</strong>s er die Schriften Mosis <strong>und</strong> der Propheten gekannt <strong>und</strong> selbst gelesen <strong>und</strong> in seinem<br />
Geiste nach ihrem Verständnis gesucht hat. Des Hebräischen muss er nicht unk<strong>und</strong>ig gewesen sein,<br />
da er mehrmals nicht nach der LXX., sondern dem hebr. Texte zitiert; <strong>das</strong> Griechische hat er, wie es<br />
damals im Handel <strong>und</strong> Wandel die ganz gewöhnliche Sprache war, auch als Fischer lernen können,<br />
denn griechische Städte in Menge waren am galiläischen Meer: Gadara, Hippos, Dora, Tiberias,<br />
Scythopolis etc. Die Gesetze wurden in römischer <strong>und</strong> griechischer Sprache bekannt gemacht. Jos.<br />
ant. 14, 10, 2. Der Herr selbst unterhält sich mit einer Griechin Mk. 7,26; mit einem Zenturio Mt.<br />
8,5.<br />
Dass der Herr gerade diese Galiläer <strong>und</strong> Fischer zu seinen Aposteln erwählt hat, kann nicht ohne<br />
Gr<strong>und</strong> gewesen sein; sie sollten Zeugen dessen sein, was er tun <strong>und</strong> lehren würde in Israel – sie<br />
mussten also Bedürfnis für Wahrheit <strong>und</strong> Trost des heiligen Geistes haben <strong>und</strong> zu denen gehören,<br />
welche <strong>das</strong> Evangelium μακαρίους nennt. Was damals in Judäa sich selbst für fromm <strong>und</strong> in der<br />
Schrift gelehrt hielt, hatte <strong>das</strong> Zeugnis des Täufers nicht angenommen, diese Fischer aber hatten<br />
ihre Sünden bekannt <strong>und</strong> indem sie sich gleich heidnischen Proselyten taufen ließen, eingestanden,<br />
<strong>das</strong>s sie, obwohl aus Abrahams Geschlecht, dennoch ihrem Herzen <strong>und</strong> Wesen nach ohne Gott <strong>und</strong><br />
Hoffnung seien in der Welt gleich den Heiden. Als Jünger <strong>und</strong> Gefährten des Täufers hatten sie <strong>das</strong><br />
ganze Land herbeikommen <strong>und</strong> Alle ihr Sünden-Elend aufdecken sehen. In tiefem Schmerzgefühl<br />
<strong>über</strong> des Volkes Gottes Schmach <strong>und</strong> Entfremdung, <strong>über</strong> die Herrschaft <strong>und</strong> heuchlerische Frömmigkeit<br />
der Pharisäer <strong>und</strong> Synagogen-Vorsteher – waren ihre Erwartungen aufs höchste gespannt<br />
worden, indem der Täufer sie mit den tiefsten Fragen <strong>und</strong> Bedürfnissen ihres Lebens auf die Erscheinung<br />
dessen hingewiesen hatte, mit dem <strong>das</strong> Königreich Gottes eintreten werde gerade in ihren
16 § 1. Von dem Leben <strong>und</strong> der Person des Apostels Johannes.<br />
Tagen. Schwärmer <strong>und</strong> Enthusiasten sind die Apostel nicht gewesen <strong>und</strong> haben sich selbst nicht herzugedrängt;<br />
als sie den Herrn gef<strong>und</strong>en, waren sie, dessen froh, nach Galiläa an ihr Handwerk zurückgegangen.<br />
Aber die Weisheit, welche kam, ihre Stimme hören zu lassen unter den Menschenkindern,<br />
der große Herzenskündiger erkannte in ihnen die Gefäße, in denen er die Schätze der Erkenntnis<br />
dessen, der ihn gesandt hatte, niederlegen konnte. Auf den Ruf Christi verließen sie all <strong>das</strong><br />
Ihrige aus Gehorsam, nicht aber weil Jakobus <strong>und</strong> Joh. ihr Handwerk hätten niederlegen können<br />
oder wollen – sonst wären sie nicht nachher noch zu demselben zurückgekehrt, noch viel weniger<br />
aus irdischen Rücksichten, denn sie waren vor dem Herrn sehr erschrocken <strong>und</strong> fürchteten die Nähe<br />
des Heiligen. Denn auch Joh. war nach Lk. 5,1-11 Zeuge des w<strong>und</strong>erbaren Fischzuges Petri, wo<br />
dieser ausrief: „Gehe hinaus von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch.“ Auch Joh. war heftig erschrocken,<br />
<strong>und</strong> Jesus musste ihnen Mut zusprechen mit den Worten: „Fürchtet euch nicht, denn von<br />
nun an will ich euch zu Menschenfischern machen.“ Die Wahl des Herrn ist aber durch den Erfolg<br />
bestätigt worden. Mit aufmerksamen Sinnen sind sie des Herrn Worten <strong>und</strong> Taten gefolgt; an der<br />
Niedrigkeit seiner Erscheinung haben sie keinen Anstoß genommen, durch den Widerstand <strong>und</strong> die<br />
Verfolgung haben sie sich nicht irre machen lassen, selbst durch des Herrn oft harte <strong>und</strong> strenge<br />
Worte sind sie nicht zurückgeschreckt worden; sondern, wie in des Herrn Angesicht ihnen <strong>das</strong> Wort<br />
der Gnade lebendig geworden <strong>und</strong> der erschienen war, welcher aus der Fülle Gottes den Menschen<br />
<strong>das</strong>jenige darreichte, was allein Frieden mit Gott zu geben vermag, – so haben sie bei dem Herrn<br />
ausgeharrt in allen seinen Anfechtungen <strong>und</strong> an ihm allein den Schatz <strong>und</strong> Trost ihres Lebens gehabt.<br />
Ohne dieses Bedürfnis nach Wahrheit <strong>und</strong> Trost hätten uns die Apostel nimmermehr vom<br />
Evangelium Jesu Christi schreiben können, wären sie auch mit Auge <strong>und</strong> Ohr bei allem gegenwärtig<br />
gewesen. Dass sie nun Galiläer waren, ohne Bildung <strong>und</strong> Gelehrsamkeit, entsprach der Erscheinung<br />
des Herrn selbst <strong>und</strong> den Weissagungen der Propheten: Ps. 8,3; Jes. 8,18. Sie waren aber echte Israeliten,<br />
in denen kein Falsch war. In der Finsternis der Nächte, in denen sie auf dem See von Tiberias<br />
ihr schweres <strong>und</strong> abhärtendes Handwerk geübt (Oppian, Halieutica lib. I v. 35) haben sie auf<br />
<strong>das</strong> <strong>Licht</strong> gehofft, welches aufgehen würde <strong>über</strong> <strong>das</strong> Galiläa der Heiden, <strong>das</strong> im Todesschatten lag.<br />
So ist denn auch an ihnen die Weissagung des Ez. c. 47,10 erfüllt, <strong>das</strong>s Fischer stehen würden <strong>und</strong><br />
ihre Netze ausbreiten von Engeddi bis En-Eglaim an dem Strom, der unter dem Tempel Gottes entspringt.<br />
Das Zusammenleben der Jünger mit dem Herrn während seiner 3jährigen öffentlichen Wirksamkeit<br />
hat man sich schwerlich so zu denken, als hätten sie ihn niemals verlassen. Es heißt an einem<br />
Orte, Mk. 6,7, Jesus habe seine Jünger ausgesandt, <strong>und</strong> es wird dann V. 30 der Zeitpunkt bemerkt,<br />
wo sie zu ihm zurückgekommen. Der Herr hatte in Kapernaum wahrscheinlich ein Haus, – auch Petrus<br />
hatte dort eine Wohnung. Manchmal entfernte sich der Herr <strong>und</strong> blieb in der Wüste oder auf einem<br />
Berge allein. Wenn es oftmals heißt, <strong>das</strong>s der Herr <strong>das</strong> Land durchzogen <strong>und</strong> in den Synagogen<br />
gelehrt habe, wenn zuweilen als Zwischenraum der einen <strong>und</strong> andern Handlung 8 Tage genannt<br />
werden, z. B. Lk. 9,28, wenn so viele Begebenheiten gerade auf den Sabbat fallen, so ersehen wir<br />
daraus, <strong>das</strong>s namentlich die Ruhe- <strong>und</strong> Festtage dem Herrn die Gelegenheit boten, öffentlich aufzutreten.<br />
Dann nahm er seine Jünger mit sich; durchzog er <strong>das</strong> Land, so folgten sie ihm; sie waren seine<br />
Begleiter auf den Festreisen nach Jerusalem. Darum wird aber so oft auch bemerkt, <strong>das</strong>s die<br />
Zwölfe zugegen gewesen – denn sie sollten Zeugen sein aller seiner Worte <strong>und</strong> Taten Angesichts<br />
der zwölf Geschlechter Israels. Ihnen erklärte der Herr die Gleichnisse, ihnen gab er Aufschluss<br />
<strong>über</strong> sich selbst, <strong>über</strong> der Menschen Tun, <strong>über</strong> die Schrift; er behandelte sie als Fre<strong>und</strong>e, denen er<br />
<strong>das</strong> Seine vertraute, <strong>und</strong> hielt sie umfasst mit der Macht seiner Liebe, damit sie von dieser Liebe<br />
predigen könnten allen Menschen. Unter den Zwölfen sind Petrus, Jak. u. Joh., weil sie zu besonderen<br />
Werkzeugen seiner Gnade auserwählt waren, in einigen Fällen von dem Herrn allein zugezogen
§ 1. Von dem Leben <strong>und</strong> der Person des Apostels Johannes. 17<br />
worden, weshalb sie Clem. Alex. ἐκλετῶν ἐκλκτοτέρους nennt. Sie waren die Zeugen seiner Verklärung<br />
auf einem Berge Galiläas, Mt. 17,1; Mk. 9,2; Lk. 9,28; cf. 2. Petr. 1,16.17; sie waren bei der<br />
Erweckung der Tochter des Jairus, Mk. 5,37, endlich von dem Herrn nur einen Steinwurf weit in<br />
Gethsemane, Mt. 26,37; Mk. 14,33. Damit aber diesen Dreien nicht etwa ein persönlicher Vorzug<br />
zuerkannt oder eine um so größere Fähigkeit bei ihnen vorausgesetzt werde, den Herrn in seinen<br />
Wegen <strong>und</strong> Worten zu verstehen, so hat die evangel. Geschichte gerade von diesen Dreien uns einige<br />
Züge aufbewahrt, wie auch sie sich neben dem einigen Meister als Toren <strong>und</strong> trägen Herzens gezeigt.<br />
Lukas in demselben 9. Kap., worin er die Verklärung berichtet, meldet v. 49. 50, <strong>das</strong>s Johannes<br />
dem Herrn berichtet habe <strong>und</strong> von ihm dar<strong>über</strong> zurecht gewiesen worden sei, <strong>das</strong>s sie Jemandem,<br />
der in Christi Namen Teufel ausgetrieben, gewehrt hätten, weil er ihnen nicht nachgefolgt.<br />
Und v. 54. 55 berichtet er von dem fleischlichen Eifer <strong>und</strong> Zorn der Söhne Zebedäi <strong>über</strong> die Samariter.<br />
Aus Beidem ist ersichtlich, <strong>das</strong>s sie glaubten, ihre <strong>und</strong> ihres Meisters Ehre vor der Welt handhaben<br />
zu müssen. Welche verkehrte Vorstellungen sie von dem Reiche Christi haben mochten, ersehen<br />
wir aus ihrer Bitte, zur <strong>Recht</strong>en <strong>und</strong> Linken des Herrn zu sitzen, Mt. 20,20. Ambrosius, Hilarius<br />
u. A. haben zwar der Mutter die ganze Schuld daran aufbürden wollen; es ist aber offenbar, <strong>das</strong>s die<br />
Jünger selbst dabei beteiligt gewesen, denn an sie richtet Jesus die Antwort <strong>und</strong> die übrigen Jünger<br />
werden <strong>über</strong> sie erzürnt. Wir sehen, <strong>das</strong>s bei Allem, was die Apostel besaßen, es doch noch einer andern<br />
Gabe bedurfte, um sie auszurüsten, zu predigen <strong>und</strong> zu schreiben, was in Christo erschienen<br />
<strong>und</strong> der Menschheit gegeben sei.<br />
Spezielle Notizen <strong>über</strong> Johannes.<br />
Bei dem letzten Passah ist es Joh., der mit Petrus vom Herrn geschickt wird, <strong>das</strong> Lokal für die<br />
gemeinsame Feier zu bestellen, Lk. 22,8-13; bei der Mahlzeit selbst ist es Joh., der den Herrn wegen<br />
des Verräters befragt. Ob ferner der Mk. 14,51.52 genannte Jüngling Joh. gewesen, wie Ambros.,<br />
Gregor d. Gr., Beda, Erasmus u. A. denken, muss bezweifelt werden; es scheint vielmehr irgend<br />
ein anderer Anhänger Jesu gewesen zu sein, der in der Nacht leicht gekleidet sich herbeimachte<br />
<strong>und</strong> nun auch entwich, nachdem die Jünger schon vorher entflohen waren.<br />
Bekannt sind die Worte Jesu am Kreuz zu Maria, seiner Mutter. Wenn hinzugesetzt wird: „<strong>und</strong><br />
von der St<strong>und</strong>e nahm der Jünger die Mutter Jesu εἰς τὰ ἴδια“, so entsteht die Frage, wo der Apostel<br />
nachher seinen festen Wohnsitz gehabt habe. Nachdem die Auferstehung von den Weibern gemeldet,<br />
läuft Joh. mit Petro zum Grabe; er ist zugegen, als der Herr bei verschlossenen Türen erscheint,<br />
er ist Zeuge der Erscheinungen des Herrn in Galiläa <strong>und</strong> seiner Himmelfahrt auf dem Ölberge.<br />
Nach dem Pfingstfeste tritt er mit Petrus im Tempel auf, Act. 3. In Kraft des heil. Geistes verrichten<br />
Petrus <strong>und</strong> Joh. die Heilung des Lahmen; sie werden der Predigt vom Auferstandenen wegen<br />
vors Synedrium gestellt, <strong>und</strong> die ganze hohe Versammlung w<strong>und</strong>ert sich der Freudigkeit <strong>und</strong> Kraft,<br />
welche aus diesen ungelehrten Laien redet. Joh. wird sodann zum zweiten Male ergriffen mit den<br />
übrigen Aposteln <strong>und</strong> gegeißelt: Act. 5,40. Er verwaltet mit den übrigen Aposteln <strong>das</strong> Amt der Lehre<br />
<strong>und</strong> des Gebets für die täglich sich mehrende Gemeinde. In der Verfolgung, die mit des Steph.<br />
Tötung sich erhob, blieben die Apostel in Jerusalem, <strong>und</strong> mit Petr. wurde Joh. nach Samarien abgeordnet;<br />
Act. 8,14-15. Bis dahin hat die Apg. den ersten Teil ihres Berichtes durchgeführt (c. 1,8),<br />
<strong>das</strong>s in Kraft des heil. Geistes von den Aposteln <strong>das</strong> Zeugnis Christi ausgegangen sei durch ganz Judäa<br />
<strong>und</strong> Samaria. Sie berichtet nun weiter, wie dieses Zeugnis gedrungen sei auch bis an der Welt<br />
Ende, mitten hinein in der Welt Hauptstadt, wo Alles zusammenströmte. Dies geschah durch Paulus.<br />
Des Johannes geschieht nun von da ab nur selten Erwähnung.
18 Spezielle Notizen <strong>über</strong> Johannes.<br />
Als Paulus 3 Jahre nach seiner Bekehrung (39) nach Jerusalem kam, Gal. 1,18.19, scheint er Johannes<br />
nicht gef<strong>und</strong>en zu haben. Im Jahre 44 wurde Jakobus, des Johannes Bruder, von Herodes<br />
enthauptet, <strong>und</strong> Petrus musste Jerusalem meiden. Als im Jahre 52 Paulus <strong>und</strong> Barnabas von Antiochien<br />
nach Jerusalem gesandt wurden, <strong>und</strong> die Apostel mit den Ältesten berieten <strong>über</strong> die Frage des<br />
Gesetzes, wird zwar in der Apg. neben Petrus <strong>und</strong> Jakobus, dem Bruder des Herrn nicht auch Joh.<br />
genannt, <strong>das</strong>s er aber zugegen gewesen, ist aus Gal. 2,9 zu entnehmen; Petrus, Jak. <strong>und</strong> Joh. galten<br />
als die Säulen der Kirche <strong>und</strong> reichten Paulo einmütiglich die Hand. Von der Zeit an schweigt die<br />
Apg. ganz <strong>über</strong> Joh.; als Paulus zum letzten Mal nach Jerusalem kam, im Jahre 60, scheint er nicht<br />
dort gewesen zu sein. Nur aus den Schriften des Joh. selbst werden wir noch Einzelnes <strong>über</strong> die<br />
letzte Zeit seines Lebens entnehmen können.<br />
Die wenigen Male, <strong>das</strong>s Joh. in seinem Evangelium von sich selbst Erwähnung tut, nennt er sich<br />
nicht bei Namen, sondern εἷς τῶν μαθητῶν, ὃν ἠγάπα ὀ Ιησοὺς. c. 13,23; c. 20,2; cf. c. 21,7.20. Die<br />
Bescheidenheit <strong>und</strong> Einfalt, womit Johannes dies berichtet, ganz beiläufig <strong>und</strong> so objektiv, <strong>das</strong>s<br />
Niemand, der es nicht wüsste, denken würde, der Verfasser spreche hier von sich selbst – sticht seltsam<br />
ab gegen die Art <strong>und</strong> Weise, wie daraus die Kirchenväter einen ganz besonderen Vorzug dem<br />
Joh. haben einräumen wollen. Gleichwie der Herr, da er auf Erden war, seinen Brüdern in Allem<br />
gleich erf<strong>und</strong>en wurde, so hat er auch als Mensch menschliche Bedürfnisse gehabt <strong>und</strong> ist einem<br />
Menschen gleich gewesen. Als Mensch hatte er auch seine Zuneigungen <strong>und</strong> sein Wohlgefallen –<br />
<strong>und</strong> da ist es Joh. gewesen, den er menschlich lieb gehabt, weshalb es auch nicht heißt: ὅν ἡγάπα ὁ<br />
Χριστός, sondern ὁ Ιησοῦς. Joh. lag an seiner Brust, weshalb ihn schon Polycarp ἐπιστήιος nennt, er<br />
war ihm lieb – <strong>und</strong> so gab er ihn auch am Kreuz seiner Mutter zu einem Trost an seiner Statt. Die<br />
meisten Ausleger haben <strong>das</strong> Verhältnis umgedreht, als wenn da stände: ὅς ήγάπα τὸν Ἰησοῦν. So<br />
nennt Grot. den Petrus den φιλοχριστός, den Joh. φιλοιησοῦς, <strong>und</strong> auch Frommann pag. 15 stellt es<br />
so dar, als wäre die Liebe des Joh. zum Herrn der Gr<strong>und</strong> gewesen, warum der Herr ihn geliebt. Joh.<br />
spricht aber nur von der Liebe des Herrn zu ihm, wie er sagt: „Nicht <strong>das</strong> ist die Liebe etc.“ Und die<br />
Art <strong>und</strong> Weise, wie er davon spricht, beweist, <strong>das</strong>s er an ein Verdienst seinerseits nicht gedacht, aber<br />
er hat sich dieser freien, unverdienten Liebe gefreut wie ein Kind der Liebe seiner Eltern. Fragen<br />
wir nach der Ursache jener Zuneigung, so mögen wir sie am natürlichsten in der kindlichen Einfalt<br />
des Joh. suchen. Joh. sprach nicht viel, er trat nicht vor im Leben <strong>und</strong> Handeln, war ein behutsamer,<br />
zögernder Geist; neben Jak. steht immer Joh. als sein Bruder, neben Petrus steht er als Begleiter.<br />
Aber seine Seele war ein klarer Spiegel, <strong>und</strong> tief barg er in seinem Gemüt, was er sah <strong>und</strong> hörte.<br />
Kindlich fragt er den Herrn beim letzten Mahle, wer der Verräter sei; zum Grabe läuft Joh. schneller<br />
als Petrus – bleibt aber vor dem Grabe stehen <strong>und</strong> folgt erst, als Petrus hineingegangen. Bei des<br />
Herrn Erscheinung nach der Auferstehung sagt es Joh. dem Petrus: „es ist der Herr“, bleibt aber<br />
selbst stille, während der feurige Petrus alsobald sich ins Meer wirft. Die Kirchenväter haben nun<br />
den Joh. zu einem Jüngling gemacht, ihn παρθένος 11 genannt <strong>und</strong> ein zärtlichweiches Verhältnis<br />
Jesu zu dem Lieblings-Jünger erträumt; es ist aber viel eher eine Sprödigkeit bei Joh. anzunehmen,<br />
ein zurückhaltendes Wesen einer von sich selbst gering denkenden <strong>und</strong> nüchternen Seele, wie wir<br />
denn auch mit keinem Worte lesen, <strong>das</strong>s die Eifersucht der Andern durch die Liebe des Herrn zu<br />
ihm erregt worden sei. Wie sehr aber des Joh. Seele muss gedürstet haben nach dem Leben, <strong>das</strong> aus<br />
Gott ist, – <strong>das</strong> ist aus seinem Evangelium klar. Was er den Herrn tun <strong>und</strong> reden hörte, <strong>das</strong> war <strong>das</strong><br />
<strong>Licht</strong> seiner Augen; was er den Herrn leiden sah für Sünder <strong>und</strong> Verlorene, <strong>das</strong> war seiner Seele<br />
Nahrung, seine Speise <strong>und</strong> sein Trank; des Herrn Wort war <strong>das</strong> Element, darin allein er atmen konn-<br />
11 Hieron.: Johannes, unus ex discipulis, qui minimus traditus fuisse inter apostolos et quem fides Christi virginem repererat,<br />
virgo permansit et plus amatur a domino. Beda: Matrem suam de cruce commendavit dominus, ut virginem<br />
virgo servaret.
Spezielle Notizen <strong>über</strong> Johannes. 19<br />
te, <strong>und</strong> dahin er Zuflucht nahm aus der Finsternis <strong>und</strong> Sklaverei dieses Lebens, die er aufs Tiefste<br />
gefühlt. Den Herrn verworfen zu sehen, <strong>das</strong> war sein Schmerz, denn er kannte ihn als der Welt einziges<br />
Heil; alles Verlorene <strong>und</strong> dem Herrn Übergebene durch ihn errettet zu sehen zur Ehre des Vaters<br />
– <strong>das</strong> war der Glaube, der ihn getragen <strong>und</strong> auf dieser Erde seinen Blick helle erhalten hat, bis<br />
der Herr gekommen.<br />
Unter den Jüngern selbst scheint sich Joh. besonders an Petrum angeschlossen zu haben – ein<br />
Beweis, wie sehr der in sich gekehrte Joh. <strong>und</strong> der nach außen so tatkräftige Petrus in einem Geiste<br />
sich vereinigt fühlten. Er war mit Petro schon vor der Berufung des Herrn bekannt; den Saal zum<br />
Abendmahle zu besehen, wird er mit Petrus entsandt; beim Abendmahle lässt Petrus durch ihn den<br />
Herrn fragen, bei der Auferstehung läuft er mit Petro zum Grabe; Joh. c. 21 sind beide zusammen;<br />
nach dem Pfingstfeste sehen wir Petrus <strong>und</strong> Joh. vereinigt predigen, W<strong>und</strong>er tun, leiden für des<br />
Herrn Namen <strong>und</strong> die Gemeinde verwalten. Da sein Bruder Jak. gleichfalls des Herrn Apostel war,<br />
<strong>und</strong> auch die Mutter Salome ihm nachfolgte – so war Joh. in trautem, engem Kreise Solcher, die mit<br />
ihm gleich dachten <strong>und</strong> fühlten; aber sein Gesichtskreis ist keineswegs beschränkt gewesen. Er hat<br />
Jesum vor Augen gehabt als der Welt <strong>Licht</strong> <strong>und</strong> den Messias Israels; sein Eifer für die Ehre des<br />
Herrn <strong>und</strong> seiner Nachfolge, auch die Bitte der Mutter beweisen, wie sein ganzes Denken <strong>und</strong> Sinnen,<br />
wenn auch nicht κατ᾽ ἐπίγνωσιν – dahin gerichtet gewesen, <strong>das</strong>s die Verheißungen der Propheten<br />
erfüllt, <strong>das</strong> Königreich Gottes in seiner Macht aufgerichtet <strong>und</strong> entfaltet <strong>und</strong> <strong>das</strong>s Israel alles<br />
dessen teilhaftig werde, was in Christo geschenkt war. Der Herr mag mit Samaritern, mit einem Nikodemus,<br />
mit den Juden, mit dem engen Kreis seiner Jünger verkehrt haben – in der Erkenntnis der<br />
Allgenugsamkeit <strong>und</strong> Herrlichkeit Christi hat der Jünger <strong>und</strong> Apostel ein so weites Herz gehabt, die<br />
Bedürfnisse Aller zu umfassen, nach allen Seiten hin dem Wort <strong>und</strong> der Alles ans <strong>Licht</strong> bringenden<br />
Predigt seines Meisters zu folgen. Die Anschaulichkeit <strong>und</strong> Frische, womit er uns die verschiedenartigsten<br />
Gespräche Christi mitteilt, beweisen, wie sehr sie seinem Geiste gegenwärtig geblieben<br />
<strong>und</strong> wie er durch den heil. Geist in Alles eingeleitet worden ist.<br />
§ 2. Die Glaubwürdigkeit der evang. Geschichte.<br />
1. Das Amt der Evangelisten in der Gemeinde.<br />
Gerade die Anschaulichkeit <strong>und</strong> Lebendigkeit der Darstellung bei Joh., sowie die Mitteilung längerer<br />
Reden <strong>und</strong> Gespräche hat die Frage hervorgerufen – ob dieselben nicht mehr seine freie <strong>und</strong><br />
selbständige Reproduktion, als eine treue <strong>und</strong> zuverlässige Erzählung wirklich geschehener Dinge<br />
seien. Es ist nun wohl darauf zu achten, <strong>das</strong>s die evang. Geschichte, so wenig sie auch von dem Leben<br />
<strong>und</strong> der Person der Apostel berichtet, doch so viele feste Zeugnisse dem prüfenden <strong>und</strong> unbefangenen<br />
Leser an die Hand gibt, ihn der Zuverlässigkeit der Apostel zu vergewissern. Gott, der<br />
Seinen Sohn in die Welt gesandt als einen Heiland aller Zeiten <strong>und</strong> Geschlechter, hat auch darin sein<br />
Werk vollkommen dargestellt, <strong>das</strong>s uns, den Nachlebenden, eine so treue, bezeugte <strong>und</strong> wahrhaftige<br />
Predigt von Jesu Christo zukäme, als ob wir selbst mit eigenen Augen <strong>und</strong> Ohren Alles vernommen.<br />
Der Herr nahm zuerst Zwölfe geflissentlich <strong>über</strong>all mit sich, damit sie seine Zeugen sein könnten, –<br />
<strong>und</strong> Gott selbst hat schon damals die Wahl bestätigt, als an Petrus, Joh. <strong>und</strong> Jak. die Stimme vom<br />
Himmel kam „dies ist mein lieber Sohn, den höret.“ Nicht anders haben die Apostel selbst ihren Beruf<br />
aufgefasst. Als sie nach der Himmelfahrt wiederum alle beisammen waren, haben sie an des Ju<strong>das</strong><br />
Ischarioth Stelle Solche Gott zur Auswahl vorgestellt, welche von Anfang an bei Allem, was Jesus<br />
getan, zugegen gewesen. Dass sie untereinander alles den Herrn Betreffende, <strong>und</strong> was sie mit<br />
ihm erlebt, sich oft ins Gedächtnis gerufen, leuchtet ein, da wir von Anfang an in der Apg. die Apo-
20 1. Das Amt der Evangelisten in der Gemeinde.<br />
stel von Jesu Christo reden hören. Als Petrus, dem Cornelius durch ein Gesicht des Engels zum<br />
Lehrer angewiesen, bei diesem anlangt, ist seine ganze Predigt eine kurze Summa der evang. Geschichte,<br />
<strong>und</strong> ebenso Paulus, es sei in Antiochien (Act. 13,14) vor Juden, oder in Athen vor Griechen,<br />
eröffnet seine Predigt damit, <strong>das</strong>s er von Jesu Christo erzählt. So schreibt auch Paulus an die<br />
Korinther 1. Kor. 15, <strong>das</strong>s sie bewahren möchten <strong>das</strong> Evangelium, welches er ihnen gepredigt; denn<br />
er habe ihnen ἐν πρώτοις <strong>über</strong>geben, was er auch empfangen, <strong>das</strong>s Christus gestorben für uns usw.,<br />
cf. Gal. 3,1. „denen Christus vor die Augen gemalt war.“ So spricht auch Paulus im Hebr.-Briefe c.<br />
2,3 von der σωτηρία, welche ἀρχὴν λαβοῦσα λαλεῖσθαι δὶα τοῦ Κυρίου, ὑπὸ τῶν ἀκουσάντων εἰς<br />
ἡμᾶς ἐβεβαιώθη. So hat auch Lukas nicht etwa von Paulus ein Evangelium sich diktieren lassen,<br />
sondern die rechte Befestigung <strong>und</strong> Gewissheit des christlichen Glaubens darin dem Theophilus angedeihen<br />
lassen, <strong>das</strong>s er aufs genaueste seinen Bericht erstattete von wirklich geschehenen Dingen,<br />
so wie es den Christen <strong>über</strong>geben hatten οἱ ἀπ ἀρχῆς αὐτόπται καὶ ὑπηρέται γενόμενοι τοῦ λόγουnv.<br />
So wird denn auch <strong>das</strong> Amt der εὐαγγελιοσταί als eine besondere Bedienung in der Gemeinde genannt,<br />
Eph. 4,11. Aus Allem diesem ist unwiderleglich erwiesen, <strong>das</strong>s in allen Gemeinden der Anfang<br />
<strong>und</strong> Stützpunkt der Predigt nichts anders war als eine getreue Mitteilung (παράδοσις) der Taten<br />
<strong>und</strong> Worte des Herrn von der Taufe Johannis <strong>und</strong> seinem Auftreten in Galiläa bis zu seiner Auffahrt<br />
in den Himmel, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s sich ein Jeder dabei ganz strenge an <strong>das</strong> gehalten hat, was die 12 Apostel<br />
des Herrn als von ihnen selbst Erlebtes vorgetragen haben. Wenn auch die Ausdrücke: „Christum<br />
predigen“, „Zeuge Christi sein“ keineswegs von bloßer Erzählung der in den 3 Jahren der öffentlichen<br />
Wirksamkeit Jesu vorgefallenen Dinge zu verstehen sind, <strong>und</strong> wo Paulus (Röm. 1) von seinem<br />
Evangelium spricht, keineswegs dabei mit den Kirchenvätern an <strong>das</strong> Evangelium des Lukas zu denken<br />
ist, so ist doch offenbar die Erkenntnis Christi geschöpft <strong>und</strong> dargereicht worden aus dem, was<br />
er getan <strong>und</strong> geredet hat. Den Schlüssel für Moses <strong>und</strong> die Propheten, den Schlüssel für <strong>das</strong>, was sie<br />
selbst erlebten, hatten die Apostel in dem, was sie an dem Herrn gesehen, gehört <strong>und</strong> betastet hatten;<br />
<strong>und</strong> nur <strong>das</strong> treueste Festhalten an den selbsteignen Worten des Herrn hat sie in dem Glauben<br />
gewiss gemacht, <strong>das</strong>s eben der Jesus, mit dem sie gegessen <strong>und</strong> getrunken, gewandelt <strong>und</strong> gelebt,<br />
heute, gestern <strong>und</strong> in Ewigkeit derselbe ist.<br />
Die Jünger waren einfache, sehr schlichte Leute, von keinen Vorurteilen der Schriftgelehrsamkeit<br />
befangen, auch gar nicht gewohnt, sich in Ideen zu bewegen, sondern allezeit an die Realität des<br />
Sicht- <strong>und</strong> Tastbaren gewiesen. Dass sie sich zu Joh. dem Täufer gehalten, beweist, <strong>das</strong>s sie nach<br />
Gerechtigkeit gefragt, die vor Gott gilt, <strong>und</strong> sie sind Christo nachgefolgt, als dem Lamm Gottes,<br />
welches der Welt Sünde davonträgt. Sie haben <strong>über</strong> diese Dinge in der Schrift Aufschluss <strong>und</strong> <strong>Licht</strong><br />
gesucht, als in Gottes Wort, haben es aber nicht finden können. Sie haben aber auf einen Messias<br />
gehofft, der es Alles verkündigen werde, <strong>und</strong> nach den Vorstellungen, die sie aus den Schulen her<br />
hatten, die Schrift sich so viel wie möglich klar zu machen gesucht. Aber ein Gr<strong>und</strong> fester Zuversicht<br />
fehlte ihnen, <strong>und</strong> Gottes Angesicht war ihnen verhüllt. Wer mit solchem Ernst etwas sucht, hat<br />
scharfe Augen <strong>und</strong> Ohren <strong>und</strong> gutes Gedächtnis. Ganz ähnlich wie die Frauen für Spekulation wenig<br />
Organ haben, dagegen ein fast unbegreifliches Gedächtnis <strong>und</strong> einen Scharfblick für die Dinge<br />
des Lebens, für den Kreis ihrer Interessen, für die Personen <strong>und</strong> Familien, unter denen sie sich bewegen.<br />
Ihrer Schwäche nämlich sich bewusst, halten sie sich um so fester an <strong>das</strong> Naheliegende <strong>und</strong><br />
Reale, wodurch sie auch zuletzt regieren. Eine nach Wahrheit suchende Seele ist in dem Gefühl ihrer<br />
Unsicherheit <strong>und</strong> Schwäche auch darauf aus, feste Halt- <strong>und</strong> Stützpunkte zu gewinnen; sie muss<br />
festen Boden unter den Füßen haben. Dass dies bei den Jüngern der Fall gewesen, liegt aus der Geschichte<br />
offen vor uns. Indem sie nun den Herrn gef<strong>und</strong>en hatten, waren sie in ihrem Gefühl beruhigt:<br />
sie hatten, was sie suchten, gef<strong>und</strong>en. Sie konnten aber des Herrn Tun <strong>und</strong> Lassen eben so wenig<br />
mit der Schrift <strong>über</strong>all in Einklang bringen, als mit den Ideen <strong>und</strong> Voraussetzungen, die sie von
1. Das Amt der Evangelisten in der Gemeinde. 21<br />
dem Messias hatten. Sie hielten immer den Herrn für einen Menschen, gleich ihnen selbst; nach eigenem<br />
Ermessen beurteilten sie ihn; <strong>das</strong> aber wussten sie, <strong>das</strong>s er ὁ ἅγιος, ὁ δίκαιος war, <strong>und</strong> weil<br />
sie dieses wussten, in sich selbst aber <strong>und</strong> der von ihnen verstandenen Schrift für ihr Leben <strong>und</strong> Gewissen<br />
den letzten Gr<strong>und</strong> all ihres Innewerdens <strong>und</strong> Gewissseins nicht hatten, so fassten sie um so<br />
fester alles von dem Herrn Gesagte in ihrem Herzen auf, eben weil sie’s nicht verstanden – nach<br />
dem Verständnis aber suchten. Sie fragten sich manchmal untereinander, was dieses oder jenes wohl<br />
wäre, was <strong>das</strong> zu bedeuten habe; sie suchten den Herrn zurückzuhalten – <strong>und</strong> wurden dann um so<br />
gewaltiger von ihm fortgedrängt. Ihrer Torheit unzählige Male <strong>über</strong>führt, ihres Vorwitzes wegen gestraft,<br />
in ihrem Unverstand mit Sanftmut belehrt, vom Herrn selbst auf die Zukunft verwiesen, wo<br />
ihnen Alles klar werden sollte, – war ihre Seele einem Ackerfelde zu vergleichen, welches den Samen<br />
des Worts aufgenommen <strong>und</strong> gleichsam begraben hat unter der finsteren <strong>und</strong> harten Scholle.<br />
Als nun endlich der Weg, während sie auf <strong>Licht</strong> gehofft hatten, in der Finsternis von Golgatha endete<br />
– da war in ihrer Seele Alles drunter <strong>und</strong> dr<strong>über</strong> geworfen. Die Schulweisheit <strong>und</strong> alle Vorurteile<br />
von dem Volke Gottes waren zu Grabe getragen – denn der Herr war von Israel <strong>und</strong> seinen Obern<br />
verworfen. Die Gedanken, welche sie von sich selbst gehegt, waren zu Schanden geworden, denn<br />
auch sie hatten den Herrn verlassen. Aus der Schrift entstahl sich auch nicht ein Funke <strong>und</strong> Trost,<br />
denn der war tot, von dem sie Alles gehofft. Da, am 3. Tage – wird <strong>das</strong> Siegel gelöst. Der Herr bei<br />
den Emmaus-Jüngern, ehe er sich selbst zu erkennen gab, eröffnete er ihnen die Schrift <strong>und</strong> zeigte<br />
ihnen aus dem Worte Gottes von Anfang bis zu Ende die Notwendigkeit, <strong>das</strong>s es gerade so hatte gehen<br />
müssen wie es gegangen, <strong>das</strong>s aller Menschen Vernunft <strong>und</strong> Gerechtigkeit musste an den Tag<br />
kommen, auf <strong>das</strong>s Gottes Gerechtigkeit <strong>und</strong> Wahrheit allein obwalte. Der, den sie nun gehört, gesehen<br />
<strong>und</strong> betastet hatten – stand auf von den Toten, fuhr vor ihren Augen auf gen Himmel. War denn<br />
nun <strong>das</strong> Band gelöst, war Christus nicht mehr bei ihnen? Vielmehr im Geiste, den der Vater sandte,<br />
kam er wieder zu ihnen; in der Verklärung <strong>und</strong> Herrlichkeit, die er nun beim Vater hatte, wurde den<br />
Aposteln Alles aufgedeckt. Und indem sie nun selbst in die Welt gesandt wurden, den Weg nun<br />
selbst geführt wurden, auf dem sie mit Christo gewandelt waren – da erinnerte sie der Geist alles<br />
dessen, was sie von Christo gehört, was sie ihn hatten tun <strong>und</strong> leiden sehen; gegen den Widerstreit<br />
<strong>und</strong> alle Einwürfe der Menschen reichte ihnen der Geist aus dem, was sie bei Christo gehört, dieselben<br />
Worte wieder dar – <strong>und</strong> sie wussten für sich selbst <strong>und</strong> die Gemeinde keinen bessern Trost, keine<br />
stärkere Ermahnung, als ihnen aus dem Schatze dessen, was sie selbst gesehen <strong>und</strong> gehört, die<br />
Anweisung darzureichen, wie sie Alles zu betrachten, was sie in der Welt zu erleben, <strong>und</strong> woran sie<br />
sich zu halten hätten, um auf demselben Weg der Leiden <strong>das</strong> Ziel der Herrlichkeit zu erreichen, dahin<br />
Christus vorangegangen.<br />
Der Apostel Einmütigkeit <strong>und</strong> Festigkeit, die Nüchternheit, Lauterkeit <strong>und</strong> Einfalt, welche sich<br />
unwidersprechlich in ihren Schriften k<strong>und</strong>gibt – sind die stärksten Fürsprecher ihrer Zuverlässigkeit,<br />
<strong>und</strong> ihr ganzes Wesen muss bei dem Unbefangenen den Eindruck machen, <strong>das</strong>s sie für sich<br />
nichts gesucht, einen Plan <strong>und</strong> Zweck irdischen Gelingens nicht verfolgt, <strong>das</strong>s sie vielmehr in unberechenbaren<br />
<strong>und</strong> unzähligen Anfechtungen, Gefahren <strong>und</strong> Irrwegen mit ihrem Glauben für sich <strong>und</strong><br />
die Gemeinde sich allein <strong>und</strong> ganz an <strong>das</strong> geklammert haben, was sie gesehen <strong>und</strong> gehört hatten.<br />
Denn dieses hatten sie erkannt als von Gott gekommen, so wie sie den Herrn auch leibhaftig in den<br />
Himmel hatten auffahren sehen. Das einstimmige Zeugnis des ganzen N. T. lautet also dahin, <strong>das</strong>s<br />
die Gr<strong>und</strong>lage der Lehre, worauf die Christen-Gemeinden erbaut sind – keine andere ist, als eine<br />
ganz getreue παράδοσις wirklicher <strong>und</strong> wahrhafter Geschichten, cf. 2. Petr. 1,16. Je einfacher, ungeschminkter<br />
<strong>und</strong> natürlicher alle diese biblischen Angaben von den verschiedensten Seiten sich zusammenstellen,<br />
desto frevelhafter ist die Behauptung derer, welche sagen, die evangelische Geschichte<br />
sei ganz oder zum Teil ein Gebilde der Phantasie, eine Einkleidung von Ideen ins Gewand
22 1. Das Amt der Evangelisten in der Gemeinde.<br />
der Erzählung, der heiligen Sage <strong>und</strong> des Mythos. Denn wenn der christliche Glaube selbst erst diese<br />
Geschichte geschaffen hätte <strong>und</strong> nun diese Geschichte nicht bloß zu seiner eigenen Gr<strong>und</strong>lage<br />
machte, sondern auch als wahrhafte Geschichte mit allem Fleiß vorstellte, so wäre dieser Glaube ein<br />
Irrwahn <strong>und</strong> Betrug ohne Gleichen <strong>und</strong> ein Kind der Lüge.<br />
2. Die mythische Behandlung der evang. Geschichte.<br />
Woher aber ist die mythische oder sagenhafte Auffassung <strong>und</strong> Behandlung der evang. Geschichte<br />
nach <strong>und</strong> nach hervorgetreten <strong>und</strong> heutzutage in höherem oder geringerem Grade so allgemein verbreitet?<br />
Es ist dies naturgemäß dadurch herbeigeführt worden, <strong>das</strong>s man nach <strong>und</strong> nach den Jesum,<br />
welchen <strong>und</strong> wie ihn die Evangelisten predigen, ganz beseitigt <strong>und</strong> an dessen Stelle ein eigenes Gedankenbild<br />
gesetzt hat, welches dann freilich nur ein Kind der Phantasie <strong>und</strong> menschlichen Gehirns<br />
ist.<br />
Da bei gewöhnlichen Ergebnissen Alles auf die Art <strong>und</strong> Weise ankommt, wie sie aufgefasst <strong>und</strong><br />
von den Erzählenden wiedergegeben werden, so warf man die Frage auf, ob nicht die Worte <strong>und</strong> Taten<br />
des Herrn unter den Händen der Berichterstatter etwa alteriert, irrig aufgefasst, verschieden beurteilt<br />
<strong>und</strong> in einem ihnen selbst fremden Geiste wiedergegeben sein könnten. Auf diese Frage hat<br />
man nun eine Antwort gegeben, indem man alle möglichen Analogien menschlichen, d. h. dem Irrtum<br />
<strong>und</strong> Truge unterworfenen Erzählens auf die biblische Geschichte angewandt hat. Der Dichter,<br />
sagt man, bemächtigt sich eines historischen Stoffes <strong>und</strong> bildet denselben um nach seinen Ideen <strong>und</strong><br />
Gesichtspunkten; einem Politiker <strong>und</strong> Philosophen wird die Geschichte zum Substrat der Regeln<br />
seiner Staatsklugheit <strong>und</strong> Weltweisheit; ein Anderer behandelt die Geschichte nach den Eingebungen<br />
der ira oder des studium partium, <strong>und</strong> ein Biograph pflegt nicht so sehr die Person selbst, als ein<br />
Gemälde von ihr zu geben, <strong>Licht</strong> <strong>und</strong> Schatten nach eigenem Ermessen verteilend. Man kann hinzusetzen,<br />
<strong>das</strong>s am Ende alle menschliche Berichterstattung immer subjektiv ist, weil ein Jeder besonders<br />
solche Seiten hervorhebt, nach welchen er sich selbst zu bespiegeln gewohnt ist. Nach diesen<br />
Maßstäben also hat man auch die biblische Geschichte beurteilt. Dem Rationalismus war es gewöhnlich,<br />
zu behaupten: gleichwie Socrates ein ganz anderer sei in Platos oder Xenophons Spiegel<br />
– so habe auch Joh. ein ganz anderes Bild des Herrn in seine Seele aufgenommen <strong>und</strong> danach sein<br />
Evangelium geschrieben, als Matthäus. Überhaupt aber seien jene Leute von zu dürftiger Bildung<br />
<strong>und</strong> zu beschränkter Einsicht <strong>und</strong> Urteilsfähigkeit gewesen, in vielen Vorurteilen befangen: deshalb<br />
habe sich Christus selbst akkommodieren müssen, <strong>und</strong> mit dem Fortschritt der Jahrh<strong>und</strong>erte müsse<br />
seine Lehre, dem Prinzip nach freilich die absolute, in ihrer Ausbildung vervollkommnet werden.<br />
Daraus folgte dann, <strong>das</strong>s wir nur eine getrübte <strong>und</strong> einseitig aufgefasste Darstellung des Lebens <strong>und</strong><br />
Wirkens Christi hätten; <strong>und</strong> es müsste nun der Spiegel des Menschengeistes durch Fortschritt der<br />
Kunst, Wissenschaft <strong>und</strong> Bildung immer mehr poliert werden, um ein immer reineres Bild von<br />
Christo auszustrahlen. Die Beschränktheit der Evangelisten sollte besonders aus der Art <strong>und</strong> Weise<br />
hervorgehen, wie sie <strong>über</strong>all Erfüllung einer Weissagung <strong>und</strong> <strong>über</strong>all W<strong>und</strong>er gesehen hätten. Die<br />
Evangelisten haben nämlich allerwärts die ganze Geschichte des Herrn als Erfüllung des bei Moses<br />
<strong>und</strong> den Propheten Geschriebenen hingestellt; man behauptete nun, keineswegs hätten sich die Dinge<br />
deshalb wirklich gerade so ereignet, damit die Weissagung erfüllt werde – ein solcher Zusammenhang<br />
bestehe vielmehr nur in der Vorstellungsweise der Apostel. Denn da <strong>das</strong> A. T. göttliche<br />
Autorität genossen habe, <strong>und</strong> ein Messias nach den Angaben desselben im Volke erwartet worden<br />
sei, so hätten die Apostel aus der Übereinstimmung des Lebens Jesu mit den Weissagungen den<br />
Glauben an ihn als den Messias bei sich <strong>und</strong> Andern zu begründen gesucht. Nachdem nun auch die<br />
Schleiermacher’sche Schule dem A. T. nur eine sehr bedingte Geltung eingeräumt <strong>und</strong> die Anwendung<br />
der A. T.-Zitate besonders bei Matthäus allgemein als verfehlt <strong>und</strong> irrig betrachtet hatte – so
2. Die mythische Behandlung der evang. Geschichte. 23<br />
ist der sogenannte Weissagungsbeweis von den Aposteln geführt, von den Theologen aufgegeben.<br />
Ebenso wurden die W<strong>und</strong>er von der rationalistischen Schule als bloße Reflexbilder in der Seele der<br />
Jünger betrachtet <strong>und</strong> auf einen natürlichen Bestand zurückgebracht. Wenn nun auch diese natürliche<br />
W<strong>und</strong>er-Erklärung von der sogenannten neueren Theologie nur in einzelnen Fällen noch angewandt<br />
wird, so hat doch auch Ullmann den W<strong>und</strong>erbeweis als heutzutage kraftlos fallen lassen. Da<br />
nun aber der Jesus nicht mehr geglaubt werden sollte, den die Evangelien uns verkünden, so musste<br />
an seine Stelle doch wenigstens ein Bild, eine Schöpfung des Menschengeistes gesetzt werden.<br />
Kant in seinen Reden <strong>über</strong> die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft ließ es ganz<br />
gleichgültig, ob die biblischen Geschichten historisch seien oder nicht; als ihren Kern betrachtete er<br />
eine religiös-sittliche Idee <strong>und</strong> suchte darin seine Lehre <strong>und</strong> seinen Glauben an ein absolutes<br />
Pflicht-Gesetz wiederzufinden. Ganz in anderer Weise zwar Schleiermacher. Aber auch durch ihn<br />
wurde der historische Boden entrückt, indem er die Erkenntnis Christi nicht aus der Geschichte,<br />
sondern aus dem sogenannten christlichen Bewusstsein, seinen Forderungen <strong>und</strong> Gefühlen, d. h. aus<br />
sich selber ableitete. Nachdem auf diese Weise Vieles in den Evangelien Berichtete mehr oder minder<br />
als subjektive Auffassung der Schreiber seiner Geltung entkleidet war, konnte es endlich nicht<br />
ausbleiben, <strong>das</strong>s Strauß die ganze evangelische Geschichte als Mythos darzustellen unternahm.<br />
Denn legten die Evangelisten auf die Geburt in Bethlehem <strong>und</strong> die Abstammung von David etc. gerade<br />
deshalb Gewicht, <strong>und</strong> betrachteten sie dieselben als deshalb geschehen, damit eine Stelle bei<br />
den Propheten erfüllt sei, was lag näher, als da diese Beziehung nur eine fingierte sein sollte die<br />
ganze Geschichte als Fiktion zu betrachten? Sollten die W<strong>und</strong>er nur w<strong>und</strong>erbar ausgeschmückte Begebenheiten<br />
sein, oder wenn vielleicht wirklich geschehen, doch nur für die damalige Zeit, nicht<br />
aber für uns Bedeutung haben – was lag näher, als sie <strong>über</strong>haupt der bloßen Vorstellungsform des<br />
beschränkten Bewusstseins beizumessen, welches eine geistige Wahrheit in sinnlicher Erscheinung<br />
zu erfassen <strong>und</strong> festzuhalten sucht? Sollte <strong>das</strong> 4. Evangelium in der Auffassung <strong>und</strong> Darstellung<br />
Christi durchaus individuell sein, wie Lücke sagt, eine gewissermaßen systematische oder dogmatische<br />
Darstellung der evangel. Geschichte – so müsste <strong>das</strong> ganze Evangelium kritischer Willkür anheimfallen.<br />
Denn wenn man behauptete, die Synoptiker hätten nur in dem getrübten Reflex eines jüdischen<br />
Bewusstseins die evangelische Geschichte geschrieben, erst bei Joh. finde sich eine freiere,<br />
geistigere Auffassung, welche durch den Fortschritt der Zeit bedingt sei, was war natürlicher, als<br />
<strong>das</strong>s die Kritik der Baur’schen Schule nach den Prinzipien ihres Denkprozesses die Evangelisten<br />
nur als die Repräsentanten verschiedener Stufen <strong>und</strong> Momente eines in Gegensätzen sich entwickelnden<br />
Bewusstseins zu betrachten unternahm <strong>und</strong> die Auffassung der Person Christi, welche<br />
sich im 4. Evangelium findet, für ein Produkt erst des ausgebildeten christlichen Bewusstseins des<br />
2. Saec. erklärte? Es ist mithin offenbar, <strong>das</strong>s nicht die evangelische Geschichte selbst, wie sie von<br />
den Aposteln bezeugt ist, sondern <strong>das</strong>, was die Exegeten aus ihr gemacht hatten, der auflösenden<br />
Kritik verfallen ist <strong>und</strong> verfallen musste. Woraus auch klar wird, <strong>das</strong>s ein jeder Jesus <strong>und</strong> jedes<br />
Evangelium, welche gegen die bezeugte <strong>und</strong> wahrhafte evangelische Geschichte durch Wegnahme,<br />
Zusatz <strong>und</strong> eigenwillige Auswahl fingiert sind – notwendig ihrem Schicksale erliegen, d. h. als<br />
menschliche Ideen zusammenstürzen. Um so notwendiger aber ist es, sich des festen <strong>und</strong> unbezweifelten<br />
Gr<strong>und</strong>es der Evangelien gewiss zu machen.<br />
3. Die Inspiration.<br />
Da wir Christum nicht selber sehen <strong>und</strong> hören, so entsteht die gewichtige Frage, ob der Christus,<br />
so wie er in den Evangelien auftritt <strong>und</strong> redet, auch wahrhaftig erschienen ist, oder ob die Evangelisten<br />
ihm Worte in den M<strong>und</strong> gelegt, die sie anders woher genommen, <strong>und</strong> ob sie <strong>über</strong>haupt sein Tun<br />
<strong>und</strong> Lehren dargestellt haben so wie es aus sich selbst nach seinem eignen Geist <strong>und</strong> Wesen ihnen
24 3. Die Inspiration.<br />
sich einprägte, oder ob sie selbst erst demselben als einer form- <strong>und</strong> gestaltlosen Masse <strong>das</strong> Gepräge<br />
einer Beurteilung aufgedrückt, welches sie ihrer Individualität oder dem Bewusstsein ihrer Zeit oder<br />
philosophischen Theorie verdankten. Gibt es nur einen Christum in der Idee, ein Gedankenbild der<br />
Menschen, so ist unser Glaube eitel; ist es aber Wahrheit, <strong>das</strong>s Gott seinen Sohn in die Welt gesandt<br />
als Heiland Derer, die an ihn glauben, so entsteht zuerst die Frage, ob ein Mensch imstande gewesen<br />
wäre, denselben zu erkennen, seine Worte <strong>und</strong> sein Tun nach ihrem innersten Wesen <strong>und</strong> Wahrheit<br />
zu verstehen <strong>und</strong> uns davon Zeugnis zu geben. Es schmeichelt freilich dem Menschengeiste<br />
eine heutzutage vielfach verbreitete Vorstellung, wonach man es gleichsam als die Aufgabe der<br />
Welt-Geschichte betrachtet, Christum zu begreifen <strong>und</strong> sich anzueignen, als wäre allerdings mit<br />
Christo ein neues Lebens-Prinzip in die Welt gekommen, es nun aber dem Welt- <strong>und</strong> Menschen-<br />
Geiste <strong>und</strong> der Fortentwicklung der Jahrh<strong>und</strong>erte <strong>über</strong>lassen, die Form zu schaffen, den Begriff zu<br />
suchen, worin <strong>das</strong> Geheimnis <strong>und</strong> innerste Wesen dieser Erscheinung erfasst werden könnte. Es<br />
mag aber der Menschengeist noch so lange <strong>über</strong> den Wassern schweben; so wenig Menschen einen<br />
Christum hervorbringen können, so wenig werden sie den Christum, den Gott gesandt hat, begreifen<br />
<strong>und</strong> erkennen <strong>und</strong> Andern zeigen können. Wir würden deshalb kein Evangelium haben, wenn nicht<br />
Gott, der seinen Sohn gesandt – Denen, welche an den Namen dieses Sohnes geglaubt, auch Seinen<br />
Geist gesandt hätte, den Geist, der auch die Tiefen Gottes erforscht, uns zu künden <strong>das</strong>, was in<br />
Christo uns gegeben ist. Suchen wir uns die wahre Sachlage vorzuführen. Die Jünger des Herrn sind<br />
keine Philosophen gewesen, welche nach einem theologischen System gesucht haben, sondern sind<br />
Christo nachgefolgt als dem Lamme Gottes, welches der Welt Sünden davonträgt. Sie haben nicht<br />
<strong>über</strong> den Vorurteilen ihrer Zeit gestanden, so <strong>das</strong>s sie ihre Zeit hätten zu sich erheben können, sondern<br />
sind in dem Judaismus so befangen gewesen, <strong>das</strong>s sie ihren Unverstand selbst nach der Auferstehung<br />
des Herrn noch an den Tag legen. Sie sind auch keine Schwärmer gewesen, die sich zu einem<br />
gemeinsamen B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Zweck verbrüdert hätten, ähnlich wie ein Ignatius von Loyola <strong>und</strong> seine<br />
Genossen, sondern sind an ihr Handwerk zurückgegangen, haben sich zerstreut <strong>und</strong> sind plan<strong>und</strong><br />
willenlos zu den wesentlichsten Akten ihrer Tätigkeit von außen veranlasst <strong>und</strong> innerlich genötigt<br />
worden. Gleichwie sie sich selbst <strong>über</strong>all als Menschen bekennen <strong>und</strong> <strong>das</strong> Evangelium lediglich<br />
als eine Schöpfung <strong>und</strong> Darstellung Gottes predigen – so haben sie auch ehrlich <strong>und</strong> offen erzählt,<br />
wie oft der Herr ihren Unverstand getadelt <strong>und</strong> wie sie bis zum Ende hin Christum nicht verstanden<br />
haben. Insbesondere hat Joh. (c. 2,22; 12,16; 16,12.13.25) es in aller Einfalt gestanden, wie sie erst<br />
nachher in <strong>das</strong> Verständnis des Wortes oder einer Sache eingeführt worden seien. Sie würden dies<br />
nicht so unbefangen <strong>und</strong> ehrlich erzählt haben, da man ihnen leicht vorwerfen konnte, <strong>das</strong>s sie dann<br />
ja auch jetzt sich irren könnten, wären sie nicht des ihnen nachher zuteil gewordenen Verständnisses<br />
ganz gewiss gewesen. Aber woher ist dieses Verständnis gekommen? Nicht etwa durch einen fremden<br />
Geist, sondern durch den Geist Christi selbst. Es ist Christi eigenes Werk <strong>und</strong> Tun; denn Er hat<br />
die Verheißung des Geistes den Jüngern gegeben, der sie erinnern werde alles des, was er gesagt,<br />
<strong>und</strong> sie in alle Wahrheit leiten. Damit kein Zweifel bleibe, werden die Apostel Act. 1 von Lukas<br />
abermals namentlich aufgeführt, auch Joh. unter denen, auf welche der heil. Geist gekommen. – Der<br />
Geist schwebt aber nicht hoch <strong>über</strong> den Menschen, zerstört nicht seine Individualität, sondern lässt<br />
die Seele aufleben <strong>und</strong> gerade in der Beschränktheit <strong>und</strong> Verfinsterung irdischen Wahrnehmens, Urteilens<br />
<strong>und</strong> Denkens <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> der Erkenntnis Gottes aufgehen, welches weit <strong>über</strong> alle Vernunft hinausgreift.<br />
Weshalb gerade da, wo heil. Geist ist, die tiefste Anerkennung ist des Zwiespaltes zwischen<br />
Denken κατὰ θεόν <strong>und</strong> Denken κατ᾽ ἄνθρωπον; denn der von Gott erleuchtete Mensch sieht<br />
in seine Finsternis ein <strong>Licht</strong> hereinscheinen, <strong>das</strong> nicht er selbst geschaffen. Denn die Erkenntnis<br />
Gottes ist nicht Begriff <strong>und</strong> Spekulation, sondern ein innerliches Erfassen dessen, was aus Gott ausströmt<br />
in einen Menschen-Geist. Der Mensch aber steht Gott nicht etwa gegen<strong>über</strong> als ein Beschau-
3. Die Inspiration. 25<br />
er, dem Gott seine Geheimnisse mitteilt: sondern dem Geiste Gottes gegen<strong>über</strong> ist ein Menschengeist<br />
blind, arm, leer <strong>und</strong> verfinstert, weil er aus Gottes Wort <strong>und</strong> Wahrheit herausgetreten; <strong>und</strong> so<br />
ist <strong>das</strong> wahre <strong>Licht</strong> lediglich ein Ausströmen von Gottes Gerechtigkeit, Wahrheit <strong>und</strong> Gnade in eine<br />
Seele. Da der heil. Geist Gott ist, so braucht er nicht die Mannigfaltigkeit der Geister zu zerstören,<br />
um seine Einheit zu behaupten, sondern wirkt ein ganz neues Sinnen <strong>und</strong> Regen, welches, weil es<br />
nicht des Menschen Geist ist, sondern von Gott ausgeht, auch allerwärts als eines Brunnquells Strömung<br />
sich erweist. Mit in tausend Abschriften sich gleichen Buchstaben auf Stein wäre uns nicht<br />
geholfen; wir sollen in den Herzen der Evangelisten lesen, wie darauf mit lebendiger Schrift, so wie<br />
ein Jeder in seiner Art gewesen ist, der Geist den Namen des Herrn Jesu eingegraben hat. Weshalb<br />
denn auch Paulus sagt, <strong>das</strong>s diejenigen, welche einen Paulus dem Petrus oder aber einem Apollo<br />
vorziehen <strong>und</strong> sich Diesem oder Jenem geistig näher verwandt glauben, nicht πνευματικοί, sondern<br />
σαρκικοί seien, da sie an eines Menschen Geist sich schließen <strong>und</strong> sich desselben rühmen. Mit<br />
<strong>Recht</strong> macht die Helvet. Konfession darauf aufmerksam, <strong>das</strong>s Gott, wo er Jemanden erleuchten<br />
wolle, doch nicht unmittelbar den Geist umwandle, sondern wie bei Cornelius durch seinen Engel<br />
an die ordentliche Predigt des Petrus verweise.<br />
Wir fassen <strong>das</strong> Gesagte so zusammen: Alles, was Johannes von dem Herrn berichtet hat, hat er<br />
nicht aus eigenem Geiste geschrieben, sondern getrieben von dem heil. Geiste, der ihn erinnerte alles<br />
Dessen, was Christus gesagt, <strong>und</strong> in alle Wahrheit ihn eingeleitet hat nach der Verheißung des<br />
Wahrhaftigen. Die Glaubwürdigkeit der evangel. Geschichte ist hierdurch für den Glauben festgestellt.<br />
Sie ist aber weiterhin im Evangelium Joh. insbesondere zu sichern gegen die dawider erhobenen<br />
Zweifel. Diese Zweifel haben aber insgesamt ihren Ausgangspunkt 1) in dem schwankenden<br />
Charakter der Tradition, 2) in den zwischen den Synoptikern <strong>und</strong> dem Joh. obwaltenden Differenz-<br />
Punkten. 12<br />
§ 3. Die kirchliche Tradition <strong>über</strong> den Apostel Johannes.<br />
Mit ziemlicher Übereinstimmung nennt die kirchliche Überlieferung Kleinasien <strong>und</strong> Ephesus als<br />
die Stätte der späteren Wirksamkeit des Johannes. Öfter erwähnt Irenäus in seiner Schrift wider die<br />
Häretiker (III, 3,4 vergl. Euseb. h. eccl. III, 23. III, 1, 1 vergl. Euseb h. eccl. V, 8, 4; II, 22, 5 vergl.<br />
Euseb. h eccl. III, 23, 3) den Aufenthalt <strong>und</strong> die Tätigkeit des Joh. in Ephesus. In dem Briefe an Florinus,<br />
seinen Jugendfre<strong>und</strong>, (Euseb. h. eccl. V, 20, 2-4) erinnert er diesen an sein Zusammensein mit<br />
Polycarp, <strong>und</strong> wie dieser von Joh. zu erzählen pflegte. In einem Briefe an den Bischof Victor von<br />
Rom aus Anlass des Paschastreites berichtet er von einem Besuche des Polycarp in Rom, bei welchem<br />
dieser gegen den Bischof Aniket den 14. Nisan als den Tag der Feier des Paschah betonte,<br />
weil er diesen immer mit Johannes, dem Jünger unseres Herrn, <strong>und</strong> den andern Aposteln, mit welchen<br />
er zusammenlebte, gefeiert habe. Da Irenäus von Polycarp auch berichtet (adv. haer. II, 3),<br />
<strong>das</strong>s er nicht nur mit Vielen, die Christum gesehen hatten, zusammengelebt habe, sondern auch von<br />
den Aposteln für ganz Kleinasien als Bischof in Smyrna eingesetzt worden sei – was auch Tertullian<br />
de praescr. c. 32 bestätigt – so wäre Polycarp, ein Gefährte von Ignatius <strong>und</strong> Papias (nach Irenäus V,<br />
33, Hieronym. in Chronico ad a. 101), ein Mittelglied zwischen Johannes <strong>und</strong> dem zweiten Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />
Die Nachricht von der Einsetzung zum Bischof in Kleinasien ist dadurch etwas verdächtig,<br />
<strong>das</strong>s sie schon nach späteren hierarchischen Ansichten schmeckt. Auffallend ist auch, <strong>das</strong>s Irenäus<br />
<strong>und</strong> Eusebius, welche die Schrift des Papias Λογίων κυριακῶν ἐξγησις in den Händen gehabt haben,<br />
12 Die neueste Behandlung dieser Fragen bei Luthardt, Der johanneische Ursprung des vierten Evangeliums, Leipzig<br />
1874, 8. 93 ff.; Mangold, Bleeks Einleitung ins N. T., S. 167; Beyschlag, Zur Joh.-Frage, Gotha 1876, S. 9 ff.; Godet,<br />
2. Ausgabe des Comm. 1879, I. S. 25 ff.; Weiss bei Meyer, S. 3 ff. u. Keil Comm. 1881, S. 5 ff.; dagegen Keim,<br />
Dritte Bearbeitung der Geschichte Jesu, 2. Aufl. 1872, S. 41 f. u. S. 378 ff.
26 § 3. Die kirchliche Tradition <strong>über</strong> den Apostel Johannes.<br />
nur so höchst dürftige Notizen <strong>über</strong> die Apostel bringen, wodurch einige Bedenken erregt werden,<br />
ob Papias wirklich mit den Aposteln verkehrt habe; wobei wir hier auf den verwirrten Streit <strong>über</strong> die<br />
gequälten Papiasworte nicht eingehen können. <strong>Neue</strong>rdings fasst man vielfach dieselben so auf, <strong>das</strong>s<br />
Papias von dem Apostel Joh. den Presbyter Joh. unterscheide <strong>und</strong> bei der Sammlung seines Materials<br />
auch von den noch lebenden Aposteln empfangen habe (Zahn, Studien u. Kritiken, S. 649 ff;<br />
Riggenbach, Jahrb. für D. Theol. 1868). Was die Nachricht des Polycrates, Bischofs von Ephesus,<br />
betrifft in seinem Schreiben an Victor (Eusebius III, 31, V, 24), welcher unter den großen Sternen,<br />
die einst die Kirche Asiens geziert haben, auch Johannes nennt, der in Ephesus entschlafen sei, so<br />
kann man dagegen nicht wie gegen <strong>das</strong> Zeugnis des Irenäus <strong>das</strong> Schweigen der Ignatianischen Briefe<br />
noch <strong>das</strong> des Polycarp in seinem Briefe an die Gemeine zu Philippi anführen, da hier kein Anlass<br />
zur Erwähnung des Apostels Joh. vorlag, wohl aber was Polycrates von Joh. sagt, <strong>das</strong>s er ἱερεύς gewesen<br />
τό πέταλον πεφορηκώς, denn <strong>das</strong> klingt wie eine Fabel ganz ähnlich der, die Hegesippus von<br />
Jakobus, dem Bruder des Herrn, erzählt. Eine bildliche Auffassung der Worte des Polycrates ist<br />
nicht zulässig. Derselbe hat außerdem auch in dem, was er <strong>über</strong> den Diakonen Philippus, der ihm<br />
der Apostel zu sein scheint, <strong>und</strong> <strong>über</strong> dessen Töchter sagt, eine arge Verwirrung angerichtet. Nach<br />
Einigen wäre Euseb. die Veranlassung der Verwechselung. Die Nachricht von dem Tode des Joh. zu<br />
Ephesus dient bei ihm hierarchischen Zwecken, wie die von des Petrus Anwesenheit in Rom. Je<br />
weiter wir in der Tradition <strong>über</strong> Joh. kommen, je zweifelhafter werden die Mitteilungen.<br />
Euseb. (hist. eccl. II, 18), Clemens Alex. (Quis dives salv. § 42) <strong>und</strong> Origenes (ad Matth. 20,22)<br />
berichten die Überlieferung, <strong>das</strong>s Joh. unter dem Tyrannen Domitian auf die Insel Patmos verbannt<br />
worden sei. Tertullian weiß von einem zwiefachen Martyrium des Joh.: seiner unschädlichen Versenkung<br />
in brennendes Öl zu Rom <strong>und</strong> der Verbannung auf Patmos (praescr. haer. 36). Die Ölprobe<br />
ist wahrscheinlich Ausschmückung von Mt. 20,23. Epiphanius verlegt <strong>das</strong> Exil auf Patmos unter<br />
Claudius, was widersinnig ist. Die Überschrift der Apokalypse in der Peschito lässt die Offenbarung<br />
auf Patmos unter Nero geschehen, der dorthin von den Aposteln verstoßen sei. Die Behauptung des<br />
Iren., <strong>das</strong>s die Offenbarung am Ende der Herrschaft des Domitian geschaut sei, ist entschieden<br />
falsch <strong>und</strong> kann unmöglich aus dem M<strong>und</strong>e der alten Gewährsmänner geflossen sein. Iren. <strong>und</strong> Papias<br />
haben außerdem einer Auslegung der Apokalypse gehuldigt, die auf völligem Missverständnis<br />
beruht. Die Apokalypse ist kurz vor der Zerstörung Jerusalems im Hinblick auf dieselbe entstanden.<br />
Die Nachrichten <strong>über</strong> den Aufenthalt auf Patmos sind also widersprechend <strong>und</strong> schwankend; die<br />
Verbannung selbst aber klar genug durch Offenb. 1,9 bezeugt. Nach seiner Verbannung soll Joh.<br />
durch Genuss der Amnestie des Nerva von Patmos nach Ephesus zurückgekommen (Euseb. III, 20)<br />
<strong>und</strong> erst unter Trajan in Ephesus gestorben sein, nach dem Chronicon paschale (ed. Bonn p. 470)<br />
100 Jahre 7 Mon. alt. Nach Euseb. sollen dann 2 Gräber in Ephesus gewesen sein, des Apostels <strong>und</strong><br />
des Presbyters, wobei er die Vermutung aufstellt, von diesem letzteren sei die Offenbarung geschrieben,<br />
nach Hieronymus auch der 2. <strong>und</strong> 3. Brief des Joh. (de vir. illustr. c. 9). Der in späteren<br />
Zeiten sehr gebräuchliche Beiname des „Theologen“ ist zuerst von Euseb. gebraucht: Ἑβραίων<br />
θεόλογος. Wie schon zu Lebzeiten des Apostels <strong>das</strong> Gerücht ging, dieser Jünger sterbe nicht, so<br />
wurden auch von seinem Grabe w<strong>und</strong>erbare Dinge geglaubt. Es ist den Aposteln nicht anders gegangen<br />
als den Propheten; man hat ihre Gräber geschmückt, ihre Namen bis zu den Sternen erhoben,<br />
Heilige <strong>und</strong> Halbgötter aus ihnen gemacht – <strong>und</strong> dabei ihre Predigt <strong>über</strong>hört, die namentlich<br />
Joh. noch warnend in die Kirche hineingerufen: τεκνία, φυλάξατε ἑαυτοὺς ἀπὸ τῶν αἰδώλων.<br />
Außer der allgemeinen Tatsache, <strong>das</strong>s Joh. zu Ephesus gelebt <strong>und</strong> ein hohes Alter erreicht, die allerdings<br />
durch die kirchliche Tradition verbürgt ist, sind alle übrigen Nachrichten mit den größten<br />
Bedenken aufzunehmen, denn <strong>über</strong>all sind sie gefärbt von dem Bemühen, die Apostel zu Kirchen-
§ 3. Die kirchliche Tradition <strong>über</strong> den Apostel Johannes. 27<br />
fürsten <strong>und</strong> Bischöfen zu machen, ihre Gräber für die Verherrlichung der Bischofssitze zu benutzen,<br />
ihnen eine asketische <strong>und</strong> priesterliche Heiligkeit beizulegen, die Wichtigkeit der Bischofswahl hervorzuheben<br />
(Joh. muss nach Jerusalem zur Wahl des Simeon reisen), ferner den Aposteln den Ruhm<br />
des Martyriums zuzuschreiben <strong>und</strong> wie bei Joh. ihre Leiden in einer falschen Glorie zu betrachten.<br />
Dem Joh. hat man namentlich noch den Ruhm der Virginität beigelegt <strong>und</strong> selbst gefabelt, <strong>das</strong>s derselbe,<br />
willens sich zu verheiraten, vom Herrn davon abgehalten worden sei. Es ist keine Frage, <strong>das</strong>s<br />
<strong>das</strong> ganze kirchliche Altertum seine an <strong>und</strong> für sich kümmerlichen Nachrichten noch mehr dadurch<br />
zweifelhaft gemacht hat, <strong>das</strong>s dieselben <strong>über</strong>all unter den Spiegel einer von der apostolischen Lehre<br />
schon ganz abgefallenen Lehr- <strong>und</strong> Lebensanschauung gestellt sind.<br />
Ganz unzuverlässig <strong>und</strong> aus falschen Vorstellungen <strong>über</strong> den Charakter <strong>und</strong> den Beruf der Apostel<br />
hervorgegangen, sind uns einzelne Züge aus dem Leben Joh. von der Tradition berichtet: Wie<br />
Petrus in Rom mit Sim. Magus gekämpft haben soll – so lassen Iren. <strong>und</strong> Epiph. den Polycarp erzählen,<br />
<strong>das</strong>s Joh. mit dem Häretiker Cerinth in einem Bade zusammengetroffen <strong>und</strong> aus demselben<br />
entflohen sei, weil dieses doch <strong>über</strong> Cerinth einstürzen möchte, Eus. 3, 28; 4, 14. Ohne Zweifel ist<br />
diese Erzählung erdichtet; mit Häretikern, wie Cerinth war, hat Joh. nie zu tun gehabt; Umgang mit<br />
einem häretischen Menschen zu pflegen, verbietet Joh., aber die Furcht, es würde <strong>über</strong> dem Cerinth<br />
<strong>das</strong> Bad einstürzen – kann nur töricht genannt werden. Ebenso sehr trägt den Charakter der Legende<br />
eine Erzählung des Clemens Alex. im Buche τἱς ὁ σωζόμενος πλούσιος § 42, welche er selbst οὐ<br />
μῦθον nennt. Es ist die besonders durch Herders Dichtung bekannt gewordene Geschichte von dem<br />
Jüngling, der von Joh. den Bischöfen dringend empfohlen, zum Räuber geworden war <strong>und</strong> dann<br />
von Joh. selbst wieder herumgeholt wurde. Man hat gegen diese Geschichte z. B. eingewandt, <strong>das</strong>s<br />
sie, wäre sie früher bekannt gewesen, ohne Zweifel in den Montanisten-Streitigkeiten in Betreff der<br />
Kirchen-Disziplin würde angezogen worden sein – wogegen man andererseits erwidern kann, <strong>das</strong>s<br />
die Erzählung im 3. Saec. schwerlich erdichtet sein würde, weil der Jüngling ohne alle Kirchenbuße<br />
vom Apostel aufgenommen wurde. Es ist eine eklatante Bekehrungsgeschichte. Ihr Charakter lässt<br />
sie mehr als eine hübsche Legende – denn als wahre Begebenheit erscheinen. Der Legende ist es eigentümlich,<br />
durch Verkettung <strong>und</strong> Übertreibung zu spannen <strong>und</strong> Effekt zu bewirken, <strong>das</strong> Gefühl<br />
<strong>und</strong> die Phantasie zu erregen; deshalb fehlt ihr aber die wahre Auffassung des Lebens <strong>und</strong> der<br />
menschlichen Zustände, <strong>und</strong> wie sie selbst nur ein Spiel der Phantasie ist, greift sie auch nie in <strong>das</strong><br />
Leben wahrhaft ein; zu einem Gedicht gibt diese Legende einen passenden Stoff, aber predigen<br />
wird man nicht <strong>über</strong> sie können. Eine Erkenntnis von des Apostels großer Liebe, seinem großen<br />
Ernste um Errettung der Seelen liegt dieser Erzählung zu Gr<strong>und</strong>e; ihre Einkleidung aber ist in einem<br />
phantastischen Bilde fleischlich <strong>über</strong>spannten <strong>und</strong> eben deshalb nicht wahren Wesens wiedergegeben;<br />
was der Charakter der gesamten Auffassung apostolischen Charakters <strong>und</strong> Wirkens <strong>über</strong>haupt<br />
bei den Kirchenvätern ist. Dass der Apostel Joh. zu Ephesus einen Toten erweckt, wie aus eines<br />
Apollonius Schrift Euseb. berichtet (5, 18), <strong>das</strong>s er einen Giftbecher ohne Schaden soll getrunken<br />
haben (Acta Johannis bei Tischendorf. Acta apost. p. 266 ff.), <strong>das</strong>s er den Tempel der Diana zu<br />
Ephesus dem Boden gleichgemacht (Nicephorus) – sind Erzählungen, die auf den ersten Blick, auch<br />
ohne die Verwerflichkeit ihrer Zeugen, als Erdichtung sich verraten.<br />
Wie aber soll man es erklären, <strong>das</strong>s die Kirche des 3. Saec. statt genauer Nachricht uns bloß eine<br />
Tradition von so dürftiger <strong>und</strong> unzuverlässiger Art aufbewahrt hat? Es lässt sich dies nur dadurch<br />
erklären, <strong>das</strong>s die Kluft anerkannt wird, welche zwischen den Aposteln <strong>und</strong> der Kirche des 2. <strong>und</strong> 3.<br />
Saec. besteht. Die Schriften des N. T. reichen <strong>über</strong> <strong>das</strong> Jahr 70 höchstens 80 nach Christo nicht hinaus;<br />
von da bis 150 ist eine Lücke. Über den Gemeinden, welche die Apostel gepflanzt <strong>und</strong> geweidet,<br />
<strong>und</strong> ihren Ausgang hat sich eine schreckliche Finsternis gelagert. Von den vielen Schülern <strong>und</strong>
28 § 3. Die kirchliche Tradition <strong>über</strong> den Apostel Johannes.<br />
Begleitern der Apostel, deren Namen wir aus dem N. T. kennen, verlautet kein Wort. Justin, Iren.<br />
<strong>und</strong> die Andern stützen sich zwar auf apostolische Schüler <strong>und</strong> ihre Schriften; diese sind aber zum<br />
Teil zweifelhaft, die Gestalten in Nebel gehüllt – <strong>und</strong> ihrem Charakter nach Hierarchen, nicht aber<br />
Schüler der Apostel. Die ältesten Kirchen-Scribenten haben der Apostel Schriften – aber ihren Geist<br />
haben sie nicht <strong>über</strong>kommen. Gehen wir nun zu den Apostel-Schriften selbst zurück, so stellt sich<br />
uns folgender Zustand vor Augen.<br />
Ganz Klein-Asien war von Juden der διασπορά bewohnt <strong>und</strong> fast in jeder angesehenen Stadt bildeten<br />
sie eine Korporation, welche von den römischen Prokonsuln sich nicht geringe Privilegien erworben<br />
hatte. Josephus zählt solcher Privilegien eine Menge auf. Besonders waren die Seestädte der<br />
alten jonischen Kolonien ihre Wohnsitze geworden. Als Paulus auf seiner zweiten Missionsreise<br />
nach Mysien kam, wehrte ihm <strong>und</strong> seinen Begleitern der Geist, gegen Bithynien hin zu reisen; darum<br />
setzten sie von Troas nach Makedonien <strong>über</strong>. Später aber hat sich Paulus in Ephesus sehr lange<br />
Zeit aufgehalten, wohin schon vor ihm Aquila <strong>und</strong> Priscilla von Korinth aus sich begeben hatten,<br />
Act. 18,19.26; c. 19,1 ff. Drei Monate sprach er in der Synagoge, dann aber, als eine Spaltung unter<br />
den Juden sich zeigte, sonderte er die Jünger ab, <strong>und</strong> Juden sowohl als Griechen aus ganz Klein-<br />
Asien hatten Gelegenheit, Paulum zu hören. Wie große Sorge auch ferner der Apostel für die Gemeinde<br />
getragen, geht aus 1. Tim. 1,3 ff. hervor; denn diesen seinen aufrichtigsten Schüler hatte er<br />
in Ephesus zurückbleiben lassen, <strong>das</strong> Wohl der Gemeinde wahrzunehmen. Dass sich aber die Zukunft<br />
der Gemeinden vor den Augen des liebenden Apostels immer mehr verschleierte, ist aus seinen<br />
Briefen, besonders auch aus seinem letzten Besuche in Milet c. 20,17 zu entnehmen, wohin er<br />
die Presbyter von Ephesus hatte kommen lassen. In seinen Briefen an die Kolosser <strong>und</strong> Epheser, aus<br />
der römischen Gefangenschaft geschrieben (62-64), sucht er noch einmal die Gemeinde dessen gewiss<br />
zu machen, <strong>das</strong>s sie in der Erkenntnis <strong>und</strong> Gemeinschaft Christi von Gott selbst zubereitet, geschmückt<br />
<strong>und</strong> völlig gemacht sei – um sie auf diese Weise zu stärken <strong>und</strong> zu wappnen gegen alle<br />
falsche Lehre derer, welche, heimlich der Lust <strong>und</strong> Begierde nachgebend, Vorschriften eines heiligen<br />
Wandels, eines geistlichen Lebens in Enthaltsamkeit <strong>und</strong> Gottesdienstlichkeit zum Seligwerden<br />
an die Hand gaben. Da diese falsche Lehre <strong>und</strong> Verführung von Juden ausging, die zum Teil aus Palästina<br />
herankamen <strong>und</strong> großen Anhang fanden – so mussten sich auch Jak., Petrus <strong>und</strong> Joh., die <strong>das</strong><br />
Amt der Predigt an die Beschneidung hatten, veranlasst sehen, die Judenchristen der διασπορά in<br />
der lauteren Predigt zu befestigen wider die Irrlehre. So haben Jak. <strong>und</strong> Ju<strong>das</strong> an die Juden der<br />
διασπορά geschrieben, so Petrus an die ἐκλεκτοὶ παρεπίδημοι der διασπορά von Pontus, Galatien,<br />
Cappad., Asien <strong>und</strong> Bithynien. Wahrscheinlich nun ist es, <strong>das</strong>s Joh. sich persönlich nach Klein-Asien<br />
begeben hat. Wo er seit dem Pfingstfeste seinen festen Wohnsitz gehabt, ist nicht mit Bestimmtheit<br />
zu sagen; wahrscheinlich aber war er meist in Jerusalem. Von dort aus war seine, wie der andern<br />
Apostel Sorgfalt auf die Gemeinden Judäas, Samarias <strong>und</strong> der ganzen διασπορά gerichtet; dorthin<br />
kamen die Juden von allen Enden der Erde zu den hohen Festen zusammen. (Bei Pauli letzter<br />
Anwesenheit in Jerusalem scheint Joh. nicht dort gewesen zu sein; es wird allein Jak. genannt.)<br />
Nach des Jak. <strong>und</strong> Paulus Tode begab sich wahrscheinlich der Apostel nach Klein-Asien, <strong>und</strong> da die<br />
Apokalypse, wie aus inneren Gründen zu erweisen, vor der Zerstörung Jerusalems geschrieben ist,<br />
so ist die Verbannung nach Patmos wohl in die Zeit zwischen 64 <strong>und</strong> 68 zu setzen. Diese Verfolgung<br />
ist sicher nicht von dem Kaiser oder den römischen Prokonsuln selbst ausgegangen; es waren<br />
meistens Juden, vielleicht gar Judenchristen, welche offen oder heimlich einen Aufstand erregten,<br />
<strong>und</strong> die Magistrate willfahrten nur dem Volkswillen, wenn sie Hand an die Apostel legten. Möglich<br />
ist’s, <strong>das</strong>s zur Zeit der Neronischen Verfolgung, als von Rom aus auf den Namen der Christen<br />
Fluch, Schuld <strong>und</strong> Bosheit aller Welt gelegt ward, auch gegen Joh. der Hass erregt <strong>und</strong> die deportatio<br />
in insulam, welche bei den Römern der poena capitalis gleich war, <strong>über</strong> ihn verhängt wurde. Es
§ 3. Die kirchliche Tradition <strong>über</strong> den Apostel Johannes. 29<br />
wird zwar erst dem Marc Aurel mit Bestimmtheit <strong>das</strong> Gesetz zugeschrieben, si quis aliquid fecerit,<br />
quo leves hominum animi superstitione Numinis terrentur, huiusmodi homines in insulam relegari –<br />
aber auch früher schon war die Verbannung auf eine einsame Insel keine ungewöhnliche Strafe. Patmos<br />
ist eine der Sporadischen Inseln, 18.000 Schritt im Umfang, von Strabo <strong>und</strong> Plinius nur im Vorbeigehen<br />
erwähnt. Sie ist ein unfruchtbarer Felsen, von etwa 300 Menschen bewohnt. (Tournefort,<br />
voyage du Levant Tom. 1. p. 168). Nach Bochart bedeutet der Name: palmosa vom Arab. .בטם Wie<br />
Paulus aus Roms Gefangenschaft, so schrieb Joh. von diesem einsamen Felsen, wohin er des Wortes<br />
Gottes <strong>und</strong> Zeugnisses Jesu wegen verbannt war, seine letzte Schrift, die Offenbarung, die ihm Gott<br />
<strong>über</strong> die Zukunft der Gemeinden gegeben hatte. Dass auch hier wieder Juden es waren, die in Ephesus<br />
<strong>und</strong> den andern Gemeinden Klein-Asiens die Gemüter den Aposteln entfremdeten <strong>und</strong> darum<br />
Nicolaiten (λαὸν νικᾶν) genannt werden, ist z. B. aus c. 2,9 deutlich zu sehen. Die Stimme der Apostel<br />
konnte nicht mehr durchdringen; im Großen <strong>und</strong> Ganzen machte sich eine andere Lehre geltend,<br />
welche den irdischen Begierden der Menschen Spielraum ließ, dagegen äußerliche Zucht <strong>und</strong><br />
Satzung des Gesetzes auflegte, Heiligkeit prätendierte <strong>und</strong> die von Gott selbst gepflanzte jüdische<br />
Kirche, <strong>das</strong> Jerusalem hienieden, ausbreiten <strong>und</strong> befestigen wollte, deren Mitgliedschaft der einzige<br />
Weg zur Seligkeit sei. Diese Lehre schien auch ganz durch den Gang der Dinge bestätigt; gerade um<br />
diese Zeit blühte Jerusalem wie kaum je zuvor <strong>und</strong> niemals schien <strong>das</strong> ihm geweissagte Ende weiter<br />
in die Ferne gerückt. Die Zahl der Proselyten wuchs täglich; Paulus, der Apostel <strong>und</strong> Fürsprecher<br />
der ἔθνη, war im Auslande, <strong>und</strong> von dem Eifer des Gesetzes war <strong>das</strong> Volk wie nie beseelt. Was blieb<br />
am Ende den Aposteln übrig, als sich zurückzuziehen? Schon Paulus hatte geschrieben, <strong>das</strong>s in Asien<br />
Alle ihn verlassen; Joh. schreibt im 3. Briefe v. 9, <strong>das</strong>s er der Gemeinde geschrieben, aber <strong>das</strong>s ὁ<br />
φιλοπρωτεύων derselben Διοτρεφής ihn nicht annehme. So ist es denn gekommen, <strong>das</strong>s die treuen<br />
Schüler der Apostel die Minderzahl ausmachten <strong>und</strong> in den Gemeinden zurücktraten; schon die letzten<br />
Briefe des Joh., Ju<strong>das</strong> <strong>und</strong> Petrus wurden nicht von allen Gemeinden aufgenommen, weil sie zu<br />
ernst <strong>und</strong> drohend waren; es wurde die Lehre herrschend, welche Paulus dem Tim. 1. Brief c. 4; 2.<br />
Brief c. 3 so kenntlich beschrieben hatte. In der Tat finden wir gerade die Lehre in der späteren Kirche<br />
herrschend, welche die Apostel in ihren letzten Briefen so entschieden bekämpfen. So stand es,<br />
als Joh. auf Patmos war. Da endlich kam Christus, als die meisten Apostel schon ihren Glauben mit<br />
dem Blute besiegelt hatten, um an Jerusalem, der Stadt, die ihn <strong>und</strong> seine Apostel verworfen, seine<br />
Herrlichkeit <strong>und</strong> Wahrheit zu offenbaren im Gericht; Joh. hat bis dahin gelebt, bis nach der gewaltigsten<br />
aller Katastrophen der Herr gekommen ist, seinen treuen Diener zu sich heimzuholen (c. 21).<br />
Über die Gemeinden aber <strong>und</strong> diejenigen, welche sich ein Ansehen gegen die Apostel erworben, hat<br />
sich der Schatten der Nacht gelagert – die Geschichte schweigt von ihnen. Freilich lebten <strong>und</strong> bestanden<br />
sie fort <strong>und</strong> haben auch die Kirche fortgepflanzt – aber was haben Justin, Irenäus, Clemens<br />
<strong>und</strong> die Andern durch die Tradition der Gemeinden, die successio der apostolischen Sitze <strong>über</strong>kommen?<br />
Jeder Unbefangene muss anerkennen, <strong>das</strong>s die Lehre der sogenannten apostolischen Väter<br />
von der der Apostel durchaus verschieden ist, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s, was geistlich zu verstehen, bei ihnen<br />
fleischlich gedeutet ist. Von den Aposteln selbst ist kaum eine einzige genaue <strong>und</strong> sichere Nachricht<br />
bei den sedibus apostolicis zu finden, eben so wenig von ihren Schülern. Das Einzige, was sie besitzen<br />
<strong>und</strong> auch uns <strong>über</strong>liefert haben, sind der Apostel Schriften – <strong>das</strong> Wort Gottes, welches die Geschlechter<br />
der Menschen <strong>über</strong>dauert. Durch diese Sachlage ist die Beschaffenheit der kirchlichen<br />
Tradition, wie sie uns am Ende des 2. Saec. entgegentritt, völlig erklärt.<br />
Aus dieser Darlegung leuchtet von selbst ein, wie irrig die Vorstellung eines sog. Johanneischen<br />
Zeitalters ist, welche besonders von Rothe (Anfänge der christlichen Kirche) ausgebildet, aber auch<br />
von Neander, Lücke u. A. teilweise gebilligt ist. Nach des Paulus Tode soll nämlich Joh. in Ephesus<br />
die ganze Kirche geleitet, er soll nach der Meinung schon vieler Alten den Kanon gesammelt, oder
30 § 3. Die kirchliche Tradition <strong>über</strong> den Apostel Johannes.<br />
nach Rothes Vermutung der Kirche zuerst durch Einsetzung des Episcopats ihre feste Gestaltung<br />
gegeben haben. Kurz auf Joh. führt man alles <strong>das</strong> zurück, was man in der Kirche des 2. Saec. als<br />
apostolisch hervortreten sieht <strong>und</strong> doch in der Schrift selbst nicht begründet findet: die Gründung<br />
der Hierarchie, die Anfänge der Gnosis <strong>und</strong> Dogmatik, die kirchlichen ritus, <strong>das</strong> symbolum, die<br />
Kämpfe gegen die Ebioniten <strong>und</strong> Gnostiker u. dergl. mehr. Es ist aber zum großen Nachteil der Erklärung<br />
<strong>und</strong> Anerkennung der Schriften des Joh. ausgeschlagen, <strong>das</strong>s man, was bei Papias, Ignatius,<br />
Polycarp, Irenäus u. A. sich findet, auf den Apostel Joh. zurückgeführt <strong>und</strong> aus der Tradition den<br />
Charakter <strong>und</strong> die Stellung desselben hat zeichnen wollen. Aus der Bibel, aus den Schriften des Joh.<br />
selbst ist zu erforschen, wer er gewesen <strong>und</strong> was er gelehrt, so werden die Schatten weichen, welche<br />
aus dem Dunkel der Tradition aufgestiegen oder hervorgerufen sind.<br />
Damit sind nun aber auch alle diejenigen Gründe gegen die Echtheit des Evangeliums beseitigt,<br />
welche man aus dem unklaren <strong>und</strong> zweideutigen Charakter der Tradition entnommen hat. Durchmustern<br />
wir jetzt, was die ersten Jahrh<strong>und</strong>erte von dem Evang. Joh. wissen. Justinus Martyr führt in<br />
seinen beiden Apologien (147 <strong>und</strong> 150) <strong>und</strong> in dem Dialog mit dem Juden Tryphon auch Aussprüche<br />
aus dem Evang. Joh. an. Die Aussage <strong>über</strong> <strong>das</strong> Abendmahl Apol. 1, 66 erinnert an Joh. 6, die<br />
<strong>über</strong> die Menschwerdung dial. c. 63 an Joh. 1,13, die <strong>über</strong> den Täufer dial. c. 88 an Joh. 1,30 ff. Die<br />
Ausdrücke τὸ τῆς ζωῆς ὕδωρ <strong>und</strong> πηγὴ ὓδατος ζῶντος dial. c. 69 u. 114 sind johanneisch. Auch<br />
noch bei andern Stellen Justins werden wir lebhaft an Joh. denken müssen, Apol. 1,5; 1, 61; Apol. 1,<br />
52. Die ἀπομνημονεύματα τῶι ἀποστόλων, aus der Erinnerung niedergeschriebene Aufzeichnungen<br />
der Apostel, welche Justin erwähnt, erklärt er selbst als ἃ καλεῖται εὐαγγέλια (Apol. 1, 66) <strong>und</strong> sagt,<br />
<strong>das</strong>s sie teils von Aposteln, teils von Schülern der Apostel verfasst seien. Sie wurden in den öffentlichen<br />
Gemeindeversammlungen abwechselnd mit den prophetischen Schriften des A. T. vorgelesen.<br />
Es waren unsere kanonischen Evangelien. In der apologetischen Schrift des Syrers Tatians, des<br />
Schülers Justins, λόγος πρὸς Ἕλλημνας finden sich deutliche Beziehungen auf <strong>das</strong> 4. Evang. Das<br />
Diatessaron des Tatian ist nach Th. Zahns gelehrten <strong>und</strong> scharfsinnigen Forschungen (Erlangen<br />
1881) die älteste syrisch geschriebene Evangelienharmonie, spätestens 190 entstanden, welche in<br />
vollem Glauben an die wesentliche Geschichtlichkeit des gesamten Inhaltes der vier Evangelien<br />
steht <strong>und</strong> Meinungen, wie sie Baur ausgesprochen <strong>über</strong> die Entstehung des Johannis-Evangeliums,<br />
einfach als Wahnsinn erscheinen lassen. Die Arbeit des Tatian beginnt mit dem Anfang des Evang.<br />
Joh. Zweifel kann man erheben gegen die Behauptung Zahns, <strong>das</strong>s Tatian ganz auf dem Boden der<br />
katholischen Glaubensregel gestanden <strong>und</strong> aller Häresie fern gewesen. Ein anderer Syrer, der Bischof<br />
Theophilus von Antiochien, hat nach dem Nachweise von Th. Zahn (der Evangelien-Commentar<br />
des Theophilus von Antiochien, Erlangen 1883) unter Marc Aurel einen Kommentar zu den<br />
vier Evangelien geschrieben, in dem auch die Apokalypse als ein kanonisches Buch zitiert wird.<br />
Von demselben haben wir in der Schrift ad Autolyc. II, 22 die erste ausdrückliche Erwähnung,<br />
<strong>das</strong>s Joh. der Verfasser des Evangeliums sei (ums Jahr 181). Irenäus bezeugt adv. hares. III, 1, <strong>das</strong>s<br />
Joh. <strong>das</strong> Evang. herausgegeben, als er in Ephesus in Asien lebte. Nach Clem. von Alex. hat Joh. ein<br />
pneumatisches Evang. im Gegensatz gegen <strong>das</strong> somatische in den Synoptikern geschrieben (Euseb.<br />
VI, 14). Tertullian, <strong>das</strong> Muratorische Fragment (zwischen 160 <strong>und</strong> 170), die Peschito <strong>und</strong> Itala, beide<br />
Übersetzungen von uraltem Gebrauch folgen als Zeugen für die Autorschaft des Joh. Origenes<br />
rechnet darum mit <strong>Recht</strong> <strong>das</strong> Evang. zu den in der Kirche Gottes unter dem Himmel unwidersprochen<br />
angenommenen (Comm. in Joh. Tom. 1, § 6).<br />
Aber auch schon bei den apostolischen Vätern finden sich in dem Briefe des Barnabas Hindeutungen<br />
auf die Gedanken des Evangelisten, ebenso bei dem Hirten des Hermas (bei Th. Zahn, S.<br />
467-476). In den Briefen des Ignatius ruht eine Stelle ad Rom. 7 von dem Fleische <strong>und</strong> Blute Jesu
§ 3. Die kirchliche Tradition <strong>über</strong> den Apostel Johannes. 31<br />
Christi auf einem Ausspruch des Herrn bei Joh. In dem Briefe des Polycarp ist c. 7 eine wörtliche<br />
Anführung aus dem ersten Briefe Joh. c. 4,3. In den Briefen des Ignat. <strong>und</strong> Polyc. setzt der ganze<br />
dogmatische Ideenkreis die johanneischen Schriften voraus. Das Schweigen des Papias beweist<br />
nichts gegen die Abfassung von Joh.; da er den 1. Brief des Joh. benutzt hat, wird er auch <strong>das</strong><br />
Evang. gekannt haben.<br />
Wie bei den Orthodoxen war auch bei den Häretikern <strong>das</strong> Evang. Joh. bekannt. Der heidnische<br />
Philosoph Celsus nimmt darauf Rücksicht in seiner Polemik (Keim, Celsus’ wahres Wort, Zürich<br />
1873, S. 223, 229 ff.) Der Gnostiker Basilides unter Hadrian benutzt <strong>das</strong> Evang. in seinen Philosophumena,<br />
ebenso Valentinus <strong>und</strong> seine Schule für die Äonenlehre. Marcion verwarf <strong>das</strong> Evang.<br />
Joh., welches er in kirchlichem Gebrauch vorfand. In den Clementinischen Homilien, einer judenchristlichen<br />
Tendenzschrift, ist <strong>das</strong> Evang. benutzt worden. Auch in den Testamenten der 12 Patriarchen,<br />
unter Hadrian geschrieben, sind johanneische Reminiszenzen. Der Widerspruch, den die Aloger,<br />
eine kleine Partei, gegen <strong>das</strong> Evang. erhoben, war rein dogmatischer Art. Das grobe Missverständnis<br />
bei den Montanisten <strong>und</strong> die gnostische Schwärmerei rief nämlich einen Gegensatz hervor,<br />
der im Kampf gegen diese Richtungen auch gegen die Schriften sich kehrte, auf die sie sich beriefen<br />
(Luthardt a. a. O., S. 19 ff.). In einzelnen Worten <strong>und</strong> Stellen aller Schriften jener Zeit, in ganzen<br />
Richtungen des Denkens <strong>und</strong> Lebens gewahren wir den Einfluss des 4. Evang., welches, wenn<br />
auch missverstanden <strong>und</strong> irrig gedeutet, dennoch als <strong>das</strong> Wort eines Donnerkindes beides bei Kirchlichen<br />
<strong>und</strong> Häretikern alles durchhallt hat.<br />
§ 4. Die Angriffe gegen die Echtheit des Evangeliums aus inneren Gründen.<br />
Innerhalb der ganzen Kirche des 2. <strong>und</strong> 3. Saec. stehen die 4 Evangelien an der Spitze der apostolischen<br />
Schriften. Es zeigt sich dies besonders an einem Versuch des Irenäus, diese Zusammengehörigkeit<br />
zu erklären, adv. haer. 3, 1. Er vergleicht für die Vierzahl eine Menge Erscheinungen<br />
aus dem Naturleben, welche auch vierfach sich finden; wendet dann aber insbesondere die Gestalten<br />
der Cherubim darauf an <strong>und</strong> legt dem Joh. <strong>das</strong> Bild des Löwen, dem Lukas <strong>das</strong> des μόσχος, dem<br />
Matth. <strong>das</strong> des Menschen, dem Markus <strong>das</strong> des Adlers bei. Diese Verteilung der 4 Angesichter der<br />
Cherubim wurde sehr allgemein <strong>und</strong> doch schon von Augustin getadelt. Statt des Löwen wurde später<br />
dem Joh. der Adler zugesellt; <strong>und</strong> in Bezug darauf ist ein Vers im 13. Saec. gedichtet:<br />
Volat avis sine meta<br />
Quo nec vates nec propheta<br />
evolavit altius;<br />
tam implenda, quam impleta<br />
nunquam vidit tot secreta<br />
Purus homo purius. 13<br />
Jene 4 Angesichter stellen allerdings den Charakter Christi in seiner Menschwerdung dar – <strong>und</strong><br />
gehören also insofern alle 4 jedem Evangelio für sich an: τὰ πρόσωπα αὐτῶν εἰκόνες τῆς<br />
πραγματείας τõυ υἱοῦ θεοῦ. <strong>Neue</strong>rdings hat Th. Zahn in gelehrter Weise <strong>über</strong> diesen Punkt in den<br />
Beilagen zu seinem Theophilus von Antiochien gehandelt. Die nun bei den vier Evangelien aufgeworfenen<br />
Fragen, auf welche wir meistens vergeblich nach einer genügenden Antwort uns umsehen,<br />
sind schon bei den Kirchenvätern hauptsächlich folgende:<br />
Unter Evangelium verstand man eine Darstellung des Lebens Jesu. Da nun im Evang. Joh. Vieles<br />
gar nicht erzählt wird, was bei den Synoptikern sich findet, <strong>und</strong> umgekehrt, so suchte man sich die-<br />
13 Juvencus: Johannes fremit ore leo, similis rugienti Internat aeterna pandens mysteria vitae.
32 § 4. Die Angriffe gegen die Echtheit des Evangeliums aus inneren Gründen.<br />
ses so zu erklären, <strong>das</strong>s Joh. zuletzt sein Evang. geschrieben <strong>und</strong> die von den Andern mit Stillschweigen<br />
<strong>über</strong>gangene Zeit vor der Gefangennehmung Joh. des Täufers nachträglich dargestellt<br />
habe, Euseb. 3, 24. Diese Nachricht wurde durch Hieron. de script. eccl. c. 9 nachher in der Kirche<br />
die ganz gewöhnliche. Man nahm an, die Erzählungen der Synoptiker umfassten nur Ein Jahr der<br />
Lehrtätigkeit Jesu, <strong>das</strong> 4. Evangelium sei ein Supplement der andern.<br />
Abweichend von den übrigen Evangg. teilt Joh. längere Gespräche mit, in denen durchweg die<br />
Herrlichkeit Christi hervorgehoben wird. Wie nun die Kirche die Herrlichkeit <strong>und</strong> Gottheit Christi<br />
gegen die Häretiker unaufhörlich zu verteidigen hatte, so nahm man an, in polemischer Tendenz gegen<br />
die Ebioniten sei <strong>das</strong> Evang. des Joh. geschrieben. So berichten Iren. adv. haer. 3, 11, Epiph.<br />
haer. 51, 69 <strong>und</strong> Hieron. Joh. habe die Ebioniten in Irrtum verfallen sehen wegen der Geschlechts-<br />
Register bei Matth. <strong>und</strong> Lukas <strong>und</strong> habe gegen die Cerinthianer u. A., welche von der Person Christi<br />
zu irdische Vorstellungen gehabt, sein Evang. geschrieben. In den 3 ersten Evangg. also sei Christi<br />
natura humana – in dem 4. Christi natura divina gelehrt. Dort Christus als υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου – hier<br />
als υἱὸς τοῦ θεοῦ. 14<br />
Besonders die alexandrinische Schule glaubte bei Joh. einen höheren Geist der γνῶσις als in den<br />
andern Evangg. zu entdecken. Joh., sagt Clem. (Euseb. VI, 14), habe als der letzte wahrgenommen,<br />
<strong>das</strong>s in den andern Evangg. τὰ σωματικά eröffnet seien; er habe daher, auf Bitten der Schüler, vom<br />
Geiste getrieben, ein εὐαγγέλιον πνευματικόν verfasst. Origenes sagt, wie unter allen Schriften des<br />
N. T. die Evangg. die ἀπαρχή sind, so unter den Evangg. selbst <strong>das</strong> des Joh. Diesen Alexandrinern<br />
galt nämlich ihre Spekulation, besonders ihre Trinitätslehre, für <strong>das</strong> wahrhaft <strong>und</strong> einzig Göttliche<br />
<strong>und</strong> Pneumatische, <strong>und</strong> sie lobten den Joh., weil sie bei ihm die Gr<strong>und</strong>züge ihrer Philosophie zu finden<br />
glaubten. Sie dachten dabei an <strong>das</strong> 1. Kap., welches, wie Aug. de civ. D. X, 29 bemerkt, auch<br />
Neu-Platonikern Achtung einflößte. Man gab dem Joh. unter den Evangelisten <strong>das</strong> Symbol des Adlers,<br />
weil er sich von der irdischen Betrachtung allein in die Sphäre der Ideen <strong>und</strong> Gnosis erhoben.<br />
Allem diesem liegt zum Teil eine richtige Beobachtung, vielleicht auch eine Tradition zum Gr<strong>und</strong>e:<br />
die Art <strong>und</strong> Weise aber, wie man eine zwischen den Synoptikern <strong>und</strong> dem Joh. in jenen 3 Punkten<br />
bestehenden Verschiedenheit aufstellte, beruhte dennoch auf durchaus irriger Betrachtung. Man<br />
wusste, <strong>das</strong>s Joh. sein Evang. später als die andern geschrieben, <strong>das</strong>s damals Gefahren des Irrtums<br />
<strong>und</strong> Abfalls in den Gemeinden stattgef<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> man entnahm gleich aus dem Anfang des Evang.,<br />
<strong>das</strong>s Joh. von dem Worte schreibe, welches in Christo Fleisch geworden. Man suchte nun weiter<br />
den Zweck, den eigentlichen Charakter, <strong>das</strong> Distinguierende des 4. Evang. zu entdecken; dabei beurteilte<br />
aber ein Jeder den Joh. nach sich selbst; Euseb. dachte sich in Joh. einen Historiker, Epiph.<br />
einen Polemiker <strong>und</strong> Clemens Alex. einen Philosophen, wie sie selbst waren; – <strong>das</strong> war der Irrtum.<br />
An eben diese Fragen aber <strong>über</strong> <strong>das</strong> Verhältnis des 4. Evang. zu den 3 vorangehenden <strong>und</strong> an die<br />
<strong>über</strong> den Charakter desselben von den Auslegern aufgestellten Meinungen knüpften die Angriffe gegen<br />
die Echtheit wieder an, als man in neuester Zeit die Wahrheit der heil. Schrift <strong>über</strong>haupt von allen<br />
Seiten zu bezweifeln unternahm. Geben wir zunächst eine Übersicht der hierher gehörigen Literatur!<br />
Wie die antimontanistischen Aloger (Saec. 2) im Gegensatz gegen die Logoslehre <strong>das</strong> Evang.<br />
Joh. verworfen <strong>und</strong> sich dabei auf Differenzen mit den andern Evangg. berufen hatten, so spricht<br />
zuerst Clericus von neuen Alogern in England, welche der dunklen, langen Reden Jesu wegen <strong>das</strong><br />
Evang. verwarfen. 1792 erschien sodann aus dem Schoß der Deisten die Schrift von Evanson <strong>über</strong><br />
die Dissonanz der Evangg.; er hält den Lukas allein für echt; für <strong>das</strong> 4. Evang. nimmt er einen Kon-<br />
14 Hier. prol. Matth.: Joannes, quum esset in Asia et iam tunc haereticorum semina pullularent, coactus est ab omnibus<br />
tunc paene Asiae episcopis et multarum ecclesiarum legationibus de divinitate Salvatoris altius scribere.
§ 4. Die Angriffe gegen die Echtheit des Evangeliums aus inneren Gründen. 33<br />
vertiten der platonischen Schule als Verfasser an. Der Erste der Neologen Deutschlands, Semler,<br />
verwarf die Apokalypse, hielt aber hoch von dem Evang. Erst Eckermann in den theol. Beiträgen (5.<br />
Bd. 2. Stück) urteilte, es seien die sämtlichen Evangg. nicht von Augenzeugen, sondern Anfangs des<br />
Saec. 2 von unbekannten Männern verfasst <strong>und</strong> ihr Inhalt der Tradition entnommen. Storr <strong>und</strong> Süskind<br />
traten dagegen auf. Ganz frivol sind die Angriffe der anonymen Schrift „Das Evang. Joh. <strong>und</strong><br />
seine Ausleger vor dem jüngsten Gericht,“ 1801, von einem Kantianer (Superintendent Vogel in<br />
Wunsiedel), dessen Argumentation dahinausläuft, „<strong>das</strong>s dieses Evang. keinen Wert mehr haben könne<br />
in einer Zeit, wo man die Religion von der Messiaslehre nicht abhängig mache, in jüdische Vorstellungen<br />
nicht eingeweiht sei, historisch-streng erwiesene Tatsachen fordre, W<strong>und</strong>er für einen Widerspruch<br />
halte <strong>und</strong> ein Gebiet der Über-Vernunft nicht anerkenne.“ Schleker in einer besonderen<br />
Schrift, Süskind in seinem Magazin für Dogmatik <strong>und</strong> Moral <strong>und</strong> Nöldeke in Henkes Museum verteidigten<br />
<strong>das</strong> Evang. gegen diesen Angriff <strong>und</strong> zugleich gegen die von Horst aufgeworfenen Fragen<br />
<strong>und</strong> Zweifel (ebenfalls in Henkes Museum). Wegscheiders Versuch einer vollständigen Einleitung,<br />
Gött. 1806, des Holländers Heribert van Griethuysen diss. pro Ev. Johannei αὐθεντία 1807 wiesen<br />
unter gelehrter <strong>und</strong> gründlicher Prüfung die Einwürfe, entnommen aus der Tradition <strong>und</strong> dem inneren<br />
Charakter des Evang., zurück <strong>und</strong> in den Einleitungsschreiben sowohl als den Kommentaren<br />
wurde die Echtheit behauptet <strong>und</strong> bewiesen.<br />
Aber die rationalistische Schule konnte sich doch nimmermehr mit einem Evang. befre<strong>und</strong>en,<br />
worin die Herrlichkeit des Alleingeborenen vom Vater so mächtig bezeugt war, <strong>und</strong> was menschlicher<br />
Verstand an Zweifeln aufgeworfen <strong>und</strong> irgend nur zusammenraffen konnte, ließ Bretschneider<br />
in der Schrift: Probabilia de evang. et epp. Joannis apostoli indole et origine 1820 in geschlossenen<br />
Reihen gegen die Theologen anrücken. Die Widersprüche mit den ersten Evangg. seien nicht zu lösen;<br />
Christus sei ein ganz anderer bei Joh., seine Reden in sich selbst unwahrscheinlich, – der Verfasser<br />
sei weder Augenzeuge, noch <strong>über</strong>haupt Palästiner Fischer. Auch fehlen hinreichende Zeugnisse<br />
der ältesten Kirche. Alles dies lasse sich nur dadurch erklären, <strong>das</strong>s ein Heidenchrist aus dem<br />
Anfang des Saec. 2 durch erdichtete Reden <strong>und</strong> eine Auswahl von Taten aus dem Leben Jesu <strong>das</strong><br />
Christentum gegen damalige Gegner habe verteidigen wollen. Es erschien eine Menge von Gegenschriften,<br />
von Stein, Hemsen, Crome, Hauff u. A. Die Zeugnisse der ältesten Kirche für sämtliche<br />
Evangg. wurden von Olshausen besonders zusammengestellt. Die allgemeine Stimme trat zu Gunsten<br />
des Joh. auf. Bretschneider selbst erklärte, sein Zweck, eine bessere Begründung des Johanneischen<br />
Ursprungs des Evang. zu veranlassen, sei erreicht. Die Ungunst des Zeitalters wandte sich<br />
aber nun gegen die Synoptiker. Die Schule Schleiermachers, Lücke, Bleek, Credner u. A. rühmten<br />
hoch von dem mystischen, tiefsinnigen <strong>und</strong> philosophischen Charakter des Joh., aber um so tiefer<br />
wurden der Alt-Testamentliche Matthäus <strong>und</strong> der scheinbar so wenig selbstständige Markus gesetzt;<br />
man benutzte <strong>das</strong> Ansehen des Joh., um den Matth. seines Ansehens zu berauben. Aber schon in einem<br />
Artikel der Berliner Jahrbücher drohte Strauß mit der Konsequenz der Kritik: im Leben Jesu<br />
ließ er diese Konsequenz dann rücksichtslos eintreten. Einen Augenblick an seinen eignen Zweifeln<br />
irre geworden – konnte der Mythiker zuletzt nicht anders, als auch <strong>das</strong> Evang. Joh. als untergeschoben<br />
zu betrachten. Zu gleicher Zeit versuchte Lützelberger (1840) die kirchliche Tradition <strong>über</strong> den<br />
Apostel Joh. <strong>und</strong> seine Schriften in gänzliches Schwanken zu bringen. Bruno Bauer (1851) unterwarf<br />
<strong>das</strong> Evang. der zersetzenden Kritik, welche <strong>über</strong>all Tendenz, Absichtlichkeit, Missverstand –<br />
nirgendwo aber Geschichte <strong>und</strong> Wahrheit entdeckte. Nachdem die negative Kritik so ihr Zerstörungsgeschäft<br />
geübt, war die Baursche Schule mit einer sog. positiven <strong>und</strong> konstruierenden Kritik<br />
(Weisse, evang. Gesch.; Schenkel, Studien <strong>und</strong> Kritiken, 1840, 3; Schweizer, der Evang. Johannes)<br />
beschäftigt, die Entstehung der 4 Evangg. aus einem Kampf des Juden- <strong>und</strong> Heiden-Christentums<br />
zu erklären, wobei <strong>das</strong> Evang. des Joh. dem 2. Saec. (160) zugeschrieben ward (Kritische Untersu-
34 § 4. Die Angriffe gegen die Echtheit des Evangeliums aus inneren Gründen.<br />
chung <strong>über</strong> die kanonischen Evangg., Tübingen 1847). Die Gegenschriften des Lebens Jesu von<br />
Strauß hatten unterdes auch die Authentie des joh. Evang. verteidigt; Lücke in der 3. Aufl. seines<br />
Kommentars verstärkte <strong>und</strong> mehrte seine Gründe der Echtheit; Ebrard in seiner Evangelien-Kritik<br />
suchte die Widersprüche zu lösen. Gfrörer in seinem Urchristentum hielt die Echtheit des Joh. fest,<br />
Weisse dagegen <strong>und</strong> später Schweizer wollten echte <strong>und</strong> unechte Bestandteile sondern, zuletzt hat<br />
Bleek, Beiträge zur Evangelien-Kritik, den Joh. in Schutz genommen.<br />
Indem Baur von der Echtheit der einzigen johanneischen Schrift, der Apokalypse, ausgeht, welche<br />
ein krasses Judentum vertritt, findet er <strong>das</strong> Evang. im vollem Widerspruch gegen <strong>das</strong>selbe die<br />
Gegensätze der paulinischen <strong>und</strong> judaistischen Parteien versöhnend <strong>und</strong> alle Differenzen des 2.<br />
Saec. zu höherer Einheit auflösend: eine ideale Komposition, welche <strong>das</strong> Christentum zur Weltreligion<br />
erhebt. <strong>Neue</strong>rdings haben namentlich Hilgenfeld <strong>und</strong> Volkmar die Entstehung des Evang. in<br />
die Kämpfe der gnostischen Systeme hineingezogen. Gegen diese Auffassungen traten Thiersch<br />
(Versuch zur Herstellung des historischen Standpunktes für die Kritik der neutestamentlichen<br />
Schriften, 1845, <strong>und</strong> einige Worte <strong>über</strong> die Echtheit der neutestamentlichen Schriften, 1846), Ebrard<br />
<strong>und</strong> Bleek auf. Luthardt schilderte <strong>das</strong> Evang. Joh. nach seiner Eigentümlichkeit (1852) in seiner<br />
Einheit von Theologie <strong>und</strong> Geschichte. Die Schwierigkeiten der Paschahfeier benutzten Schwegler<br />
<strong>und</strong> Köstlin zur Bekämpfung des Evang., aber es ist ihnen <strong>und</strong> ihren Gesinnungsgenossen nicht gelungen,<br />
den Beweis zu führen, <strong>das</strong>s bei den Kirchenvätern ein Widerspruch zwischen dem vierten<br />
<strong>und</strong> den synoptischen Evangg. <strong>über</strong> den Todestag Jesu vorhanden war; vergleiche B. Weiss in<br />
Meyers Comm., S. 19 ff. Dr. K. Hase sprach sich in seinem bekannten Sendschreiben an Baur für<br />
die Authentie des Evang. aus. Keim suchte in seiner Geschichte Jesu von Nazara (2 Bände, Zürich<br />
1867-72) durch die Leugnung des Aufenthaltes des Apostels zu Ephesus <strong>und</strong> durch die vorgegebene<br />
Vermählung des Evang. mit der alexandrinisch-philonischen Religionsphilosophie, sowie durch die<br />
Widersprüche mit den Synoptikern, die in der freiesten Weise benutzt seien, die Authentie zu untergraben.<br />
Man kann sagen, <strong>das</strong>s sein Leben Jesu schon jetzt zu den vergessenen Erscheinungen gehört.<br />
Auch Holtzmann in der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 1869, Heft 1 u. 4 sucht die<br />
Abhängigkeit von den Synoptikern zu erzwingen <strong>und</strong> dadurch die Selbstständigkeit des Joh. zu zerstören.<br />
Hase in seiner Geschichte Jesu (1876) sagt, <strong>das</strong>s in der deutschen Theologie eine Zeit gekommen,<br />
wo, wer es wagt im 4. Evang. einen wertvollen Quell für die Geschichte Jesu zu erkennen,<br />
fast seine wissenschaftliche Ehre daran setze. Er selbst ist in seinem alten Glauben schwankend<br />
geworden <strong>und</strong> begnügt sich mit einem Evang. nach Joh., welches ein begabter Jünger des Apostels<br />
niedergezeichnet hat. „Er hat sich ganz in <strong>das</strong> Andenken seines verklärten Meisters hineingelebt <strong>und</strong><br />
hat nur schreiben wollen, als wenn der selbst es geschrieben hätte.“ Wenn Hase meint, der erste Johannisbrief<br />
sei vielleicht <strong>das</strong> Vorbild für den Stil des Evangeliums, so bedenkt er nicht, <strong>das</strong>s eben<br />
dieser Brief noch von einem anderen Zeugnis in seinen ersten Worten weiß, welches von demselben<br />
Verfasser eine urk<strong>und</strong>liche Niederlegung erfahren haben muss. Die Argumentation von Hase geht<br />
aus dem Gefühl hervor, <strong>das</strong>s er doch zu einsam stände, wenn er gegen alle seine Gesinnungsgenossen<br />
an der alten Überzeugung festhielte. Es ist indessen keine einzige Tatsache gef<strong>und</strong>en worden,<br />
die seine alte Position erschüttern könnte – nur die kritische Anmaßung ist gestiegen <strong>und</strong> <strong>das</strong> Geschrei<br />
einer rhetorischen Siegesgewissheit. Es ist <strong>und</strong> bleibt zuletzt nur die Scheu des Unglaubens<br />
vor den W<strong>und</strong>ern <strong>und</strong> der göttlichen Majestät Christi, die die Leugnung fordert. Das liegt den Behauptungen<br />
Al. Schweizers zu Gr<strong>und</strong>e (<strong>das</strong> Evang. Joh. in seinem inneren Werte untersucht, 1841).<br />
Weizsäcker (Untersuchungen <strong>über</strong> die evang. Geschichte, 1864) hat die Hypothese aufgestellt, <strong>das</strong>s<br />
<strong>das</strong> Evang. unter der Leitung des Apostels von einem Schüler geschrieben sei, um so den vielfach<br />
gemischten Charakter des Evang. zu erklären.
§ 4. Die Angriffe gegen die Echtheit des Evangeliums aus inneren Gründen. 35<br />
Gegen diese Kritiker verteidigten Luthardt, Godet, Beyschlag, Weiss <strong>und</strong> Keil die johanneische<br />
Abfassung. Namentlich hat letzterer in seinem Komm. <strong>das</strong> große apologetische Material glücklich<br />
geordnet. Im Allgemeinen macht der kritische Protestantismus in der Gegenwart ein so greisenhaftes<br />
Gesicht, <strong>das</strong>s, was veraltet ist, auch seinem Ende nahe sein wird.<br />
Die stärksten Zweifel werden immer aus der Differenz mit den Synoptikern hergenommen. Wo<br />
sie selbst gleiche Begebenheiten berichten, da sei wenigstens einmal, in Betreff des Todestages<br />
Jesu, ein unauflöslicher Widerspruch. In Betreff des historischen Stoffes <strong>über</strong>haupt berichten die 3<br />
ersten Evangg. nur Taten Jesu während seines Aufenthaltes in Galiläa, – sie wissen nur von einer<br />
Reise, der letzten nach Jerusalem, – während Joh. von drei Paschahreisen berichte <strong>und</strong> meistens in<br />
Jerusalem <strong>und</strong> Judäa Vorgefallenes erzähle. Die Synoptiker erzählen einmütig eine Menge W<strong>und</strong>er<br />
– Joh. nur wenige <strong>und</strong> zwar diese wenige in einer Art <strong>und</strong> Weise, als ob es die einzigen gewesen. In<br />
einigen dieser Erzählungen treffe er mit den anderen Evangg. zusammen, verbreite dann aber <strong>über</strong><br />
dieselben ein ganz anderes <strong>Licht</strong>; andererseits erzähle er ein W<strong>und</strong>er, die Auferweckung des Lazarus,<br />
wor<strong>über</strong> <strong>das</strong> Schweigen der Andern unerklärlich sei. Der Hauptinhalt aber des 4. Evang. seien<br />
lange Reden Jesu, deren Form <strong>und</strong> Inhalt der Redeweise Jesu in den Synoptikern ganz entgegen sei.<br />
Dort lege er <strong>das</strong> Gesetz aus in kurzen Sprüchen <strong>und</strong> rede in vielen παραβολαῖς von der βασιλεία τοῦ<br />
θεοῦ – die Reden aber bei Joh. seien dem ganz ähnlich, wie Joh. selbst in seinen Briefen lehre, <strong>und</strong><br />
ihr Gesamt-Inhalt habe den einen Mittelpunkt, <strong>das</strong>s Christus die Herrlichkeit Seines Namens als des<br />
Sohnes Gottes behaupte, während er dort den Jüngern sogar verbiete, von ihm als dem Messias zu<br />
dem Volk zu reden. So erscheine also Christus als ein ganz anderer hier <strong>und</strong> dort.<br />
Diese Reden scheinen aber auch in sich selbst wenig wahrscheinlich; sie seien unförmig <strong>und</strong><br />
dunkel, <strong>und</strong> es entspreche der Lehrweisheit Christi sehr wenig, <strong>das</strong>s er durch diese Dunkelheit der<br />
Reden <strong>über</strong>all Missverständnisse bei den Hörern hervorrufe. Es zeige sich in ihnen nicht recht ein<br />
geschichtlicher Verlauf; die Juden werden von vornherein in einer Leidenschaftlichkeit dargestellt,<br />
die sich erst nachher ausgebildet; endlich liege diesen Reden eine polemische Tendenz zu Gr<strong>und</strong>e,<br />
welche wohl Joh., nicht aber Christus selbst gehabt – nämlich die Tendenz, die Göttlichkeit Christi<br />
gegen Ebioniten <strong>und</strong> Andere zu verteidigen.<br />
Am wohlsten fühlt sich die Kritik bei ihren tausendfachen Zweifeln, wenn sie sich in einem mystischen<br />
Dunkel <strong>über</strong> den Ursprung des Evang. verstecken kann – während die Aufgabe der Theologie<br />
ist, sich wirkliche Klarheit <strong>über</strong> alle diese Fragen zu verschaffen.<br />
§ 5. Authentie, Zweck <strong>und</strong> Charakter des Evangeliums.<br />
I. Innere Merkmale der Echtheit.<br />
Eben so wenig tritt die Person des Verfassers im 4. Evang. hervor, wie in den 3 übrigen – ganz<br />
wie es dem Charakter apostolischer Predigt angemessen ist. Der Schreibende erzählt aber als Augenzeuge,<br />
als welcher er sich selbst c. 19,35 aufs deutlichste bezeichnet (c. 1,14 steht ἐθεασάμεθα,<br />
vergl. 1. Joh. 1,1-3). Auch c. 20,30 ist offenbar, <strong>das</strong>s der Erzähler als Augenzeuge Dinge berichtet,<br />
welche Christus ἐνώπιον τῶν μαθητῶν αὐτοῦ getan hat. Das entschiedenste Zeugnis findet sich aber<br />
am Schlusse des ganzen Buches c. 21,24. Die Auslegung selbst wird zeigen, <strong>das</strong>s diese Worte dem<br />
Apostel am füglichsten zugeschrieben werden. Danach ist also ausdrücklich gesagt, <strong>das</strong>s von Jesu<br />
ein Solcher dies Evangelium geschrieben habe, der sein Jünger gewesen, <strong>und</strong> den Jesus lieb gehabt.<br />
Diese Tatsache wird durch folgende Indizien bestätigt:
36 I. Innere Merkmale der Echtheit.<br />
1) Der Verfasser ist ein Jude.<br />
Als solchen kennzeichnet ihn die Sprache, welche bei allem gut griechischen Charakter doch<br />
einzelne Hebraismen aufweist, wie z. B. die Verbindung des υἱός mit einem allgemeinen Begriff,<br />
wie υιὁὶ φωτάς, <strong>das</strong> ἀμὴν, ἀμὴν λέγθ ὑμῖν, der häufige Gebrauch von καὶ <strong>und</strong> οὖν, der geringe Periodenbau,<br />
so <strong>das</strong>s Ewald sagt (die Joh. Schriften 1861, I, S. 44): Die griechische Sprache des Verfassers<br />
trägt noch die deutlichsten <strong>und</strong> stärksten Merkmale eines echten Hebräers an sich, der unter Juden<br />
im heil. Lande geboren <strong>und</strong> in dieser Gemeinschaft ohne griechisch zu reden groß geworden,<br />
auch mitten in dem griechischen Gewande, welches er spät um sich werfen lernte, noch den ganzen<br />
Geist <strong>und</strong> Atem seiner Muttersprache in sich trägt <strong>und</strong> von diesem sich leiten zu lassen kein Bedenken<br />
trägt. Auch Keim findet in der Sprache ein merkwürdiges Gefüge echt griechischer Leichtigkeit<br />
<strong>und</strong> Gewandtheit <strong>und</strong> hebräischer Ausdrucksweise. Vergl. Luthardt, der joh. Ursprung, S. 131 ff. u.<br />
Comm. I, S. 44-62; Godet, Comm. I, S. 117 ff.<br />
2) Der Verfasser ist auch ein geborener Palästinenser.<br />
Er berichtet mit geographischer Genauigkeit <strong>und</strong> so anschaulich <strong>und</strong> sicher, <strong>das</strong>s man merkt, er<br />
hat in den Gegenden, durch die er uns führt, gewandelt <strong>und</strong> lange gelebt. Selbst Keim (I, S. 133)<br />
will nichts von geographischen Irrtümern wissen. Auch die jüdischen Sitten sind ihm bis ins Einzelnste<br />
bekannt; selbst die heil. Schriften hat er in der Ursprache gelesen <strong>und</strong> geht bei der Stelle<br />
Sach. 12,10 auf dieselbe gegen die LXX zurück. Er lebt <strong>und</strong> webt ganz in A. T.-Anschauungen <strong>und</strong><br />
Bildern, wie <strong>das</strong> vom guten Hirten, von dem gebärenden Weibe, von dem lebendigen Wasser. Ja,<br />
seine ganze Logoslehre ruht auf der Schrift, an die er <strong>über</strong>all erinnert, <strong>und</strong> deren Erfüllung in Jesu<br />
eingetreten ist. Alle seine Gr<strong>und</strong>begriffe von δόξα, χάρις καὶ αλή θεια, ζωή sind auf A. T.-Beziehungen<br />
zurückzuführen. Wie bei den übrigen Evangelisten tritt auch ihm Jesus in <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> der Verheißung<br />
<strong>und</strong> Propheten.<br />
3) Der Verfasser tritt <strong>über</strong>all als Augenzeuge auf.<br />
Die Erzählung trägt <strong>über</strong>all <strong>das</strong> Gepräge des Augenzeugen. Die Orts- <strong>und</strong> Zeitangaben<br />
1,29.35.39.44; c. 2,1; 3,2; 4,40.43; 6,22; 7,14.37; 11,6-9.17; 12,1.12; 20,19.26; 21,4 sind sehr genau,<br />
oft ist sogar Tag <strong>und</strong> St<strong>und</strong>e angegeben – <strong>und</strong> <strong>das</strong> in so ungezwungener Weise, <strong>das</strong>s man ganz<br />
denjenigen erkennt, der eigne Erlebnisse mit Liebe <strong>und</strong> in treu gepflegter Erinnerung wiedergibt.<br />
Auf früher Dagewesenes wird zurückgewiesen 4,54; 6,23.71; 7,50; 10,40; 18,9.14.26; 19,39;<br />
21,14.20. Zu 11,2 cf. 12,2 ff. Kurze Erläuterungen werden oftmals beigefügt, als c. 1,38.42.49;<br />
2,6.9.21.24; 3,19-21 etc. etc.; in der Lebendigkeit der Darstellung ist häufig <strong>das</strong> historische Präsens<br />
gebraucht. Die Personen sind fein <strong>und</strong> kurz beschrieben 11,5; 12,19; 18,10; 7,25; die Sitten 2,6; 4,9;<br />
18,39; 19,31; die Gebärden <strong>und</strong> Affekten 18,6.10; 11,35. Bei der gewaltigsten Rede ist oft mit einem<br />
Mal ein Übergang <strong>und</strong> Schluss gebildet, wie ihn nur die Erzählung des im Leben wirklich so<br />
Vorgegangenen geben kann, c. 7,53; c. 8,59; c. 14,31. Einzelne Gespräche sind ganz dem engen<br />
Kreise der Jünger entnommen; andere, wie z. B. <strong>das</strong> Gespräch mit Nikodemus, mit der Samariterin,<br />
konnte nur der Herr selbst den Jüngern nachher erzählt haben. Das hohepriesterliche Gebet c. 17<br />
konnte nur einer der 3 Jünger, die Jesus mit sich genommen in Gethsemane, vernommen haben.<br />
Einzelne Situationen, als die Beschreibung der Hochzeit zu Kana c. 2, die Samariterin am Brunnen,<br />
die Geschichte des Lazarus u. A., haben den zartesten Reiz der Anschaulichkeit. Der Leser fühlt<br />
sich – wie kurz <strong>und</strong> skizziert die Erzählung auch sei, doch so mittenhinein versetzt, <strong>das</strong>s man<br />
gleichsam die Jünger neben dem Herrn wandeln sieht. Weisse <strong>und</strong> nach ihm Schenkel hatten die
I. Innere Merkmale der Echtheit. 37<br />
eben nicht scharfsinnige Hypothese aufgestellt, wie Matth. nach Papias ausdrücklich τὰ λόγια τοῦ<br />
κυρίου gesammelt haben solle – so möchte Joh. selbst wohl nur die Reden zusammengestellt, <strong>und</strong><br />
ein Anderer den historischen Rahmen dazu gegeben haben. Schweizer macht gegen die Teilungshypothesen<br />
mit <strong>Recht</strong> auf den engen Zusammenhang aufmerksam, worin immer die Geschichte, <strong>das</strong><br />
damit verb<strong>und</strong>ene Gespräch <strong>und</strong> die daran sich anknüpfende Rede untereinander stehen. Nikodemus<br />
war bei Nacht gekommen – wie fein schließt <strong>das</strong> Gespräch damit, <strong>das</strong>s die Welt an <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> nicht<br />
kommen wolle. Mit der Samariterin unterhielt sich der Herr <strong>über</strong> einen Trunk, einen Quell lebendigen<br />
Wassers; mit den Jüngern, die Speise geholt hatten, <strong>über</strong> die rechte Speise. An <strong>das</strong> W<strong>und</strong>er der<br />
Speisung der 4000 knüpft er c. 6 <strong>das</strong> Gespräch <strong>über</strong> <strong>das</strong> wahrhaftige Brot, vom Himmel gekommen<br />
etc. Darin liegt zugleich eine Erklärung, wie der Apostel lange Gespräche habe im Gedächtnis behalten<br />
können. Die Gespräche knüpften sich ganz natürlich an Orte, an Begebenheiten, an Fragen;<br />
sehr markiert treten die einzelnen Fingerzeige hervor, woran sich der Faden fortspinnt, <strong>und</strong> die genauere<br />
Erklärung zeigt, in wie festem Zusammenhalt die Gespräche stehen, wie eins zum andern<br />
drängt <strong>und</strong> im Schluss seine Spitze findet. Wie gewissenhaft sich Joh. an die eignen Worte Christi<br />
gehalten, zeigt auch die völlige Übereinstimmung mancher Stellen mit Matth., z. B. Joh. 2,19 cf.<br />
Mt. 26,61; Joh. 12,8 mit Mt. 26,11; Joh. 12,25 <strong>und</strong> 13,20 mit Mt. 10,39.40. Führt man beide Aussprüche<br />
auf den ursprünglichen hebräischen Ausdruck zurück, so ist die Übereinstimmung vollständig.<br />
Oftmals führt er auch Christi Worte an, fügt aber eine Erläuterung hinzu: 2,19; 6,70; 7,37 etc.<br />
Was aber wichtiger ist, denn Alles dieses: Dem aufmerksamen Leser macht es sich in jeder Zeile<br />
fühlbar, <strong>das</strong>s der dies Buch geschrieben hat, getrieben gewesen ist vom heiligen Geiste. Menschliche<br />
Worte <strong>und</strong> menschliche Gedanken sind in dem Buche nicht niedergelegt; es ist ein Strom darin<br />
der Liebe, der Gerechtigkeit <strong>und</strong> Wahrheit, der aus Gottes Herzen hervorgequollen. Nicht mit vielen<br />
hohen Worten hat der Apostel seine Bew<strong>und</strong>erung <strong>und</strong> Verehrung gegen den Meister ausgesprochen<br />
– aber eine Liebe, eine Hingabe, ein Eifer alles Ernstes für den Namen des Herrn Jesu spricht so<br />
laut zu dem Leser, <strong>das</strong>s er wohl den Jünger erkennt, der an der Brust des Herrn gelegen. Dieser Eindruck<br />
ist zu mächtig, als <strong>das</strong>s er sich verleugnen ließe. Und bei solchem Eindrucke ist die Untersuchung<br />
von keinem Werte, wie viel Joh. von seiner eigenen Sprach- <strong>und</strong> Empfindungsweise in den<br />
Vortrag Jesu mithineingenommen habe: er ist ein geheiligtes Gefäß, in welches sich der Inhalt der<br />
Wahrheit ergossen hat, <strong>und</strong> <strong>das</strong> auch durch seine Form diese Wahrheit hindurchleuchten lässt. Ganz<br />
gebildet an der Redeweise Jesu, in dem Meister lebend ist er in seinem Worte eine treue Wiedergabe<br />
dessen, was er von diesem gehört – <strong>und</strong> dies in der vollen Macht des Geistes, der in Beiden war. Indem<br />
Christus in ihm wohnt, sein Gemüt in den Erinnerungen der Vergangenheit sich ergeht, hat er<br />
die Freiheit, getragen von solchem Drange, seine Ausdrücke walten zu lassen, die eben so sehr seine<br />
eigenen sind, wie in ihnen die treueste Gemeinschaft <strong>und</strong> Verbindung mit dem Herrn sich k<strong>und</strong>gibt.<br />
Johannes ist ganz der heilige Nachahmer Christi, <strong>und</strong> darin liegt eine freie Geb<strong>und</strong>enheit <strong>und</strong> eine<br />
zarte Freiheit. „Man darf nur insbesondere die letzten Reden Jesu c. 13–17 mit Aufmerksamkeit lesen“<br />
– sagt Wegsch. pag. 130, „<strong>und</strong> man wird unwillkürlich zu dem Geständnisse hingerissen werden:<br />
nur so konnte Jesus geredet, nur so sein Vertrauter Joh. diese Reden aufgefasst <strong>und</strong> wiedergegeben<br />
haben.“ Den Joh. mit seinem tiefen innigen Gemüt strahle jede Zeile zurück – meint Credner.<br />
„Je einfacher <strong>und</strong> natürlicher der Ausdruck“, sagt derselbe, „desto tiefer der Sinn. Die Macht des<br />
scheinbar einfachen Ausdrucks wächst bei längerem Verweilen vor dem Auge des geistigen Beschauers<br />
ins Unendliche; die schlichten Worte sind nur die Pforten zu himmlischer Weisheit.“ Vergl.<br />
die Stellen von Chrysostom., Augustinus bei Tholuck pag. 18, v. Luther, Ernesti, Herder u. A. bei<br />
Lücke § 9 pag. 157. 15 Darin sind alle einverstanden, <strong>das</strong>s bei Joh. von dem Herrn in allem seinem<br />
15 Chrys.: Et profecto hoc maximum est argumentum, nihil ex seipso Joannem locutum, qui ex media barbarie Evangelio<br />
suo universum comprehendit orbem.
38 I. Innere Merkmale der Echtheit.<br />
Reden <strong>und</strong> Tun eine leuchtende, fast blendende Herrlichkeit ausstrahlt; indem man aber gar zu häufig<br />
nur ein dunkles Gefühl davon empfing, ohne einen klaren Blick in diese Herrlichkeit zu tun – so<br />
<strong>über</strong>bot sich manche Lobpreisung in unverstandenen Worten <strong>und</strong> man suchte mit den Ausdrücken<br />
von Dämmerung, von etwas Elegischem, Tiefsinnigem <strong>und</strong> Ahnungsvollem, von einem mystischen<br />
Helldunkel, welches Alles man in dem Evang. fand, sich selbst dem Bekenntnis zu entziehen, <strong>das</strong>s<br />
man in Wahrheit den Evangelisten nicht verstanden. Und gerade dies rief von Seiten Bretschneiders<br />
den Vorwurf hervor einer obscuritas verborum et artificiosa ambiguitas <strong>und</strong> einer sublimitas a humanis<br />
sensibus aliena et frigida animumque magis abigens quam alliciens. So wenig es aber des<br />
<strong>Licht</strong>es eigne Klarheit ändern wird – wenn es in trübem Spiegel trübe aufgefangen ist, so wenig<br />
wird der Exegeten Mystik <strong>und</strong> Sentimentalität dem Apostel selber zur Last gelegt werden können.<br />
Es ist ihm aber wie dem Ezechiel ergangen, <strong>das</strong>s man aus seinen Worten sich ein Lied gemacht hat<br />
<strong>und</strong> allerlei Sirenenstimmen <strong>und</strong> einen Fittich entlehnt, darauf in Sphären unnennbarer <strong>und</strong> dunkler<br />
Gefühle des Unsichtbaren <strong>und</strong> Unendlichen zu schweben, wodurch die Leere des menschlichen<br />
Herzens nimmermehr in Wahrheit ausgefüllt wird.<br />
4) Der Verfasser ist der Apostel Johannes.<br />
Dafür sprechen folgende Gründe: Nur ein Apostel konnte in dieser Freiheit mit dem Stoff der<br />
evangel. Geschichte verfahren, die er genau kennt <strong>und</strong> doch in der selbstständigsten Weise <strong>über</strong> den<br />
Rahmen der synoptischen Einteilung hinaus formt <strong>und</strong> benutzt. Er tritt ganz als Herr des Stoffes<br />
auf, <strong>und</strong> da er neue <strong>und</strong> so gewaltige Dinge erzählt, so konnte er nur ein Apostel sein. Hier ist Einer,<br />
der steht mitten drin in dem Fluss der evangelischen Geschichte <strong>und</strong> schöpft unabhängig aus demselben,<br />
wohl wissend, welche Fülle ihm noch zu Gebote steht. Das war kein anderer als Joh., der<br />
Jünger, welchen Jesus liebte. Als „der andere Jüngere“ (c. 20) ist er mit dem Ungenannten c. 1,40<br />
ein <strong>und</strong> derselbe. Jeder Andere als der Apostel würde den Täufer Joh. mit dem Beinamen βαπτιστής<br />
unterschieden haben, aber weil er sonst keinen Joh. nennt, war dies nicht nötig. Die gleichnamigen<br />
Ju<strong>das</strong> sind durch einen Zusatz näher bezeichnet – Joh. der Täufer ist 20mal ohne solchen erwähnt.<br />
Jakobus, seinen Bruder, hat Joh. nicht erwähnt, auch nicht die Mutter Salome; denn er war nicht<br />
darauf bedacht, sich <strong>und</strong> den Seinigen einen Denkstein zu setzen. Wie aber Joh. besonders mit Petrus<br />
verb<strong>und</strong>en erscheint, so ist dieser besonders häufig, 33mal, genannt – mit dem Namen Πέτρος,<br />
ebenso oft aber Σίμων Πέτρος. Joh. hielt den alten Namen des ihm so genau bekannten Petrus auch<br />
gerne fest. Besonders ist aber zu beachten, wie so ganz gemäß der Wahrheit Joh. von sich <strong>und</strong> den<br />
übrigen Jüngern berichtet. Niemand würde gewagt haben, die in den Gemeinen so hoch gestellten<br />
Apostel so menschlich, so töricht darzustellen, <strong>und</strong> nur die völlige Liebe der Wahrheit konnte Jemand<br />
es möglich machen, neben dem Herrn sich selbst so bloßzustellen <strong>und</strong> in dem <strong>Licht</strong>glanz,<br />
welcher <strong>über</strong>all die Person Jesu umgibt, die eigene Person in einen unerträglichen Schatten der Demütigung<br />
zu verweisen. Womit auch ganz <strong>das</strong> törichte Benehmen der Donnerskinder bei den Synoptikern<br />
harmoniert. Der neuerdings von Baur <strong>und</strong> Keim gegen die johanneische Urheberschaft des<br />
Evang. erhobene Einwarf, <strong>das</strong>s Joh. im Galaterbrief, in der Offenbarung einem beschränkten judenchristlichen<br />
Wesen zugeneigt sei, während im Evang. die Weltreligion verkündet wird, ruht auf dem<br />
Schablonismus der Tübinger Schule. Die Offenbarung steht in demselben scharfen Gegensatz gegen<br />
Jerusalem wie <strong>das</strong> Evang., denn die Hure ist dort <strong>das</strong> sichtbare Jerusalem, während auch im Evang.<br />
<strong>das</strong> Heil von den Juden kommt, <strong>und</strong> auch dort Christus zunächst nur für die Juden gesandt ist.
II. Zeit <strong>und</strong> Ort der Abfassung. 39<br />
II. Zeit <strong>und</strong> Ort der Abfassung.<br />
Irenäus sagt, <strong>das</strong> Evang. sei später als die andern in Ephesus vom Apostel geschrieben. Ebenso<br />
Clem. Alex., Origenes, Hieron. u. A. Auch die syrische Übersetzung gibt Ephesus an (Chrys.<br />
Theod. Mops. u. A.). Bei Theophylact, Pseudo-Hippolytus dagegen heißt es, auf Patmos sei <strong>das</strong><br />
Evang. geschrieben. In manchen Handschriften wird die Unterschrift gef<strong>und</strong>en: ἐγράφη ἑλληνιστὶ<br />
εἰς Ἒφεσον μετὰ ἔτη λ τῆς ἀναλήψεως τοῦ κυρίου. Von Späteren dagegen als Epiphanius wird die<br />
Abfassung in sehr späte Zeit, <strong>das</strong> 90. Lebensjahr des Apostels, gesetzt. Auch die neueren Theologen<br />
weichen in ihren Ansichten sehr von einander ab. Zuerst was die Zeit betrifft, so hat offenbar Jerusalem<br />
noch bestanden, cf. c. 5,2. ἔστι ἐν Ἱεροσολύμος. Sodann setzen der 1. Brief Joh. c. 1,1 ff. <strong>und</strong><br />
die Apokalypse die Abfassung des Evang. voraus. Denn diese ist <strong>das</strong> große Abschiedswort des Apostels<br />
an die Gemeinen, sein Testament, <strong>und</strong> <strong>das</strong> hebräische Kolorit ein so freiwillig gewähltes, <strong>das</strong>s<br />
es <strong>das</strong> reinere Griechisch des Evang. nicht ausschließt. Da nun aus c. 21 nicht unwahrscheinlich zu<br />
schließen, <strong>das</strong>s Petrus bereits gestorben, wie denn auch Iren. nach des Petrus <strong>und</strong> Paulus Tode <strong>das</strong><br />
Evang. geschrieben sein lässt – so können wir die Zeit mit ziemlicher Sicherheit bestimmen. Denn<br />
wenn die Apokalypse spätestens 68 geschrieben – so mag <strong>das</strong> Evang. zwischen 64 <strong>und</strong> 68 verfasst<br />
sein; <strong>das</strong> traditionelle Datum des Todes Petri im Jahr 67 unter Nero ist nicht so verbürgt, <strong>das</strong>s wir<br />
darauf bauen könnten. Um diese Zeit nun war Joh. schwerlich in Jerusalem; ehe er nach Patmos<br />
verbannt wurde, muss er sich auch wohl in Klein-Asien bef<strong>und</strong>en haben – so <strong>das</strong>s es also allerdings<br />
leicht zu vermuten ist, dort habe er <strong>das</strong> Evang. geschrieben. Wenigstens ist auf Leser Rücksicht genommen,<br />
die der Apostel mit den Lokalitäten Palästinas <strong>und</strong> Jerusalems bekannt zu machen für nötig<br />
erachtet, 1,39.41; 2,6; 4,4.6 etc. Sonach kann die in vielen Handschriften sich befindliche Glosse<br />
wohl richtig sein, <strong>das</strong> Evang. sei 30 Jahre nach der Himmelfahrt in Ephesus geschrieben. Theophylact<br />
prooem. in Jo. (auf Patmos).<br />
III. Zweck des Apostels bei der Abfassung.<br />
Man hat gemeiniglich dem Apostel die Gedanken beigelegt, die man selbst aus dem Evang.<br />
glaubte zu entnehmen; wie die Exegeten manchmal nur einzelne Stellen auslegten oder anwandten,<br />
<strong>das</strong> sollte die Absicht des Joh. gewesen sein.<br />
1) Die Hypothese, Joh. habe die andern Evangg. ergänzen wollen (schon bei Euseb. III, 24, dann<br />
neuerdings Weizsäcker, Ewald, Hengstb., Godet u. A.), erweist sich auf den ersten Blick als irrig;<br />
Joh. erzählt Vieles, was auch die anderen Evangg. haben, <strong>und</strong> des Euseb. Meinung, Joh. habe aus<br />
der Zeit vor des Täufers Gefangennehmung die Geschichte nachgeholt, ist ganz fehlgegriffen. Joh.<br />
setzt die Bekanntschaft der synoptischen Berichte voraus, aber will diese weder ergänzen noch berichtigen:<br />
ein historisch gelehrter Zweck, der ihm ganz ferne liegt.<br />
2) Die andere Ansicht eines polemischen Zweckes gegen die Leugner der Gottheit Christi mochte<br />
sich dem Irenäus <strong>und</strong> andern Apologeten (Ebrard, Ewald, Godet u. A.) sehr empfehlen. So gewiss<br />
aber <strong>das</strong> Evang. Waffen <strong>und</strong> Wahrheiten an die Hand gibt gegen tausenderlei Irrtum <strong>und</strong> Abkehr, so<br />
sicher hat doch Joh. eben so wenig gegen Ebioniten, Gnostiker etc., welche zu seiner Zeit gar nicht<br />
bestanden, sein Evang. geschrieben, als Paulus im Römerbrief etwa die Pelagianer oder <strong>das</strong> concil.<br />
Tridentinum möchte bekämpft haben. Die Behauptung aber, der Apostel habe gegen die Joh.-Jünger<br />
geschrieben, welche von Grotius <strong>und</strong> den Socinianern Schlichting <strong>und</strong> Wolsogen vorgebracht, sodann<br />
mit sehr wichtiger Miene von Herder <strong>und</strong> Norberg erneuert wurde, ist ohne Weiteres zu verwerfen.<br />
Man mühte sich ab, unter allen zu Ende des Saec. 1 namhaft gemachten Häretikern diejenigen<br />
herauszusuchen, gegen welche Joh. möge geschrieben haben. Hilgenf. <strong>und</strong> Volkmann haben<br />
später Beziehungen auf die Valentinische Äonenlehre <strong>und</strong> die Marcionitische Gnosis finden wollen.
40 III. Zweck des Apostels bei der Abfassung.<br />
3) Am nachteiligsten aber ist des Clem. Alex. <strong>und</strong> des Euseb. Vorgeben gewesen, die andern<br />
Evangelisten hätten ein fleischliches, Joh. aber aus Antrieb des Geistes ein pneumatisches Evang.<br />
geschrieben; ähnlich hat auch Lücke behauptet, die ersten Evangg. seien vom Standpunkte der<br />
πίστις, <strong>das</strong> 4. von dem der γνῶσις geschrieben. So auch neuerdings Weiss: Der Inhalt des gemeinsamen<br />
Glaubens ist auf einen höheren universelleren Grad der uranfänglichen γνῶσις seines Wesens<br />
gebracht, obwohl <strong>das</strong> ganze Evang. von Anfang bis zu Ende auf nichts anderes als gerade <strong>und</strong> immer<br />
wieder den Glauben dringt. Diese Ansicht der Alexandriner beruhte aber auf ihrer Exegese, wonach<br />
sie namentlich in dem Prolog des Joh. die philonische Logos-Lehre zu finden <strong>und</strong> demgemäß<br />
für ihre bodenlose Gnosis <strong>und</strong> Spekulation hier eine biblische Autorität zu besitzen wähnten. Gerade<br />
aber diese Behandlung des Evang., <strong>das</strong>s man auch unter den Aposteln einen Gnostiker sich dachte,<br />
der nicht so sehr an die reale <strong>und</strong> historische Erscheinung Christi sich gehalten, als vielmehr dar<strong>über</strong><br />
spekuliert <strong>und</strong> in Christo die Inkarnation der göttlichen Vernunft <strong>und</strong> Weisheit nach philonischen<br />
Begriffen gelehrt habe – grade diese Exegese hat im Gr<strong>und</strong>e alle Angriffe gegen die Echtheit<br />
hervorgerufen <strong>und</strong> ihnen einen Schein des <strong>Recht</strong>s gegeben. Diese Exegese hat endlich den Weg gebahnt<br />
zu der Kritik <strong>und</strong> Auslegung der evang. Geschichte, wie sie von der Baurschen Schule geübt<br />
wird – von der nachgerade der Apostel ebenso wie ein Gnostiker behandelt wird, welcher seine Ideen<br />
einer Erscheinung der göttlichen Urkraft auf Erden, einer dadurch geschehenen Erlösung der<br />
pneumat. Menschen <strong>und</strong> eines Kampfes des <strong>Licht</strong>s mit der Finsternis in <strong>das</strong> Gewand der Historie<br />
gekleidet hätte. Baur: Was ihm in den Ideen als gewiss stand – <strong>das</strong> dachte er sich auch gleich als<br />
Geschichte. Wenn aber der Apostel <strong>das</strong> Leben <strong>und</strong> Sterben des Sohnes Gottes in der Absicht geschrieben<br />
hätte, um daran den Kampf der Finsternis gegen <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> etwa mit dramatischer Kunst<br />
zu schildern, so müsste er eigentlich ein Anhänger der Lehre Zoroasters gewesen sein. –<br />
Den einzig richtigen Weg, um den Zweck des Apostels bei Abfassung des Evang. zu erkennen,<br />
schlägt Lampe ein, indem er von den klaren Worten Joh. selbst ausgeht. Joh. 20,30.31 zu vgl. C.<br />
21,25. Hier heißt es zuerst:<br />
1) Πολλὰ μὲν οὖν καὶ ἄλλα σημεῖα ἐποίησεν ὁ Ἰησοῦς ἐνώπιον τῶν μαθητῶν αὑτοῦ etc. Joh. redet<br />
also von den σημείοις, die Jesus getan vor seinen Jüngern. Damit nun ist zuerst die Meinung abgelehnt,<br />
als habe der Evangelist ein Leben Jesu schreiben <strong>und</strong> Joh. insbesondere auch von Jesu Geburt,<br />
den einzelnen App. etc. berichten müssen. Ja nicht einmal die Haupt- <strong>und</strong> Wendepunkte des<br />
Tuns, Leidens <strong>und</strong> Geschehens Christi hat der Evangelist aufzeichnen wollen – sondern er hat<br />
σημεῖα geschrieben. Die Taufe Christi z. B., die Einsetzung des Abendmahls, die Himmelfahrt –<br />
angedeutet, vorausgesetzt sind sie – durchaus aber nicht ex officio behandelt. Über die Bedeutung<br />
des Wortes σημεῖα belehrt uns <strong>das</strong> Evangelium selbst. Das Wort bezieht sich offenbar nicht bloß auf<br />
die in den letzten capp. erzählten Erscheinungen Christi nach der Auferstehung – sondern auf den<br />
Inhalt des ganzen Buches, cf. c. 21,25. So richtig unter den <strong>Neue</strong>ren de Wette, Meyer. Gerade <strong>das</strong><br />
Wort σημεῖον zieht sich durch <strong>das</strong> ganze Evang. in den verschiedensten Verbindungen hindurch Joh.<br />
2,11.18.23; 3,2; 4,48.54; 6,2.14.26.30; 7,31; 9,16; 10,41; 11,47; 12,18.37. Nicht allein die W<strong>und</strong>er<br />
Jesu – sondern <strong>das</strong> ganze Tun <strong>und</strong> Werk, alles was er zugleich tat <strong>und</strong> lehrte – wird den Juden gegen<strong>über</strong><br />
σημεῖα genannt; eben <strong>das</strong>selbe, was der Herr selbst in den späteren capp. vor seinen Jüngern<br />
auch c. 7 wohl ἔργα nennt. In der Tat finden sich gewöhnlich bei Joh. die Reden an ein W<strong>und</strong>er<br />
angeknüpft <strong>und</strong> zwar grade sofern es ein σημεῖον dessen ist, was Jesus war <strong>und</strong> gewährte, sofern es<br />
ein Zeichen dieser δόξα ist. Joh. hat demnach solche Dinge aus dem Tun des Herrn aufzeichnen<br />
wollen woran deutlich erkannt werden könne, was man an ihm habe.<br />
Indem Joh. sagt, Jesus habe viele <strong>und</strong> andere Zeichen getan, die in diesem Buche nicht geschrieben<br />
seien – gibt er selbst zu verstehen, <strong>das</strong>s er nur eine sehr kleine Auswahl getroffen (der Quantität
III. Zweck des Apostels bei der Abfassung. 41<br />
nach) <strong>und</strong> von einer besonderen Art (der Qualität nach). Wie mag man also dem Apostel aufbürden,<br />
er habe Alles erzählen müssen – <strong>und</strong> wovon er schweige, <strong>das</strong> müsse fraglich erscheinen. Voraussetzung<br />
vieler W<strong>und</strong>er c. 2,23; 3,2; 4,48; 5,20.36; 6,2.14.26; 7,3.21; 9,3.4.16; 10,21.25; 11,47; 14,10;<br />
15,24.<br />
2) Joh. gibt weiter ganz genau auch den Zweck an, wovon er in der Auswahl <strong>und</strong> Behandlung der<br />
σημεῖα geleitet worden. Er schreibt nicht: damit ihr an Christum glaubet – sondern: <strong>das</strong>s ihr glaubet,<br />
<strong>das</strong>s Jesus ist der Christ, der Sohn Gottes <strong>und</strong> <strong>das</strong>s ihr glaubend Leben habet in seinem Namen.<br />
Glaube ist aller apostolischen Predigt Anfang <strong>und</strong> Ende; die andern Evangelisten haben geschrieben,<br />
um zum Glauben an Christum zu bekehren, Joh., um in dem Glauben zu befestigen zur Ausharrung<br />
bis ans Ende. Auch hier nun passt der nähere Nachweis, wie die σημεῖα immer erzählt sind mit<br />
Bezug auf den Glauben; <strong>über</strong>all handelt es sich darum, wie Christi Tun Glauben hervorgerufen zuerst<br />
bei den Jüngern c. 2,11.22, bei dem Volk V. 23. Wie es aber mit dem Glauben des Volkes beschaffen<br />
gewesen c. 3,18.36 – <strong>und</strong> worin der Gr<strong>und</strong> liege, wenn der Glaube nicht hervortrete. Deshalb<br />
aber auch von Anfang an der Glaube, <strong>das</strong>s Jesus der Christ, der υἱὸς τοῦ θεοῦ, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s in diesem<br />
Glauben <strong>das</strong> Leben ist, die ζωὴ αἰώνιος. So gleich wieder c. 4, wie Christus Glauben gef<strong>und</strong>en<br />
bei der Samariterin <strong>und</strong> den Bewohnern der Stadt V. 40-42. Wiederum weiter die Erklärung, warum<br />
aber in seinem Vaterlande Christus nicht Glauben gef<strong>und</strong>en V. 43 – abermals vom Glauben V. 48<br />
<strong>und</strong> 53. So legt Joh. geflissentlich immer solche Geschichten seinen Lesern vor, in denen Jesus sich<br />
als den σωτήρ, als den χριστός, als den υἱὸς θεοῦ bewährt, aller Not abhilft, für alle Bedürfnisse des<br />
Leibes <strong>und</strong> Geistes den einzigen gewissen Rat <strong>und</strong> die wahrhaftige Hilfe bietet <strong>und</strong> Alles dieses mit<br />
ausführlicher <strong>und</strong> klarer Darlegung der Aufnahme: welche es waren, die geglaubt <strong>und</strong> warum sie<br />
geglaubt <strong>und</strong> wiederum welche nicht geglaubt <strong>und</strong> Anstoß genommen Während sich nun der Widerspruch<br />
der Juden immer mehr steigert gegen <strong>das</strong> Heil, welches Jesus dem Volke bringt – so führt es<br />
sodann weiter Joh. c. 6–12 aus, welchen Widerspruch er von den Sündern erlitten c. 12,4 <strong>und</strong> wie er<br />
trotz Widerspruch, trotz Unglauben <strong>und</strong> Verkennung, trotz allem Widerspiel des Sichtbaren <strong>das</strong> von<br />
Gott in <strong>und</strong> durch ihn gesandte <strong>und</strong> wahrhaftige Heil behauptet <strong>und</strong> durchgehalten habe. Insofern<br />
verfolgt <strong>das</strong> Evang. ein ähnliches Schema, wie in den Psalmen 105 ff. die Geschichte der Erweisungen<br />
Gottes an Israel durchgenommen wird zu dem Erweis der göttlichen Gnade <strong>und</strong> Wahrheit gegen<strong>über</strong><br />
dem Unglauben <strong>und</strong> Widerspruch der Kinder Israels, welche, im Sichtbaren mit ihren Sinnen<br />
befangen, nur in der Not, aber nicht im Herzen an die σημεῖα Gottes geglaubt cf. Hebr. 12,1-3.<br />
Diese σημεῖα sind nicht von dem Worte zu trennen, oder etwa nur Anlässe zu den Reden, zu dem<br />
etwa bedeutenderen Selbstzeugnis Jesu <strong>über</strong> seine Person, sondern sie sind gleichwertige Zeugnisse<br />
mit dem Worte. Worte <strong>und</strong> Werke sind eins: beide aus Gott, der in denselben in Mitten seines Volkes<br />
in dem Sohne aufgetreten ist.<br />
IV. Der Leserkreis.<br />
Wie seltsam auch die Angaben der Tradition klingen bei Hieron. („Ioannes novissimus omnium<br />
scripsit Evangelium rogatus ab Asiae episcopis“), bei Clemens Alex. (Euseb. VI, 14), im Fragment<br />
des Muratori etc. – so geht doch dieses daraus hervor, <strong>das</strong>s man <strong>das</strong> Evang. als für die Jünger, für<br />
schon gläubig Gewordene geschrieben ansah. Die drei ersten Evangelisten richten sich an alles Volk<br />
<strong>und</strong> Geschlecht der Menschen <strong>und</strong> Heilsbedürftigen, zum Glauben an Christum zu bekehren – aber<br />
Joh. schreibt für die Gemeinde, <strong>das</strong>s sie trotz des Widerspruches der Juden <strong>und</strong> des in ihnen sich offenbarenden<br />
allgemeinen Unglaubens <strong>und</strong> Widerchristentums, auch des in der Gemeinde selbst auftretenden,<br />
Lehre <strong>und</strong> Liebe zerstörenden, (denn dies war eben auch von Juden in die Gemeinde hineingetragen<br />
<strong>und</strong> hatte in diesen die Wirkung gehabt einen Scheinchristus wider den wahren Christus<br />
aufzustellen) – im Glauben Christi beharre. Nun ist es doch offenbar, <strong>das</strong>s Christus selbst ganz an-
42 IV. Der Leserkreis.<br />
ders vor dem Volk – anders zu den Pharisäern <strong>und</strong> wiederum anders zu den Jüngern gesprochen.<br />
Deshalb stellen also die Synoptiker Jesum dar mitten unter dem Volk – deshalb in Galiläa, unter den<br />
Zöllnern <strong>und</strong> Sündern; teilen die Reden <strong>und</strong> Parabeln mit, welche vor dem Volk gehalten sind – <strong>und</strong><br />
deren Auslegung vor den Jüngern. Es handelt sich bei ihnen um μετάνοια; deshalb <strong>über</strong>all von der<br />
βασιλεία τῶν οὐρανῶν, welche hier auf Erden inmitten menschlichen irdischen Elends gekommen<br />
sei. Matth. stellt Jesum dar von Seiten seiner königlichen prophetischen Größe als den βασιλεύς τοῦ<br />
Ἰσραήλ, als den großen διδάσκαλος, welcher Macht hat dessen, was er predigt (Mt. 7,29) als den,<br />
von dem Beides Gnade <strong>und</strong> Gericht ausgeht in Israel. Lukas hat <strong>über</strong>all die hohenpriesterliche Stellung<br />
im Auge; bei Markus steht im Vordergr<strong>und</strong> die Realität der Menschheit. Sie alle aber wollen<br />
zum Glauben an Christum bekehren <strong>und</strong> stellen ihn deshalb ganz nach seiner Person vor Augen, wie<br />
er gelehrt <strong>und</strong> gewandelt hat von seinem Auftreten in Galiläa bis zur Himmelfahrt. Gleichwie nun<br />
alle Wahrheit nach Gottes Ordnung beruht auf 2 oder dreier Zeugen M<strong>und</strong>e, so ist dies Evang. Angesichts<br />
der ganzen Welt ein dreifaltiges. –<br />
Ganz anders Johannes. Das dreifache Zeugnis hat Glauben gef<strong>und</strong>en; in der Gemeinde ist Christus<br />
verherrlicht. Es handelt sich darum, <strong>das</strong>s man, wie man Christum angenommen hat, so nun auch<br />
in ihm bleibe. Was aber <strong>das</strong> Bleiben in Christo bedeute, sagt Joh. deutlich. Es ist hier der 1. Brief zu<br />
vergleichen. Das <strong>Licht</strong> scheinet schon – sagt Joh.; ihr habt Christum erkannt c. 2,3.8.21. Die Kraft<br />
<strong>und</strong> Bedeutung des Wortes ist ein Gr<strong>und</strong>thema des Evangeliums 16 . Wer nun sein Wort bewahrt, der<br />
bleibet in ihm. c. 2,5 v. 24 „Ihr nun – was ihr gehört habt von Anfang – <strong>das</strong> bleibe in euch; wenn es<br />
in euch bleiben wird, was ihr von Anfang gehört habt, so werdet auch ihr in dem Sohne <strong>und</strong> dem<br />
Vater bleiben.“ Also <strong>das</strong> Wort ist es, worin sie bleiben sollen. So predigt also Joh. Christum als <strong>das</strong><br />
Wort, welches von Ewigkeit ist, wodurch Alles geschaffen ist, welches Gott als seinen υἱὸν<br />
μονογενῆ in die Welt gesandt. Das Wort ist aber λόγος τῆς ζωῆς – deshalb gerade solche σημεῖα bei<br />
Joh., welche auf Leben Bezug haben; von dem Wasser, wonach man nicht mehr dürstet c. 4, von<br />
Herstellung der Ges<strong>und</strong>heit an dem der 38 Jahre krank gelegen c. 5, von dem Brote, welches unter<br />
die 5000 verteilt, Alle satt macht <strong>und</strong> Brocken genug übrig lässt c. 6 – von der rechten Speise <strong>und</strong><br />
dem rechten Trank, von dem Brote, <strong>das</strong> vom Himmel gekommen ist <strong>und</strong> ins ewige Leben nährt.<br />
Dass aber diese Gabe zum Gericht ward dem, der nicht glaubt – stellt sich an dem ges<strong>und</strong> Gewordenen<br />
c. 5, an den Juden c. 6 heraus: Denn nur wo wahres Bedürfnis ist, findet diese Gabe Eingang.<br />
Denn <strong>das</strong> Wort ist ein Wort πλήρης χάριτος, welches Sünden vergibt c. 8, welches von der ἁμαρτία<br />
frei macht c. 8,30 ff. Es ist τὸ φῶς τοῦ κόσμου, was die Blinden sehend macht – deshalb c. 9 die<br />
Heilung des Blindgebornen, aber zur γινώσκειν wird denen, die sich für erleuchtet halten. Dieses<br />
Wort ist <strong>das</strong> Wort des Hirten, welches die Schafe hören c. 10 – es ist endlich <strong>das</strong> Wort, welches Lazarum<br />
aus dem Grabe, den Toten ins Leben ruft c. 11. So siegt <strong>das</strong> Wort durch allen Widerspruch<br />
des Sichtbaren hindurch als <strong>das</strong> Leben <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> der Menschen. – Dem Worte steht zur Seite<br />
die μαρτυρία – deshalb gleich zu Anfang <strong>das</strong> Zeugnis Joh. c. 1. c 3, deshalb ἡ μαρτυρία τῶν ἔργων<br />
– <strong>und</strong> die μαρτυρία, welche der Vater zeugt c. 8,10 ff. – Endlich <strong>das</strong> Wort sucht Verständnis, sucht<br />
Glauben, sucht Erkenntnis; deshalb <strong>über</strong>all <strong>das</strong> γίνωσκειν – deshalb der παράκλητος, der die Worte<br />
wieder ins Gedächtnis bringen <strong>und</strong> lebendig machen wird. So <strong>über</strong>all in jedem einzelnen Zuge der<br />
Logos. Christus selbst nichts als <strong>das</strong> im Kampfe der Zeit sich behauptende, weil ewige Wort.<br />
Der Apostel schrieb für die Gemeinde, welche zur Befestigung zugleich des Trostes bedurfte.<br />
Denn die Verfolgung war ohne Maß; die Christianer wurden beraubt (Hebr. 10, 32 ff.), verfolgt<br />
(Jak. 1,2), geschmäht (1. Petr. 3. c. 4,15). W<strong>und</strong>ert euch nicht, schreibt Joh. selbst im 1. Briefe,<br />
16 Nichts ist verkehrter als die Ansicht, <strong>das</strong>s die Logoslehre im Evang. nur im Prolog vorwalte; <strong>das</strong> ganze Evang. ist in<br />
jedem Abschnitt davon voll, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Wort, welches die Welt geschaffen, die Gewalt <strong>und</strong> den Sieg behalte.
IV. Der Leserkreis. 43<br />
wenn euch die Welt nicht kennt – denn sie kennt ihn nicht. So hebt Joh. im Evang. an <strong>und</strong> aus dem<br />
Leben des Herrn selbst es hervor – wie Alles in seiner Hand sei <strong>und</strong> er die Welt <strong>über</strong>w<strong>und</strong>en habe c.<br />
16,33, wie es aber der Gemeinde nicht anders gehe in der Welt – als es ihrem Haupte <strong>und</strong> Herrn ergangen.<br />
Die Christen wurden Samariter gescholten – in der Tat, die Samariter haben vor den Juden<br />
geglaubt c. 4. Die Christen wurden aus der Synagoge gestoßen cf. c. 9. Ihnen stand gegen<strong>über</strong> die<br />
Welt <strong>und</strong> <strong>das</strong> Volk der Juden, deshalb auch der Schauplatz hier meist Jerusalem, wo der Herr getötet<br />
ist. Deshalb auch immer sind die Juden genannt, als wenn Christus selbst <strong>und</strong> die Apostel gar nicht<br />
ihnen angehört hätten; denn die völlige Scheidung war eingetreten. Deshalb wird den Juden so ganz<br />
<strong>das</strong> Gesetz nach ihrer Auslegung als ὁ νόμος ὁ ὑμέτερος gelassen – während der Herr den Jüngern<br />
den Verstand der Schrift um so völliger aufdeckt. S. c. 2,13.23. c. 11,55; c. 8,17. Dass dabei Christus<br />
nicht etwa sich selbst oder die Jünger vom A. T. gelöst habe, spricht Joh. so klar aus wie nur<br />
möglich. c. 5,47. c. 2,22. c. 12,16. cf. 16,14. <strong>und</strong> c. 14,26. ferner c. 19,24. c. 20,9. Deshalb die<br />
scharfe Scheidung im Evangel. c. 6–12: Jesus im Kampf gegen die Juden; c. 13–17: Jesus unter seinen<br />
Jüngern. Je mächtiger der Widerstand <strong>und</strong> die Verkennung – um so gewaltiger breitet sich des<br />
Herrn Liebe <strong>und</strong> Herrlichkeit <strong>und</strong> Trost <strong>über</strong> die Seinen her <strong>und</strong> er selbst <strong>über</strong>nimmt’s <strong>und</strong> führt’s<br />
beim Vater durch, <strong>das</strong>s auch sie <strong>über</strong>winden. Dass es auch ja nicht im Worte etwa liege, wenn es<br />
nicht Glauben findet – so wird seine <strong>über</strong>zeugende Kraft <strong>und</strong> Gewissheit <strong>über</strong>all hervorgehoben,<br />
aber die Gründe aufgedeckt, warum <strong>das</strong> Volk <strong>und</strong> seine Obersten um so mehr sich erbitterten. c.<br />
3,19. 5,44. 6,44.64. 12,37. Die Macht der Welt <strong>und</strong> des Fürsten dieser Welt wird entschleiert in aller<br />
ihrer Gewalt, Kunst <strong>und</strong> Art. Aber Jesus zagt nicht, er lässt sich Keinen rauben – <strong>und</strong> wenn auch getötet,<br />
dennoch es wird ihm kein Bein gebrochen: c. 19,35 f. Auch die Juden hatten keine Macht <strong>über</strong><br />
den Herrn, bis seine St<strong>und</strong>e gekommen war – auch Pilatus nicht, wäre sie ihm nicht gegeben 19,11<br />
– aber am Kreuz heißt es τετέλεσται 19,30. Kaiphas, da er <strong>das</strong> Todesurteil spricht, tut es doch nur,<br />
weil er der Hohenpriester war; in dem gewaltigsten Kontrast des Sichtbaren grade da behauptet sich<br />
Gottes eigne Veranstaltung <strong>und</strong> Tat: c. 11,51. Es findet sich der stärkste Gegensatz zwischen Hoheit<br />
<strong>und</strong> Niedrigkeit, göttlicher Höhe <strong>und</strong> menschlicher Tiefe. Aus der Höhe 1. Joh. 1,1.2. Evang. 1,1;<br />
8,58; 10,30; 14,9; 20,28; Apok. 1,17; aus der Tiefe: <strong>das</strong> Wort ward Fleisch 1,14; 8,48. Unaufhörlich<br />
ist die Hand der Menschen gegen Christus erhoben, ihn zu greifen, ihn zu steinigen: c. 7,1.32.44;<br />
8,20.48.59. Unglaube von allen Seiten, Abfall der Glaubenden, Hass des Volkes <strong>und</strong> der Oberen,<br />
Unverstand der eignen Jünger – aber ein um so unbeschreiblicherer Glanz von Herrlichkeit umgibt<br />
Christum selbst, den Alleingeborenen vom Vater, in Allem, was er leidet, was er tut <strong>und</strong> was er<br />
spricht. Für die Leser hat Joh. den Spruch: μακάριοι οἱ μὴ καὶ πιστεύσαντες 20,29; für sich selbst c.<br />
21,23 die Hoffnung auf des Herrn Zukunft. Und wie Johannes begonnen mit dem Worte: θεὸς ἦν ὁ<br />
λόγος, so schließt er mit des Thomas Ausruf: ὁ κύριός μου καὶ ὁ θεός μου. c. 20,28.<br />
V. Die sprachliche Form.<br />
Schon bei den Synoptikern zeigt es sich deutlich, <strong>das</strong>s Jesus zu andern Menschen, je nach Zeit<br />
<strong>und</strong> Umständen, auch sehr verschieden gesprochen hat. cf. Mt. 12,22 ff.; 22,15 ff.; 23,37. Denn je<br />
nach der Gesinnung, dem Fassungs-Vermögen <strong>und</strong> der Stellung des Menschen ist die Weisheit eine<br />
vielgestaltige, diejenige Weisheit, welche nicht ein Dogma verbreiten, sondern in <strong>das</strong> Innerste des<br />
Menschen eingreifen will. Nach dem Propheten ruht ein siebenfacher Geist auf ihm. Die Christo eigene<br />
Art, in Bild <strong>und</strong> Gleichnis zu lehren, <strong>und</strong> an dem Sinnlichen <strong>und</strong> Irdischen <strong>das</strong> Unsichtbare<br />
wahrnehmbar zu machen – befolgt er bei Joh. auch, denn wir haben auch hier Gleichnisse, kurze<br />
<strong>und</strong> änigmatische Sprüche, schlagende treffende Wortspiele, wie auf der anderen Seite Mt. 12,25 ff.<br />
eine ganz johanneische Stelle sich findet. Ebenso begegnen wir bei den Synoptikern langen Strafreden<br />
<strong>und</strong> scharfen Worten, <strong>und</strong> zeigt sich kein Unterschied in der Behandlung des Volkes. Jesus ist
44 V. Die sprachliche Form.<br />
bei Johannes ein anderer im Gespräch mit Nikodemus <strong>und</strong> der Samariterin als vor dem Volke <strong>und</strong> in<br />
den Abschiedsreden an die Jünger. Dass aber die Person Christi selbst <strong>über</strong>all hervortritt, liegt in der<br />
Gruppierung des Stoffes <strong>und</strong> dem Fortgang der Dinge selbst; die ganze Fülle der Wirksamkeit offenbart<br />
zu guter Letzt einen innersten Kern – die Taten sind hier bei Joh. alle nur σημεῖα dessen,<br />
was der Herr ist. Und dennoch bei Joh. weicht Christus dem so sehr aus, sich als den Messias proklamieren<br />
zu wollen – <strong>das</strong>s er grade davon ablenkend immer die Juden auf seine Werke, seine Taten<br />
<strong>und</strong> Reden hinweist, woran sie erkennen könnten, <strong>das</strong>s sein ganzes Tun <strong>und</strong> Sein lediglich auf des<br />
Volkes eignes Heil gerichtet sei. cf. Mt. 16,20 mit Joh. cf. Mt. 11,25; 25,31 ff.; 22,41 .ff; 26,64;<br />
28,18 etc. – Gerade darin, <strong>das</strong>s Joh. immer nur <strong>das</strong> Eine im Auge hat „<strong>das</strong> Bleiben im Worte trotz<br />
alles Widerspruchs des Sichtbaren“, erhält auch die Sprache <strong>und</strong> Diktion jene Gleichmäßigkeit, die<br />
man gerühmt <strong>und</strong> getadelt hat. Daher zunächst jene simplicitas <strong>und</strong> puritas dictionis, welche bei<br />
Keinem so wie bei Joh. sich findet. Dieser ist die große suavitas zugesellt. Es ist die Durchsichtigkeit<br />
des Kristalls – in der während er selbst ohne Farbe ist, <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> in allem Schmuck der Farben<br />
sich bricht. Der letzte Gr<strong>und</strong> des großen Wohllauts der Rede, den Chrysosth. rühmt, wird zu erkennen<br />
sein in dem Drang der Liebe, welcher in dem vom Frieden Gottes erfüllten Gemüt durch allen<br />
Sturm des Widerspruchs hindurch ermahnende <strong>und</strong> tröstliche Worte ans Herz zu legen nicht müde<br />
wird. Die Monotonie des Joh. ist die der Wahrheit <strong>und</strong> des Trostes, des sich stets gleichbleibenden<br />
Zeugnisses, der immer wieder erneuerten einheitlichen Lehre. Es liegt in ihr eine w<strong>und</strong>erbare Ruhe<br />
<strong>und</strong> Selbstgewissheit, eine unwandelbare Überzeugtheit, <strong>das</strong>s alle seine Worte aus Gott seien.<br />
In Betracht der Satzfügung ist die Rede kurz, abgebrochen; Mittelglieder müssen <strong>über</strong>all ergänzt<br />
werden – summarisch wird Alles referiert. – Mit <strong>Recht</strong> Erasmus: Habet Joannes suum quoddam<br />
dicendi genus, ita sermonem velut ansulis ex sese conhaerentibus contessens: nonnunquam ex<br />
contrariis, nonnunquam ex similibus, nonnunquam ex iisdem subinde repetitis, ut paraphrasis has<br />
orationis delicias capere non possit.<br />
Vergl. Lampe pag. 247-69.<br />
§ 6. Exegetische Literatur.<br />
Origenes, Comment. in ev. Joa. Teile der vielen Tomi dieses Werkes in der Ausgabe von de la<br />
Rue <strong>und</strong> in Band 1 <strong>und</strong> 2 der Ausgabe von Lommatzsch. Hieron. 33 Tomi. Eus. 29.<br />
Chrysosthomus, 87 homiliae. ed. Morelli I-II. Montf. V-VIII.<br />
Theophylact († 1107) Comm. in 4 evv. ed. Venet. Vol. 2.<br />
Catena patrum in ev. Jo. ed. Corderius Antw. 1630 (Theod., Mops., Ammonius, (250) Apollinarius,<br />
Cyrill Alex.)<br />
Augustinus, tractatus 124 in Joh. ed. Antw. T. III. Bened. III. F. II.<br />
Luther, 7. <strong>und</strong> 8. Bd. der Walchschen Aus. Erlanger Ausg. Bd 45. 47. 48-50.<br />
Melanchthon, Enarratio in ev. Joh. Opp. ed. Witeb. IV.<br />
Calvin, Comm. in ev. Joh. Amst. V. VI. Berlin. Ausg. v. Tholuck. 1833. 4. Ausgabe 1864.<br />
Beza, Comm. in N. T. Gen. 1565.<br />
Expositio catholica N. T. Viviari 1605 von Marloratus liefert eine Katene aus Calvin, Mel., Bucer,<br />
Musculus, Brentius.<br />
Der Katholik Maldoratus † 1583. Comm. in 4 evv. Par. 1668.<br />
Grotius, Comm. in N. T. 3 voll.<br />
Lampe, Comm. exegetico-analyticus in ev. Joh. Amst. 1735. 3 Voll.
§ 6. Exegetische Literatur. 45<br />
Baumgarten, Auslegung hrsg. v. Semler 1762, ein äußerst gründliches <strong>und</strong> viel benutztes Werk.<br />
Bengel, Gnomon N. T. 1773.<br />
Carl Christ. Tittmann, Meletemata sacra S. Comm. exegetico-critico-hist. Lips. 1816.<br />
Kuinoel, Comm. in Ev. J. 3. Aufl. 1826.<br />
Lücke, Comm. 3. Aufl. 1840 <strong>und</strong> 1843.<br />
Olshausen, bibl. Commentar. 3. Aufl. 1838; 4. Aufl. revidiert von Ebrard 1862.<br />
Tholuck, Comm. 6. Aufl. 1844. 7. Aufl. 1857.<br />
H. A. W. Meyer, krit.-exeg. Commentar <strong>über</strong> <strong>das</strong> N. T. 5. Aufl. 1869. In 6. Aufl. umgearbeitet von<br />
B. Weiss 1880.<br />
de Wette, kurze Erklärung 2. Ausg. 1839; bearbeitet von Bruno Brückner 1852 <strong>und</strong> 1863.<br />
L. Fr. O. Baumgarten Crusius, Theol. Auslegung der Johann. Schriften 2 Bde. Jena 1844. 45.<br />
E. Luthardt, <strong>das</strong> johanneische Evang. nach seiner Eigenthümlichkeit geschildert <strong>und</strong> erklärt. 2<br />
Thle. Nürnberg 1852. 2. Aufl. 1875 f.<br />
H. Ewald, die Johanneischen Schriften. 1 Bd. 1861.<br />
Bäumlein, Comm. 1863.<br />
E. W. Hengstenberg, Das Evang. des heiligen Joh. erläutert, 3 Bde. Berlin 1861-63.<br />
F. Godet, comment. sur l’évang. de St. Jean 1864. Von der deutschen Übersetzung zweite Ausgabe<br />
von E. R. W<strong>und</strong>erlich 2 Thle. Hannover 1878.<br />
Keil, Comm. Leipzig 1881.<br />
Astié, explication de l’évang. selon St. Jean 1863. Klee (1829), Maier (1843 – 46), Visping (1864<br />
– 66) haben als neuere römisch-katholische Exegeten <strong>das</strong> Evang. Joh. behandelt.<br />
Die Johanneische Theologie ist entworfen von Frommann (Leipzig 1839), Köstlin (Berlin 1843),<br />
Hilgenfeld (Halle 1849), Reuss (1841 u. 1864 in seiner Geschichte der christlichen Theologie im<br />
apostolischen Zeitalter), B. Weiss (Lehrbuch der Theol. des N. T. 3. Aufl. 1880).<br />
_______________
Auslegung.<br />
Εὐαγγέλιον κατὰ Ἰωάννην.<br />
Εὐαγγέλιον cf. Grotius ad Matth. zu Anfang. Das Wort heißt eine gute K<strong>und</strong>e nuntius laetus <strong>und</strong><br />
entspricht dem Hebr. בשר Jes. 52,7. – Die beste Erklärung geben die Worte Lk. 2,10. Christus selbst<br />
predigte τὸ εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας, wie es schon zuvor Joh. baptista ausgerufen. Mt. 4,23 cf. 3,1.<br />
Lk. 3,18. Mt. 9,35. 24,14. Mk. 1,14. Der Apostel-Beruf war: κηρύξατε τὸ εὐαγγέλιον πάσῃ τῆ<br />
κτίσει. Mk. 16,15 cf. Mt. 28,19. Act. 2,36. Christus selbst lässt durch die Apostel die frohe Botschaft<br />
bringen allen Völkern. Eph. 2,17. So ist εὐαγγ. im weitesten Sinne <strong>das</strong> κήρυγμα, ὁ λόγος, ὅν<br />
ἀπέστειλεν ὁ θεὸς εὐγγελιζόμενος εἰρήνην διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ. Paulus nennt es deshalb εὐγγ. τῆς<br />
δόξης τοῦ μακαρίου θεοῦ 1. Tim. 1,11. – περὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ Röm. 1,3 – <strong>und</strong> seiner Beschaffenheit<br />
nach τῆς σωτηρίας Eph. 1,13 εἰρήνης Eph. 6,15, χάριτος Act. 20,24. cf. Tit. 1,1-3. Kol. 1,5. Da dies<br />
Evang. in den prophetischen Schriften des A. T. enthalten <strong>und</strong> aus ihnen durch den Herrn <strong>und</strong> die<br />
Apostel offen gedeckt <strong>und</strong> aller Welt k<strong>und</strong> gemacht wurde nach Röm. 1,1 <strong>und</strong> 16,25 cf. Eph. 2,20 –<br />
so wird mit <strong>Recht</strong> die ganze Schrift <strong>das</strong> eine große Evang. des vollseligen Gottes an die ganze<br />
Menschheit genannt. Die Predigt der Apostel begann aber mit einer Darlegung dessen, was Jesus<br />
getan <strong>und</strong> gelehrt von der Taufe Joh. bis zu seiner Himmelfahrt Act. 10,37, Act. 1,1 <strong>und</strong> so nennt<br />
Mk. c. 1,1 die Taufe Joh. ἀρχὴ τοῦ εὐαγγ. Ι. Χρ. Im engeren Sinne heißt also εὐαγγ. eine frohe Botschaft<br />
in Darstellung dessen, was Jesus getan <strong>und</strong> gelehrt, <strong>und</strong> wie er als der χριστὁς, der υἱὸς τοῦ<br />
θεοῦ zum Heil der Menschen offenbar geworden <strong>und</strong> bewährt ist.<br />
Die Überschriften εὐαγγ. κατὰ Μ. etc. rühren, wenn nicht von den Verfassern selbst doch aus<br />
sehr alter Zeit her. κατὰ Ιωάννην heißt: prout a Joanne conceptum et scriptum est. Die 4 Evangg.<br />
wurden in der alten Kirche unter dem Namen τὸ εὐαγγ. den übrigen Schriften des N. T. unter dem<br />
Namen ὁ ἀπόστολς gegen<strong>über</strong>gestellt. Die Apostelgeschichte könnte man ein Evangelium des heil.<br />
Geistes nennen. 17<br />
1. Kapitel<br />
Das Prooemium V. 1-18: quod totius evangelii summa et argumentum rede dicitur.<br />
V. 1. Ἐν ᾽αρχῇ ἦν ὁ λόγος etc.<br />
I. Prämissen der Erklärung.<br />
Joh. schreibt wie die andern Evangelisten <strong>das</strong> Evang. Jesu Christi, seines Herrn <strong>und</strong> Meisters. cf.<br />
c. 20,30. Auch er beginnt wie die übrigen Evangelisten mit dem Auftreten Johannis des Täufers V.<br />
6. cf. Mk. 1,1. Es muss auch gleich in den ersten Versen die Person Jesu Christi <strong>das</strong> Subjekt sein,<br />
wovon er spricht. Vergleichen wir nun die anderen Evangelien, so ergibt sich:<br />
1) Matth. unterscheidet von der γέννησις Ι. Χρ. V. 18 seine γένεσις; er nennt ihn einen Sohn von<br />
David, einen Sohn von Abraham. Er sagt damit, <strong>das</strong>s vor der Geburt Jesu von Nazareth <strong>das</strong> Werden,<br />
die γένεσις Ι. Χρ. – welchen er als den König Israels schildert – schon ihren Anfang genommen<br />
habe, ehe <strong>das</strong> Königtum <strong>und</strong> der Name Israel bestanden habe. Zu Ende seines Evangeliums predigt<br />
er Jesum c. 28,20 als den, welcher als König in seiner Gemeinde gegenwärtig ist ἕως τῆς<br />
συντελείας τοῦ αἰῶνος. Matth. sagt also damit von Christo aus, <strong>das</strong>s er von Anfang in der Verheißung<br />
dagewesen <strong>und</strong> κατὰ σάρκα in der Verheißung sich fortgepflanzt habe von Abraham auf David<br />
bis geboren wurde der Sohn der Maria, Ἰησοῦς ο λεγόμενος Χριστός. Markus, um den Anfang des<br />
Evang. Jesu Christi zu schreiben, stellt an die Spitze ein Wort des Propheten Jesaja; er deutet damit<br />
17 Im Mittelalter wurde auf <strong>das</strong> Joh.-Evang. der Schwur geleistet.
1. Kapitel 47<br />
an, <strong>das</strong>s <strong>das</strong>jenige nunmehr wahr <strong>und</strong> in die Erscheinung getreten sei, was als Wort längst in den<br />
Weissagungen der Propheten deutlich <strong>und</strong> nach allen seinen Momenten dagestanden habe. Er endet<br />
sein Evang. damit, <strong>das</strong>s jetzt, nachdem der Herr selbst aufgefahren, τὸ κήρυγμα der Apostel in der<br />
Welt sei <strong>und</strong> der Herr selbst τὸν λόγον bestätige. Das Evang. Jesu Christi ist also nach Markus<br />
nichts <strong>Neue</strong>s; es ist eben die Erfüllung des Wortes der Propheten – <strong>und</strong> lebt anjetzt fort im κήρυγμα<br />
der Apostel. Bei Lukas verkündet der Engel dem Zacharias c. 1,16, <strong>das</strong>s der ihm geborene Sohn viele<br />
bekehren werde ἐπὶ κύριον τὸν θεὸν αὐτῶν. Aus den folgenden Versen ist klar, <strong>das</strong>s er damit<br />
Christum selber gemeint hat. Er wird der Maria angekündigt als υἱὸς ὑψίστου <strong>und</strong> υἱὸς θεοῦ:<br />
1,32.35. Den Juden, welche ihn für einen Sohn Josephs hielten, gibt Lukas Anleitung c. 3,23 ff. wie<br />
sie dabei (bei der zeitlichen Erscheinung) nicht könnten stehen bleiben <strong>und</strong> steigt aufwärts bis τοῦ<br />
θεοῦ V. 38. Wie Lukas mit dem Lobgesang der Engel beginnt, so schließt er mit dem Lobgesang der<br />
Jünger; so wie bei Lukas vom Himmel die Botschaft Christi gekommen, so ist er selbst in den Himmel<br />
aufgefahren. c. 24,51. Alle 3 Evangelisten stellen es also gleich zu Anfang ihres Evang. mit klaren<br />
Worten hin, <strong>das</strong>s in dem Jesus, von welchem sie reden, <strong>das</strong>jenige erschienen sei, was schon in<br />
der ganzen Reihe der Erben der Verheißung von Abraham an sich entwickelt habe (Mt.) was in dem<br />
Wort der Propheten klar beschrieben (Mk.) <strong>und</strong> was zuvor im Himmel gewesen sei (Lk.). Auch sagen<br />
es Mt. c. 4,16 <strong>und</strong> Lk. c. 1,79, <strong>das</strong> mit der Erscheinung Christi <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> aufgegangen sei ἐν<br />
σκότει <strong>und</strong> σκιᾷ θανάτου. Zu dem letzteren ist der nicht ausgesprochene Gegensatz ἡ ζωή. So nun<br />
beginnt auch Joh., <strong>das</strong>s in Christo <strong>das</strong> erschienen sei, was im Anfang gewesen <strong>und</strong> <strong>das</strong>s es ἡ ζωή<br />
<strong>und</strong> τὸ γῶς der Menschen sei. – Beim Beginn seines Briefes gebraucht er <strong>das</strong> Neutrum ὃ ἦν – <strong>und</strong><br />
sagt: eben <strong>das</strong>, was von Anfang gewesen <strong>das</strong> habe er mit Händen betastet <strong>und</strong> verkündige es jetzt.<br />
Als Analogon kann dienen die Art <strong>und</strong> Weise, wie die Reformatoren ihre Lehre nicht etwa als<br />
eine neue eingeführt, sondern immer als die uranfängliche, nur von Tod <strong>und</strong> Finsternis voriger<br />
saecula verdeckte <strong>und</strong> eben deshalb als die gültige, wahre, ewige vorgestellt haben.<br />
2) Die ersten Verse entsprechen so augenscheinlich dem Anfang der Genesis, <strong>das</strong>s alle Exegeten<br />
darin einstimmig sind, Joh. beziehe sich auf die Worte Mosis. Joh. geht also, da er vom Anfang aller<br />
Dinge redet, auf den Anfang, <strong>das</strong> 1. Buch der heil. Schriften zurück. Mit deutlicher Beziehung auf<br />
den Bericht der Genesis heißt es ebenso Hebr. 11,3: πίστει νοοῦμεν, <strong>das</strong>s alles Sichtbare ῥήματι<br />
θεοῦ entstanden <strong>und</strong> 2. Petr. 3,5, <strong>das</strong>s Himmel <strong>und</strong> Erde bestanden von Alters her τῷ τοῦ θεοῦ<br />
λόγῳ. Joh. hat also gleich bei der Schöpfung, wie sie die Schrift berichtet hat, ebenso wie Paulus<br />
<strong>und</strong> Petrus wirksam vorgef<strong>und</strong>en τὸ ῥῆμα, τὸν λόγον τοῦ θεοῦ. Es heißt nämlich in der Genesis siebenmal<br />
.ויאמר Wenn demnach Joh. in Christo <strong>das</strong> erschienen nennt, was von Anfang da gewesen, so<br />
spricht er von eben dem Vorhandensein desselben, wie es ἀπ᾽ αἰώνων in dem Zeugnis <strong>und</strong> der Unterweisung<br />
der heil. Schrift erkannt werden kann. Er spricht von dem Dasein <strong>und</strong> Wirksamsein, wie<br />
es aus Gottes Offenbarung von Anbeginn beschrieben ist.<br />
3) Die Lehre der Apostel ging von dem einen Hauptsatze aus: <strong>das</strong>s Jesus, diese historische Person,<br />
der unter den Juden allgemein bekannte Rabbi von Nazareth (Act. 10,37), der unter Pontius Pilatus<br />
gekreuzigt war – der Christus, d. h. der Messias sei. Der Messias war damals ein bestimmt<br />
festgestellter Begriff, von dem in allen Schulen gelehrt wurde. So auch bei Joh. c. 1,41: „Wir haben<br />
gef<strong>und</strong>en τὸν Μεσσίαν“ <strong>und</strong> Christus selbst zur Samariterin c. 4,25 ff.: „Ich bin’s, der mit dir redet.“<br />
Die Anfangsgründe der Erkenntnis des Messias waren aber folgende: Der fromme Israelit fühlte<br />
sich streng dem Gesetze Gottes verpflichtet; wollte er diesem Gesetze nachkommen, so erfuhr er an<br />
sich den Widerwillen, die Sünde, die Ohnmacht – <strong>und</strong> eben damit eine Kluft zwischen Gott <strong>und</strong> sich<br />
befestigt. In dieser Erfahrung stützte er sich nun auf die von Gott selbst in seinem Gesetz gegebene<br />
Verheißung eines Messias <strong>und</strong> erwartete von ihm die Hilfe, um, durch ihn zu Gott gebracht, mit
48 1. Kapitel<br />
Gott versöhnt zu werden. Dieser Begriff, diese Vorstellung hatte demgemäß ihren Ausgangspunkt in<br />
lebendigen, unabweislichen Bedürfnissen des Geistes <strong>und</strong> Lebens, welche gerade dem Gesetze Gottes<br />
gegen<strong>über</strong> geweckt waren – <strong>und</strong> hatte seine Wahrheit <strong>und</strong> Festigkeit in eben dieses Gesetzes eigener<br />
Verheißung. Die Apostel demnach hielten allem Volke Jesum als den Messiam vor auf Gr<strong>und</strong><br />
der Erfahrung, die sie in seinem Umgang an ihrem eignen Leben gemacht hatten, <strong>das</strong>s Jesus wirklich<br />
<strong>und</strong> völlig <strong>das</strong> gewähre <strong>und</strong> <strong>das</strong> sei, was man von dem Messias erwarte. Also kann auch Joh.<br />
hier Jesum Christum nur unter solchem Namen <strong>und</strong> in solcher Weise der Gemeinde vorgestellt haben,<br />
wie er selbst es an seinem Geiste lebendig erfahren hatte <strong>und</strong> wie es den wesentlichen <strong>und</strong> allgemeinen<br />
Bedürfnissen der Gemeinde wahrhaft entsprach. –<br />
Daraus ergeben sich folgende hermeneutischen Gr<strong>und</strong>sätze: Eine Interpretation, welche den Anspruch<br />
der historischen für sich macht, muss also davon ausgehen, <strong>das</strong>s hier 1) ein ewig Daseiendes<br />
als in Christo erschienen verkündigt werde, welches 2) in der ganzen Schrift bezeugt ist <strong>und</strong> 3) im<br />
Leben eines jeden Christen erprobt werden kann.<br />
Nach diesen Prämissen ist nun eine Antwort auf die Frage zu suchen, warum Joh., da es so man-<br />
,מלאך יהוה che andere Bezeichnung des Messias nach seiner göttlichen Natur <strong>und</strong> Würde gab, als<br />
υἱὸς τοῦ θεοῦ u. A. – gerade dieser Worte sich bedient habe: ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος <strong>und</strong> V. 14: ὁ λόγος<br />
σάρξ ἐγένετο.<br />
II. Kurze Geschichte der Auslegung des Prologs.<br />
In der gesamten Kirche steht diese Stelle als Hauptbeweis der Persönlichkeit <strong>und</strong> Ewigkeit des<br />
Sohnes Gottes unzweifelhaft fest – <strong>und</strong> so ist sie in allen Streitigkeiten <strong>über</strong> die Trinität vielfach behandelt<br />
<strong>und</strong> zu Gr<strong>und</strong>e gelegt. Das ἐν ἀρχῇ weist zuerst die arianische Lehre eines ἦν ὅτε οὐκ ἦν<br />
zurück – denn der Anfang ist <strong>das</strong> äußerste, ist die Grenze der Zeit, hinter welcher für den menschlichen<br />
Geist, welcher der Zeit angehört, nichts liegt. Die socinian. Ausflucht (unter dem ἐν ἀρχῇ sei<br />
der Anfang des Christentums zu verstehen) ist schon durch V. 3 widerlegt. Auch die zu Ende des vorigen<br />
saec. von Teller, Eichhorn, Ammon u. A. vertretene Ansicht, ὁ λόγος sei hier nur als Personifikation<br />
der göttlichen Vernunft, nicht aber als ὑπόστασις, persona hingestellt, widerlegt sich gleichfalls<br />
durch die ersten Worte, worin demselben eine für sich unabhängige Subsistenz <strong>und</strong> ein selbstständiges<br />
Verhältnis zu Gott beigelegt wird. Fest steht also, <strong>das</strong>s Joh. hier die Ewigkeit <strong>und</strong> Selbstständigkeit<br />
des υἱὸς θεοῦ unter dem Namen ὁ λόγος ausgesprochen hat.<br />
Woher aber nun der Name „ὁ λόγος“? Orig. versteht darunter die Vernunft – Christus sei die<br />
vollkommene Vernunft er könne indes auch insofern ὁ λόγος heißen, als er <strong>das</strong> Verborgene des Vaters<br />
verkündige. Marcellus von Ancyra behauptete, der Name υἱὸς τοῦ θεοῦ könne nur von der<br />
Menschwerdung Christi gelten; für die Präexistenz sei grade ὁ λόγος die richtige Bezeichnung. Er<br />
unterschied dann nach Vorgang der Alten <strong>und</strong> Philos den λόγος ἐνδιάθετος <strong>und</strong> προφορικός, verfiel<br />
aber unbemerkt in Sabellianismus. Basilius <strong>über</strong>setzt „<strong>das</strong> Wort“ <strong>und</strong> meint, Joh. habe diesen Ausdruck<br />
gewählt, weil er ihm am meisten geeignet geschienen, <strong>das</strong> Geistige, Zeitlose, absolut Ebenbildliche,<br />
Unleidentliche <strong>und</strong> <strong>das</strong> Verhältnis zwischen dem Sohn <strong>und</strong> Vater auszudrücken. Augustin<br />
nimmt die Analogie eines Dreifachen im Menschen: memoria, mens, voluntas, um danach die Wirklichkeit<br />
der Personen in Gottes Wesen dem Verstande zugänglich zu machen. Am meisten aus dem<br />
Leben <strong>und</strong> wahrhaftiger Erkenntnis heraus redet Luther in seiner Erklärung von dem Vater <strong>und</strong> dem<br />
Sohn. Die Exegese sucht aber immer mehr nach Anhaltspunkten, um den Namen ὁ λόγος zu erklären.<br />
Erasmus hatte an die Stelle des verbum in der Vulgata in seiner Paraphrase sermo gesetzt, welcher<br />
Übersetzung auch Calvin folgt, der auf Gr<strong>und</strong> dieser Stelle den Servet bestreitet. Melanchthon<br />
sagt: Filius a Joanne verbum dicitur, a Paulo imago Dei, deradiatio gloriae et character substantiae
1. Kapitel 49<br />
eius, ex quibus utcunque colligi potest, cur a Joanne verbum dicatur. Est enim verbum, quo repraesentatur<br />
aliquid et pater se intuens concipit sui imaginem, quae verbum dicitur: et quia perfecta imago<br />
est, tota substantia patris in ea relucet. Zwingli: λόγος = דבר significat den ganzen Handel: sermo,<br />
ratio, oratio, supputatio, consilium etc.<br />
Beza lässt sich zuerst näher auf den historischen <strong>und</strong> grammatikalischen Boden der Wort-Erklärung<br />
ein. Er stellt im Gegensatz gegen die, welche ex Neo-Platonicorum deliriis die Erklärung des<br />
Evangelisten hernehmen wollten, den Gr<strong>und</strong>satz auf, <strong>das</strong>s Joh. sich gehalten habe an die locutiones,<br />
quae in verbo Dei et in synagogis erant usitatae. Aber grammatikalisch gab er die sehr irrige Andeutung:<br />
λόγος quasi sermo s. promissus Dei. Diese Erklärung ὁ λόγος = ὁ λεγόμενος =<br />
ἐπαγγελόμενος, welche grade die Grammatiker Laur. Valla – zuletzt Ernesti <strong>und</strong> Tittmann vorbrachten,<br />
ist ebenso verfehlt als die andere, es = ὁ λέγων der Offenbarer oder – Offenbarung zu nehmen.<br />
ὁ λόγος heißt nur: <strong>das</strong> Wort. Die meisten neueren Erklärer wählen einen andern Ausweg, indem sie<br />
einen historischen Anhaltspunkt suchen <strong>und</strong> behaupten, Joh. habe den Begriff des „ὁ λόγος“ wie er<br />
sich in den Schriften Philos finde, auf Christum angewandt. Es hängt dies mit der exegetischen<br />
Gr<strong>und</strong>anschauung zusammen, <strong>das</strong>s die Synoptiker Jesum nach Vorstellungen der palästinischen Juden<br />
als den Messias, Joh. aber in mehr philosophischer Weise seine göttliche Natur beschrieben<br />
habe. Zuerst hatte Grotius aus Philo Parallelen hingestellt, Clericus sodann hatte dem Joh. eine polemische<br />
Tendenz gegen diejenigen beigelegt, welche des Philo Logoslehre in falscher Weise auf<br />
Christum angewandt hätten. Schon Evanson hatte im Evangelisten Joh. einen Platoniker wittern<br />
wollen; Ballenstedt schrieb eine Schrift: „Philo <strong>und</strong> Johannes“ Göttingen 1812, <strong>und</strong> nachdem zuletzt<br />
Gfrörer im „Urchristentum“ die Lehrsätze des Philo <strong>und</strong> jüdisch-alexandrinische Theosophie<br />
<strong>über</strong>haupt zu Gr<strong>und</strong>lagen für die Lehre der Apostel zu machen gesucht hat, wird eine Beziehung auf<br />
Philo ziemlich allgemein angenommen. So Lücke <strong>und</strong> de Wette, neuerdings Keim u. A. Neander<br />
dagegen will höchstens annehmen, Joh. habe diesen Ausdruck gewählt, um die Theosophen von ihrem<br />
Idealismus abzuziehen <strong>und</strong> zur Anerkennung Christi zu führen, eine Auskunft, die schon bei<br />
Lampe sich findet. Er, übrigens wie auch Nitzsch, Frommann, Tholuck verwahren sich ernstlich dagegen,<br />
<strong>das</strong>s die Lehre von Christo bei den Aposteln eine Anwendung philosophischer Zeitvorstellungen<br />
sei – denn welche Bürgschaft der Wahrheit bliebe ihr dann?<br />
Es ist aber mit Bengel (Carpzov, Calov u. A.) jede Beziehung zu Philo abzulehnen, aus diesen<br />
Gründen:<br />
1) Joh. hat ohne Zweifel Philos Schriften gar nicht gekannt <strong>und</strong> noch weniger seine Leser. Philo<br />
gehörte einer Sphäre philosophischer <strong>und</strong> gelehrter Spekulation <strong>und</strong> Ideenbildung an – Joh. schrieb<br />
für Gemeinden, die größtenteils aus Laien bestanden, aus <strong>und</strong> für lebendige Erfahrung. Diese Sphären<br />
sind streng auseinanderzuhalten.<br />
2) Philos Lehre vom λόγος ist eine Vermischung der jüdischen Vorstellung von dem selbstständigen<br />
Worte (dem (מימרא mit dem Platonischen νοῦς. Der λόγος ist bei ihm nicht der μεσίτης zwischen<br />
einem gerechten, heiligen, unnahbaren Gott <strong>und</strong>. einer abgefallenen Menschheit – sondern<br />
<strong>das</strong> für den Gedanken notwendige Mittelglied der beiden dualistischen, metaphysisch entgegengesetzten<br />
Prinzipien: des Absoluten, τὸ ὄν – <strong>und</strong> der ὕλη. Sein λόγος ist deshalb nur eine in den Ideen<br />
vollzogene – aber keineswegs substanzielle Einheit der δυνάμεις der Weltkräfte, die ἰδέα – der<br />
τόπος τῶν ἰδεῶν; er ist ihm eins mit dem Geiste, der ἄνθροπος οὐράνιος, d. h. die Menschheit in der<br />
Idee, <strong>das</strong> Urbild der Vernunft, Tugend <strong>und</strong> Weisheit. In der realen Welt besteht dieser λόγος nur in<br />
der Vielheit der Kräfte <strong>und</strong> der Gesamtheit der menschlichen Individuen; diesen λόγος zu denken<br />
als in einem einzelnen Menschen vollkommen einwohnend <strong>und</strong> in diesem Menschen im Gegensatz<br />
gegen die gesamte Menschheit stehend – ist keine Möglichkeit bei Philo. Die Erwartung des Messi-
50 1. Kapitel<br />
as hat deshalb auch keine Stelle im Systeme Philos. Sein Messias ist die Wissenschaft, die Tugend<br />
<strong>und</strong> Reinheit.<br />
3) Wenn Joh. den philonischen Begriff des λόγος hätte von Christo aussagen wollen – so hätte er<br />
von dem Bekannten ausgehen <strong>und</strong> etwa sagen müssen: ἐν χριστῷ ἐφανερώθη ὁ λόγος <strong>und</strong> hätte<br />
müssen sodann diesen Begriff in seiner Anwendung umgestalten. Denn in den Begriffen des λόγος<br />
bei Philo liegt es nicht, <strong>das</strong>s er die sichtbaren Dinge geschaffen V. 3 – auch nicht, <strong>das</strong>s in ihm <strong>das</strong><br />
Leben gewesen, noch viel weniger, <strong>das</strong>s er in die Welt zu kommen im Begriff gewesen usw.; nun<br />
hätte doch Joh. diesen Begriff so anwenden müssen, wie er bei Philo Gültigkeit hatte, da wäre aber<br />
jeder seiner Sätze eine contradictio in adiecto gewesen. Es zeigt sich aber auch nicht die leiseste<br />
Spur einer Beziehung zu dem Philonischen λόγος-Begriff, so wenig wie Paulus, wenn er<br />
δικαιοσύνη, σοφία etc. spricht, dabei an diejenige Ausbildung dieser Begriffe denkt, welche in den<br />
platonischen Schulen üblich war. So hat auch Joh. an die jüdisch-griechische Theosophie gar nicht<br />
von weitem gedacht. Oder ist er auch etwa ein <strong>Licht</strong>fre<strong>und</strong> gewesen, weil er vom <strong>Licht</strong>e gesprochen?<br />
4) Dass der philonische λόγος ein bloßer terminus, nicht aber ein erkennbares Ding ist, <strong>und</strong> nicht<br />
<strong>das</strong> in sich enthielte, was Joh. hier aussagt – ist auch daraus offenbar, <strong>das</strong>s die Exegeten, welche<br />
diesen Begriff aus Philo hier her<strong>über</strong>nehmen, keine Übersetzung dafür haben. Sodann ist zu beachten,<br />
<strong>das</strong>s Joh. 1. Br. 1,2 ebenso von der ζωὴ αἰώνος sagt, ἥτις ἦν πρὸς τὸν πατέρα καὶ ἐφανερώθη<br />
ἡμῖν <strong>und</strong> V. 1 ὃ ἦν ἀπ᾽ ἀρχῆς <strong>und</strong> <strong>das</strong>s Paulus Kol. 1,16. Hebr. 1,2 ff. von Christo ganz <strong>das</strong>selbige<br />
aussagt, was hier Joh. von dem Worte.<br />
III. Ursprung <strong>und</strong> Gebrauch der Bezeichnung ὁ λόγος nach Analogie der Schrift.<br />
Dieses ist gewiss, <strong>das</strong>s Joh. den Ausdruck muss in einem Sinne gebraucht haben, wie er seinen<br />
Zeitgenossen, speziell seinem Leserkreis geläufig war. 1) Joh. schreibt an die Gemeinde. Die ecclesia<br />
aber ist, sagen die Reformatoren, ubi verbum et sacramenta. Luther sagt oftmals, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Wort<br />
alles tun <strong>und</strong> ausrichten müsse, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Wort mächtig sei zu schaffen, zu beleben <strong>und</strong> eine grünende<br />
Saat hervorzurufen <strong>und</strong> gedeihen zu lassen, während er schlafe. Das Wort ist’s, was die Gemeinde<br />
ins Leben ruft. Das Wort Luthers war nicht etwa sein Wort, er selbst erkannte es als eine selbstständige<br />
Macht <strong>und</strong> sich nur als des Wortes Diener. Die erste Gemeinde zu Jerusalem war ins Leben<br />
gerufen durch <strong>das</strong> Wort der Apostel; dieses Wort aber war gekommen mit dem ihnen gegebenen<br />
Geiste, <strong>und</strong> wenn Petrus Act. 3,26 sagt, <strong>das</strong>s Gott eben jetzt nach der Auferweckung seines Sohnes<br />
ἀπέστειλεν αὐτὸν εὐλογοῦντα ὑμᾶς – so kann er dies nur von der Sendung im Worte gesagt haben.<br />
cf. c. 6,2; c. 10,36. Gewöhnlich heißt es nun ὁ λόγος τοῦ θεοῦ, von dessen Kraft <strong>und</strong> Wirkung die<br />
Apostel wiederholte Aussagen geben. Aber ganz in demselben Sinne steht auch ὁ λόγος allein Act.<br />
11,19; 14,25; 16,6 etc. 1. Tim. 4,12; 5,17. So sagt Paulus 2. Kor. 5,19 θέμενος ἐν ἡμῖν τὸν λόγον τῆς<br />
καταλλαγῆς. 1. Thess. 2,13. ἐδέξασθε – λόγον θεοῦ, ὃς καὶ ἐνεργεῖται etc. Eph. 1,13. Die Galater erinnert<br />
Paulus, ob sie ἐξ ἔργων den Geist empfangen oder ἐξ ἀκοῆς πίστεως. Hebr. 4,12 heißt <strong>das</strong><br />
Wort lebendig <strong>und</strong> wirksam usw. <strong>und</strong> V. 13: οὐκ ἔστι κτίσις ἀφανὴς ἐνώπιον αὐτοῦ <strong>und</strong> zuletzt πρὸς<br />
ὃν ἡμῖν ὁ λόγος, welchem wir Rechenschaft zu stehen haben. Kol. 3,16 schreibt Paulus: Lasset <strong>das</strong><br />
Wort Christi reichlich unter euch wohnen; er befiehlt den Brüdern <strong>und</strong> der Gemeinde von Klein-<br />
Asien Act. 20,32 τῷ λόγω τῆς χάριτος αὺτοῦ – der da mächtig ist euch auferbaut <strong>und</strong> euch ein Erbe<br />
gegeben zu haben etc. Hebr. 4,2 heißt es, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Wort des Gehörten nur deshalb den Israeliten<br />
nichts genützt, weil es am Glauben nicht zusammengewachsen sei mit denen, die’s gehört. Jak.<br />
spricht c. 1,18 von dem λόγος ἀληθής <strong>und</strong> nennt es V. 21 τὸν δυνάμενον σῶσαι. Petrus im 1. Br. c.<br />
1,25 nennt eben <strong>das</strong> der Gemeinde gepredigte ῥῆμα <strong>das</strong>jenige, was, während alle menschliche Herr-
1. Kapitel 51<br />
lichkeit schwindet, ewiglich bleibt. – Joh. verweist also die Gemeinde auf <strong>das</strong> Wort, welches sie gehört,<br />
durch dessen Aufnahme sie den Geist empfangen, dessen Kräfte sie geschmeckt hatte, wodurch<br />
ihr <strong>Licht</strong> <strong>und</strong> Leben mitgeteilt, die Erkenntnis Gottes zuteil geworden war – er will, <strong>das</strong>s die<br />
Gemeinde <strong>das</strong> Wort ins Auge <strong>und</strong> Gedächtnis fasse <strong>und</strong> dabei beharre. 1. Joh. 1,10; 2,14; Ev.<br />
17,6.14.17.20. Phil. 2,16.<br />
2) Das Wort war es also, wodurch die Gläubigen Christum selber empfangen hatten. Die Apostel<br />
stellten sich selbst in den Gemeinden als Menschen dar gleich allen Andern; Christus war nicht<br />
mehr auf Erden – <strong>das</strong> Einzige was die Gemeinden hatten – war <strong>das</strong> Wort – in dem Wort lag auch Alles.<br />
Das Wort band die Gewissen, traf die Schuldigen ins Herz, tröstete die Bekümmerten. Es wird<br />
ein Hauch des Lebens zum Leben, des Todes zum Tode genannt. 2. Kor. 2. Und was als in Christo<br />
erfüllt von den Aposteln nachgewiesen wurde, war ja selbst wiederum nichts anders als <strong>das</strong> Wort<br />
der Verheißung, ausgesprochen <strong>und</strong> gegeben den Vätern <strong>und</strong> Propheten von den Weltzeiten her. Alle<br />
Weissagung war äußerlich betrachtet freilich nur ein Wort, ein Hauch der Lippen, ein Klang in den<br />
Ohren, ein Buchstabe – aber jedes dieser Worte war Realität, war leibhaftig <strong>und</strong> wirklich geworden.<br />
Micha c. 1 sagt: Das Wort, welches er geschaut habe; <strong>das</strong> Wort war also nicht durch die Propheten<br />
hervorgebracht; es war auch von den Propheten nicht bloß gehört, sondern gesehen; es besteht also<br />
<strong>das</strong> Wort in sich selbst, es wurde sodann im Geist den Propheten offenbar, es wurde gesprochen, es<br />
erfüllt sich, herrscht <strong>und</strong> tut, wozu es gesandt. Das Wort macht Jemanden gleichsam nach seinem<br />
innersten Wesen sichtbar <strong>und</strong> wahrnehmbar, indem dieser in seinem Worte sich selber gibt. So unscheinbar<br />
<strong>das</strong> Wort an <strong>und</strong> für sich ist, so mächtig ist es darum, <strong>und</strong> was von Leben, Geist, Macht,<br />
Gerechtigkeit <strong>und</strong> Liebe in einem Menschen ist, gießt sich zu allermeist in einem Worte aus – <strong>und</strong><br />
ein solches Wort nennen wir ein warmes, lebendiges Wort. Von einem zuverlässigen Manne sagt<br />
man: ein Mann, ein Wort; in dem Worte ist man des Mannes selbst gewiss. Das Wort eines Königs<br />
übt des Königs eigne Macht aus, ja nach dem <strong>Recht</strong> der Meder <strong>und</strong> Perser war <strong>das</strong> einmal gegebene<br />
<strong>und</strong> versiegelte Königswort an des Königs Stelle getreten. Das Wort ist ein Ausdruck des innersten<br />
Wesens, Willens <strong>und</strong> Lebens <strong>und</strong> ist zugleich dessen Vermittler an die Außenwelt. So tritt schon bei<br />
dem A. T. im Gesetz <strong>und</strong> den Propheten zuerst objektiv <strong>über</strong>all <strong>das</strong> דבר יהוה hervor, <strong>das</strong> נאם יהוה usw.<br />
Num. 14,41. Ps. 33,6; 93,5; 147,18; 148,8. Jes. 2,1.3. Jer. 1,4.11. Jes. 48,16; 40,8. Jer. 23,29. Was<br />
die Propheten zu sagen haben, sprechen sie aus als ein Wort Jehovas an <strong>das</strong> Volk; <strong>das</strong> Wort Gottes<br />
segnet durch die Propheten, es richtet, es regiert, es waltet durch sie. Das Wort ist allemal <strong>das</strong> Erste<br />
– <strong>und</strong> die Geschichte ist nur <strong>das</strong> zur Tat werden, die Erfüllung des Worts. Andererseits besonders in<br />
den Psalmen spricht sich subjektiv an den Geist <strong>und</strong> die Herzen der Menschen die Wirkung des<br />
Wortes aus. Es ist nicht ein vergebliches Wort, sagt Moses, sondern euer Leben – Deut. 30, es ist<br />
eure Weisheit vor allen Nationen der Erde. Deut. 29,29 sagt Moses: „<strong>das</strong> Verborgene <strong>das</strong> ist Jehovas<br />
unseres Gottes; <strong>das</strong> Geoffenbarte aber ist für uns <strong>und</strong> unsere Kinder auf ewig,“ <strong>und</strong> Hiob c. 28,<br />
nachdem er die unerforschliche Weisheit beschrieben, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s allein Gott ihren Weg <strong>und</strong> Ausgang<br />
kenne, endet er damit, <strong>das</strong>s Gott damals, als er die Weisheit gesehen <strong>und</strong> gegründet, gesprochen<br />
habe zum Menschen: Furcht des Herrn – <strong>das</strong> ist Weisheit V. 28. Hierin liegt ausgesprochen, 1) <strong>das</strong>s<br />
Gottes unendliches Wesen, seine Schöpferkraft <strong>und</strong> Gottheit für den Menschen unzugänglich <strong>und</strong><br />
unerforschlich ist <strong>und</strong> in unbedingter Souveränität <strong>und</strong> Allgenügsamkeit besteht. 2) Dass Gott eben<br />
als der Schöpfer <strong>und</strong> Bildner aller Dinge sich selbst geoffenbart habe, <strong>das</strong>s er in ewiger Liebe aus<br />
sich selbst ein Wort gezeugt habe, welches in seinem Namen redet zu den Menschen, seine ewige<br />
Güte predigt <strong>und</strong> fühlbar macht <strong>und</strong> aus Gottes eigner Fülle Alles mit Leben <strong>und</strong> Gnade sättigt; <strong>das</strong>s<br />
dies Wort in dem Menschen hörbaren <strong>und</strong> erkennbaren Worten in die Welt gesandt sei <strong>und</strong> in dem<br />
Geist <strong>und</strong> dem Gewissen des Menschen sich niedergelegt habe. Ganz unabhängig von dem Menschen<br />
mache es ihn der Erkenntnis Gottes, ja göttlicher Natur teilhaftig. 2. Petr. 1,3.4. Darum nennt
52 1. Kapitel<br />
David <strong>das</strong> Wort – sein <strong>Licht</strong>, sein Leben; 2. Sam. 7,21 sagt er „um deines Wortes willen <strong>und</strong> nach<br />
deinem Herzen.“ – Jesaja sagt, es könne <strong>das</strong> Wort nicht leer zurückkehren (55,11) <strong>und</strong> Hagg. 2,5 f.<br />
heißt es eben wie Jes. 58,21, <strong>das</strong>s dieses Beides in Mitten des Volks sei: <strong>das</strong> Wort <strong>und</strong> der Geist, <strong>und</strong><br />
<strong>das</strong>s eben darin Gott die Quelle alles Lebens <strong>und</strong> alles Heils cf. Ps. 107,20 für den Menschen geöffnet.<br />
So ist aus Gott, aus Gottes Herzen <strong>und</strong> innerstem Wesen die ganze Fülle seiner Güte, Gerechtigkeit<br />
<strong>und</strong> Wahrheit hervorgetreten <strong>und</strong> niedergelegt in dem Worte; ja Gott selbst ist in seinem<br />
Worte, <strong>und</strong> nur in <strong>und</strong> aus dem Worte ist seine Offenbarung an den Menschen. Wenn Christus bei<br />
Joh. sagt: „Wer mich siehet, siehet den Vater“, so ist auch dadurch gesagt, <strong>das</strong>s in der Erkenntnis<br />
Christi der Blick in Gottes eignes Vaterherz <strong>und</strong> Wesen geöffnet ist; <strong>und</strong> die Stimme vom Himmel<br />
„Dies ist mein lieber Sohn, den höret“ bezeichnet Christum selbst als <strong>das</strong> Wort, welches aus Gott an<br />
die Welt laut geworden.<br />
3) Joh. spricht hier aber nicht von dem einzelnen Gottesspruch – er dringt bis zum letzten Gr<strong>und</strong>e<br />
vor. Da er die Sinne der Menschen auf <strong>das</strong> Sichtbare gerichtet sieht – so untersucht er, woher alle<br />
Dinge sind, worin sie bestehen <strong>und</strong> wozu sie Ziel <strong>und</strong> Zweck haben. Er geht zurück bis zum Anfang<br />
alles Gewordenen <strong>und</strong> sagt: Im Anfang war <strong>das</strong> Wort. Es heißt nicht in der Genesis: „Gott dachte<br />
oder Gott wollte“ – sondern: „er sprach.“ Eines allmächtigen Willens Ausdruck ist <strong>das</strong> Wort allmächtig;<br />
geboren aus dem ewigen Leben des Vaters ist es selbst alles Lebendigen Ursache <strong>und</strong><br />
Schöpfer, <strong>und</strong> hervorgegangen aus einer ewigen Vatergüte ist es der Sohn der Liebe, der in dieser<br />
Liebe des Vaters eine Welt ins Dasein ruft <strong>und</strong> eine Gemeinde schafft, die Tugenden des zu verkünden,<br />
der sie berufen zu seinem w<strong>und</strong>erbaren <strong>Licht</strong>. Es liegt auf der Hand, <strong>das</strong>s Gott, ehe Menschen<br />
da waren, nicht kann nach Menschenart gesprochen haben, <strong>das</strong>s er aber gesprochen, will sagen, <strong>das</strong>s<br />
Gott sich laut, sich offenbar gemacht; <strong>das</strong>s Gott nicht an sich gehalten – sondern zu einem Beweis,<br />
welche Güte in ihm sei, in einem Wort Alles geschaffen, welches ein aus ihm selbst, aus seinem innersten<br />
Wesen Hervorgegangenes, ein χαρακτήρ, ein ἀπαύγασμα seiner selbst, welches sein Sohn –<br />
<strong>und</strong> also selbst Gott war. Auch ist dieser Schluss ein notwendiger. Besteht ein Verhältnis zwischen<br />
Gott <strong>und</strong> den Menschen durch <strong>das</strong> geoffenbarte Wort, schafft dieses Wort in des Menschen Geist<br />
<strong>und</strong> Leben Rat, Verstand, Kraft des Glaubens, Hilfe <strong>und</strong> jeglicher Art Auskunft – so muss dieses<br />
Wort <strong>das</strong> Erste sein <strong>und</strong> der Mensch steht in unmittelbarer Abhängigkeit von ihm. Und da aus, in<br />
<strong>und</strong> zu Gott alle Dinge sind – <strong>das</strong> Wort aber in sich selbst zu Gott leitet <strong>und</strong> die Erkenntnis Gottes<br />
mitteilt, so kann hier nur von einem ewigen Verhältnis zwischen Gott <strong>und</strong> Mensch die Rede sein,<br />
<strong>und</strong> <strong>das</strong> Wort selbst muss Gott sein. Andererseits wenn durch dieses Wort alles geschaffen – so kann<br />
<strong>das</strong> Geschöpf in sich selbst kein Bestehen haben, es kann nur sein Leben haben in dem Worte, in<br />
welchem der Inbegriff alles dessen ist, wodurch <strong>das</strong> Geschaffene zu dem Schöpfer in Beziehung<br />
steht, wodurch der Schöpfer seine Gnade, Güte – seine Seligkeit <strong>und</strong> Fülle aus sich hervortreten<br />
lässt, eine Welt darin vor Ihm prangen zu lassen. Diese Lehre war auch den Lesern des Apostels keineswegs<br />
fremd. Der Vater, der Sohn <strong>und</strong> der Geist sind schon im A. T. in deutlichem Bewusstsein<br />
unterschieden. Prov. 8,22. Exod. 33, nachdem Gott zu Mose gesagt „mein Angesicht kannst du nicht<br />
sehen“, fährt er fort „aber alle meine Güte will ich vor dir hergehen lassen“, <strong>und</strong> so ist es die Predigt<br />
des Namens Gottes – also <strong>das</strong> Wort, der יהוה ,מלאך in dem Gottes Namen ist Ex. 23,21. Ex.<br />
33,12 ff. c. 34,5 – vor dem Moses ausruft: אØלה¤ים י¦הוœה cf. Jes. 63,9. Zach. 12,8. Hos. 1,7. So ist Prov.<br />
8,22 die Weisheit beschrieben als כו דÚר¦ אש¤ית ,רÜ als die Gott zur Seite gewesen bei der Schöpfung –<br />
eben die Weisheit, welche in dem Wort der Predigt den Menschen zur Zucht <strong>und</strong> zu Gott ruft. c. 1.<br />
2. In der jüdischen Theologie wurde dieser מלאך יהוה <strong>über</strong>all als Subjekt gedacht, wo Gott erscheint<br />
oder redet cf. Act. 7,30; wenn im hebräischen Text dann יהוה steht, haben die Targums sehr häufig
1. Kapitel 53<br />
setzten die מימרא So auch insbesondere von der Schöpfung Jes. 45,12. 18 Diese .מימרא oder שכינא יקרא<br />
Paraphrasten auch in besondere Beziehung zum Messias (Jonathan zu Jes. 49,5: die מימרא werde die<br />
Hilfe des Messias sein). cf. Num. 22,22 ff. Kuinoel pag. 86. Buxt. Lex, Talm. pag. 2493. Onkelos<br />
Deut. 1,32.33. non credidistis Verbo Jovae, quod ductor fuit coram vobis in via. Targ. Hieros. Deut.<br />
26,17.18. Verbum Jovae regem constituistis super vos hodie, ut sit vobis in Deum. Targ. Jon. Jes.<br />
16,1. Apportent dona Messiae propterea quod ista in deserto fuit rupes ecclesiae Zionis. Die Theologie<br />
dieser Targumim ist indessen schon eine entartete, was noch viel mehr von den Alexandrinern<br />
gilt. Die Erkenntnis des lebendigen Gottes vermischten <strong>und</strong> verwirrten die Einen mit orientalischer<br />
Mystik <strong>und</strong> Gnosis, die Andern mit Platonischer Philosophie. So verliert sich schon <strong>das</strong> Buch der<br />
Weisheit in der Schilderung der σοφία c. 6,22 – c. 9 in Abstraktionen <strong>und</strong> Definitionen, welche platonischer<br />
Dialektik entlehnt sind; Gott wurde nach Art des τὸ ὄν, <strong>und</strong> der יהוה ,מלאך nach Art des<br />
platonischen νοῦς begrifflich abgebildet – auch zu Gefallen der pythagoreischen Lehre, <strong>das</strong>s der<br />
Mensch durch Abstraktion von der Materie <strong>und</strong> Tötung des Leibes in die <strong>Licht</strong>- <strong>und</strong> Geistsphäre der<br />
Reinheit, Erkenntnis <strong>und</strong> himmlischen Tugend sich erheben solle; an die Stelle des Gottes, der sich<br />
selbst offenbart, Sein Wort in die Welt gesandt hat – wird eine Idee, ein Begriff gesetzt, welcher,<br />
weil ein Produkt des Menschengeistes, wenn auch von der Unendlichkeit eines Schattens, doch nur<br />
ein εἴδωλον ist. Die Vermittlung zwischen Gott <strong>und</strong> Mensch wird hier von Seiten des Menschen angestrebt,<br />
der endliche Menschengeist erhebt sich aus der Sphäre des Irdischen in Spekulation <strong>und</strong><br />
Kontemplation in die Sphäre der Schwachheit; die Tugend, die Weisheit, die Unsterblichkeit der<br />
Seele, die Reinheit <strong>und</strong> Einheit werden als himmlische Mächte personifiziert, durch welche der<br />
Mensch mit dem Unendlichen <strong>und</strong> Ewigen sich selbst eine Vermittlung bereiten will nach Platos<br />
Spruch ὁμοίωσις τῷ θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν. Diese Lehre steht demnach in geradem Gegensatz gegen<br />
die Lehre Johannis: nicht die σοφία, den νοῦς, die ἀρετή <strong>und</strong> die γνῶσις stellt er als <strong>das</strong>jenige hin,<br />
wodurch Gott zu der ὕλη in Beziehung trete, so <strong>das</strong>s es des Menschen Sache sei, sich möglichst von<br />
den Banden der ὕλη <strong>und</strong> des σῶμα zu lösen, um in Gemeinschaft jener δυνάμεις <strong>und</strong> in Anschauung<br />
des νοῦς göttlichen Wesens teilhaftig zu werden – sondern im Gegensatz gegen alle Gedanken <strong>und</strong><br />
Versuche von Seiten des Menschen, in sich <strong>und</strong> dem Sichtbaren Leben <strong>und</strong> <strong>Licht</strong> zu suchen <strong>und</strong> zu<br />
schaffen, sagt er: <strong>das</strong>s in dem Worte alles inbegriffen sei; <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Wort nicht etwa selbst von Seiten<br />
des Menschen hervorgebracht sei, sondern selbst alles geschaffen habe. Das Wort aber will gehört,<br />
aufgenommen, geglaubt sein – <strong>und</strong> während die Menschen bemüht sind, sich in die Sphäre des<br />
πνεῦμα zu erheben, um <strong>das</strong>elbst Gott zu finden – sagt Joh.: ὁ λόγος σάρξ ἐγένετο; <strong>das</strong> Wort ist vielmehr<br />
herunter gekommen <strong>und</strong> ist grade in den Zustand der Endlichkeit, der Sünde <strong>und</strong> des Todes<br />
selbst hineingetreten; gegen alle Gedanken <strong>und</strong> Bestrebungen derer, welche, weil sie Juden, Pharisäer,<br />
Gelehrte <strong>und</strong> Geübte waren, mit Gott glaubten in Verbindung zu stehen – schließt der Apostel<br />
V. 18: θεὸν οὐδεὶς ἑώρακεν πώποτε, der μονογενὴς υἱός – sei der einzige Exeget.<br />
***<br />
V. 1. Das ἐν ἀρχῇ entspricht deutlich dem ב¦רÜש¤ית Gen. 1,1. Wie dort <strong>das</strong> Targum Hierosolym.<br />
<strong>über</strong>setzt: ,בהוכמא weil die Weisheit כו Prov. 8 ר¦ אש¤ית דÚר¦ genannt wird – so haben Chrysostom., Cyrill<br />
u. A. <strong>das</strong> ἀρχῇ auch hier ὑποστατικῶς nehmen <strong>und</strong> de Deo patre verstehen wollen. – Andere, unter<br />
den <strong>Neue</strong>ren Olshausen, wollen <strong>das</strong> ἐν ἀρχῇ zu einem metaphysischen Begriff machen <strong>und</strong> von einem<br />
zeitlosen Anfange, der Ewigkeit verstehen, worauf einfach mit Basilius zu antworten: non est<br />
possibile, principio aliquid antiquius cogitare. Joh. sagt nicht πρὸ τῆς ἀρχῆς. Die Socinianer wollten<br />
es vom Anfang des Evang. verstehen (cf. Act. 11,15), es ist aber aus V. 3 ganz offenbar, <strong>das</strong>s es von<br />
18 Ptol. pag. 56. Grfrörer, Jahrh<strong>und</strong>ert des Heils I pag. 307. 1. Mos. 3,8: Die Stimme des Wortes Gottes redete. Richt.<br />
.מלאך 6,11 parallel mit dem
54 1. Kapitel<br />
aller Dinge Anfang gesagt ist. cf. Mt. 19,4; 24,21. Joh. 17,5 πρὸ τοῦ τὸν κόσμον εἶναι. Eph. 1,4 πρὸ<br />
καταβολῆς κόσμου. Prov. 8,23 πρὸ τοῦ αἰῶνος et πρὸ τὴν γῆν ποιῆσαι. Es ist aber ein nicht kleines<br />
Stück des Glaubens – sagt Luther – <strong>das</strong>s Himmel <strong>und</strong> Erde <strong>und</strong> alles Sichtbare einen Anfang gehabt<br />
haben <strong>und</strong> aus Nichts geworden sind. 19 cf. Hebr. 11,3. Joh. sagt hier nicht ἀπ᾽ ἀρχῆς wie 1. Joh. 1,1<br />
– sondern ἐν ἀρχῇ; er spricht nicht vom Anfang bis auf diese Zeit – sondern will, <strong>das</strong>s seine Leser<br />
den Anfang sich vergegenwärtigen. – Das ἦν ist nicht mit Origenes <strong>und</strong> unter den <strong>Neue</strong>ren Olshausen<br />
von dem dauernden zeitlosen Sein der ewigen Gegenwart zu verstehen – es wird vielmehr <strong>das</strong><br />
ἐν ἀρχῇ gegen<strong>über</strong>gesetzt alle dem, was geschaffen ist, <strong>und</strong> was jetzt bestellt. Non dicitur – sagt<br />
Aug. – in principio fecit Verbum – sed erat verbum. Qui in principio erat, intra se concludit omne<br />
principium. Nicht in <strong>das</strong> Gebiet einer zeitlosen Ewigkeit begibt sich Joh., welche nur in der Abstraktion<br />
des Denkens einen Platz hat – Joh. hat vielmehr die ganze Welt <strong>und</strong> ihre Fülle vor Augen,<br />
<strong>und</strong> in Beziehung zu ihr stellt er an aller Dinge Spitze <strong>das</strong> Wort. Was im Anfang war – <strong>das</strong> ist <strong>das</strong><br />
Erste; nicht ein Gewordenes – sondern ein Vorhandenes, eben deshalb der Zeit <strong>und</strong> ihrem Wechsel<br />
nicht Unterworfenes, ein Ewiges. Deshalb auch Christus heißt: der Erste <strong>und</strong> der Letzte Jes. 48,12.<br />
Apoc. 1,17. Kol. 1,17.18. πρωτότοκος πάσης τῆς κτίσεως. Prov. 8,22. Mich. 5,1. Ps. 90,2.<br />
Zweites Satzglied.<br />
ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν. Richtig ist zunächst die Bemerkung unter Andern des Basilius, es habe<br />
Joh. nicht ἐν τῷ θεῷ – sondern πρός gesagt: ἵνα τὸ ἰδιάζον τῆς ὑποστάσεως παραστήσῃ. Indicat discrimen<br />
personale. – Das πρός nun mit dem Akkusativ kann zwar in einigen Stellen bei Klassikern<br />
sowohl als im N. T. (Mk. 6,3. Mt. 13,56 etc. cf. Winer § 53 h. Fritzsche zu Mk. 6,3) durch bei, apud<br />
<strong>über</strong>setzt werden; sollte es aber geradezu = παρὰ τῷ θεῷ sein, so würde Joh. wie c. 17,5 so auch<br />
hier dieser Präposition sich bedient haben. Wie er aber V. 18 sagt ὁ ὢν εἰς τὸν κόλπον – so liegt<br />
auch in dem πρὸς die Richtung wohin, die persönliche Richtung des Wesens <strong>und</strong> Willens zu Gott<br />
hin. cf. 1. Joh. 1,2. Lampe entfaltet in folgender Weise den Inhalt der Worte: 1) communionem divinae<br />
gloriae, tanquam viri qui Jovae erat proximus. Zach. 13,7, 2) unitatem voluntatis atque adeo<br />
perfectissimum amoris vinculum, 3) ordinem subsistendi, 4) relationem sermonis ad patrem in consilio<br />
pacis, in quo fuit consiliarius Jes. 9,6, cui pater omnia ostendit Joh. 5,20. Ex. 23,21. Wenn<br />
Christus – der ὁ υἱὸς τῆς ἀγάπης heißt, so ist offenbar, <strong>das</strong>s andererseits der Sohn mit dem ganzen<br />
Wesen seiner selbst zugewendet ist dem Vater. 20 Gen. 1,26 heißt es: ;נÚעãשÜה im Exod. wird Mosi angezeigt,<br />
die ganze Hütte zu machen nach dem Bilde der Dinge, <strong>das</strong> er bei Gott gesehen <strong>und</strong> Prov. 8,80<br />
sagt die Weisheit: ב¦כ ©ל־עÜת ל¦פœנœיו יום יום ם¦שÚהæקæת שÚעãשוע¤ים אמון וœאæה¦יæה אæצ¦לל .וœאæה¦יæה Die Herrlichkeit, die ewige<br />
Seligkeit Gottes hat <strong>das</strong> Wort ganz <strong>und</strong> allein im Auge; von dieser Herrlichkeit ist es ganz erfüllt,<br />
weiß nur von ihr; als Gott den Rat nahm, eine Welt zu schaffen – war dies eine Tat für uns unbegreiflicher<br />
Güte in ihm; zu diesem Rat der Liebe <strong>und</strong> Güte, dem Rat seiner Offenbarung <strong>und</strong> Darstellung<br />
der Seligkeit <strong>und</strong> Herrlichkeit Gottes hat alles Beziehung, was <strong>das</strong> Wort tut <strong>und</strong> spricht – so<br />
wie die Richtung alles Tuns <strong>und</strong> Redens Christi diese Eine war, Gott zu offenbaren <strong>und</strong> zu verherrlichen<br />
als den Vater, selbst vor Gott <strong>und</strong> bei Gott verherrlicht zu werden als der Sohn <strong>und</strong> in dieser<br />
Herrlichkeit die abgefallene Kreatur zu Gott zurückzuführen. Ja <strong>das</strong> Wort hat es gleich von Anfang<br />
vor Gott <strong>über</strong>nommen, seine Herrlichkeit <strong>und</strong> Seligkeit – deren Offenbarung es war – auch zu offenbaren<br />
<strong>und</strong> auch bei dem Abfall der Kreatur – nur desto glänzender zu verherrlichen – <strong>und</strong> eben<br />
deshalb war die Weisheit Gottes Lust <strong>und</strong> Wohlgefallen, <strong>und</strong> durch <strong>das</strong> Werk der Schöpfung spielt<br />
<strong>das</strong> Werk der Erlösung schon hindurch.<br />
19 Ein begrifflicher Anfang ist leicht gesetzt – aber der wirkliche Anfang aller der sichtbaren Dinge <strong>und</strong> der sämtlichen<br />
Weltzeiten wohl nicht so leicht.<br />
20 War <strong>das</strong> Wort von allem Anfang an zu Gott hin – so wird es ja auch jetzt uns zu Gott führen wollen <strong>und</strong> können. In<br />
ihm der Weg zum Vater; die Richtung zu Gott hin.
1. Kapitel 55<br />
Dritter Absatz. Dass in den Worten θεὸς ἦν ὁ λόγος Subjekt ὁ λόγος ist – ist von vornherein klar,<br />
da eben von dem Worte Joh. in diesen Versen handelt. Eben deshalb steht auch θεὸς als Prädikat<br />
ohne Artikel <strong>und</strong> ist, um diese Aussage desto stärker zu betonen, vorangestellt. Den Gegnern der<br />
Trinität ist dieses θεὸς sehr im Wege gewesen. Die Socinianer wollten θεοῦ lesen. Orig. nach seiner<br />
Subordinations-Lehre unterschied <strong>das</strong> θεὸς von dem ὁ θεὸς, dem αὐτόθεος, <strong>und</strong> Lücke sucht es dem<br />
adiectivum θεῖος nahe zu bringen. Ein δεύτερος θεὸς ist aber an sich widersinnig. Wenn Joh. mit<br />
Nachdruck sagt: θεὸς ἦν – also auf <strong>das</strong> θεός – sein gerade den Nachdruck legt – so ist offenbar, <strong>das</strong>s<br />
<strong>das</strong> Wort auch ὁ θεὸς ist – ὁ γὰρ θεὸς εἷς ἐστιν. Gal. 3,20 cf. Joh. 20,28. Hebr. 1,4.8.9. Act. 20,28. 1.<br />
Tim. 3,16. 1. Joh. 5,20. οὗτός ἐστιν ὁ ἀληθινὸς θεὸς καὶ ἡ ζωὴ αἰώνος.<br />
Joh. sagt demnach von dem den Christen wohl bekannten Worte zweierlei aus: 1) Im Anfang war<br />
es – es ist also <strong>das</strong> wahrhaft allein Existierende, aller Dinge Ausgangspunkt, Ursprung, Inbegriff<br />
<strong>und</strong> Haupt. 2) Seine ganze Richtung war zu Gott hin, Gott zu verherrlichen; seine Tätigkeit also ist,<br />
den Rat <strong>und</strong> Willen der Gnade <strong>und</strong> Liebe Gottes zu vollführen. 3) Zur Ausführung dessen war es<br />
mit aller Macht bekleidet, ja es war selbst Gott <strong>und</strong> gebot <strong>über</strong> alles im Himmel <strong>und</strong> auf Erden, <strong>über</strong><br />
alle Zukunft, alle Gewalt <strong>und</strong> Macht. Gott ist zu groß für Staub; als er den Rat nahm, sich zu offenbaren<br />
– konnte er sich an nichts offenbaren, was kleiner sein sollte als er selbst; <strong>das</strong> Wort, worin<br />
Himmel <strong>und</strong> Erde geschaffen, <strong>das</strong> Wort, welches zu Gott war, konnte nichts Anderes denn selbst<br />
Gott sein. – Ein König kann seinen Willen nicht aussprechen – ohne <strong>das</strong>s sein Wort König ist gleich<br />
er; würde <strong>das</strong> Wort nicht herrschen <strong>und</strong> Macht haben gleich ihm – so würde er selbst nicht König<br />
sein. 21 Joh. sagt θεὸς ἦν, nicht ἐστι, um es hervorzuheben, <strong>das</strong>s schon damals, ehe noch Welt <strong>und</strong><br />
Sichtbares bestanden, <strong>das</strong> Wort Gott gewesen; es folgt dann um so viel mehr von selbst, <strong>das</strong>s es<br />
eben <strong>das</strong>selbe auch noch ist <strong>und</strong> bleibt trotz Welt <strong>und</strong> Sichtbarem.<br />
Die berühmte Stelle 1. Joh. 5,7 ist zwar kritisch sehr verdächtigt worden; es lässt sich aber ihre<br />
Echtheit mit hinreichenden Gründen erhärten. In dieser Stelle sind drei die μαρτυροῦντες ἐν τῷ<br />
οὐρανῷ: ὁ πατήρ, ὁ λόγος καὶ τὸ ἅγιον πνεῦμα. Apoc. 19,13 ist der Name des im Himmel Regierenden<br />
(V. 11): ὁ λόγος τοῦ θεοῦ. Und auf sein Gewand <strong>und</strong> seine Hüfte hat er den Namen geschrieben:<br />
βασιλεὺς βασιλέων καὶ κύριος κυρίων.<br />
V. 2 fasst <strong>das</strong> Dreifache von V. 1 zusammen <strong>und</strong> bildet den Übergang zu V. 3. οὗτος i. e. illud ipsum<br />
Verbum quod Deus erat. Gerade in diesem πρὸς τ. θ. εἶναι liegt es, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Wort zu Gottes<br />
Verherrlichung Himmel <strong>und</strong> Erde geschaffen. Denn in der Wahrheit <strong>und</strong> Seligkeit Gottes ist <strong>das</strong><br />
Heil der Kreatur begründet. Nur diesem Rat der Liebe, den <strong>das</strong> Wort ausgeführt, verdankt alles<br />
Sichtbare sein Dasein <strong>und</strong> Leben. cf. Prov. 8,22.23. So vollführte Christus, als er auf Erden war,<br />
eben darin den Willen des Vaters, ist eben darin mit dem ganzen Werk <strong>und</strong> der Arbeit seiner Seele<br />
zu Gott hingerichtet, <strong>das</strong>s er den Namen Gottes offenbare den Menschen <strong>und</strong> <strong>das</strong> Werk der Erlösung<br />
vollführe.<br />
V. 3. Dieser Vers ist nach verschiedener Interpunktion von verschiedenem Umfang. Die Gnostiker<br />
(Valentinianer <strong>und</strong> Heracleon) lasen <strong>das</strong> ὃ γέγονεν zum folgenden Verse – ebenso der Platoniker<br />
Aurelius, Iren., Origenes, Clemens, Cyrillus – die lat. Väter, Erasmus, die Vulgata, noch zur Zeit<br />
des Tridentinum, deren spätere Ausgaben aber <strong>das</strong> ὃ γέγονεν zu V. 3 ziehen. Dagegen legt Chrysost.<br />
den Macedonianern, Ambrosius den Arianern diese Interpunktion zur Last; sie selbst befolgen die<br />
im Text rezipierte. Diese ist auch ohne Zweifel die allein richtige. Auch ist nicht οὐδέν sondern<br />
οὐδὲ ἕν zu lesen.<br />
21 Woran soll sich ein Christ halten? An <strong>das</strong> Wort. So hält er sich an <strong>das</strong>, was von Anfang – an <strong>das</strong>, was ihn sicher zu<br />
Gott bringt – ja an Gott selbst.
56 1. Kapitel<br />
πάντα δι᾽ αὐτοῦ ἐγένετο. πάντα, Alles, was es nur geben mag hier ohne Artikel bezeichnet die<br />
ganze Schöpfung; ἐγένετο, nicht ἦν – es ist geworden, ist also ein Endliches. δι᾽ αὐτοῦ cf. Kol. 1,16.<br />
Ps. 33,6. 1. Kor. 8,6. Hebr. 1,2. Röm. 11,36 (ἐξ – διὰ – εἰς) Ps. 102,26. coll. Hebr. 1,10. Ps. 95,5. ff.<br />
coll. Hebr. 3,7.15. Jes. 45,17. Jer. 10,12. Das διά bezeichnet <strong>das</strong> Wort als den Urheber, Darsteller<br />
<strong>und</strong> Vollführer. Wozu nun aber der negative, die Position verstärkende Satz: Ohne <strong>das</strong>selbige ist<br />
auch nicht Eins geworden? Lücke <strong>und</strong> Olshausen nehmen einen Gegensatz gegen die platonische<br />
Lehre der ὕλη an. Tholuck denkt, auch die Engel habe Joh. damit beschließen wollen. So schon die<br />
Gnostiker (Iren.) πᾶσι γὰρ τοῖς μετ᾽ αὐτὸν αἰῶσι μορφῆς καὶ γενέσεως αἴτιος ὁ λόγος ἐγένετο. Tholuck<br />
bezieht sich auf Kol. 1,16. Dort nun ist aber von den Engeln die Rede, sofern von ihnen Mächte<br />
<strong>und</strong> Kräfte in die Welt ausgehen. Nicht anders will auch Joh. (Röm. 8,39) dieses Eine hervorheben,<br />
<strong>das</strong>s sich die Macht des Wortes <strong>über</strong> Alles erstrecke; so <strong>das</strong>s auch nicht Eines ausgeschlossen<br />
sei. Das Wort hat einst Alles geschaffen zum Dienst <strong>und</strong> zur Freude der Menschen, ja auch die Herrschaften<br />
im Himmel dienen auf sein Geheiß der Errettung der Menschen Hebr. 1,14; wenn es nun<br />
nichts gibt, was ohne <strong>das</strong> Wort geworden ist – so konnten die Gläubigen dem Worte vertrauen, <strong>das</strong>s<br />
wenn ihnen auch Alles möchte geraubt werden, <strong>das</strong> Wort ja dennoch Alles in seiner Macht hat <strong>und</strong><br />
Alles ersetzen kann. Ps. 73. Niemand also verleugne <strong>das</strong> Wort aus Liebe oder Furcht dessen was in<br />
der Welt ist. In Xen. Memor. 1. 1 c. 1 § 34 sagt die ἀρετή: Ἐγὼ μὲν σύνειμι θεοῖς, σύνειμι δὲ<br />
ἀνθρώποις τοῖς ἀγαθοῖς, ἔγον δὲ καλὸν οὔτε θεῖον οὔτε ἀνθρώπινον χωρὶς ἐμοῦ γίνεται. Aber nicht<br />
nur ist durchs Wort Alles geworden, <strong>das</strong> Wort hat nun auch stets eine Stellung zu der geschaffenen<br />
Kreatur. Die Kreatur aber bedarf zuerst <strong>das</strong> <strong>Licht</strong>. Der Kreatur als einer an sich toten gegen<strong>über</strong> war<br />
in ihm <strong>das</strong> Leben <strong>und</strong> dieses Leben geht auf, steht da als <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> der Menschen.<br />
V. 4. ἐν αὐτῷ ζωὴ ἦν. ζωὴ ohne Artikel. Die Erklärer denken teils an die vita naturalis – oder spiritualis<br />
– oder die vita aeterna, die felicitas. Man legt dabei gewöhnlich die Worte so aus, als hieße<br />
es: in ihm war die Quelle alles Lebens. In ihm selbst aber war Leben. Gehen wir aber zunächst von<br />
der Bedeutung des Wortes aus, so ist ζωή dem Stamme nach verwandt mit ζέω, womit auch Ζεύς<br />
zusammenzustellen, = Wärme, Erregung, Odem. Das Wort ist kein totes Ding, ist nicht leer <strong>und</strong> vergeblich,<br />
sondern ein Leben, sagt Moses Deut. 30. Denn alle Fülle der Wahrheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit<br />
Gottes <strong>und</strong> alle Strömung <strong>und</strong> Wallung ewiger Güte <strong>und</strong> Seligkeit ist in ihm. – καὶ ἡ ζωὴ ἦ τὸ φῶς<br />
τῶν ἀνθτρώπων. – Wenn schon <strong>das</strong> physische <strong>Licht</strong> durch <strong>das</strong> Wort geschaffen, so spricht doch hier<br />
Joh. von dem <strong>Licht</strong> der Seele. Der Mensch ward zur lebenden Seele, heißt es in der Genesis, nicht<br />
durch sich, sondern durch Einhauchung Gottes. Deshalb kann diese Seele nicht atmen <strong>und</strong> leben<br />
ohne Luft <strong>und</strong> <strong>Licht</strong>, <strong>das</strong> Leben erwacht erst am <strong>Licht</strong>; in der Nacht würde <strong>das</strong> Leben ersticken. Die<br />
Seele, eingehaucht von Gott, hat die unabweislichen Bedürfnisse eines Lebens <strong>und</strong> eines <strong>Licht</strong>s aus<br />
Gott. Darum heißt auch <strong>das</strong> <strong>Licht</strong>: ἥδιστον φάος, <strong>und</strong> ist Bild aller Freude <strong>und</strong> Wonne. Leben <strong>und</strong><br />
<strong>Licht</strong> sind <strong>über</strong>haupt Korrelatbegriffe. In Mitte des Gartens Eden stand der Baum des Lebens. Als<br />
aber die ersten Menschen Gott, ihr Leben, verließen, da waren sie durch ihre Erkenntnis des Guten<br />
<strong>und</strong> Bösen dem Tode <strong>und</strong> der Gewalt der Finsternis verfallen. – cf. Joh. 5,26. Röm. 6,23. 2. Tim.<br />
1,1, 1. Joh. 5,11. Prov. 7,27; 8,35; 9,11.18. Ps. 42,9; 36,10 fons vitae; Prov. 3,18 lignum vitae; Act.<br />
3,15 princeps vitae; Joh. 6,33 panis vitae. Wer sich also an <strong>das</strong> Wort hält, sagt Joh. – hält sich an <strong>das</strong><br />
Leben, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Leben werde seiner Augen süßes <strong>Licht</strong>, seiner Tritte Festigkeit, seiner Seele Trost<br />
<strong>und</strong> Frieden sein <strong>und</strong> er werde keinen Anstoß zu fürchten haben. – Ganz irrig nimmt Lampe τὸ φῶς<br />
als Subjekt. – Ob Joh. bloß an die Zeit der Schöpfung – oder auch die ganze Folgezeit bis zur Erscheinung<br />
Jesu gedacht, kann fraglich erscheinen.<br />
V. 5. Hier spricht nun Joh. im Präsens φαίνει offenbar von der Gegenwart. cf. 1. Joh. 2,8. Es tritt<br />
hier zuerst der Gegensatz der σκοτία hervor. Auch ehe der Mensch gefallen – konnte er nicht im
1. Kapitel 57<br />
eignen <strong>Licht</strong>e wandeln; anders aber ist der jetzige Zustand, er ist ein Zustand der σκοτία – in der<br />
<strong>und</strong> um die Seele ist’s finster, <strong>und</strong> ohne Gott <strong>und</strong> ohne Hoffnung ist sie. Was die Apostel unter<br />
σκοτία verstehen, ist zu vergl. Act. 26,18. 2. Kor. 6,14. – Röm. 13,12 bes. Eph. 5,11. Lampe sagt:<br />
tenebrae ignorantiae et erroris, impietatis cuiusque vitiorum generis, infelicitatis et mortis. Indem<br />
nun <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> ἐν τῇ σκοτίᾳ also inmitten der Finsternis seine Strahlen ausgehen lässt, wird die Finsternis<br />
als solche offenbar – verschließt sich eben deshalb gegen den hellen Strahl. – καὶ οὐ<br />
κατέλαβεν d. h. nahm es nicht in sich hinein, ließ es nicht in sich hineindringen. Würde sie <strong>das</strong><br />
<strong>Licht</strong> in sich aufgenommen haben – so würde sie selbst <strong>Licht</strong> geworden sein. Eph. 5,8.13 πᾶν γὰρ<br />
τὸ φανερούμενον – φῶς ἐστί.<br />
Die griechischen Väter haben <strong>das</strong> κατέλαβεν vielfach im Sinne von subegit, obscuravit verstehen<br />
wollen, die Finsternis konnte aber doch <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> nicht unterdrücken, was aber entschieden irrig ist.<br />
Joh. hat von dem Wort geredet 1) im Anfang V. 1.2; 2) bei der Schöpfung V. 3; 3) im Paradies V.<br />
4; 5) in der sündigen Menschheit. V. 5. Das Letzte führt ihn auf sein Thema. Den Inhalt von V. 5<br />
entfaltet er näher in großen Gr<strong>und</strong>zügen, die seiner ganzen nachfolgenden Behandlung zu Gr<strong>und</strong>e<br />
liegen in V. 6-13.<br />
V. 6-13. Joh. hat von dem Worte ausgesagt, was es im Anfang gewesen, ehe noch die Welt war V.<br />
1.2 – wie sodann durch <strong>das</strong>selbe alles Sichtbare sein Dasein empfangen V. 3 – <strong>und</strong> was es für den<br />
Menschen gewesen sei, ehe die Sünde in die Welt gekommen V. 4. Herrscht nun jetzt auf Erden<br />
Finsternis – so ist doch <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> <strong>Licht</strong> geblieben <strong>und</strong> eben da, wo Finsternis, ist <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> aufgegangen<br />
<strong>und</strong> scheint da hinein – es will in die Finsternis des Todes, des Unglaubens, des Irrtums <strong>und</strong><br />
Elends die Strahlen seines ewigen, milden <strong>und</strong> Alles belebenden Sonnenlichtes aussenden, aber die<br />
Finsternis hat es nicht in sich aufgenommen. Joh. redet also V. 5 vom Werk der Erlösung – <strong>und</strong> <strong>das</strong>s<br />
die Finsternis hat Finsternis bleiben wollen. Dies bildet nun den Übergang zu der genauem Darlegung,<br />
wie es sich damit verhalte.<br />
V. 6. Ein schweres Urteil hat Joh. V. 5 ausgesprochen. – Nicht aber, fährt er fort, als ob es an Bezeugung<br />
des <strong>Licht</strong>s gefehlt hätte.<br />
ἐγένετο ἄνθρωπος cf. Gal. 4,4. Er ward – nicht ἦν; <strong>das</strong> ἄνθρ. steht nicht ohne Gr<strong>und</strong> – er war<br />
Mensch von der Erde: c. 3,27, aber gesandt von Gott; geboren wie Alle, aber ein geborener Prophet.<br />
Mal. 3,1; 4,5. Mt. 11,7-14. יוהנן heißt: Gott ist gnädig, so war er genannt, denn die Gnadenzeit brach<br />
an, Ex 33,19. So wurde auch die Maria vom Engel begrüßt κεχαριτωμένη. In den Ausdrücken<br />
ἐγένετο <strong>und</strong> ὄνομα αὐτῷ liegt es übrigens deutlich, <strong>das</strong>s Joh. die Geschichte von Lk. 1 (cf. V. 13) ist<br />
gegenwärtig gewesen.<br />
V. 7. Er kam (ἦλθε) – wie der Bote, der ἄγγελος, gesandt vor dem Herrn her. εἰς μαρτυρίαν (c.<br />
18,37) zu einem Zeugnis, damit er gezeugt haben sollte von dem <strong>Licht</strong>e. Er war ein πεφωτισμένος.<br />
gleichsam ein φωσφόρος, vor dem Tage hergehend, eine lucerna ardens et lucens Joh. 5,35 – aber<br />
<strong>das</strong> <strong>Licht</strong> selbst war er nicht. Er erfüllte seinen Beruf zunächst dadurch, <strong>das</strong>s er die Werke der Finsternis<br />
strafte. Eph. 5,11. Ja Alle (πάντας) sollte er zum Glauben führen; ist doch alles Volk zu ihm<br />
gekommen. Und wenn nach Mt. 21,26 πάντες ihn für einen Propheten gehalten, warum denn haben<br />
nicht Alle geglaubt?<br />
δἰ αὐτοῦ richtig Peschito durch ihn zum Glauben geführt werden. Grotius, Lampe u. A.<br />
beziehen αὐτοῦ auf φωτός; damit sie durchs <strong>Licht</strong> d. i. Christum zum Glauben an Gott gebracht<br />
würden.<br />
V. 8. Warum diese Wiederholung? Man hat in diesen Worten eine Polemik gegen die Johannisjünger<br />
finden wollen – aber Joh. will vielmehr gleich von vornherein die Stellung eines Zeugen
58 1. Kapitel<br />
Christi ganz bestimmt bezeichnen; da gilt nicht dessen Person, sondern <strong>das</strong> Zeugnis; um so mehr<br />
also wird des Zeugnisses Gewicht hervorgehoben, um so mehr auf Christus hingewiesen. So Paulus<br />
an die Gemeinde von Korinth. 1. Kor. 3. 4. f. cf. Joh. c. 5,35, denn <strong>das</strong> Volk hält sich bei dem Menschen<br />
auf, in seiner Person etwas besonderes zu suchen, statt sich sein Wort <strong>und</strong> Zeugnis zu Herzen<br />
zu nehmen. Mt. 12,7-14. Daher auch die ewige Erwartung <strong>und</strong> Hoffnung in dem Gestirn des Menschen.<br />
V. 9. Joh. ging voran, mit des Jesajas Ruf: Mache dich auf, werde <strong>Licht</strong> – denn dein <strong>Licht</strong> gehet<br />
auf <strong>über</strong> dir. Das <strong>Licht</strong> selbst ἦς ἐρξόμενον – es war am Kommen; es war schon nahe. So richtig<br />
Augustin, Theod. Mops. Vatablus. Grotius. Lampe. Lk. 15,1 ἦσαν ἐγγίζοντες. Mk. 10,32. In die<br />
Welt kommen von Christo gebraucht Joh. 3,19; 6,14; 9,39; 11,27; 16,28; 18,37. 1. Tim. 1,15. de<br />
Wette <strong>und</strong> Lücke nehmen ἦν ἐρχόμενος falsch für ἦλθεν. Die meisten älteren Exegeten nahmen <strong>das</strong><br />
.בוא ב¦עולœם ἐρχόμενον als Apposition zu ἄνδρ. jeden Menschen, der geboren ward, cf. <strong>das</strong> rabinische<br />
τὸ φῶς, τὸ ἀληθινόν sagt Joh. mit Nachdruck: <strong>das</strong> wahrhaftige. Es gibt lumina m<strong>und</strong>i, Irrlichter genug,<br />
Joh. selbst hatte lange genug in seiner Seele geharrt auf <strong>Licht</strong>, <strong>und</strong> manches <strong>Licht</strong> ist ihm erloschen<br />
bis zu jenem Ostermorgen. Mt. 28,1. ἀληθινός gebraucht in diesem Sinne z. B. Xen. de exped.<br />
Cyri ἀληθινὸν στράτευμα i. e. qui vere exercitus dici meretur. Philo: ἀληθινὴ ζωή. Seneca: vera<br />
lux.<br />
ὃ φωτίζει πάντα ἄνθρ. so war die Verheißung. Ps. 72,11. Jes. 47,6.7. Ps. 100,1. Jes. 2,5. Lk. 1,76.<br />
Für <strong>das</strong> φωτίζειν vgl. 2. Kor. 3,18. Eph. 5,8; 3,8.9. 2. Kor. 4,4. Röm. 16,25.26. Nonnus: ὃς ἄνδρα<br />
πάντα καθαίρει πνευματικαῖς ἀκτῖσι καταυγόζων φύσιν ἄνδρων.<br />
V. 10. In V. 10 nimmt nun Joh. den Satz V. 5 wieder auf. Die beiden ersten Glieder stehen im Gegensatz<br />
zum dritten. Er war in der Welt – Er der ihr Schöpfer war – <strong>und</strong> die Welt kannte oder erkannte<br />
ihn nicht. – κόσμος ist eigentlich Schmuck – die Welt also, sofern sie im Schmuck der Herrlichkeit<br />
<strong>und</strong> der Gaben Gottes prangt. Indem aber die Welt in der Begierde der Augen <strong>und</strong> der Begierde<br />
des Fleisches durch <strong>das</strong> was in der Welt ist sich fesseln lässt <strong>und</strong> in ἀλοζονεία τοῦ βίου sich<br />
erhebt, wendet sie sich ab von der Erkenntnis dessen, der allein Gottes Herrlichkeit, Liebe <strong>und</strong><br />
Wahrheit hoch <strong>und</strong> in Ehren hält. cf. Röm. 1,18 ff.<br />
V. 11. εἰς τὰ ἴδια ἦλθε. Schon die griechischen Väter sprachen von der doppelten Erklärung, <strong>das</strong>s<br />
entweder abermals die Welt, oder insbesondere <strong>das</strong> Volk Israel gemeint sei. Das Letztere ist <strong>das</strong> allein<br />
Richtige. War doch Israel die haereditas Jehovae, die vinea Jes. 5 cf. Mt. 21,38, <strong>das</strong> Land Immanuels<br />
Jes. 8,8, Jerusalem war die Stadt des großen Königs, der Tempel sein Palast <strong>und</strong> <strong>das</strong> Volk<br />
<strong>das</strong> Volk der ,ס¦גðלœה des Eigentums. 1. Petr. 2,9. Ex. 19,5. – Sie aber, die in ihren Synagogen <strong>das</strong> veni<br />
redemtor Domine, <strong>das</strong> veniat regnum suum alltäglich sangen, welche der Herr selbst sein Volk<br />
nannte Mt. 10,6. Röm. 15,8 – wollten, <strong>das</strong>s ihr König gekreuzigt würde.<br />
V. 12.13. Dem κόσμος <strong>und</strong> den ἴδιοι werden nun gegen<strong>über</strong>gestellt diejenigen, welche Christum<br />
angenommen als <strong>das</strong> Wort, <strong>das</strong> vom Vater in die Welt ausgegangen, ὅσοι quotquot – ob Viele, ob<br />
Wenige, an diesem שאדית aber bewährte sich an jedem Einzelnen des Wortes Macht. ἐξουσία ist<br />
nicht δύναμις – sondern Vollmacht, Freiheit, Privilegium, eigentlich ein Heraussein aus aller Geb<strong>und</strong>enheit<br />
also eine Freiheit Apg. 22,14. 1. Joh. 5,20. δέδεωκεν διάνοιαν –<br />
Welche ἐξουσία nun verlieh er, durch den alle Dinge geworden sind? Die ἐξουσία etwas geworden<br />
zu sein, γενέσθαι nicht γίνέσθαι, was sie zuvor nicht waren – nämlich τέκνα θεοῦ cf. Gal. 3,26.<br />
Omnes filii Dei estis. 1. Joh. 3,1. Durch seine Aufnahme also sind sie geschaffen zu einem neuen<br />
Leben. Jak. 1,18. Gott selbst hat sie durch <strong>das</strong> Wort der Wahrheit neu geboren. Das Partizip τοῖς<br />
πιστεύουσιν beschreibt zur Abwehr jeder falschen Deutung was <strong>das</strong> Wesen, der bleibende Charakter<br />
derjenigen ist, denen jene ἐξουσία gegeben. Joh. sagt nicht etwa: τοῖς δἰ αὐτοῦ ἡγιασμένοις sondern
1. Kapitel 59<br />
τοῖς π. Was sie an <strong>und</strong> für sich selbst sind, oder auch geworden sind, kommt nicht in Frage; des Lebens<br />
Gottes sind sie nicht in sich teilhaftig – sondern in ihrem Glauben εἰς τὸ ὄνομα αὐτοῦ, welche<br />
von Herzen glauben, <strong>das</strong>s er der ist, als welcher er sich offenbart hat. In seinen Namen = in sein Wesen,<br />
wie er es selbst mit aller Macht k<strong>und</strong>getan <strong>und</strong> zur Anerkennung gebracht hat.<br />
V. 5. hieß es κατέλαβεν – die Finsternis hat <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> nicht in sich aufgenommen; in <strong>das</strong> Ihre ließ<br />
sie es nicht hinein; V. 10 παρέλαβον sie nahmen ihn nicht bei sich auf; hier ἔλαβον – ohne selbst<br />
was zu haben, nahmen sie ihn, wie er sich gab, erlangten sie <strong>das</strong> himmlische Bürgerrecht.<br />
V. 13. Wie <strong>das</strong> ἔλαβον in πιστεύοντες eine Erläuterung hat, so <strong>das</strong> τέκνα θεοῦ in V. 13. οἵ masc.<br />
nicht ἅτινα. – Falsch ist des Iren. <strong>und</strong> Tertull. Lesart ἐγεννήθη, als von Christo gesagt. Was in dem<br />
Worte „τέκνα θεοῦ“ enthalten sei, wird hier vorgeführt <strong>und</strong> zwar im Gegensatz gegen ein anderes<br />
Gebiet. In der Erklärung der Worte οὐκ ἐξ αἱμάτων etc. weichen aber die Erklärer sehr von einander<br />
ab. Tholuck <strong>und</strong> Lücke finden darin eine Beschreibung der irdischen Zeugung, die zunächst physisch<br />
durch ἐξ αἱμάτων, dann als eine sinnliche durch <strong>das</strong> ἐκ θελήματος σαρκός <strong>und</strong> ἐκ θελ. ἀνδρός<br />
beschrieben werde. August., Theoph., Euthymius deuteten im Gegensatz zum Mann <strong>das</strong> θελ.<br />
σαρκός von der Frau. Dabei sieht indes Lücke im Gr<strong>und</strong>e in diesen Ausdrücken nur eine rhetorische<br />
Häufung. Nach andern ist nicht von Kindschaft <strong>über</strong>haupt – sondern auch hier von andern τέκνοις<br />
θεοῦ die Rede. Waren doch die Israeliten auch Kinder Gottes Ex. 4,22. Mt. 15,26. Röm. 9,4. Proselytus<br />
velut infans recens natum habetur – ist ein dictum Talmudicum. Auch die Griechen sprachen<br />
von solch geistiger Geburt. Plato im Phaedrus sagt, die Seele empfange durch die Liebe der Philosophie<br />
ἄλλου βίου ἆϊδίου ἀρχήν. Viele ältere Exegeten denken deshalb bei den drei Gliedern 1) an<br />
die Geburt aus dem Geschlecht Abrahams, 2) an den Willen des Proselyten, 3) an Adoption oder an<br />
die geistliche Beziehung zu einem berühmten Lehrer, welches auch eine Kindschaft genannt werde<br />
1. Reg. 2,12 so <strong>das</strong>s also die Gläubigen als wahre Kinder Gottes gegen<strong>über</strong>gestellt werden denen,<br />
die es nur fleischlich durch Abstammung oder Aufnahme in <strong>das</strong> Volk Israel sind. Mt. 3,9. Joh. 8,33.<br />
Röm. 9,8. 1. Petr. 1,23. Origenes deutet die Worte so, <strong>das</strong>s er <strong>das</strong> Blut bezieht auf den Opferdienst,<br />
des Fleisches Willen auf die Beschneidung, des Mannes Willen auf die Schriftgelehrsamkeit. – Um<br />
die richtige Erklärung zu finden, vergl. man zuvörderst analoge Stellen der Schrift selbst. In Joh. 3,6<br />
<strong>und</strong> 1. Petr. 1,23 wird der Gegensatz des σπέρμα φθαρτόν <strong>und</strong> ἄφθαρτον hervorgehoben. Joh. führt<br />
die Existenz alles Menschlichen, was sich gleichwohl als Göttliches hervortun will, zunächst zurück<br />
auf ἐξ αἱμάτων. Der Plural steht wie <strong>das</strong> deutsche Geblüt, <strong>und</strong> ist auch im Klassischen nicht ungewöhnlich<br />
Euripid. Jon. 6, 92 ed. Dind. ἔξει δόλον τύχαν δ᾽ὁ παῖς ἄλλων τραφεὶς ἀφ᾽ αἱμάτων. Aug.<br />
nimmt den Plur. ex sanguinibus maris et feminae. Sei es nun auch in Abstammung von Patriarchen<br />
<strong>und</strong> Propheten – so ist’s doch immer ἐξ αἱμάτων; <strong>das</strong> Blut aber ist nicht ewiger Strömung, vor Gott<br />
muss es ausgegossen werden. Die folgenden Glieder mit οὐδεά nicht οὔτε sind dadurch als beigeordnet<br />
bezeichnet. Win. §. 59, 6. Irrig wird <strong>das</strong> θέλημα gewöhnlich = ἐπιθυμία genommen. Was es<br />
nun auch für Willen gebe Gottes Kinder zu erwecken, <strong>das</strong> Reich Gottes auszubreiten, so ist’s doch<br />
nur Wille des Fleisches; <strong>und</strong> der selbstbewusste, eigenmächtige Wille des Mannes, der sich zum<br />
Schaffen tüchtig hält – gilt nicht im Reiche Gottes Jak. 1,20. Alles Menschliche <strong>und</strong> Irdische, was<br />
des Lebens <strong>und</strong> Geistes <strong>und</strong> göttlicher Abstammung sich rühmt, muss am Ende auf <strong>das</strong> Irdische seinen<br />
Ursprung zurückführen (ἀνδρός – σαρκός – γυναικός.) Auch jede so genannte geistige Geburt,<br />
welche nicht aus Christo ist, hat diesen Ursprung. – Mit Beziehung auf die bei denen <strong>das</strong> Wort<br />
Glauben gef<strong>und</strong>en, beginnt nun Joh. den 3. Abschnitt V. 14-18.
60 1. Kapitel<br />
3. Abschnitt. V. 14-18.<br />
V. 14. Ganz richtig sagen Chrys. Theoph. Lampe, <strong>das</strong>s hier der Gr<strong>und</strong> der Kindschaft angegeben<br />
werde. Καὶ <strong>und</strong> – mehr noch. Im Fortschritt der Rede schöpft Joh. um so völliger aus der Tiefe. Joh.<br />
hat im vorigen Verse lebhaft sich vergegenwärtigt, wie Fleisches <strong>und</strong> Mannes-Wille immerdar Leben<br />
<strong>und</strong> Göttliches schaffen will in der Welt, uneingedenk des Todes. Dass nun aber wirklich auf<br />
Erden Geborene aus Gott, solche die mit Gott ewiges Leben empfangen haben, sind, <strong>das</strong> verdankt<br />
sein Entstehen einem ganz andern Willen. Oben heißt es ἐγένετο ἄνθρ. es ward ein Mensch; hier<br />
aber steht voran ὁ λόγος – <strong>das</strong> Wort, <strong>das</strong> ewige <strong>und</strong> allein herrliche – ward nicht Mensch – sondern<br />
Fleisch. Richtig sagt Aug., Joh. habe den Ausdruck gewählt, uns zu zeigen quousque se humiliaverit<br />
filius Dei. σάρξ ist keineswegs wie Euthym. will = ἄνθρωπος sondern steht immer im Gegensatz<br />
gegen πνεῦμα. Die von Gott abgefallene Kreatur nannte Gott Fleisch. Gen. 6,12. f. 1. Tim. 3,16.<br />
Röm. 1,3. 9,5. 1. Petr. 3,18; 4,1. Röm. 8,3. 2. Kor. 13,4. Hebr. 4,15; 2,17.18. Die Sphäre des πνεῦμα<br />
ist Leben, Friede, Freude, – die Sphäre der σάρξ ist ἁμαρτία, ἀσθενεία, θάνατος, κατάρα Es heißt<br />
nicht etwa: er nahm einen Leib an – sondern er ward’s; er ward seinen Brüdern in Allem gleich,<br />
ausgenommen die Sünde.<br />
ἐσκήνωσεν eigentlich er zeltete unter uns, Beziehung auf <strong>das</strong> מועÜד א ©הæל Jes. 4,5. f. 8,14. Zach.<br />
6,12.13. Joh. 2,19.21. Apoc. 21,3.22. LXX. Zach. 2,10. ἰδοὺ ἐγὼ ἔρχομαι καὶ κατασκηνώσω ἐν<br />
μέσῳ σου. Zugleich in Beziehung darauf, <strong>das</strong>s er hier nicht zu Hause war <strong>und</strong> hin <strong>und</strong> her zog im<br />
Lande. 2. Sam. 7,6. Gerade aber indem er in des Menschen ganzen Zustand einging – ward, wo von<br />
Seiten der Menschen Sünde, wo Krankheit, wo Tod war, seine Herrlichkeit offenbar, <strong>das</strong>s er <strong>das</strong><br />
selbständige Wort des Vaters war, aller Dinge mächtig auf Erden <strong>und</strong> im Himmel. Über dem Stiftszelt<br />
erschien die δόξα κυρίου <strong>und</strong> Ex. 25,8 <strong>über</strong>setzen die LXX ו¦שœכÚנ¦ת¤י ב¦הוכœם durch καὶ ὐφθήσομαι<br />
ἐν ύμῖν. – Die Herrlichkeit wird nun näher bezeichnet als δόξα ὡς d. h. wie sie gerade ein Solcher<br />
hat, als eines μονογενής. Nur Joh. hat diese Bezeichnung 1,18. 3,16.18. 1. Joh. 4,9. – Grade indem<br />
Christus als Mensch mit menschlichen Bedürfnissen <strong>und</strong> in Schwachheit des Fleisches unter dem<br />
Volk umherging, haben die Apostel erkannt, ja gesehen (1. Joh. 1,1) eine Herrlichkeit, wie sie kein<br />
Anderer auf Erden hatte. Indem sie ihm gegen<strong>über</strong> erst recht zu der Anerkennung kamen, <strong>das</strong>s alles<br />
Menschliche ein Irdisches <strong>und</strong> Eitles ist, erkannten sie zugleich, <strong>das</strong>s allein er anders woher seinen<br />
Ursprung hatte <strong>und</strong> als eines himmlischen Vaters einziger Sohn des Vaters ewige Liebe in sich trug.<br />
cf. Mt. 16,16. – Ist er der μονογενής – so besteht eben die Kindschaft der Vielen nur in Ihm, die<br />
eben an diesen seinen Namen glauben, <strong>das</strong>s Er es allein ist. – Gott hat also sein Wort als Mensch<br />
lassen geboren werden. Gott, der Alles vermag, vermochte dies. Lk. 1,37. Es ist fraglich, wie <strong>das</strong><br />
πλήρης zu beziehen. Abzuweisen ist vorerst die Variante des Codex D. πλήρη Acc. zu δόξα. Auf<br />
δόξα haben auch die Valentinianer, Theoph. u. A. es wenigstens bezogen. Entweder sind nun die<br />
Worte καὶ ἐθεασάμεθα als Parenthese zu fassen <strong>und</strong> πλήρης auf ὁ λόγος zu beziehen – oder <strong>das</strong><br />
πλήρης ist als Anacoluth Eph. 3,17 zu nehmen <strong>und</strong> gehört zu μονογενοῦς. Eben darin bestand seine<br />
Herrlichkeit, <strong>das</strong>s er πλήρης χάριτος καὶ ἀλήθείας war. יœאæמæת חæסÜד ב רÚ Ex. 34,6.7. Joh. spricht zuerst in<br />
der ersten Person an dieser Stelle, drängt aber sich gleich zurück <strong>und</strong> stellt deshalb auch im Nom.<br />
<strong>das</strong> πλήρης – gleichsam als einen Ausruf hin.<br />
V. 15. V. 8-11 war Christus gegen<strong>über</strong> der Welt; V. 12-18 gegen<strong>über</strong> der Gemeinde. Wie dort die<br />
μαρτυρία des Johannes so auch hier. Den Inhalt von V. 14 wird dann V. 16-18 näher entfalten.<br />
Das κέκραγε bezieht sich nicht, wie Lücke will, auf <strong>das</strong> Öffentliche dieses Zeugnisses – sondern<br />
bezeichnet es als einen Schrei aus tiefster Seele. Joh. war φωβὴ βοῶνοτς. In den Worten des Täufers<br />
selbst versteht Lampe <strong>und</strong> And. <strong>das</strong> ἔμπροσθεν von der Würde, dem Vorrang – <strong>das</strong> πρῶτος von der<br />
Zeit, während bei den älteren Exegeten meist <strong>das</strong> Umgekehrte sich findet. Die gewöhnliche Bedeu-
1. Kapitel 61<br />
tung des ἔμπροσθεν <strong>und</strong> der Gegensatz des ὀπίσω nötigt, es von der Zeit zu verstehen. Der Täufer<br />
bezeichnet also Christum als den, welcher eben derjenige gewesen sei (ἦν nicht ἐστί) von dem er<br />
gesagt: ὅμ εἶπον Acc. cf. V. 48. Der nach mir Kommende ist vor mir geworden; γέγονεν doch nicht<br />
ἐγένετο; wobei er an die γένεσις denkt, die Mt. 1 beschreibt Mich. 5,1. Dies beweist Joh. damit,<br />
<strong>das</strong>s eben er nur um Christi willen da sei, <strong>das</strong>s er nur im Gefolge dieses πρωτότοτκος sei, <strong>das</strong>s seine<br />
ganze Existenz erst von ihm ihren Ausgang habe. Mt. 3,11. Mal. 3,1. Kol. 1,18 έν πᾶσιν πρωτεύν.<br />
πρῶτος nicht gleich πρότερος. Der πρότερος ist damit noch nicht der absolut Erste.<br />
V. 16. Wie nun schon Jener seine Abhängigkeit von Christo aussprach, so fährt Joh. fort im Namen<br />
aller Glaubenden, <strong>das</strong>s sie ἐκ τοῦ πληρώματος αἰτοῦ (cf. πλήρης V. 14) genommen καὶ χάριν<br />
ἀντὺ χάριτος ja Gnade um Gnade. Statt καὶ hat Griesb. ὅτι. Gratia excipit gratiam. Das ἀντί bezeichnet<br />
die ununterbrochene Wechselfolge; an der Stelle der einen Gnade eine neue Gnade, so <strong>das</strong>s<br />
für ἔργα <strong>und</strong> eigene Ausfüllung kein Raum bleibt.<br />
V. 17 f. Joh. bestätigt was er von Christo gesagt im Gegensatz gegen allen Einspruch. Wollte nun<br />
aber Einer Christo gegen<strong>über</strong> sich auf Moses berufen, wie es die Juden taten – so sagt Joh.: freilich<br />
<strong>das</strong> Gesetz ist durch Moses gegeben; was aber <strong>das</strong> Gesetz will <strong>und</strong> was seine Erfüllung ist, ἡ χάρις<br />
<strong>und</strong> ἡ ἀλήθεια. (hier mit dem Artikel) ist nicht gegeben, sondern geworden durch J. Chr. – Der Apostel<br />
setzt hier diesen Namen Jesus Christus zuerst. – Und wollte weiter Jemand gegen<strong>über</strong> Christo<br />
auf Gott sich berufen, so schließt Joh. V. 18, <strong>das</strong>s von Gott Niemand Bescheid wisse als durch diesen<br />
Einen. Er, der in des Vaters Busen hinein ist, hat es da heraus genommen, was er als Gottes<br />
Worte in die Welt geredet hat. Vergl. die griechische Redensart: ἐπὶ κόλπον ἔχειν. – Wer also nach<br />
dem Gesetz <strong>und</strong> nach Gott fragt – der halte sich an ihn. – ἐξηγεῖσθαι ward bei den Griechen vom<br />
Ausdeuten heiliger Dinge gesagt. Wetstein. Kreuzers Symbolik 1, 13. LXX. für הורœה Lev. 14,57.<br />
_______________<br />
Das prooemium gibt <strong>das</strong> Schema, die Gr<strong>und</strong>gedanken, welche Joh. durch <strong>das</strong> ganze Evangelium<br />
verfolgt. Welches ist <strong>das</strong> Wort? Das Allmächtige, Ewige, ja Gott selbst. Ohne <strong>das</strong>selbe kein Leben –<br />
ohne <strong>das</strong> Leben kein <strong>Licht</strong> für den Menschen. Sollte man aber daran nicht irre werden, wenn man<br />
sieht, wie Christus aufgenommen ist auf Erden. Weder erkannt von der Welt, noch empfangen von<br />
den Seinen.<br />
Nein, ruft Joh. mit des Täufers Worten, dennoch er ist’s <strong>und</strong> bleibt’s; er kündet von der Herrlichkeit,<br />
von der unerschöpflichen Fülle der Wahrheit <strong>und</strong> Gnade in Christo Jesu. Damit ein Jeglicher<br />
bei ihm, in Seinem Worte beharre, denn ohne ihn gibt es keine Gemeinschaft mit Gott. – Der ganze<br />
Fortgang des Evangeliums bei Joh. ist nun der, <strong>das</strong>s immermehr <strong>das</strong> Wort seine Macht offenbart,<br />
der Widerstand sich steigert, die Menschen mehr <strong>und</strong> mehr an dem Worte offenbar werden, <strong>das</strong>selbe<br />
aber nicht unterdrücken können, bis man es endlich im Tode zu ersticken sucht, aus dem es sich<br />
dann in voller Herrlichkeit wieder erhebt. Joh. beginnt nun mit dem Zeugnis des Täufers V. 19-34<br />
<strong>und</strong> dessen Erfolg. 35-52.<br />
Das Zeugnis des Täufers.<br />
V. 19. αὓτη dieses – welches V. 20 folgt. – ἑρεῖς καὶ Λευΐται stehen im A. T. immer nebeneinander,<br />
es sind diejenigen, denen die יה״ בÜית עãבðדÚת von Gott selbst anvertraut, deren Anteil Jehova selbst<br />
ist. – Seit 400 Jahren war in Israel kein Prophet aufgestanden, um so höher war die Erwartung damals<br />
gespannt, da man die Zeit des Messias nahe wusste. Als nun Joh. auftrat, <strong>und</strong> <strong>das</strong> ganze Volk<br />
von dem Gefühl durchdrungen wurde, in ihm sei der Geist der alten Propheten aufgelebt – da war<br />
große Nachfrage, ob er nicht selbst der Messias sei, Lk. 3,15. Die Leiter des Volks, die gesamte
62 1. Kapitel<br />
fromme <strong>und</strong> strenge Partei, <strong>das</strong> Synedrium waren ihm aber gram, Lk. 7,29.30, ungewiss indes was<br />
sie tun sollten, senden sie aus Jerusalem, der Hauptstadt, eine ordnungsmäßige Deputation an ihn<br />
mit der Frage, wer er sei. cf. Mt. 3,7. Lk. 3,15.<br />
V. 20. Joh. Antwort wird bezeichnet als ein Bekenntnis cf. Hebr. 3,1. 1. Tim. 6,13. Das Gewicht<br />
desselben wird durch den negativen Satz οὐκ ἠρνήσατο noch mehr hervorgehoben. Auffallend ist<br />
die Stellung des ἐγώ: nicht bin ich der Christus. Er betrachtet die Fragenden als solche welche den<br />
Messiam suchen; in seiner Antwort nun stellt er seine Person völlig bei Seite.<br />
V. 21. Die Deputierten haben nun aber weitere Fragen. Was dann, τί Neutrum. – Nach Mal. 4,5<br />
wurde damals allgemein als dem Messias vorhergehend Elias erwartet Mt. 11,14. 17,10-13. Mk.<br />
9,11. Sodann wurde auf Gr<strong>und</strong> von Deut. 18,15 viel von dem Propheten gesprochen, der in die Welt<br />
kommen werde, Joh. 6,14, wobei man sich unklar war, ob derselbe mit dem Messias ein <strong>und</strong> dieselbe<br />
Person sei Act. 3,22; 7,37; Joh. 6,14 oder nicht. Mt. 17,3. Lk. 9,30-32. Auch diese Fragen verneint<br />
Joh. – Wie aber konnte er dies, fragte schon Origenes, da er doch Elias Mt. 17,10; 11,14. Lk.<br />
7,27 war, <strong>und</strong> ohne Zweifel auch gewusst hat, was sein Vater Zacharias von ihm geweissagt Lk.<br />
1,17? Elias hat nicht einen Ruhm für sich gesucht, sondern für den Namen Jehovas geeifert. Die Juden<br />
nun dachten sich unter Elias <strong>und</strong> dem Propheten einen W<strong>und</strong>ermann; indem nun Joh. ein Elias<br />
vor dem Volk <strong>und</strong> nach des Volks Ideen nicht sein wollte, hat er im Geiste <strong>und</strong> der Kraft Eliae gehandelt<br />
<strong>und</strong> von sich ab, aber zu Christo hin, dessen Ehre ihm allein am Herzen lag, gewiesen. So<br />
sagt Amos: ich bin kein Prophet.<br />
V. 22. Indem nun aber die Abgeordneten auf eine positive Antwort dringen, gibt Joh. diese so,<br />
<strong>das</strong>s er in der ganzen Kraft eines für die Tage des Messias in der Schrift selbst zuvor verkündigten<br />
Zeugnisses sie auf den Herrn selbst hinweist. Jes. 40,3.<br />
V. 24. Lücke kann nicht einen hinreichenden Gr<strong>und</strong> des Zusatzes finden, <strong>das</strong>s sie von den Pharisäern<br />
gewesen. Der Zusammenhang ist aber dieser. Die eigentliche Absicht der Frage wurde nur offenbar;<br />
die Pharisäer ärgerten sich an dem Täufer Joh. als Pharisäer – <strong>und</strong> so fangen sie nun an, bei<br />
Joh. die Befugnis seiner Taufe in Frage zu bringen. cf. c. 2,18. – Die βαπτισμοί <strong>über</strong>haupt (Hebr.<br />
6,2) <strong>und</strong> die des Joh. insbesondere betrachteten die Pharisäer als zum καθαρισμός (c. 3,25) gehörig;<br />
eine große Reinigung nun erwartete man allerdings zu Zeiten des Messias nach Ez. 36,25; 37,23,<br />
insbesondere würde Elias eine solche vornehmen (cf. Lightfoot ad. 1.) Der Taufe des Joh. mochten<br />
sich aber die Pharisäer nicht unterwerfen, da sie sich für rein hielten.<br />
V. 26. cf. Mt. 3,11. Mk. 1,7.8. Lk. 3,16. Man erwartet, der Täufer würde nun seine Berechtigung<br />
nachweisen – <strong>und</strong> schon Heracleon nahm eine Inkongruenz der Antwort <strong>und</strong> Frage an; ebenso de<br />
Wette, Lücke, Olshausen <strong>und</strong> Tholuck geben keine ausreichende Erklärung. – Die direkte Antwort<br />
lag nicht so sehr in den Worten, als dem Eindruck derselben. Der Täufer entwaffnet die ihm feindseligen<br />
Pharisäer, indem er, ohne seiner Taufe irgend eine geistige <strong>und</strong> seligmachende Wirkung beizulegen<br />
sich als nicht einmal würdig bezeichnet, Sklavendienste dem zu leisten, der bereits – aber ihnen<br />
unbekannt – in ihrer Mitte sich befinde. Immer zieht er von sich auf Christum hin.<br />
V. 28. Statt Bethanien ist besonders durch Origenes die Lesart Βηθαβαρά von Vielen eingeführt.<br />
Allerdings könnte <strong>das</strong> mehr bekannte Bethanien sich in viele Handschriften eingeschlichen haben,<br />
während doch jenes Bethanien bei Jerusalem hier nicht gemeint sein kann. Ist Bethabara alte Lesart,<br />
so mag es <strong>das</strong> בית ברה Jud. 7,24 nach Einigen = ת עãבœרœ בÜית eine Übergangsstelle am Jordan sein, wo<br />
dann natürlich viel Volks sich sammeln musste. Indes kann auch ein zweites Bethanien am Jordan<br />
gelegen haben. Könnte man dies durch אùנ¤יœה בÜית mit Possinus, Wolf (cur. philol.), Rosenmann <strong>über</strong>setzen,<br />
so gewinnt die Konjektur einigen Schein, es sei vielleicht eben als Übergangshausen später
1. Kapitel 63<br />
Schiffshausen genannt worden. Diese Ableitung ist aber schwerlich richtig. – ἦν βαπτίζων – es war<br />
also ein fester Standort.<br />
V. 29-33. Ein anderes Zeugnis Joh. vor seinen Jüngern.<br />
Gleich am andern Tage (ἐπαύριον) erhielt Joh. einen andern Besuch als den der Jerusalemischen<br />
Deputation. – Die Worte „ὁ ἐμνὸς τοῦ θεοῦ“ bezieht man auf <strong>das</strong> von Jesaja gebrauchte Bild des leidenden<br />
Knechts Gottes. Jes. 53,7. Wenn aber dies, so beziehen sie sich auch auf <strong>das</strong> F<strong>und</strong>ament dieser<br />
Stelle, auf <strong>das</strong> Opfer, <strong>und</strong> zwar speziell nicht so sehr auf <strong>das</strong> Passahlamm <strong>und</strong> <strong>das</strong> tägliche Morgen-<br />
<strong>und</strong> Abendopfer, als vielmehr auf den der Asasel 22 in die Wüste gesandten ש¦ע¤יר <strong>und</strong> auf Lev.<br />
4,32. Num. 6,12. cf. Apoc. 5,6.12; 13,8. 1. Petr. 1,19. – Salomo schlachtete 120.000 Lämmer bei der<br />
Tempel-Einweihung <strong>und</strong> Josephus spricht von 255.600 am Paschahfest geschlachteten. In der Wüste<br />
Juda wurden diese Herden geweidet. αἴρειν heißt 1) tollere in humeros et portare, dann aber<br />
auch 2) was Thol. an dieser Stelle nicht einräumen will: extollere in altum et auferre. cf. 1. Joh. 3,5.<br />
1. Sam. 15,65. LXX. ἆρον τὸ ἁμάρτημά μου. cf. Ps. 32,1. 1. Sam. 25,28.<br />
V. 30. περὶ οὗ mit Bezug auf den; oben ὅν – ἀνήρ Zach. 6,12. Vir Zemach.<br />
V. 31. Die Worte „auch ich kannte ihn nicht“ widersprechen keineswegs Mt. 3,14. Sie werden in<br />
den folgenden Versen selbst näher erklärt, welche offenbar eben die Erzählung der Taufe Christi<br />
voraussetzen, wie sie die Synoptiker geben.<br />
V. 32. ἐπ᾽ αὐτόν Acc. wie oben πρὸς θεόν V. 1. Es ist von einem bleibenden <strong>und</strong> persönlichen<br />
Herabsinken die Rede cf. Apoc. 7,15. Die Konstruktion bekomme etwas Ethisches durch solche Anomalie,<br />
sagt Bernhardy.<br />
V. 33. ἑώρακα καὶ μεμαρτύρηκα cf. 3,11.32. 19,35. 1. Joh. 1,2.3; 4,14. Winer bezeichnet die Bedeutung<br />
des Perfectums richtig (p. 249) „es sei <strong>und</strong> bleibe bezeugt.“<br />
Dieses zweite Zeugnis des Täufers steht im deutlichen Zusammenhang mit dem des vorigen Tages.<br />
cf. ὅμ ὑμεῖς οὐκ οἴδατε <strong>und</strong> κἀλὼ οὐκ ᾔδειν; ferner <strong>das</strong> βαπτίζω ἐν ὕδατι bekommt hier erst seinen<br />
Gegensatz in V. 33. – Da man sich unter Joh. gewöhnlich einen Mann vorstellt, der für <strong>das</strong> Gesetz<br />
geeifert, dabei aber in sehr irdischen Messiashoffnungen befangen gewesen sei, so hat man <strong>das</strong><br />
hier abgelegte Zeugnis in seinem M<strong>und</strong>e sehr verschieden zu erklären <strong>und</strong> den Joh. zugleich vor<br />
dem scheinbaren Widerspruch gegen Matth. zu retten gesucht. Es stellt sich aber dieses Dreifache<br />
heraus. 1) Bedeutung der Taufe selbst. Joh. zeigte allem Volke seine Sünde an <strong>und</strong> taufte εἰς ἄφεσιν<br />
ἁμαρτιῶν. Er fühlte sich selbst aber ohnmächtig, die Sünden weg zu schaffen <strong>und</strong> den Menschen<br />
heiligen Geist einzuhauchen – <strong>und</strong> so hielt er sich <strong>und</strong> allem Volke den ἰσχυρότερον vor, den nach<br />
ihm Kommenden, welcher vor ihm gewesen, der allein eine Taufe vornehmen könne, wodurch der<br />
Mensch eines andern Geistes Kind würde. Da es ihm also um den Besitz des heiligen Geistes zu tun<br />
war, so hat Gott ihm als <strong>das</strong> Kennzeichen des Messias eben dies in V. 33 Bezeichnete angegeben;<br />
<strong>und</strong> weil der baptista nicht anders denn ein zweiter Noah die ganze Welt um sich in Wassern der<br />
Sünde untergetaucht sah, so ist der Geist in Gestalt der Taube des Friedens gekommen, wie auch<br />
einst der Geist <strong>über</strong> den Wassern brütend geschwebt. Gen. 1,2. Sodann wusste Joh., <strong>das</strong>s nunmehr<br />
der Welt <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> aufgehe <strong>und</strong> Frieden <strong>und</strong> Leben grünen werde auf Erden. 2) Das ἀμνός τ. θ.<br />
Ganz richtig haben Lampe, Semler u. A. bemerkt, <strong>das</strong>s eben V. 29 Jesus von der 40tägigen Versuchung<br />
in der Wüste zurückkehren mochte. Am Tage zuvor hatte Joh. aufs tiefste die Verkehrtheit<br />
<strong>und</strong> Unbarmherzigkeit der Pharisäer erfahren; da fühlte er wohl, <strong>das</strong>s Priester <strong>und</strong> Leviten mit ih-<br />
22 Zum ursprünglichen Text „dem Asasel“ heißt es in den Berichtigungen: „[…] ist […] der Asasel zu lesen; der<br />
Druckfehler könnte sonst die Ansicht nahelegen, als ob Wichelhaus den Asasel vom Teufel erklärt hätte. Le bouc<br />
emissaire war ihm vielmehr ein Bild des mit der Sünde sich entfernenden Christus.“
64 1. Kapitel<br />
rem Opferdienste die Sünden nicht tilgen könnten. Hatte aber nicht Christus, der allein Gerechte<br />
<strong>und</strong> Unschuldige, sich der Taufe Joh. unterzogen, welche sonst nur bei Proselyten üblich war? Diese<br />
Taufe machte den ganzen Menschen zum Heiden, zur Sünde. Also hatte Christus, selbst unschuldig,<br />
die Schuld der Welt Angesichts Gottes auf sich genommen. Steph. le Moyne Var. Sacr. II p. 641.<br />
Lev. 16,10 .עãזœאזÜל War er sodann nicht nach der Taufe wie am Versöhnungstage der mit der Sünde<br />
des Volks belastete Bock dem Asasel in die Wüste getrieben wurde – von dem Teufel versucht worden?<br />
Kam er nicht jetzt aus der Wüste hervor, worin die 1000 Lämmer geweidet wurden, <strong>und</strong> was<br />
lag nun wohl näher, als <strong>das</strong>s Joh. auf ihn hinweist: ἴδε ὁ ἀμνὸς τοῦ θεοῦ. 3) Das οὐκ ᾔδειν. Joh. sagt<br />
mit dem οὐκ ᾔδειν keineswegs, <strong>das</strong>s er Jesum nicht menschlich gekannt oder nicht gewusst hatte,<br />
was bei der Geburt vorgefallen. (cf. oben οὐκ οἴδατε). Aber Christi ganzes Benehmen, sein Tun <strong>und</strong><br />
Leiden eben als <strong>das</strong> des ἀμνός τ. θεõυ würde auch er nicht verstanden, daran würde er ihn als den<br />
Messias nicht erkannt haben, weil auch ihm wie allen Menschen die Sinne dafür fehlten, Gottes<br />
Herrlichkeit darin zu erkennen, <strong>das</strong>s er Sünde, Elend <strong>und</strong> Tod <strong>über</strong> sich nimmt, um es sodann auf<br />
seinem Rücken davongetragen zu haben. So hat er sich auch nachher an Christo geärgert Mt. 11,3.<br />
Auch ich verstand sein Benehmen nicht, sagt Joh. <strong>und</strong> hätte ihn an seinem Tun nicht erkannt als<br />
eben den, der er ist – hätte nicht Gott usw. Auch bei der Taufe (Mt. 3) wollte er Christo wehren, <strong>und</strong><br />
doch gerade bei der Taufe war es, wo Gott <strong>das</strong> ihm gemeldete Zeichen eintreten ließ, – deshalb sagt<br />
auch Joh. ἵνα φανερωθῇ damit <strong>das</strong> an ihm offenbart werde, was sonst Niemand an ihm würde wahrgenommen<br />
haben. Und so schließt denn Joh., <strong>das</strong>s er auf diese Weise selbst es gesehen <strong>und</strong> aus eigener<br />
Erfahrung es bezeugt habe – was er freilich von seinen Eltern schon vernommen: ὅτι οὗτός<br />
ἐστιν ὁ υἱὸς τ. θεοῦ. –<br />
V. 35. εἱστήκει muneribus intentus.<br />
Der Erfolg des Zeugnisses V. 35-52.<br />
V. 36. ἐμβλέψας cf. V. 43 intentis in eum oculis. Unter den Versuchungen der 40 Tage war auch<br />
eine gewesen, <strong>das</strong>s Jesus in Jerusalem auf die Zinne des Tempels sich begeben sollte, vor allem<br />
Volk sich von da herunterzulassen. Aber solche Beglaubigung hat er nicht gewollt. Aus der Wüste<br />
kommt er zu Johannes V. 29; wahrscheinlich war er irgendwo in Bethanien eingekehrt <strong>und</strong> geht am<br />
folgenden Tage am Jordan abermals an der Stelle vorbei, wo Johannes taufte. Da kam ja <strong>das</strong> Volk<br />
zusammen, seine Sünden zu bekennen – <strong>das</strong> war also auch die Stelle des ἀμνὸς τ. θεοῦ. Auf <strong>das</strong><br />
Zeugnis des Täufers machen sich nun zwei der Jünger auf <strong>und</strong> folgen dem wandelnden Jesus. Magni<br />
dies – – – sagt Bengel, huius evangelistae studium in temporibus notandis.<br />
V. 37-40. Ραββι. So auch 11,8; 13,3. Später ist die gewöhnliche Anrede κύριε. Johannes fügt die<br />
Übersetzung bei <strong>und</strong> deutet also an, <strong>das</strong>s sie wohl gefühlt, was sie damit sagten. Ραββι v. רב war der<br />
übliche Titel der Gesetzeslehrer. Da sie ihm als dem Lamm Gottes gefolgt sind, so sind sie zu ihm<br />
gegangen, <strong>über</strong> den Weg der Seligkeit <strong>und</strong> Gerechtigkeit von ihm gelehrt zu werden. – μένειν zur<br />
Herberge sein. C. 2,12.<br />
V. 40. ἔρχεσθε καὶ ἴδετε ל¦כו ור¦ או Ps. 66,5 nach Wetstein die ganz übliche Redensart: Ihr mögt es<br />
euch selbst ansehn; kommt doch mit.<br />
τὴν ἡμέραν ἐκείνην. Credner unrichtig: von jenem Tage ab. – ὥρα δεκάτη wäre nach der allgemeinen<br />
üblichen babylonischen Zählung, die selbst bei den Römern im Leben die gewöhnliche war,<br />
Pers. Sat. 3, 3, etwa 4 Uhr Nachmittag. Weber Lehrbuch der Chronologie p. 23. 97.<br />
Diese Erzählung hat den lieblichsten Reiz ungeschminkter Einfachheit. Wie bewegt mochte <strong>das</strong><br />
Gemüt der Jünger sein, wie bewegt <strong>das</strong> Herz des Herrn selbst. Welche Naivität in der Frage der Jün-
1. Kapitel 65<br />
ger – welche Leutseligkeit in den Worten des Meisters – ἦλθον καὶ εἶδον wiederholt. Der Eine der<br />
beiden Jünger ist Andreas; der andre vielleicht Johannes selbst wie schon die Alten vermutet. So erinnert<br />
sich Jemand gerne des Tages <strong>und</strong> der St<strong>und</strong>e erster Begegnung mit dem, den man <strong>über</strong> Alles<br />
<strong>und</strong> für <strong>das</strong> ganze Leben lieb gewonnen.<br />
Einen seligen Tag hatten sie erlebt – ihre Herzen waren der Freude <strong>über</strong>voll.<br />
V. 41. εὑρίσκει πρῶτος – also Beide machen sich auf, von dem zu melden, wovon <strong>das</strong> Herz voll<br />
ist. πρῶτος andere Lesart πρῶτον. ἴδιος den eigenen, leiblichen – ein um so festeres Band also, da<br />
Beide auf <strong>das</strong> Reich Gottes warteten.<br />
εὑρήκαμεν. Bengel: magnum ac laetum ἕυρημα, quadraginta propemodum saeculis a m<strong>und</strong>o exspectatum.<br />
Ex Joanne didicerant, in proximo esse.<br />
τὸν Μεσσίαν – von dessen Erwartung Alles voll war.<br />
V. 42. Warum die volle Ansprache: Σύμων, ὁ ὑιὸς Ἰωνᾶ? Lampe: Du Hörer der Gnade. Jonas =<br />
Jochanan. Cod. B. liest Ἰωάνου. – Es liegt vielmehr in der vollen Ansprache etwas Liebevolles <strong>und</strong><br />
Mutgebendes; er nimmt ihn so, wie er als Mensch ist <strong>und</strong> alle Welt ihn kennt. κληθήσῃ Fut. die<br />
Nennung selbst erfolgte später; eben mit Bezug auf <strong>das</strong> Bekenntnis des Messias. Wo der Messias,<br />
da auch der Kephas. Κηφᾶς aramäisch כÜפœא μέτρα. Πέτρος ist nicht Felsenmann, sondern Fels. Das<br />
ος ist nur Endung. Es gehört mit zur Lebendigkeit der Erzählung, <strong>das</strong>s wir hier die aramäischen Namen<br />
Messias, Kephas haben.<br />
V. 43. Abermals εὑρίσκει. Ein gegenseitiges Finden. Philippus war also auch wohl Jünger des<br />
Täufers; wenigstens hielt er sich damals auch dort auf.<br />
V. 44. צÜידœא בÜית wird hier die Stadt des Andreas <strong>und</strong> Petrus genannt. Abermals ein Bekannter –<br />
dem es nun auch um so leichter war nach Galiläa zu folgen – wo er her war.<br />
V. 45. Nathanael, d. i. Theodoretus, Dorotheus, Adeodatus, ist nach c. 21,2 aus Kana in Galiläa;<br />
da er hier <strong>und</strong> c. 21,2 in so naher Verbindung mit den Aposteln steht, so hat man ihn mit Einem der<br />
Zwölfe, mit Bartholomäus für identisch gehalten, welcher Mt. 10,3 mit Philippus zusammengestellt<br />
ist. –<br />
V. 46. ὃν Acc. siehe oben V. 15. – Phil. <strong>und</strong> Nath. haben mithin in den Propheten nicht nur, sondern<br />
auch im Pentateuch den beschrieben gef<strong>und</strong>en, welchen auch Paulus τὸ τέλος τοῦ νόμον d. h.<br />
<strong>das</strong> Augenmerk des Gesetzes nennt.<br />
τὸν ἀπὸ Ναζαρέτ der Artikel scheint anzudeuten, <strong>das</strong>s Jesus von Person dem Nathanael schon bekannt<br />
gewesen. – Weil seine Eltern in Nazareth ansässig waren, auch er selbst dort als τέκτων von<br />
Jugend auf gelebt hatte – galt Jesus als Ναζαραῖος, oder nach der platteren Aussprache des Volks<br />
Ναζαραῖος.<br />
V. 47. Das ganze Galiläa war als heidnisch, als voll von Zöllnern <strong>und</strong> Sündern den rechten Israeliten<br />
verächtlich, <strong>und</strong> in Galiläa war Nazareth vornehmlich ein unseliger Ort. Die Augen der Frommen<br />
waren auf Bethlehem <strong>und</strong> auf Jerusalem gerichtet, c. 7,52. – ἔκρου καὶ ἴδε gewöhnliche Redensart:<br />
Überzeuge dich selbst durch den Augenschein.<br />
V. 47. Gerade diesen Galiläer, den in der Schrift Suchenden nennt nun der Herr einen ἀληθῶς<br />
Ἰσραηλείτης <strong>und</strong> benimmt ihm damit seinen Zweifel, indem er ihm in Bezug auf seine eigne Person<br />
es zum Gefühl <strong>und</strong> zur Gewissheit bringt, <strong>das</strong>s Gott <strong>das</strong> Herz ansehe, <strong>und</strong> der ἐν τῷ κρυπτῷ Ἰοδαῖος<br />
Röm. 2,29 Lob habe von Gott. – Jes. 48,1; 44,5. ἐν ᾧ δόλος οὐκ ἔστι: Deut. 10 sagt Moses zu Israel:<br />
Er, Jehova ist ת¦ה¤לœת¦ך <strong>und</strong> Jeremias spricht von צ¤ד¦קÜנו .י¦הוœה Der wahre Israelit wartete also auf den<br />
Christum Gottes; der δόλος der Andern war, <strong>das</strong>s sie sich selbst vor Gott für etwas hielten, weil sie
66 1. Kapitel<br />
Israeliten waren. Vergl. Ps. 32,2: Der Mann, in dessen Geist keine .מ¤ר¦מœה Dem δόλος steht entgegen<br />
die ἁπλότης.<br />
Christus sprach diese Worte zu den Umstehenden – doch so, <strong>das</strong>s Nath. selbst sie hörte.<br />
V. 48. εἶδον nicht „ich erkannte“ sondern „ich sah.“ Unter dem Feigenbaum war man sehr gewöhnlich<br />
seines dichten Schattens wegen. Schöttgen zu V. 48. Man fühlte sich darunter geborgen<br />
<strong>und</strong> verborgen. Was Nathanael da mag getan haben? Bereschit Rabba: R. Itaja et discipuli eius solebant<br />
summo mane surgere et sedere et studere sub ficu. Ohne Zweifel hat er gebetet in secessu sub<br />
aliquo ficu et extra conspectum hominum; der Gegenstand seines Gebets ist ohne Zweifel der<br />
βασιλεύς τ. Ἰσρ. gewesen.<br />
V. 49. Wie der heilige Geist mit Christo war, so hat er, der Alles sieht, ihn im entscheidungsvollen<br />
Augenblick eines Menschen Herz durchschauen <strong>und</strong> <strong>das</strong> Verborgene sehen <strong>und</strong> wissen lassen cf.<br />
c. 4,29. Da sich nun Nathanael, wie er sein tiefstes Herz vor dem unsichtbaren Gott ausgeschüttet<br />
hatte – damit auf einmal vor Jesus gestellt sah, kann sein Ausruf nicht befremden: Rabbi, du bist der<br />
Sohn Gottes, der König Israels. – Beides waren unter dem Volke gangbare Bezeichnungen des Messias.<br />
Joh. 10,11.27. Lk. 22,70. Mt. 22,42.<br />
V. 50. Jesus <strong>über</strong>lässt ihn aber nicht den Reflexionen <strong>über</strong> seine eigne Person; er weist ihn auf<br />
Größeres hin als <strong>das</strong>.<br />
V. 51. ἀμήν, ἀμήν wie gewöhnlich bei Joh. doppelt. Es ist gestritten worden, ob <strong>das</strong> Amen die<br />
Bedeutung eines Schwures habe. Richtig sagt dar<strong>über</strong> eine Stelle des Talmud (Traktat Schebnoth):<br />
amen modo habere vim iurisiurandi (et respondebit Num. 5,22. mulier Amen Amen), modo vim annuendi<br />
comprobandive (Deut. 27,26), modo adhiberi pro re confirmanda (Jer. 28,6). Die Juden nennen<br />
<strong>das</strong> Amen חזק המאמר וקימו corroborationem sermonis et confirmationem eius. Deut. 27,15-26.<br />
Jer. 11., 5. Neh. 5,13. Ps. 72,19. Bei den Juden war im Ganzen eine große Scheu <strong>und</strong> Ehrfurcht vor<br />
diesem Worte. Die Gemeinde sprach dieses Amen als Antwort auf den Segen oder <strong>das</strong> Gebot; Christus<br />
aber, der selbst der Amen heißt Apoc. 3,14. Jes. 45,23 in dem alle Verheißungen Gottes Ναὶ καὶ<br />
Ἀμήν 2. Kor. 1,20 – stellt es zu Anfang seiner Rede, die Propheten immer begannen כה אמר so<br />
spricht er λέγω ὑμῖν. – Ego, qui cum Amen, vere ac iurato dico vobis. Nathanael unter dem Feigenbaum<br />
mochte den Herrn an den Erzvater der echten Israeliten, an Jakob in Bethel erinnert haben.<br />
Wenigstens ist <strong>das</strong> Bild der auf- <strong>und</strong> absteigenden Engel aus Gen. 28,12 genommen. Christus vergleicht<br />
sich selbst mit der Leiter, welche zu Häupten Jakobs gestanden. Damals rief dieser aus<br />
„Wahrlich, es ist Jehova an diesem Orte, <strong>und</strong> ich habe es nicht gewusst.“ Zu beachten ist, <strong>das</strong>s<br />
ἀναβαίνοντας voransteht. Zu dem ἄπαρτι cf. Mt. 23,39; 26,64. – Die Engel tragen die Gebete hinauf,<br />
sie tragen die Erhörung <strong>und</strong> Hilfe herunter. Christus sagt nicht ἐπ᾽ ἐμέ oder ἐπὶ τὸν υἱόν τοῦ<br />
θεοῦ – sondern τοῦ ἀνθρώπου. Ein Solcher wandelte er auf Erden umher, seinen Brüdern in Allem<br />
gleich – <strong>und</strong> gerade als solcher ist er für Jeden, der sich אØנוש d. h. elend kennt, die Leiter in den geöffneten<br />
Himmel, auf der die Boten Gottes auf <strong>und</strong> niedersteigen. An <strong>und</strong> für sich ist der Himmel<br />
geschlossen – jetzt aber öffnet er sich <strong>und</strong> es ist ein Mittelglied da, eine Verbindung, ein Weg, auf<br />
dem die Boten auf <strong>und</strong> abwandeln.<br />
_______________<br />
Der historische Nexus ist mutmaßlich folgender. Es war im 15. Jahr des Tiberius, als Johannes in<br />
der Wüste am Jordan auftrat. Alles Volk strömte zu ihm <strong>und</strong> es entstand eine Bewegung im ganzen<br />
Lande. Es mochte gerade <strong>das</strong> Volk in Jerusalem zu einem Feste beisammen sein, als jene amtliche<br />
Deputation an ihn gesandt wurde <strong>und</strong> so könnte diese Gelegenheit eines Festes auch Veranlassung<br />
gewesen sein, <strong>das</strong>s die Galliäer Andreas, Philippus u. A. von Jerusalem her bei Johannes auf der
1. Kapitel 67<br />
Rückkehr nach Hause vorbeikamen, wenn sie nicht als seine Jünger <strong>über</strong>haupt in seiner Umgebung<br />
waren. Unter allem Volke war auch Jesus zur Taufe gekommen, <strong>und</strong> wie er nun nach den 40 Tagen<br />
gerade am Tage nach jenem Zeugnis des Täufers zu demselben zurückkehrt, da sammeln sich die<br />
von Johannes Unterwiesenen um ihn. Philippus wenigstens begleitet ihn nach Galiläa, Einer ruft<br />
den Andern herzu <strong>und</strong> es findet sich ein Kreis der Jünger zusammen. Die eigene Erwählung <strong>und</strong> Berufung<br />
der δώδεκα als seiner Apostel erfolgte aber erst später; die Erzählung c. 2 cf. V. 4 geht offenbar<br />
Mt. 4 voran cf. V. 12. Die Berufung Mt. 4 erfolgte nach Lk. 5 cf. Lk. 4,23 sogar erst geraume<br />
Zeit nachher, als Johannes nämlich ins Gefängnis geworfen war <strong>und</strong> Jesus in Folge dessen seinen<br />
Wohnsitz in Kapernaum nahm. Jetzt war Jesus 30 Jahre alt; es mochte noch im Anfang des Jahres,<br />
noch nicht gar lange nach des Täufers erstem Auftreten sein.<br />
Die treffliche <strong>und</strong> meisterhafte Fügung <strong>und</strong> Darstellung von V. 19-52 springt in die Augen. Dem<br />
ganzen jüdischen Volke wird in seinen Boten angekündigt, <strong>das</strong>s Johannes ganzes Auftreten <strong>und</strong> Tun<br />
nichts Anderes bezwecke, als den Einen anzukündigen – den Gesalbten, den Herrn; Er ist schon da,<br />
aber Niemand kennt ihn. Da kommt Jesus <strong>und</strong> es erfolgt <strong>das</strong> zweite Zeugnis: Ίδε ὁ ἀμνὸς τοῦ θεοῦ;<br />
Johannes hat seinen Beruf erfüllt, er hat bezeugt. Auf <strong>das</strong> doppelte Zeugnis wird dennoch von keinem<br />
Erfolge gehört. – Da nun, an einem dritten Tage, als Johannes der dritte unter zwei Jüngern<br />
steht, wiederholt er sein Zeugnis; <strong>und</strong> diese beiden folgen Jesu. Wie menschlich, wie einfach nun<br />
Alles – <strong>und</strong> eben da die Seligkeit des εὑρήκαμεν. Brüder sind es, die sammeln sich um den Messias.<br />
Dessen Wort findet bei Philippus Gehorsam. Der ist gef<strong>und</strong>en, den die Schrift verheißen, dessen<br />
Erscheinung mit so heißen Gebeten erfleht war. Inmitten dieser Galiläer der υἱὸς τοῦ θεοῦ, der<br />
βασιλεὺς τοῦ Ι., <strong>und</strong> der Weg zum Himmel ist geöffnet durch den Sohn des Menschen. Haec sunt<br />
primordia Christi. Vergleiche zu diesem Kapitel: Hoelemann De evangelii Joannei introitu introitus<br />
Geneseos angastiore effigie Lips. 1855; Philippi der Eingang des Johannesevangeliums Cap. I, 1-<br />
18. Stuttgart 1866. Keil, Commt. 72 ff. Dann die vortrefflichen Betrachtungen von Kohlbrügge: Im<br />
Anfang war d. Wort. Elberfeld 1877.<br />
2. Kapitel.<br />
Es handelt dieses Kapitel von der φανέρωσις τῆς δόξης <strong>und</strong> dem Glauben der Jünger V. 11 <strong>und</strong><br />
22. Zu diesem Zwecke stellt Johannes zwei Erzählungen zusammen, eine, welche er τὴν ἀρχὴν τῶν<br />
σημείων nennt, eine andre aus der letzten Zeit des Lebens Jesu; die eine in Galiläa, die andre in Jerusalem.<br />
V. 1-11. Jesus <strong>und</strong> seine Jünger auf der Hochzeit in Kana.<br />
V. 1. τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ mit Beziehung auf c. 1,52. Auf den dritten Tag nach seiner Ankunft in<br />
Nazareth. – Nazareth liegt in einem engen Tal, inmitten eines Höhenzugs, welcher zwischen den<br />
beiden größten Ebenen Palästinas, der Ebene Esdrelom jetzt Merj Ibn ’Amir <strong>und</strong> der Ebene el<br />
Buttauf von Osten westlich zum Meere hinläuft. Die Tradition der Mönche bezeichnet nun <strong>das</strong> heutige<br />
Kefr Kenna 1½ St<strong>und</strong>en von da auf einem der Wege nach Tiberias als <strong>das</strong> Kana der Schrift; es<br />
ist aber kein Zweifel, <strong>das</strong>s wir es vielmehr in dem Câna el Dschelil (Robinson III, 445) 3 St<strong>und</strong>en<br />
nordwestlich von Nazareth am Abhang des Gebirges Naphtali zu suchen haben. –<br />
V. 2. Die Mutter Jesu – so immer Johannes. – Sie war <strong>das</strong>elbst – ob schon für die Vorbereitungen<br />
der Hochzeit? – γάμος nuptiale convivium.<br />
V. 3. Wie nun die Nachricht anlangte, Jesus sei zurückgekommen <strong>und</strong> eine Anzahl von Jüngern,<br />
die sich um ihn gesammelt (noch nicht οἱ δώδεκα), wurde auch er geladen. – Eine Hochzeit dauerte<br />
gemeiniglich mehrere (8) Tage; die Zahl der Geladenen war dann sehr groß. Maimonides de
68 2. Kapitel.<br />
connubiis: sapientes constituerunt, ut qui virginem ducat uxorem is septem dies perpetuos cum ea<br />
ducat neque sua se exerceat arte, sed ad vescendum potandum atq. ad oblectandum se paret totum et<br />
dedat. Et qui ducit uxorem iam mulierem is non minus triduo se faciat hilarem. Es war ein Fest des<br />
ganzen Orts.<br />
V. 3. ὑστερήσαντος er blieb hinter dem Bedarf zurück. – So הסר Gen. 8,3.<br />
ἔχουσι nämlich die Hochzeitleute.<br />
Maria beweist sich als eine sorgsame Hausfrau. Sie war dieser Familie befre<strong>und</strong>et, die man ver-<br />
שÚמÜחÚ חæתœנ¤ים Fest; gebens näher zu erraten sich bemüht hat. Eine Hochzeit ist aber im Orient ein hohes<br />
ja war eine Pflicht der Pietät <strong>und</strong> des Wohlwollens. Auf einer Hochzeit soll es fröhlich zugehen <strong>und</strong><br />
es soll an nichts Mangel sein. – Man hat nun gefragt, was Maria mit diesen Worten gewollt habe,<br />
welche Bengel sich so deutet: velim disce<strong>das</strong> ut ceteri item discedant, antequam penuria patefiat. Es<br />
ist aber offenbar, <strong>das</strong>s sie ihn angefragt, damit er Rat schaffen möge; sie mochte in ihrem eignen<br />
Hause manchmal erfahren haben, <strong>das</strong>s er Hilfe gebracht. Joseph war damals wahrscheinlich schon<br />
gestorben.<br />
V. 4. τί ἐμοὶ καὶ σοί <strong>das</strong> hebräische וœלœך מœה־לי Josua 22,24 <strong>und</strong> öfter; auch im Griechischen üblich.<br />
Mt. 8,29. Mk. 1,24. – γύναι – denn ganz nach Frauenart zeigte sie sich – Meine St<strong>und</strong>e ist noch<br />
nicht gekommen. Jesus hatte als τέκτων in aller Stille Nazareths bis dahin gelebt; er war zum Jordan<br />
gegangen, wie jeder Israelit sich <strong>das</strong>elbst taufen ließ; die Jünger hatten sich zu ihm gef<strong>und</strong>en, von<br />
Gott selbst ihm zugeführt; voll des heiligen Geistes, sagt Lukas, kam er vom Jordan nach Galiläa.<br />
Seine St<strong>und</strong>e war, zu warten auf Gottes Geheiß; einzuschreiten mit seiner Hilfe, wo nichts mehr<br />
helfen konnte. cf. c. 7,4.<br />
V. 5. Die Mutter aber, ohne sich irre machen zu lassen, weist die Diener an ihn; <strong>und</strong> um seine<br />
Mutter nicht zu beschämen in ihrem Vertrauen, <strong>das</strong> sie zu ihm erweckt – eingedenk des Ölkrugs der<br />
Witwe 2. Reg. 4,2 ff. lässt er die vor ihm stehenden Gefäße füllen.<br />
V. 6. ὑδρίαι Wassergefäße; λίθιναι aus Stein d. h. wahrscheinlich Ton (Steingut) – wie es bei den<br />
Juden für den Zweck der Waschungen üblich war. Im Talmud werden Lydda <strong>und</strong> Bethlehem als<br />
Orte genannt, wo dergleichen Steingut-Fabriken waren, κείμεναι ergo latiores quam altiores; so geräumig<br />
<strong>und</strong> tief, <strong>das</strong>s aus ihnen geschöpft wurde. κατὰ τὸν καθαρισμὸν Ἰουδαίων. Der Reinigungsgesetze<br />
hatten die Juden unzählige cf. Mt. 15,2. Mk. 7,3.4. Joh. 18,28. Im Augenblick wurden diese<br />
Gefäße nicht gebraucht; da sie von großem Umfang waren so waren sie wahrscheinlich für die Reinigung<br />
der Tischgeräte bestimmt. – Das ἀνά bezeichnet, <strong>das</strong>s jede einzelne ὐδρία gefasst habe 2<br />
oder 3 μετρητάς. μετρητής ist in den LXX <strong>und</strong> bei Josephus dem hebräischen בÚת entsprechend = l½<br />
röm. amphora = 20 Maß. Sechs μετρηταὶ οἴνου reichen in der Geschichte des Bal für 70 Priester<br />
hin. 3 Esr. 8,27. Eisenschmidt berechnet den Inhalt der 6 Hydriai auf 13 Ohm.<br />
V. 8. ἀρχιτρίκλινος ist nicht = συμποσίαρχος wie Lücke will, sondern ὁ φροντίζων τῆς ὑπηρεσίας<br />
ἁπάσης, der τραπεζοπιός. τρικλίνιον ist der dreifache Divan, vor dem der Tisch aufgedeckt wird;<br />
dieser Oberkellner, Speisemeister, Hofmarschall gehörte nicht zu den Gästen – sondern ist eine für<br />
<strong>das</strong> Festessen genommene Person. Bei den großen Mahlzeiten war die Anordnung eines K<strong>und</strong>igen<br />
notwendig. – cf. Xen. Mem. 1, 5. 2. Die διάκονοι sind die οἰνοχόοι, die pincernae. Plato Symp. 31,<br />
1. Hor. Od. 1, 4. 18; 2, 7. 25.<br />
V. 9-10. ἐγεύσατο peritus diiudicandi gustus. Ignorantia architriceini comprobat bonitatem vini,<br />
scientia ministrorum veritatem miraculi. – Er ruft den Bräutigam. In dessen Hause war nämlich <strong>das</strong><br />
Fest. Wahrscheinlich war die Gesellschaft im Hofe oder in den Hallen gelagert; der Mutter Jesu,<br />
welche im Hause sehr bekannt gewesen sein muss <strong>und</strong> die Anordnungen treffen mochte, wurde die
2. Kapitel. 69<br />
Verlegenheit entdeckt; sie hatte Jesum bei Seite genommen, die auf einen Befehl wartenden Diener<br />
hatte dann Jesus auf die abgesondert <strong>das</strong>tehenden ὑδρίαι gewiesen; so wusste der ἀρχιτρίκλινος von<br />
nichts. Nach Art solcher Leute, da der Wein ihm m<strong>und</strong>et, spricht er dem Bräutigam seine belobende<br />
Verw<strong>und</strong>erung aus, <strong>das</strong>s er jetzt am Ende des Festes mit solchem Weine noch herausrücke. Dass die<br />
vom Speisemeister angegebene Sitte wirklich insgeheim geübt würde, bezeugt z. B. eine Stelle bei<br />
Plinius H. N. 14, 14. wo Cato erzählt: non aliud vinum bibi quam remiges: in tantum dissimilis istis,<br />
qui etiam convivis alia quam sibimet ipsis ministrant aut procedente mensa subiiciunt. Cassius Jatrosophista<br />
behandelt die Frage: διά οἱ μέθυσοι φαῦλον οἶνον ἡδέως πίνουσι.<br />
In Galiläa war heidnische Art einheimisch; nach dieser urteilt der Triklinarch. Die Familie selbst<br />
aber war ohne Zweifel fester <strong>und</strong> gestrenger Sitte; sie hatten aber nach ihrer Leutseligkeit viele Gäste<br />
geladen, <strong>das</strong> Beste getan – jedoch die Kräfte des Hauses reichten nicht aus. Da es nun an Festen<br />
<strong>und</strong> Hochzeiten fröhlich hergehen soll Deut. 14,26, so hat der Herr, der es verstand, mit den Fröhlichen<br />
fröhlich zu sein, Rat geschafft, <strong>das</strong>s es an diesem Feste, wobei er mit seiner Mutter <strong>und</strong> seinen<br />
Jüngern gegenwärtig war, an dem edlen Gewächs des Weinstocks nicht gebrach. Hat einst <strong>das</strong> Wort<br />
den Weinstock geschaffen zur Freude des Menschen (1. Tim. 4,3), indem sich unter dem Einfluss<br />
der Sonnenglut die Feuchtigkeit des Bodens in Wein verwandelt, so hat <strong>das</strong> Wort hier, da es Fleisch<br />
geworden, was an <strong>und</strong> für sich Wasser war (Luther: der Wein, der zuvor Wasser gewesen), werden<br />
lassen zu Wein zu einem Zeichen, <strong>das</strong>s durch ihn Alles geschaffen ist <strong>und</strong> gesättigt wird mit Überfluss.<br />
V. 11. Insbesondere aber musste noch dies W<strong>und</strong>er für die Jünger von Bedeutung sein. Der Täufer,<br />
der strenge Faster, hatte alles in Wasser gereinigt; Er, der Herr, der selbst ein Bräutigam genannt<br />
wird, lässt die Gefäße zu Reinigungen bestimmt mit Wasser füllen <strong>und</strong> es wird zum Wein, zu dem<br />
belebenden <strong>und</strong> allen Kummer verscheuchenden Labetrunk festlicher Freude <strong>und</strong> Wonne. – Einen<br />
solchen, sagt Joh. V. 11, machte Jesus den Anfang der Zeichen. – Die Stelle Lk. 5,30 hat wahrscheinlich<br />
Bezug auf diese Geschichte. Den Kirchenvätern <strong>und</strong> Mönchen hat dieser Anfang nicht<br />
sehr gefallen. (Lampe: Allegorie. Lücke, Neand. <strong>und</strong> Tholuck sprechen von berauschenden Quellen<br />
<strong>und</strong> meinen, <strong>das</strong> Wasser habe nur Farbe <strong>und</strong> Geschmack des Weins angenommen.) Die Katholiken<br />
(Maldonatus) suchen mystische Beziehungen der Transsubstantitionslehre hier zu finden.<br />
In Betreff der Form ist zuerst die Kürze der in 10 Verse gefassten Erzählung zu bew<strong>und</strong>ern,<br />
ebenso <strong>das</strong> so ganz aus dem Leben gegriffene Zwiegespräch mit der Mutter <strong>und</strong> die meisterhafte<br />
Pointe V. 9.10.<br />
V. 12-22.<br />
Da man von der Voraussetzung streng chronologischer Folge ausging, so hat die folgende Erzählung<br />
den Apologeten große Schwierigkeit gemacht, da sich dieselbe bei den Synoptikern am Ende<br />
findet. Man hat angenommen, die Begebenheit sei doppelt vorgefallen, ut, in quo inceperat Jesus, in<br />
eo se desinere ostenderet (Grotius). Dass aber wirklich ein <strong>und</strong> dieselbe Geschichte hier <strong>und</strong> dort<br />
vorliegt, zeigt die völlige Übereinstimmung, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s auch bei Johannes diese Begebenheit der letzten<br />
Zeit Jesu angehört, ist aus Folgendem klar: 1) μετὰ τοῦτο V. 12 heißt nicht post eam ipsam rem<br />
modo narratam sondern postea, ein anderes Mal; 2) ein Hinziehen nach Kapernaum nicht bloß<br />
Christi, sondern auch seiner Brüder kann nur der letzten Zeit angehören; 3) die Hindeutung auf seinen<br />
Tod V. 19 hat nur dann ihre Stelle; 4) <strong>das</strong> Evangelium schließt V. 22 selbst die Zeit nach der<br />
Auferstehung ganz unmittelbar daran; 5) der Tempelbau hatte im Jahre 14 vor Christo begonnen<br />
<strong>und</strong> so waren erst im 32. oder 33. Jahre nach Christo die 46 Jahre V. 20 verflossen. Die Bestreitung<br />
der Richtigkeit der synoptischen Zeitangabe der Tempelreinigung geht aus dem Mangel an Ver-
70 2. Kapitel.<br />
ständnis für die Anordnung der σημεία bei Johannes <strong>und</strong> dem ganzen Zweck seiner Darstellung hervor.<br />
Die Gliederung der synoptischen Erzählung nach der Gr<strong>und</strong>ordnung: Galiläa <strong>und</strong> Jerusalem<br />
blickt auch bei unserem Kapitel durch: ein Beweis wie auch Johannes mit dieser Stoffeinteilung bekannt<br />
war.<br />
V. 12. Καπερναοὺμ lag wahrscheinlich, wo der jetzige Khan Minjeh am Ufer des Tiberias-See,<br />
deshalb κατέβη. Mt. 8,1. Dort bei Kana ist die Mutter die Geladene <strong>und</strong> mit ihr Jesus – hier ist Jesus<br />
voran. – Dass auf der letzten Reise nach Jerusalem Jesu Mutter <strong>und</strong> Brüder mit ihm waren, geht klar<br />
aus der evangelischen Geschichte hervor Act. 1,14 – V. 13 hier ἀνέβη.<br />
V. 13. Deut. 14,25 ist dem fern wohnenden Israeliten gestattet, daheim seine Tiere zu verkaufen<br />
<strong>und</strong> dann zum Fest andre zu lösen an dem Ort des Heiligtums. So wurden dann zum Fest eine ungeheure<br />
Menge Rinder, Schafe <strong>und</strong> Tauben in Jerusalem zusammengebracht. Die Verkäufer selbst waren<br />
indes bei den Juden so sehr verachtet, <strong>das</strong>s ihr Zeugnis so wenig als <strong>das</strong> der Wucherer <strong>und</strong> Würfelspieler<br />
bei Gericht angenommen wurde (tract. Sanh. c. 3). – Nicht weniger die Wechsler; ein<br />
rechter Israelit kam nicht mal mit einem Geldsäckel auf den Tempelberg (Lampe p. 527 b). Diesen<br />
Händlern wurde nun aber von den Priestern im Tempelhofe eine Stelle angewiesen; die Verkäufer<br />
hatten ihre Stühle, die Wechsler ihre Tische (Mt. 21,12) an der Außenseite der Mauer, welche den<br />
Vorhof der Heiden von dem Vorhof der Israeliten schied, auf der Ostseite, eben da, wo die Halle Salomonis<br />
(c. 10,23) <strong>und</strong> wo die Korinthische Prachtpforte war (Act. 3,2). Die Taubenverkäufer hatten<br />
ihren eignen Aufseher, mit dem die Schatzmeister des Tempels einen Kontrakt schlossen; die Münze<br />
wurde dann in der Schatzkammer selbst von dem Kaufenden bezahlt; auch die Wechsler standen<br />
unter den Priestern; der Priester brauchte für sich selbst kein Agio zu bezahlen. Diese Wechsler<br />
wurden κερμαισταί genannt von κέρμα d. i. λεπτύτατον, kleine – oder Scheidemünze – oder<br />
κολλυβισταί von κόλλυβος; einem selbst in die rabbinische Sprache aufgenommenen Wort, womit<br />
שולחנים <strong>das</strong> Agio bezeichnet ward <strong>und</strong> die ἀλαγὴ ἀργυρίου selbst. Sie wurden von den Juden auch<br />
genannt. Lücke <strong>und</strong> Andere vor ihm haben geglaubt, <strong>das</strong> Wechselgeschäft habe darin bestanden, die<br />
gewöhnliche römische Münze zu wechseln in die heilige Münze, in welcher jeder Israelit die Tempelsteuer,<br />
einen halben Sekel, entrichten musste. Bei dem Wechseln eines Sekels wurde dann ein<br />
Silberobolos Agio bezahlt. Indes diese Steuer wurde im Monat Adar (dem letzten des Jahres) erhoben,<br />
<strong>und</strong> wenn auch in Jerusalem selbst erst am 25. Adar die Einnehmer dieses Sekels im Tempel<br />
ihren Tisch aufschlugen – so wurde doch sicher von den Israeliten insgemein nicht am Feste in Jerusalem,<br />
sondern an ihrem Wohnorte diese Steuer eingetrieben. So von Jesu selbst in Galiläa. Diese<br />
Wechsler waren vielmehr ohne Zweifel deshalb καθήμενοι cf. Mt. 21,12 im Heiligtum (der Tempel<br />
samt den Vorhöfen wurde τὸ ἱερόν genannt), weil man ihrer zum Kauf <strong>und</strong> Verkauf der Opfertiere<br />
bedurfte.<br />
V. 15. φραγγέλλιον, lat. flagellum, syr. (Flegel-Prügel) ist nach dem etymologicon M.<br />
eine σειρὰ ἐκ σχοινίου (ex junco) πεπλεγμένη. Der Herr raffte dazu wahrscheinlich einige der Baststricke<br />
auf, womit die Opfertiere geb<strong>und</strong>en gewesen waren. Der Scholiast zu Aristophanes Acharnensern<br />
sagt, nach alter Sitte hätten die Präfekten <strong>das</strong> Volk von dem forum mit φραγελλίοις getrieben.<br />
Prov. 26, 3 ut flagellum equo et frenum asino, ita virga tergo stolidorum.<br />
ἐξέχεε τὸ κέρμα <strong>das</strong> kleine Geld schüttete er aus.<br />
V. 16. Das Vierfache in V. 14 Erwähnte auch in V. 15 <strong>und</strong> 16.<br />
Die Priester lebten von den Einkünften, die sie aus dem Volk zogen. Sie waren geizig <strong>und</strong> sogen<br />
Witwen <strong>und</strong> Waisen aus. Wie sehr sie auch die Krämer <strong>und</strong> Wechsler verachteten <strong>und</strong> die Zöllner<br />
schalten, so zogen sie doch von ihnen Nutzen <strong>und</strong> räumten ihrem Handel einen Platz im Heiligtum
2. Kapitel. 71<br />
ein. Als nun der Herr, ein König, reitend auf einem Esel, sanftmütig <strong>und</strong> demütig unter dem Hosianna-Ruf<br />
der Menge in Jerusalem eingezogen war, da erfasste ihn aufs mächtigste <strong>das</strong> Gefühl, <strong>das</strong>s<br />
<strong>das</strong> Heiligtum unter den Händen solcher Priester ein οἶκος ἐμπορίου, ein σπήλαιον ληστῶν geworden<br />
war. Und in Kraft seiner Herrlichkeit (Mal. 3,1) schwingt er die Geißel <strong>und</strong> reinigt <strong>und</strong> heiligt<br />
also <strong>das</strong> Haus seines Vaters Lk. 2,49 <strong>und</strong> dessen heiligen <strong>und</strong> ewigen Sabbat. Mit <strong>Recht</strong> bemerkt<br />
Hieronymus (Mt. 21), <strong>das</strong>s Andere zwar andere W<strong>und</strong>er als die Auferweckung des Lazarus für die<br />
höchsten achteten, vielmehr aber diese Tat im Tempel <strong>das</strong> größte σημεῖον seiner δόξα gewesen sei.<br />
Quae infinitus non fecisset exercitus, hätte er allein mit einer Geißel vollführt <strong>und</strong> die sonst so<br />
wachsame <strong>und</strong> <strong>über</strong>mächtige Tempel-Polizei ließ es ruhig geschehen, weil sie sich innerlich gebrochen<br />
fühlte, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Volk Christo anhing; in diesem Augenblick war Jesus Herr des Tempels, so wie<br />
der König inmitten des Volkes. Er nennt ihn <strong>das</strong> Haus seines Vaters – so wie er auch auf Davids seines<br />
Vaters nach Fleische Stuhle saß. – Zach. 14,21: Es wird kein Krämer sein im Heiligtum an jenem<br />
Tage. – Allein in die letzte Zeit Jesu, ehe sein Königtum am Kreuz verhöhnt wurde, passt diese<br />
gewaltige Behauptung desselben inmitten einer gewalttätigen <strong>und</strong> rücksichtslosen Menge, die ihn<br />
gerade in seinen letzten Worten <strong>und</strong> Taten anerkennen muss, obwohl er in menschlicher Schwachheit<br />
<strong>das</strong>teht.<br />
V. 17. Die Jünger gedenken der Stelle eines messianischen Psalmes. Ps. 69. Aus diesem Psalm-<br />
Zitate Mt. 23,38. Joh. 15,25; 19,28.29; Act. 1,20. Röm. 11,9; 15,3. – Für <strong>das</strong> καταφάγεται ist zu vergleichen<br />
<strong>das</strong> dictum Pythagoricum: μη ἐσθίειν καρδίαν. cf. Num. 25,11. var. lect. κατέφαγε.<br />
V. 18. ἀπεκρίθησαν: mit Beziehung auf <strong>das</strong> Tun Christi, worin eine sehr laute Predigt lag – antworten<br />
sie: σημεῖον documentum legationis divinae im Sinne der Juden; in diesem Sinne auch<br />
δεικνύεις. cf. c. 6,30; 4,48. Mt. 21,23; 16,1 ff. Mk. 8,11. Lk. 11,29. 1. Kor. 1,22.<br />
ὅτι ταῦτα ποιεῖς <strong>das</strong>s du Solches tun darfst.<br />
V. 19. Der nun folgende Spruch ist von den Juden, den Jüngern <strong>und</strong> nach ihrem Vorgang auch<br />
von den meisten neueren Exegeten nicht verstanden worden. Die Ausdrücke λύειν <strong>und</strong> ἐγείρειν werden<br />
von wirklichem Abbrechen <strong>und</strong> Wiederaufbauen eines Gebäudes gesagt, z. B. 3. Esra 5,83.<br />
ὑμνοῦντες τῷ κυρίῳ ἐπὶ τῇ ἐγέρσει θοῦ οἴκου. Jos. ant. XV, 14. τὸν ναὸν ἤγειρε.<br />
V. 20. So verstanden denn auch die Juden die Worte von dem Tempel, den Herodes im 18. Jahre<br />
nach seiner Ernennung zum König, im 15. nach dem wirklichen Regierungsantritt, im 14. n. Chr.<br />
angefangen hatte umzubauen. Das eigentliche Tempelhaus war zwar in 12 Jahren vollendet; mit Unterbrechungen<br />
aber wurde der Bau der Vorhöfe, Hallen etc. fortgesetzt <strong>und</strong> erst unter Agrippa (60 n.<br />
Chr.) beendet. – Mit einigen älteren Exegeten an den Tempelbau unter Serubabel zu denken, ist<br />
nicht tunlich, da derselbe in nicht ganz 20 Jahren im 6. Jahre des Darius vollendet wurde. So auch<br />
Josephus. Die Juden hatten so viele W<strong>und</strong>ererweisungen Christi gesehen, <strong>das</strong>s sie, wie unglaublich<br />
diese Worte ihnen auch klangen, dennoch merkwürdig davon ergriffen wurden. Das Gefühl hatten<br />
sie wohl, <strong>das</strong>s dieser mit Händen gebaute Tempel nicht wahrhaft die Wohnung des Allerhöchsten<br />
sein könne. cf. Act. 7,47 f. – Gerade diese Worte Jesu werden als falsches Zeugnis wider ihn vor<br />
dem Hohenpriester vorgebracht Mk. 14,58. Mt. 26,61, – mit ihnen verspotteten die Juden Christum<br />
noch am Kreuz. Mt. 27,40. Joh. gibt <strong>das</strong> Verständnis der Worte Christi, <strong>das</strong>s er nicht von dem mit<br />
Händen gebauten Tempel – sondern vom Tempel seines Leibes gesprochen. cf. 2. Kor. 5,1 <strong>und</strong> 1.<br />
Kor. 3,16 mit Mk. 14,58. Wenn nun Joh. V. 22 den Ausdruck ἐμνήςθησαν gebraucht, so zeigt die<br />
Vergleichung von c. 14,26 <strong>und</strong> c. 12,16, <strong>das</strong>s den Jüngern dies Verständnis durch den heiligen Geist<br />
eröffnet ist. Trotzdem haben viele neuere Theologen als Henke, Herder, Bleek – denen sich Lücke<br />
anschließt, neuerdings Schweizer, Beyschlag, de W., Ewald u. A. – den Apostel einer irrigen Auffassung<br />
geziehen. Nach ihnen soll der Sinn dieser sein: Wenn ihr fortfahren werdet, den Tempel so
72 2. Kapitel.<br />
zu entweihen bis zur Zerstörung – so werde ich in kürzester Zeit einen neuen Tempel, eine neue Anbetung<br />
Gottes in Geist <strong>und</strong> Wahrheit aufrichten. Diese Exegeten irren in demselben Stück, worin<br />
auch die Juden irrten: sie verstanden Tempel von der Gottes-Verehrung, wie sie die Menschen zu<br />
Stande bringen <strong>und</strong> hielten sich an <strong>das</strong> Sichtbare. ναός heißt aber Wohnung, Einwohnung Gottes; in<br />
dem Tempel Jehovas war keine Standsäule; kein Israelit betrat seine Schwelle ohne den Priester,<br />
<strong>und</strong> im Allerheiligsten war ein ewiges Dunkel. Einmal nur im Jahre trat der Hohepriester herein.<br />
Eben wie <strong>das</strong> Zelt, so war auch der Tempel, ganz nach dem Bilde himmlischer Dinge von David<br />
dem Salomo vorgezeichnet – vor den Augen des ganzen Israel eine Abmalung dessen, wie einst Jehova<br />
wohnen würde in Christo, so wie es im Hebräerbrief im Einzelnen erklärt ist. c. 9. Als nun Jesus<br />
auf seinem letzten Gang nach Jerusalem, wo es ganz dunkel in seiner Seele war <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />
Paschah, <strong>das</strong> große Opfer, <strong>das</strong> Hineingehn ins Heiligtum durch sein eignes Blut für ihn bevorstand –<br />
unter dem Hosiannaruf des Volkes den Tempel betrat, da wurde er so erfüllt von dem, <strong>das</strong>s eben<br />
jetzt in Ihm die Wahrheit, die Erfüllung alles dessen da sei, was in den Anordnungen des Tempels<br />
sinnbildlich vorbedeutet war – <strong>das</strong>s er die Tempelhöfe alsobald zu reinigen beginnt von dem Kram<br />
der Menschen. In diesen Vorhöfen sollten alle Heiden sich sammeln, <strong>das</strong> Geheimnis der von Gott<br />
selbst gestifteten Versöhnung, der Menschwerdung Christi anzubeten – <strong>und</strong> nun trieb die Gewinnsucht<br />
der Priester dort ihr Spiel. Heilig war ihm der Tempel, denn ein Abbild war er der Gründung<br />
eines ewigen Heils, die Einwohnung Gottes inmitten von Menschen, <strong>und</strong> so in dem Tempel ganz die<br />
Darstellung seines Leibes erkennend, spricht er: Λύσατε τὸν ναὸν τοῦτον. – So spricht er Mt. 12,39;<br />
16,4; Lk. 11,29 von dem Zeichen des Propheten Jonas. cf. Mt. 12,6. An <strong>und</strong> für sich lag <strong>das</strong> Verständnis<br />
der Worte nahe genug für den Verständigen. λύσις ist vox morti propria. 2. Kor. 5,1. Die<br />
geistliche Deutung des Tempels war auch gar nicht ungewöhnlich bei den Juden. cf. Lampe pag.<br />
537; der Messias wird sanctum sanctorum genannt. Ja ohne Zweifel haben auch die Juden die Worte<br />
verstanden cf. Mt. 27,63. Sie fühlten es wohl, <strong>das</strong>s in Christo Gott wohnte Kol. 2,9 σωματικῶς. –<br />
Der Imper. λύσατε ist wie Matth. 23,32 zu erklären. Für <strong>das</strong> ἐγερῶ vgl. 10,18.30; 5,25. Es ist nicht<br />
notwendig, mit Storr u. A. anzunehmen, Jesus habe mit dem τοῦτον auf sich selbst gezeigt; der<br />
Tempel war nur Einer, der Tempel seines Leibes – der aus Steinen gebaute dessen Bild. Dass Beides<br />
eins sei, mussten auch die Juden fühlen; als Christus verschied, riss zu gleicher Zeit der Vorhang im<br />
Tempel mitten entzwei; <strong>das</strong>s er also Macht <strong>über</strong> den Tempel habe, bewies er den Juden daraus, <strong>das</strong>s<br />
wenn sie den Tempel Gottes damit eingerissen haben würden, <strong>das</strong>s sie ihn getötet – er denselben in<br />
drei Tagen wieder aufrichten werde. – Die Antwort der Juden war so plump wie c. 3,4 die des Nikodemus,<br />
weil sie Christum nicht verstehen wollten. Weil Christo wirklich ἐν σώματι gewohnt cf.<br />
Eph. 4,16-25. Hebr. 9,11, so wird in Folge dessen die Gemeinde <strong>das</strong> σῶμα Χριστοῦ genannt; dies ist<br />
jedoch erst <strong>das</strong> succedens, jenes <strong>das</strong> antecedens.<br />
V. 22. ἐπίστευσαν τῇ γραφῇ etc. Auffallender Weise steht γραφῇ voran. Die Jünger hatten auch<br />
zuvor der Schrift geglaubt – aber jetzt in ganz anderer Weise. Sie glaubten der Schrift, da sie erkannt<br />
hatten, <strong>das</strong>s in diesem Leben Alles, was die Schrift in den Anordnungen des Tempels aussagte,<br />
in Christo leibhaftig erfüllt sei, cf. auch Hos. 6,2. Ps. 118,22. Zach. 6,12. Ps. 16,10.11 <strong>und</strong> Act.<br />
26,22. 1. Petr. 1,12. 1. Kor. 15,3. – V. 11 hieß es: εἰς αὐτόν – hier aber τῇ γρ. καὶ τῷ λόγῳ.<br />
V. 23-25.<br />
Joh. hat zwei große Erweisungen der δόξα aus dem Anfang <strong>und</strong> dem Ende des Wirkens Jesu zusammengestellt,<br />
ein besonders liebliches <strong>und</strong> ein besonders majestätisches, eines im engsten Kreise<br />
<strong>und</strong> eines in der Öffentlichkeit des Tempels <strong>und</strong> die Wirkung davon bei den μαθηταῖς. – Joh. geht<br />
nun auf eine andere Seite der Betrachtung <strong>über</strong> <strong>und</strong> versetzt uns damit wieder an den Anfang der
2. Kapitel. 73<br />
drei Jahre zurück. Es erhebt sich nämlich die Frage, wenn Jesus der Messias gewesen <strong>und</strong> also seine<br />
Herrlichkeit geoffenbart habe – warum er dann nicht in ganz Israel Glauben gef<strong>und</strong>en? ἐν τῷ πάσχα<br />
– ἐν τῇ ἑορτῇ. – Darauf antwortet nun Joh., <strong>das</strong>s, als Jesus in Jerusalem am Fest, inmitten also des<br />
Volkes Israel gewesen, allerdings Viele an ihn geglaubt hätten; Jesus aber sich ihnen nicht vertraut<br />
habe, weil er sie zu gut gekannt. Wie er die Herzen durchschaut habe – davon gibt dann Joh. ein<br />
Beispiel c. 3: Jesus mit Nikodemus.<br />
3. Kapitel.<br />
Joh. will einen Beweis liefern, wie der Herr es durchschaut habe, was in einem Menschen war –<br />
er wählt dazu <strong>das</strong> Gespräch mit Nikodemus, worin Jesus aufs Klarste <strong>und</strong> Entschiedenste es ausgesprochen<br />
hatte, was es mit dem Glauben auf sich habe. Das Menschliche wendet sich an <strong>das</strong><br />
Menschliche <strong>und</strong> findet Eingang <strong>und</strong> Verständnis. Was aber einen ganz anderen Ursprung hat <strong>und</strong><br />
ganz andere Endzwecke verfolgt, <strong>das</strong> ist eben deshalb ein Fremdes <strong>und</strong> Unbekanntes, es hat sein<br />
ihm eignes Element, <strong>und</strong> eines besonderen Organs bedarf es zu seinem Verständnis. Diese Wahrheit<br />
macht sich am schärfsten fühlbar einem Solchen gegen<strong>über</strong>, der sich als ein Lehrer in Israel völlig<br />
in den Dingen Gottes erfahren glaubt.<br />
Das Gespräch mit Nikodemus zerfällt in 1) die Ansprache des Nikodemus <strong>und</strong> die Antwort Jesu<br />
V. 1-3; 2) die ausweichende Antwort <strong>und</strong> die darauf erfolgte Wiederholung der gegen ihn gerichteten<br />
Wahrheit V. 4-8; 3) die verlegene Frage des getroffenen Gewissens <strong>und</strong> die daran geknüpfte Belehrung<br />
<strong>über</strong> <strong>das</strong> Geheimnis des Königreichs Gottes V. 9-21.<br />
V. 1-3.<br />
V. 1. ἄνθρωπος: ein gewisser Mensch. – Νικόδεμος ein griechischer Name, fälschlich von Andern<br />
abgeleitet von נקידם insons sanguinis. – Im Talmud wird ein נקדימון Nacdimon genannt, Sohn<br />
des Gurion, von dem große Reichtümer <strong>und</strong> W<strong>und</strong>ertaten gemeldet wurden. Da ihm der Beiname<br />
Boni beigelegt wird, welcher tr. Sanhedrin c. VI ein Schüler Jesu ist, er bis zur Zerstörung Jerusalems<br />
gelebt haben soll <strong>und</strong> ein Angesehener unter den Pharisäern gewesen sein muss – so haben<br />
Viele sehr bestimmt sich für die Identität mit dem hier genannten Nikodemus ausgesprochen. Die<br />
Tochter desselben soll in große Armut gekommen sein. cf. Alting Schilo 1. IV c. 23. 24.<br />
ἄρχων τῶν Ἰουδαίων. In engerem Sinne bezeichnet ἄρχων ein Mitglied des Synedriums, Act.<br />
3,17; 4,8; 13,27. Ein solcher war auch Nikodemus, Joh. 7,50. Dann bezeichnen aber ἄρχοντες <strong>über</strong>haupt<br />
die Vorsteher der Synagogen, die ,רבי die legitime promotos. Mt. 9,18.23. Lk. 8,41. Joh. 7,48.<br />
Von den Gliedern des Synedriums wurden insofern die ἄρχοντες unterschieden Lk. 23,13; 24,20;<br />
bei Lk. sind sie <strong>über</strong>haupt <strong>das</strong>, was bei Matth. die πρεσβύτεροι. Mt. 15,2. Das Eigentümliche der jüdischen<br />
Synagoge lag darin, <strong>das</strong>s Schriftauslegung <strong>und</strong> Jurisdiktion vereinigt waren, ähnlich wie im<br />
Mittelalter. Also ein angesehener Mann war es, ein Frommer, ein Synagogen-Vorsteher, dazu ein bejahrter<br />
(γέρων), welcher sich nachts zu dem geschmähten Nazarener schleicht.<br />
V. 2. αὐτόν die Erzählung knüpft ganz unmittelbar an den Schluss des vorigen Kapitels an.<br />
Er kam nachts, <strong>das</strong> heißt wohl abends spät – nämlich aus Furcht, doch getrieben von innerer Unruhe.<br />
Es scheint kein Anderer zugegen gewesen zu sein, <strong>und</strong> Joh. hat <strong>das</strong> Gespräch wohl nicht von<br />
Nikodemus, sondern vom Herrn selbst mitgeteilt erhalten. Statt <strong>das</strong>s nun Nikodemus seines ungelegenen<br />
Besuchs wegen sich hätte entschuldigen <strong>und</strong> Jesu ehrlich bekennen sollen, seit er so Vieles<br />
von ihm gehört, sei er mit seiner Theologie ganz in Wirrwarr gekommen – beginnt er mit einem<br />
οἴδαμεν. Ραββί Doktor ist eigentlich der <strong>Recht</strong>stitel eines ordnungsmäßig in den Schulen gebildeten<br />
<strong>und</strong> kreierten Gesetzeslehrers. Vitringa hat geglaubt, auch Jesu möchte durch Handauflegung diese
74 3. Kapitel.<br />
Würde erteilt sein. Man hat aber ohne Zweifel ihn so genannt, weil man wohl fühlte <strong>und</strong> erkannte,<br />
<strong>das</strong>s er in Wahrheit ein Rabbi war, nicht von Menschen – sondern von Gott selbst besiegelt. cf. Mt.<br />
23,8. Joh. 13,13. – Nikodemus sprach von Jesu etwas aus, was er selbst nicht seiner Bedeutung nach<br />
verstand cf. c. 3,31. c. 5,43. Mt. 21,25. Gal. 1,1. Mt. 15,9. Nach guter Logik begründet er aber seinen<br />
Satz damit, <strong>das</strong>s für Christum die durch ihn vollbrachten W<strong>und</strong>er ein von Gott selbst ihm ausgestelltes<br />
Zeugnis wären, welches er respektiere.<br />
Nikodemus tritt Christo mit dem Anspruch alles dessen, wofür er sich selbst hielt, gegen<strong>über</strong>; bekennt<br />
sich aber genötigt, in Jesu etwas anzuerkennen, was außergewöhnlich <strong>und</strong> authentisch, weshalb<br />
er sich auch gerne mit ihm auf guten Fuß setzen möchte. An den Taten Christi hatte er es gesehen,<br />
<strong>das</strong>s dieser Dinge vermöge, welche sie nie fertig gebracht, <strong>das</strong>s er heilen, genesen <strong>und</strong> helfen<br />
könne – wie es allein Gott vermag. Gott war mit ihm. cf. Ex. 3,12 von Moses. 1. Sam. 3,19. Joh.<br />
8,29. c. 9,16, 10,21. – Ps. 72,18 Deus, qui miracula facit solus. – Die Welt tritt gewöhnlich an Gott<br />
heran mit einer Art devoter <strong>und</strong> doch vornehmer Huldigung.<br />
V. 3. In der ganzen Vollmacht eines Lehrers von Gott gekommen spricht Jesus ἀμέν etc.<br />
ἄνωθεν γεννηθῆναι. τὸ ἄνωθεν sagt Chrysosth. οἱ μὲν ἐκ τοῦ οὐρανοῦ φασὶν, οἱ δὲ ἐξ ἀρχῆς. –<br />
ἄνωθεν heißt allerdings anderswo von oben her V. 31. c. 19,11; auch der Sinn würde passen c. 1,3 u.<br />
5. Die Antwort des Nikodemus macht es aber unzweifelhaft, <strong>das</strong>s es in dem Sinne von oben ab, von<br />
vorne an zu erklären. Syrus cf. παλιγγενεσία l. Petr. 1,3. Tit. 3,5. ἀναγέννησας. – Röm.<br />
12,2. Tit. 3,5. καινός ἄνθρ. Kol. 3,10. Gal. 4,9: πάλιν ἄνωθεν. Von solcher neuen Geburt sprechen<br />
im A. T. im Gegensatz gegen die fleischliche israelitische Geburt Ps. 51,12. Ez. 11,19; 18,31; 36,26.<br />
Die Pharisäer aber hielten in ihrer Heiligkeit ihre israelitische Geburt erst recht für gültig. Mt. 3,9.<br />
Joh. 8,33. Phil. 3,4 ff. Die Bezeichnung βασιλεία του θεοῦ war Nikodemus hinreichend bekannt;<br />
<strong>das</strong>s die Zeit derselben nahe sei, war <strong>das</strong> Thema der Predigt Joh. sowohl als Christi selbst cf. Mk.<br />
1,15. Lk. 23,51. Bei den Synoptikern <strong>das</strong> gewöhnliche: β. τῶν οὐρανῶν. – ἰδεῖν wie anderswo<br />
videre vitam V. 36. – Ps. 50,23. 128,5. 27,14. – Hebr. 12,14.<br />
Diese Antwort Christi scheint auf den ersten Blick der Anrede des Nikodemus nicht zu entsprechen.<br />
Aber richtig fasste schon Lightfoot den Zusammenhang. Selbst der Täufer hatte bezeugt: auch<br />
ich kannte ihn nicht; Nikodemus aber, der sich wie die Pharisäer <strong>über</strong>haupt für erleuchtet hielt – beginnt<br />
mit seinem οἴδαμεν. Dem Anspruch des Nikodemus gegen<strong>über</strong>, die Dinge des Reiches Gottes<br />
beurteilen zu können – macht nun der Herr ihm eine Wahrheit fühlbar, die Nikodemus zwar selbst<br />
oft genug gehört <strong>und</strong> gelehrt hatte, mit der er aber noch niemals bei sich selbst bis auf den Gr<strong>und</strong><br />
gekommen war, die Wahrheit nämlich, <strong>das</strong>s Einer von vorn an müsse geboren, <strong>das</strong>s es also <strong>über</strong>haupt<br />
ein durchaus neues <strong>und</strong> ganz anderes Wesen mit einem Menschen werden müsse, solle er<br />
auch nur Sinne <strong>und</strong> Augen haben für die Dinge des Reiches Gottes. Das ἰδεῖν antwortet auf <strong>das</strong><br />
οἴδαμεν.<br />
V. 4. Soll aber ein <strong>Neue</strong>s werden – so muss der Mensch, so wie er nun einmal ist, sterben. Da<br />
sträubt sich nun <strong>das</strong> ganze Selbstgefühl, <strong>und</strong> so wenig wahrhaften Begriff von Wiedergeburt hat dieser<br />
Lehrer in Israel, <strong>das</strong>s er, um die Notwendigkeit einer gänzlichen Umschaffung des Wesens bei<br />
sich selbst nicht einzugestehen, eine Antwort gibt, deren Albernheit er selbst fühlen musste. Dass<br />
die παλλιγγενεσία ein ganz geläufiger Artikel war, dazu vergl. c. 9,34. Ez. 36. Schöttgen <strong>und</strong> Light-<br />
.ב¤רœ א חãדœשœה foot ad 1. Der Proselyt hieß<br />
Nikodemus erkennt an, in Christo müsse wohl ein Außerordentliches erschienen sein; auch er<br />
glaube, es sei wohl die Zeit des Herannahens einer neuen Epoche der Kirche – so möge er denn<br />
gern einmal mit ihm sich <strong>über</strong> die Dinge des Königreichs Gottes unterhalten. – Darauf der Herr: Es<br />
geht nicht so leicht in <strong>das</strong> Reich Gottes hinein; freilich es kommt – aber von Seiten des Menschen
3. Kapitel. 75<br />
ist eine Schwelle zu <strong>über</strong>treten, es muss erst mit dem Menschen etwas vorgegangen sein, <strong>und</strong> so<br />
predigt Christus die Wiedergeburt ganz wie Joh. die μετάνοια.<br />
Bei aller Geistlichkeit hat im Gr<strong>und</strong>e doch jeder ein Gefühl von sich, <strong>das</strong>s er ein fleischliches Ich<br />
ist. Aus diesem Gefühl die Antwort des Nikodemus, welche ein Beweis ist, <strong>das</strong>s Jesu Wort den ganzen<br />
Mann, wie er leibte <strong>und</strong> lebte, gefasst hatte.<br />
V. 5-8.<br />
V. 5. Jesus bestätigt <strong>und</strong> wiederholt die ausgesprochene Wahrheit <strong>und</strong> erläutert sie zugleich. Statt<br />
des ἰδεῖν steht hier εἰσελθεῖν εἰς τ. β. τ. θ., so wie Nikodemus von einem εἰσελθεῖν εἰς τὴν κοιλίαν<br />
gesprochen hatte. Es ist dies eine stehende Redeweise im M<strong>und</strong>e des Herrn cf. Mt. 5,20; 7,21 etc.<br />
Act. 14,22. Die Redeweise beruht auf Num. 14,23 cf. Ps. 95,11. non intrabitis in terram. Auf Gr<strong>und</strong><br />
der damals so gewaltig bezeugten Wahrheit, <strong>das</strong>s nicht Jeder der Erfüllung der Verheißung teilhaftig<br />
werde <strong>und</strong> in die Ruhe Gottes, die Ruhe seiner Herrschaft <strong>und</strong> Siegeskraft, eingehen könne – haben<br />
alle Propheten es wiederholt, <strong>das</strong>s es zur Aufnahme des Messias einer besonderen Zubereitung bedürfe,<br />
<strong>das</strong>s den Jahren des Heils gewaltige Gerichte vorausgehen <strong>und</strong> <strong>das</strong>s nur Solche in der Gemeinde<br />
ein Erbteil empfangen werden, deren Missetaten abgewaschen <strong>und</strong> deren Geist erneuert sein<br />
werde, cf. Jes. 40. Jer. 31. Ez. 36. – Worauf beziehen sich nun aber die Worte ἐξ ὕδαρτος καὶ<br />
πνεύματος? Die Kirchenväter <strong>und</strong> die meisten luther. Interpreten fassen es von der durch Christum<br />
eingesetzten Taufe, nach parallelen Stellen als Tit. 3,5 λοῦτρον παλιγγενεσίας. cf. Ez. 36,25 <strong>und</strong> zu<br />
ἐκ πνεύματος 2. Kor. 3,88. Tit. 3,5. 2. Thess. 2,13. 1. Petr. 1,2. 1. Kor. 6,11. – Die reform. Theologen<br />
dagegen wollen an aquae spirituales gedacht haben; noch Andere suchen mystische Beziehungen<br />
zu finden als z. B. Olshausen, welcher im Wasser ein Symbol der sich in Liebe hingebenden<br />
Seele, im Geist die göttliche Kraft bezeichnet meint. Theodor Mops. deutete <strong>das</strong> Wasser als <strong>das</strong><br />
mütterliche, den Geist als <strong>das</strong> väterliche Prinzip. Nun ist aber 1) klar, <strong>das</strong>s Jesus zu Nikodemus nur<br />
sprechen konnte von der damals üblichen Taufe, der Taufe des Johannes <strong>und</strong> seiner eignen Jünger<br />
cf. c. 4,1; 2) <strong>das</strong>s er <strong>das</strong> Wasser an <strong>und</strong> für sich nicht meint, so wie es auch heißt: durch <strong>das</strong> Wasserbad<br />
ἐν ῥήματι Eph. 5,26. cf. Kol. 2,11. – Vielmehr eben <strong>das</strong>, was bei den Synoptikern μετάνοια<br />
heißt, heißt hier Wiedergeburt; diese ist aus Wasser, sofern im Wasser der Jude mit allen seinen Ansprüchen<br />
<strong>und</strong> seiner Gerechtigkeit untergeht <strong>und</strong> ins Wasser alles Unreine <strong>und</strong> Sündige gebracht<br />
wird; sie ist aus Geist, insofern derjenige, der vor Gott sich ganz <strong>und</strong> gar als Sünder bekannt hat –<br />
als ein Toter <strong>und</strong> Untergegangener nun der Aufrichtung zu einem neuen Leben wartet: <strong>das</strong> Lebendigmachende<br />
aber ist der Geist. Diese Wiedergeburt ist offenbar etwas, was der Mensch nicht selbst<br />
mit sich vornimmt, sondern was Gott an ihm geschehen lässt durch den Dienst seines Wortes.<br />
V. 6. Adam zeugte einen Sohn in seiner Gleichheit, nach seinem Bilde, <strong>und</strong> der Mensch, wie er<br />
von Gottes Leben losgerissen – dem Tode anheimgefallen ist, wird von Gott „Fleisch“ <strong>und</strong> sein Tun<br />
„Sünde“ genannt. αἱ δὲ σάρκες – heißt es bei Eurip. – αἱ κεναὶ φρενῶν – ἀγάλματ᾽ ἀγοραᾶς εἰσίν.<br />
cf. Vitringa observ. sacr. III, 10. Gotekerus, de stylo N. T. c. 10, Der Mensch kann seinen Ursprung,<br />
seine Beschaffenheit nicht verleugnen: Angesichts Gottes ist <strong>und</strong> bleibt er ohne Leben, ohne Gerechtigkeit<br />
cf. Röm. 7,14. Der Gegensatz von σάρξ. <strong>und</strong> πνεῦμα Jes. 31,3 ist nicht ein Gegensatz<br />
<strong>und</strong> ein Doppeltes im Menschen selbst, ein sinnliches <strong>und</strong> ein Vernunft- oder Geist-Prinzip; auch<br />
nicht ein Gegensatz eines Menschen gegen<strong>über</strong> einem Andern, sondern Gegensatz des abgefallenen<br />
Geschöpfes gegen seinen Schöpfer. Der Mensch, ganz wie er leibt <strong>und</strong> lebt, ist Fleisch <strong>und</strong> gerade<br />
die sogenannte Geistlichkeit, Frömmigkeit, Tugend <strong>und</strong> Herrschaft der Vernunft kann dies am wenigsten<br />
verleugnen. Röm. 1,22. – Mit Fleisch bezeichnet die Sprache den von Blut genährten Körper,<br />
meist im Gegensatz gegen die Seele, ein zwar dem Leben Angehöriges, doch in sich Totes;
76 3. Kapitel.<br />
auch ist es die den Knochenbau <strong>über</strong>kleidende dichte Masse voll Blutgefäßen <strong>und</strong> viel Fleisch ansetzen<br />
sagt man mit Bezug auf ein Wachstum, welches statt innerlich <strong>das</strong> Leben zu nähren, ins<br />
Sinnliche, Feste, Träge <strong>und</strong> Äußerliche umschlägt. Wenn man nun gewöhnlich Fleisch gleich σῶμα<br />
oder gleich Sinnlichkeit nimmt, so ist dieses durchaus nicht schriftgemäß <strong>und</strong> hat zu allen Zeiten<br />
der Kirche die schlimmsten Irrlehren hervorgerufen. Vielmehr darin ist der Mensch Fleisch, <strong>das</strong>s er<br />
in dem Leben dieses Leibes Gott gegen<strong>über</strong> sich behaupten will als dennoch lebenskräftig, wissend<br />
was gut <strong>und</strong> böse, <strong>und</strong> sodann statt die Leere <strong>und</strong> den Tod in sich anzuerkennen, mit einer Seele,<br />
welche geschaffen ist Gott zu lieben <strong>und</strong> in Gott zu <strong>Licht</strong> <strong>und</strong> Leben aufzuatmen, in dem Sichtbaren<br />
<strong>und</strong> dessen Vorgängen verloren geht. Fleisch ist der Mensch, insofern er <strong>das</strong> Wort Gottes nicht fasst,<br />
<strong>und</strong> Alles was Gottes ist, in Beziehung zu sich selbst setzt, nach seinen eignen Ideen misst <strong>und</strong><br />
selbst in die Hand nehmen will. Fleisch will gute Tage haben, will sehen mit seinen Sinnen – will<br />
geschmeichelt, geschmückt sein, sich wiegen in Wohlgefühlen, will in seiner Eitelkeit <strong>und</strong> seiner<br />
Leere sich ein Behagen suchen <strong>und</strong> gewinnen mit eben dem, was des Geistes <strong>und</strong> des Lebens ist.<br />
V. 7. Nachdem Jesus den Nikodemus es hat fühlen lassen, <strong>das</strong>s er σαρκικός, zum Reiche Gottes<br />
keineswegs geschickt sei, so kommt er nun der im Herzen des Nikodemus aufsteigenden Frage zuvor,<br />
wer denn ein aus dem Geist Geborener sei.<br />
V. 8. τὸ πνεῦμα ist hier der Wind cf. Mt. 8,27. Mk. 4,39. Ez. 37,9. Der Wind weht nach einer bestimmten<br />
Richtung hin, aber seinen Ausgangspunkt <strong>und</strong> seinen Endpunkt kann Niemand bestimmen<br />
cf. Hiob 30,22. Ps. 135,7. Jer. 10,3. 51,16. Ebenso also von dem aus dem Geiste Geborenen (Jes.<br />
40,7) gilt es, <strong>das</strong>s man seinen Worten es wohl abhört, <strong>das</strong>s in ihm ein Leben ist, eine Lebens- <strong>und</strong><br />
Willensrichtung nicht von der Erde her, nicht nach Menschenart – aber auf <strong>das</strong> woher <strong>und</strong> wohin<br />
sucht man vergeblich im Sichtbaren nach einer Antwort.<br />
V. 9-21.<br />
Jesus hatte Nikodemus, einem in Schriftgelehrsamkeit <strong>und</strong> Heiligung sehr erprobten Manne, die<br />
einfache aber Alles darniederwerfende Wahrheit vorgehalten, <strong>das</strong>s es eines ganz neuen Lebensanfanges<br />
für sie Alle bedürfe. Nach der ausweichenden Antwort des Nikodemus hatte Jesus es näher<br />
entwickelt, welchen neuen Lebensanfang er meine; <strong>das</strong>s diese Geburt aber nur an ihren Wirkungen<br />
zu erkennen sei, während, eben weil sie der Erde <strong>und</strong> dem Sichtbaren nicht angehört, die Art <strong>und</strong><br />
Weise, wie sie zustande kommt, <strong>und</strong> wo sie ihren Endpunkt hat, für ein menschliches Auge verborgen<br />
bleibe. Wie nun der Trotz gewöhnlich in Unglauben <strong>und</strong> Verzagtheit umschlägt, <strong>und</strong> die Eigenweisheit<br />
zuletzt vor dem Berge stehen bleibt, so wirft Nikodemus nun die zweite Frage auf, wie dergleichen<br />
möglich sei. Dass Gott in Wahrheit solch neues Leben in einem Menschen schaffe, glaubt<br />
<strong>und</strong> versteht er nicht. Daran nimmt Jesus Anlass V. 10-21, dem Nikodemus <strong>das</strong> Heil Gottes als in<br />
ihm selbst erschienen k<strong>und</strong> zu machen.<br />
V. 10. ὁ διδάσκαλος ist nicht etwa der Name eines Einzigen, welcher diesen Titel κατ᾽ ἐχοχὴν in<br />
dem Synedrium geführt hätte (der sogenannte :חœכœם Vitr. Obs. s. Tom. I. p. 308) – sondern <strong>über</strong>haupt<br />
der angestellte, wohlbekannte Rabbi, der sich selbst auch nie anders anzusehen gewohnt war. – cf.<br />
Bernhardy, Syntax p. 315 ff. – τοῦ Ἰσρ. wie es bei den Juden heißt: רבי מארץ יש״ראל ,כל cf. Lightfoot.<br />
Greis war Nikodemus geworden <strong>über</strong> seinem Lehren von Wiedergeburt cf. Ps. 51,12. Ez.<br />
18,31. Jes. 1,16; 4,4. Ps. 24,3.4. Ez. 36,25.27. Deut. 30,6. Mal. 3,3 <strong>und</strong> nun, wo es galt, verstand er<br />
die Anfangsgründe nicht.<br />
V. 11. Hatte Nikodemus Dinge gelehrt, ohne sie zu verstehen – so behauptet nun der Herr sich<br />
selbst als den διδάσκαλος, von Gott gekommen, noch in einer ganz andern Geltung, als Nikodemus<br />
es oben ausgesprochen. ὃν οἴδαμεν nachdrücklich vorangestellt. Knapp hat geglaubt, in den Plural
3. Kapitel. 77<br />
οἴδαμεν schließe Christus Johannes den Täufer ein; er redet aber offenbar nur von sich selbst, <strong>und</strong><br />
zwar im Plural, weil er sich in seinem Zeugnisse nicht allein weiß.<br />
V. 12. Der Gegensatz der ἐπίγεια <strong>und</strong> ἐπουράνα in diesem Verse hat den Exegeten große Schwierigkeit<br />
verursacht. Der Gegensatz kann hier nicht wie Phil. 3,19 f. 1. Kor. 15,40 genommen werden.<br />
Eben unter dem bisher Verhandelten müssen doch die ἐπίγεια gemeint sein – ist denn nun aber die<br />
neue Geburt ein ἐπίγειον? Freilich sagt man, die Wiedergeburt sei ein auf Erden von den Menschen<br />
selbst zu Vollbringendes; der Mensch verhalte sich bei ihr gläubig tätig, meint de Wette – <strong>und</strong> dann<br />
allerdings wäre dieselbe ein irdisches nicht bloß, sondern ein σαρκικόν; wäre aber auch keine Geburt.<br />
In diesem Sinne kann also nimmermehr die Wiedergeburt ein ἐπίγειον genannt werden. Luther<br />
nimmt deshalb einen nur formellen Gegensatz an: einer Rede in irdischen Bildern <strong>und</strong> Gleichnissen<br />
<strong>und</strong> einer andern ohne diese Hülle. Lücke macht den Gegensatz des leichter Fasslichen <strong>und</strong> des<br />
schwer Verständlichen. – Es ist aber vielmehr der Gegensatz dieser: Christus hatte bisher von Dingen<br />
gesprochen, die den Menschen betrafen, wie er beschaffen sei, <strong>und</strong> wie es anders mit ihm werden<br />
müsse; wo nun keine Selbst-Erkenntnis ist, keine Erkenntnis der Dinge, die man doch täglich<br />
an sich erfahren kann, wo soll da ein Verständnis für die Erkenntnis Gottes herkommen? Wie sollte<br />
Jesus, wenn er von der ewigen Liebe, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Barmherzigkeit Gottes reden wollte, dafür<br />
Glauben finden, wenn die Menschen von ihrer eignen Verlorenheit keine Einsicht hatten.<br />
V. 13. Und wie viele auch von Gott <strong>und</strong> himmlischen Dingen reden – fährt Jesus fort, so kann<br />
doch in Wahrheit nur Einer dar<strong>über</strong> Auskunft geben. Die Versöhnung zwischen Gott <strong>und</strong> Mensch,<br />
Geist <strong>und</strong> Fleisch geschieht nicht dadurch, <strong>das</strong>s Menschen zu Gott sich erheben – sondern <strong>das</strong>s Gott<br />
herniederkommt zu den Menschen. Wenn nun Nikodemus es für eine Unmöglichkeit hielt, <strong>das</strong>s ein<br />
Mensch von vorne ab aus dem Geiste könne geboren werden, so lag die Erkenntnis der himmlischen<br />
Dinge eben darin, <strong>das</strong>s Christus selber, der Sohn des Menschen, seinen Brüdern in Allem<br />
gleich, dennoch nicht von der Erde, sondern von Gott gekommen <strong>und</strong> im Himmel anwesend war.<br />
Christus belehrt also den Nikodemus, <strong>das</strong>s die Auswechslung zwischen Gott <strong>und</strong> Welt, die Geburt<br />
aus Geist – da wo nichts ist als fleischliche Gesinnung in der Tat auch nur dadurch möglich sei, darin<br />
aber auch ihre gewisse Wahrheit <strong>und</strong> ewige Bürgschaft habe, <strong>das</strong>s ein Einziger da sei, ein<br />
μεσίτης, der Mensch Jesus Christus, der υἱὸς μονογενής. Diese Bezeichnung: ὁ υἱὸς τ. ἀνθρ., ὁ ὤν<br />
ἐν τῷ οὐρανῷ enthält den Gegensatz des Himmels <strong>und</strong> der Erde aber als aufgehobenen. Christus<br />
stand <strong>und</strong> steht noch vor aller Welt da als ein Sohn des Menschen: d. h. Alles, was Gotte gegen<strong>über</strong><br />
in dem Begriffe „Mensch“ liegt – <strong>das</strong> nahm er auf sich: des Menschen Verpflichtung gegen Gott,<br />
des Menschen Sünde, Krankheit <strong>und</strong> Tod, des Menschen ganze Art <strong>und</strong> Beschaffenheit als ein Sohn<br />
Adams, um <strong>das</strong> durch sich herzustellen, was Jener verbrochen, <strong>und</strong> vor Gott <strong>und</strong> allen himmlischen<br />
Gewalten die Armut <strong>und</strong> Schmach davonzutragen, welche auf dem Namen „ἄνθρωπος“ lag. Eben in<br />
diesem Tun bewies er sich als <strong>das</strong> ewige Wort des Vaters, als den ὁ ὢν ἐν τῷ οὐρανῷ. οὐρανός,<br />
hebr. ,שמים ist zunächst <strong>das</strong> was oben ist; est symbolum rerum omnium supra nos et extra conspectum<br />
nostrum in altum evectarum. Da oben ist <strong>Licht</strong>; Nebel <strong>und</strong> Wolken fahren drunter hin. Es ist<br />
Sitz der Herrlichkeit, Quelle des <strong>Licht</strong>s; alle gute Gabe kommt von oben. Die Himmel sind des<br />
Herrn – heißt es im Psalm. Die Erde hat er den Menschenkindern gegeben. Himmel gilt deshalb als<br />
der Ort der Seligkeit <strong>und</strong> ewiger Herrlichkeit, als die Wohnung Gottes. cf. 2. Chron. 20,6. Ps. 115,3.<br />
Der Vater im Himmel. Mt. 6,9; 7,11. ὁ ὤν kann nicht als Präteritum <strong>über</strong>setzt werden: welcher war;<br />
es ist auch nicht gleich ὅς ἐστιν; <strong>das</strong> Partizip bezeichnet vielmehr <strong>das</strong> dem Subjekt inhärierende Wesens-Attribut.<br />
Christus sagt also damit, <strong>das</strong>s während der Sohn des Menschen alles Menschliche<br />
sich zu eigen macht <strong>und</strong> als Mensch erf<strong>und</strong>en wird – sein Wesen doch vielmehr <strong>das</strong> gerade Entgegengesetzte<br />
ist: Gnade, Leben, Herrlichkeit <strong>und</strong> Macht; <strong>das</strong>s also auch in ihm des Himmels Selig-
78 3. Kapitel.<br />
keit mitten inne wohnt <strong>und</strong> da ist in dieser Erdennacht; <strong>das</strong>s wo er ist, auch unausbleiblich der Himmel<br />
ist, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s so gewiss der Himmel nicht von der Erde verdunkelt, wohl aber die Erde vom<br />
Himmel her erleuchtet wird – in Ihm <strong>und</strong> um Ihn, was an <strong>und</strong> für sich irdisch, menschlich ist, insgesamt<br />
zu Segnungen ἐν τοῖς ἐπουρανίοις Eph. 1,3 umgeschaffen wird.<br />
Er ist der ὁ ὢν ἐν τῷ οὐρ. Denn er ist ὁ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβάς. Tod <strong>und</strong> Sünde <strong>und</strong> alles irdische<br />
Ungemach werden ihn nicht niederhalten, denn er ist „der von Oben.“ So Paulus 1. Kor. 15,47:<br />
sec<strong>und</strong>us homo ipse Dominus e coelo. Joh. 6,31.42. Eph. 4,9. Lk. 1 ἀνατολὴ ἐξ ὕψους. – Prov. 30,4.<br />
Deut. 30,11-13. Act. 2,33. Eine Parallele für den Ausdruck aus Homer, Od. 5, 31.<br />
σχεδόθεν δὲ οἱ ἦλθεν Ἀθήνη<br />
οὐρανόθεν καταβάσα. –<br />
Bei dem ἀναβέβηκεν denkt Lampe an die Himmelfahrt Christi; sollte aber diese hier ausgesagt<br />
sein, so müsste <strong>das</strong> Futurum stehen. Lutherische Theologen verstehen es von der exaltatio naturae<br />
humanae Christi ad communionem divinarum perfectionum. Der Satz enthält aber zunächst nur eine<br />
Negation wie c. 1,18 gegen<strong>über</strong> den Vielen, welche sich als solche unter den Menschen hervortaten,<br />
die längst aus dem irdischen Wesen in den Himmel zu Gott sich erhoben hätten. Was Jene aber von<br />
sich vorgeben, gilt nur von Einem, von Christo.<br />
V. 14. Zum Beweise, <strong>das</strong>s wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gebracht, so auch<br />
durch einen Menschen die Heiligung erfolgen müsse – beruft sich der Herr vor dem schriftk<strong>und</strong>igen<br />
Nikodemus auf die eherne Schlange, welche Moses in der Wüste erhöht habe. Num. 21,6. ff. Diese<br />
Geschichte hatte bei dem Volke großes Gewicht. Jene Schlange war aufbewahrt worden <strong>und</strong> weil<br />
נ¦חðש¦תœ sich ein abgöttischer Reliquiendienst an sie geknüpft, ließ Hiskia sie vernichten. Er nannte sie<br />
2. Reg. 18,4. Sap. 16,6 heißt sie σύμβολον σωτηρίας. Dass nun gerade <strong>das</strong> Bild einer Schlange es<br />
war, was den Schlangenbiss heilte – hatte ohne Zweifel der Interpreten Nachdenken erweckt; Aben<br />
Esra kann es sich nur aus dem unerforschlichen Willen Gottes erklären. Dies aber ist <strong>das</strong> Geheimnis,<br />
<strong>das</strong>s Christus uns herausgekauft von dem Fluch des Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns. Gal.<br />
3,13. Im Einzelnen sind noch folgende Vergleichungspunkte zu beachten. 1) Das Volk hatte wider<br />
Gott <strong>und</strong> Mosen gemurrt; in Folge dessen kamen die Saraf-Schlangen mit tödlichem Biss. Wer nun<br />
in seiner Seele von dem tödlichen Biss der Sünde <strong>und</strong> des Gerichts getroffen ist – der soll Christum<br />
ansehen, der Sünde gemacht ist für uns, <strong>und</strong> wie an ihm <strong>das</strong> Gericht offenbar geworden. 2) Die<br />
Schlange war aus Erz. Erz ist Bild der aus dem Feuer hervorleuchtenden Festigkeit <strong>und</strong> Bewährung.<br />
Ez. 40,3. Apoc. 1,15. 3) Die Schlange wurde befestigt an einem בÜס d. h. Panier, einer aufgerichteten<br />
Stange, wahrscheinlich mit einem Querholze versehen; um <strong>das</strong> Panier musste sich <strong>das</strong> Volk aber<br />
sammeln, so oft es von Feinden bedroht war. cf. Jes. 11,10. 4) Diese exaltatio geschah ἐν ἐρήμῳ,<br />
ubi nulla alia medicina (Bengel) <strong>und</strong> war <strong>das</strong> letzte der Zeichen Mosis. –<br />
ὑψωθῆναι c. 8,28; 12,32 erklärt man gewöhnlich nach dem Syrisch. ,זקף welches extollere <strong>und</strong><br />
zugleich crucifigere bedeutet. Es ist aber vielmehr entsprechend dem hebräischen הæעØלœה extollere,<br />
von dem Hinaufbringen der Opfer gesagt. So wird auch von den Gekreuzigten gesagt: sie seien der<br />
Sonne aufgehangen worden <strong>und</strong> mussten bei Sonnenuntergang abgenommen werden. ἵνα πᾶς etc. so<br />
.אבד hebr. wie, wer die Schlange anblickte, nicht starb – sondern am Leben blieb. ἀπολλύσθαι des<br />
ζωὴ αἰώνιος cf. V. 16,36. c. 5,24; 6, 47 f.; 10,11. 1. Joh. 5,12. Das ist eben <strong>das</strong> Leben der neuen Geburt,<br />
<strong>über</strong> welches der Tod keine Macht hat.<br />
V. 16. Die Verse 16-21 sollen nach der Ansicht von Erasmus, Kuinoel, Olshausen, Tholuck,<br />
Lücke nicht mehr zur Rede Jesu gehören – sondern von dem Evangelisten selbst hinzugesetzt sein.<br />
Sie können aber durchaus nicht von dem Vorhergehenden gelöst werden. Dass Christus anderswo<br />
den Ausdruck μονογενής nicht von sich selbst gebraucht, kann nichts beweisen. Diese Errettung<br />
ן
3. Kapitel. 79<br />
zum Leben, wovon V. 15 die Rede – beruht auf dem Ratschluss der Liebe Gottes. 1. Joh. 4,10.19.<br />
κόσμος ist die verlorene Menschheit insgesamt. – Den υἱός μονογενής – also sein Einziges, sein Bestes;<br />
deshalb auch für Jeden. ἔδωκεν gegeben, dem Sinn nach hingeben, einsetzen. cf. Jes. 9,6. Ein<br />
Sohn ist uns gegeben. Dieses dare ist aber ein tradere in violentiam hominum, in ignominiam et<br />
mortem. Joh. 6,51. Röm. 8,32. Gal. 1,4. Eph. 5,2. 1. Tim. 2,4. Tit. 2,14.<br />
ἵνα πᾶς Wiederholung von V. 15. Eben <strong>das</strong> ist der Endzweck, der Wille Gottes, des ein Jeder sich<br />
getrösten kann.<br />
In aller Kürze enthalten V. 14-16 die principia salutis: Christi Kreuzestod, die paterna Dei ergo<br />
homines lapsos voluntas, die applicatio salutis, die fides <strong>und</strong> der Zweck, negativ <strong>und</strong> positiv.<br />
V. 17-21. Wenn aber von Gott <strong>das</strong> Heil für Alle bereitet ist, so ist eine andere Frage die, ob es<br />
auch von Allen angenommen wird. In V. 17 ist ein scheinbarer Widerspruch mit c. 5,22.27 <strong>und</strong> c.<br />
9,39. cf. Mt. 3,12. Zu unterscheiden ist der Zweck <strong>und</strong> der Erfolg. Von Seiten Gottes wird der<br />
Zweck der Sendung Christi ganz entschieden ausgesprochen V. 17. κρίνειν ist trennen, sondern; <strong>das</strong><br />
Verschiedenartige auseinanderlegen <strong>und</strong> Jedes an seinen Platz stellen, sodann bei Seite stellen, <strong>das</strong><br />
Urteil abschneiden, also verurteilen. Indem nun der Herr c. 5,22 fühlen lässt, <strong>das</strong>s er die Macht hat,<br />
sein Urteil zu sprechen, ein gerechtes <strong>und</strong> ewig gültiges, auch den Menschen in seinem eigenen Gewissen<br />
fühlen lässt, <strong>das</strong>s dieses Urteil nicht anders ausfallen könnte, als zur Verurteilung, spricht er<br />
wiederholt als den einzigen Zweck seiner Sendung den aus, <strong>das</strong>s der Mensch durch den Glauben an<br />
ihn dem Gericht entgehe. – Wer nun <strong>das</strong> einzige ihm dargebotene <strong>und</strong> in seinem Innern so laut beglaubigte<br />
Heil nicht ergreift, ist schon gerichtet: abgeschieden nämlich von Leben <strong>und</strong> Seligkeit.<br />
Das μὴ bei πιστ. <strong>und</strong> πεπίστευκεν drückt <strong>das</strong> Nichtglauben als ein von dem Menschen persönlich<br />
Abhängendes aus. – Win. § 59.<br />
είς τὸ ὄνομα etc. cf. c. 1, 12.<br />
V. 19. ἠγάπησαν πᾶλλον cf. c. 12,43. Sie liebten auch wohl <strong>das</strong> <strong>Licht</strong>; wie es aber zur Entscheidung<br />
kam, neigte sich <strong>das</strong> Herz zur Finsternis.<br />
πονηρός ist eigentlich Alles, was Mühe macht, <strong>das</strong> Böse; φαῦλα sind Dinge, die nicht taugen.<br />
V. 20. cf. Hiob 24,14-17. Röm. 13,12. Eph. 5,11. ἐλεγχθῇ <strong>über</strong>führt werden. Denn den Schein<br />
des Guten nehmen Alle an; deshalb sind es aber φαῦλα ἔργα, weil sie keine Frucht zum Leben in<br />
sich haben; deshalb steht gegen<strong>über</strong> ὁ ποιῶν τὴν ἀλήθειαν d. h. sich vor Gott bekennen wie man ist.<br />
1. Joh. 1,6 ff.<br />
V. 21. Ein Solcher kommt an <strong>das</strong> <strong>Licht</strong>; ἵνα φανερωθῆ ἀυτοῦ τὰ ἔργα, ὅτι ἐν θεῷ ἐστιν<br />
εἰργσμένα, d. h. weil ein Gr<strong>und</strong>zug nach Gott in ihm ist, so <strong>das</strong>s er nicht in sich selbst, sondern in<br />
Gott, in dessen Wort <strong>und</strong> Gesetz Ausgang, Bestimmung <strong>und</strong> Endziel seines Tuns <strong>und</strong> Handelns gehabt<br />
– so drängt es ihn, mit allen seinen Werken an <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> zu treten, wie er auch selbst dabei zu<br />
Schanden werde, damit er aber mit seinem Suchen nach Gerechtigkeit zur Klarheit <strong>und</strong> Wahrheit<br />
<strong>und</strong> aufs Reine komme. So schüttete Daniel sein ganzes Herz vor Gott aus, damit es bei ihm Angesichts<br />
Gottes zur Wahrheit werde, <strong>das</strong>s er Gott gesucht. Ohne dies ist es nicht möglich für einen<br />
Sünder, ans <strong>Licht</strong> zu treten.<br />
Man hat vielfach die Frage behandelt, ob Nikodemus dieses Gespräch habe verstehen können.<br />
Gewiss ist es, <strong>das</strong>s es bei ihm Frucht getragen: denn er hat sich des Gekreuzigten nachher nicht geschämt<br />
zu einer Zeit, wo er vom Reiche Gottes in einem ganz andern Sinne nichts sehen konnte. –<br />
Übrigens ist im Gr<strong>und</strong>e Christus niemals <strong>und</strong> von Keinem verstanden worden; er säte <strong>das</strong> Wort nach<br />
allen Seiten aus, welches sodann des Regens <strong>und</strong> der Sonnenwärme wartete <strong>und</strong> erst absterben musste,<br />
ehe es aufgehen konnte. Indessen sind alle Worte Jesu ganz für Nikodemus berechnet. Nachdem
80 3. Kapitel.<br />
der Herr demselben sein Vertrauen zu sich selbst genommen, bestärkt er in ihm den Eindruck, den<br />
er von Christo empfangen hatte, <strong>und</strong> sucht ihm den Anstoß an seiner Knechtsgestalt zu nehmen.<br />
Nachdem er ihn gestraft, lässt er ihn seine Liebe fühlen, sein Herz <strong>und</strong> des Vaters Willen, einen Jeden<br />
zu retten; <strong>und</strong> indem er ihm den Gr<strong>und</strong> aufdeckt, warum die Welt nicht glaubt, macht er ihm<br />
Mut, sich nicht bloß zur Nacht, sondern vor Gott <strong>und</strong> der Welt zu dem <strong>Licht</strong> zu bekennen. Vergl.<br />
Acht Predigten <strong>über</strong> Evang. Joh. c. 3 von Kohlbrügge, Elberfeld 1855.<br />
V. 22-36. Ein anderes Zeugnis des Täufers, dem Inhalte nach dem Gespräch mit Nikodemus<br />
verwandt.<br />
V. 22. Wie <strong>über</strong>haupt in dem Tun Jesu nichts Beabsichtigtes liegt, wie er sich durch die Umstände<br />
leiten lässt – so auch hier. Als Jude war er zu Joh. an den Jordan gekommen; auf die Hochzeit zu<br />
Kana war er gebeten worden; als Jude war er nach Jerusalem zum Fest gegangen c. 2,23, nun zieht<br />
er mit seinen Jüngern in Judäa umher, διέτριβεν, <strong>und</strong> gleichwie diese es gewohnt waren zu taufen,<br />
so lässt er sie es fortsetzen c. 4,2, so <strong>das</strong>s er selbst als ein zweiter Täufer erscheint. Ebenso bei den<br />
Synoptikern beginnt Jesus damit, eben die Predigt fortzusetzen, welche Joh. dem Volke gehalten.<br />
Ἰουδαία γῆ die Landschaft entgegengesetzt der Hauptstadt Jerusalem. Mk. 1,5. Ἰουδαία χώρα. cf.<br />
Sach. 12,7. – Jerusalem <strong>und</strong> die Landschaft Judäas werden öfter nebeneinandergestellt. cf. 2. Chron.<br />
20,17.18; 36,23. Lk. 5,17. Joh. 11,54. Judäa, wovon Pilatus damals Prokurator war – während in<br />
Galiläa Herodes regierte, erstreckte sich von Samarien bis Arabia Peträa <strong>und</strong> von dem Mittelmeer<br />
bis <strong>über</strong> den Jordan hinaus. Mt. 19,1. Mk. 10,1. Es war nach Jos. de b. J. 3, c. 4 in 11 toparchiae geteilt.<br />
V. 23. Der Name Αἰνών wird verschieden abgeleitet, entweder von ,עÜינœן eine bloß abgeleitete<br />
Form von ,עÚי¤ן Brunnenort (Rosenm. bibl. Geogr. 2, 2 p. 133. Ew. Gramm. § 163), oder <strong>das</strong> ων wird<br />
nicht als Endung, sondern als ein besonderes Wort genommen. Der Syrus <strong>und</strong> de Dieu = יונœה ;עÚי¤ן der<br />
Araber <strong>und</strong> Casaubonus = נון .עÚי¤ן Wirklich scheint Αἰνών nur ein Brunnenort gewesen zu sein, da<br />
seine Lage näher bestimmt wird durch ἐγγὺς τοῦ Σαλείμ. Nach Hieron. lag <strong>das</strong>selbe in octavo lapide<br />
Scythopoleos ad meridiem. Dieser Angabe stimmt Epiph. bei. Es lag freilich auch ein Salem nicht<br />
weit von Sichem, wo Jakob Gen. 33,18 lagerte, als er aus Mesopotamien kam, <strong>und</strong> welches Robinson<br />
wieder aufgef<strong>und</strong>en hat III, 436. Dann hätte aber Joh. hier in Samarien seinen Standort gehabt<br />
<strong>und</strong> dieses Salem kann also nicht gemeint sein. Schwerlich ist של¦ח¤ים Jos. 15,32 <strong>und</strong> עÚי¤ן zu berücksichtigen,<br />
wo die LXX cod. Al. Σελετίν καὶ Αίν. – Lampe irrt völlig, wenn er Salem jenseits des Jordan<br />
nach Peräa versetzt.<br />
παρεγίνοντο ohne Subjekt – unbestimmt.<br />
V. 24. Die Synoptiker beginnen ihre Erzählung erst mit dem Auftreten Jesu nach der Gefangennehmung<br />
des Täufers; setzen aber selbst voraus, <strong>das</strong>s Jesus schon vorher öffentlich gewirkt hatte.<br />
cf. Lk. 4,16.23. Mt. 4,12.13. Der Tod des Täufers wird berichtet Mk. 6,27. ff. Mt. 14,10, welches<br />
gleichzeitig ist mit Joh. 6,4.<br />
V. 25. Ἰουδαίου var. lect. Ἰουδαίων. Der Singular hat die meisten Autoritäten für sich, den Syrer,<br />
Chrysosth., Theoph., den cod. Alex. <strong>und</strong> viele andere. Man hat eingewandt, es müsse dann τονός<br />
dabei stehen oder ἀνδρός – was indes nicht schlechthin notwendig. Bentley will Ἰησοῦ emendieren,<br />
was augenscheinlich falsch. Schulz N. T. Griesb. var. 1. will lesen ἐκ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ μετὰ<br />
Ἰωάννουa.<br />
V. 26. Aus diesem Verse ist zu entnehmen, welcher Art die ζήτησις (Act. 15,2) muss gewesen<br />
sein. ἐκ τῶν μαθητῶν aus ihrem Kreise. Indem die Jünger Johannis von der Notwendigkeit <strong>und</strong> Be-
3. Kapitel. 81<br />
deutung einer Reinigung durchs Wasserbad sprachen, hatten jene Juden ihnen eingeworfen, <strong>das</strong>s die<br />
Taufe Johannis doch wohl die Gewissen nicht reinigen könne, da nun wiederum ein anderer aufgetreten<br />
sei zu taufen, welchem alles Volk zuströme. – Die Jünger Joh. reden ihn mit demselben Namen<br />
Ραββί an, womit auch Jesus angeredet wird. 1,39. μετὰ σοῦ stärker als παρά σοι. Die Jünger<br />
waren durch diesen Einwurf unklar bei sich selbst geworden <strong>und</strong> suchen nun bei ihrem Meister Belehrung.<br />
V. 27. Nach Chrysosth., Olsh., de Wette wäre der Sinn: Christus könnte <strong>das</strong> nicht sein, was er ist,<br />
wäre es ihm nicht von Gott gegeben; nach Cyrill, Beng., Lücke, Neander: ich kann mir nichts anmaßen,<br />
was mir nicht gegeben ist. Die letztere Beziehung ist vorzuziehen.<br />
V. 29. Der Täufer wendet die eignen Worte seiner Jünger (V. 26) zu einem Beweise gegen sie.<br />
Seine Stellung zu Christo zu bezeichnen, bedient er sich des schönen Bildes, <strong>das</strong>s er der φίλος τοῦ<br />
νυμφίου sei. Es ist dies der sogen. שוש בÜן παρανύμφιος Mt. 9,15. νυμφάγωγος Jud. 14,20 LXX, der<br />
im Interesse des Bräutigams für ihn die Werbung tat, alles die Verbindung Betreffende vermittelte<br />
<strong>und</strong> bei dem Hochzeitsfeste selbst dem Verlobten zur Seite stand. cf. Schoettgen hor. ad 1. Das<br />
Band, welches Christum mit der Gemeinde verknüpft, wird sehr gewöhnlich im Bilde der ehelichen<br />
Verbindung dargestellt. Ps. 45. Das Hohelied. Jes. 54,5. Ez. 16. Hos. 2,19. f. 2. Kor. 11,2. Eph. 5,32.<br />
Apoc. 21,2.9. Lk. 5,34. f. Mt. 22,1 ff. 25,1; 9,15.<br />
καρᾷ χαίρειν entspricht Jes. 66,10. מœשוש ש¤ישו א¤תœה LXX. χάρητε ἅμα αὐτῇ χαρᾷ 1. Chron. 29,9.<br />
Gewöhnlicher ist der Acc. χαρὰν καίρειν entsprechend dem hebr. inf. absol. Winer § 32, 2. – Stimme<br />
des Bräutigams <strong>und</strong> Stimme der Braut sind sprichwörtlich: Jer. 7,34; 16,9 <strong>und</strong> öfter. – Ps. 45,16.<br />
Apoc. 19,7. Diese meine Freude πεπλήρωται ist völlig gemacht. cf. c. 15,11; 16,24; 17,13. 1. Joh.<br />
1,4.<br />
V. 30. Euthymius setzt hinzu: ὡς ἡλίου ἀνατείλαντος ὁ εὡσφόρος – αὐξάνειν cf. LXX Gen.<br />
49,22. Jos. 4,14. Jes. 52,13.<br />
V. 31-36 haben zuerst Bengel, Wetstein, – unter den <strong>Neue</strong>ren Olshausen, Meyer <strong>und</strong> Tholuck als<br />
Worte angesehen, quae evangelista attexuerit. Man behauptet, der Täufer könne von Christo so<br />
nicht gesprochen haben. Die Kontinuation der Rede macht es aber ganz offenbar, <strong>das</strong>s wir bis zu<br />
Ende des Kap. Worte des Täufers vor uns haben, <strong>und</strong> es fragt sich vielmehr, wie sie in seinem M<strong>und</strong>e<br />
zu verstehen. Die ganze Stelle ist Entwicklung dessen, was in dem Worte ὁ Χριστός liegt; ganz<br />
also dem angemessen, der auf den Messiam hinweisen sollte, <strong>und</strong> von Elementen durchzogen, die<br />
lebhaft an die eigentümliche Stellung des Täufers erinnern.<br />
Die Bedeutung der Taufe Joh. war, unter Ankündigung der nahen Zukunft ihres Herrn <strong>und</strong> Königs,<br />
die Kinder Israel davon zu <strong>über</strong>führen, <strong>das</strong>s sie ihrem Herzen, Wesen <strong>und</strong> Tun nach Heiden<br />
<strong>und</strong> Sünder seien, sie als solche unterzutauchen <strong>und</strong> ihnen die Absolution anzukündigen im Namen<br />
dessen, der eine ganz andere Taufe mit ihnen vornehmen werde. Statt nun anzuerkennen, <strong>das</strong>s von<br />
Seiten des Menschen Hilfe <strong>und</strong> Heil gar nicht zu erwarten sei, <strong>das</strong>s es ein ganz neues Wesen werden<br />
müsse – meinten Viele der Schüler Johannis, es sei auf Reinigung abgesehen, auf Heiligung des<br />
menschlich Unvollkommnen <strong>und</strong> Unreinen. Hätte Joh. eigne Ehre gesucht, so würde er auch Heiligung<br />
gepredigt haben Gal. 6,12, <strong>das</strong>s die Menschen etwas aus sich selbst machen <strong>und</strong> wirken sollen.<br />
Die Propheten <strong>und</strong> Apostel aber erweisen sich eben darin als Diener Christi, <strong>das</strong>s sie sich immerdar<br />
in ihrer Schwachheit <strong>und</strong> als Menschen darstellen <strong>und</strong> so einen Jeden von sich selbst ab zu<br />
Christo führen, als zu dem, durch welchen allein Gottes Wohlgefallen auf einem Menschen ruhen<br />
könne. Joh. sagt demnach zuerst ganz ebenso wie Paulus den Korinthern, <strong>das</strong>s seine Jünger doch ja<br />
nicht in ihm eine menschliche, fleischliche Herrlichkeit bew<strong>und</strong>ern <strong>und</strong> erheben möchten, sondern<br />
ihn vielmehr nach der Stellung ins Auge fassen sollten, die ihm nach Gottes Willen zuteil geworden.
82 3. Kapitel.<br />
1. Kor. 3,7; 11,23; 15,10. Ps. 115,1. Diese Stellung sei, <strong>das</strong>s er nicht selbst der Gesalbte sei – sondern<br />
vor ihm her gesandt. Deshalb werbe er nicht für sich, sondern für Diesen, ganz ähnlich wie<br />
Paulus seinen Beruf als den bezeichnet, Christo eine unbefleckte Jungfrau zuzuführen. Röm. 15,16.<br />
In diesem Berufe sei seine Seligkeit. So liege es denn in der Natur der Sache, <strong>das</strong>s vor den Augen<br />
von ganz Israel Jener verherrlicht werde, er aber als der Diener zurücktreten müsse, nachdem der<br />
Herr selbst eingezogen. Damit nun dieses klar erkannt werde, zieht Joh. V. 31 ff. aufs schärfste die<br />
Grenzen dessen, was von oben <strong>und</strong> dessen, was von der Erde ist, fast mit denselben Worten, wie Jesus<br />
vor Nikodemus V. 11 ff. Denn bei dem Predigtamt handelt es sich nicht darum, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Irdische<br />
in Selbst<strong>über</strong>hebung in den Himmel aufgenommen werde <strong>und</strong> der Mensch Gottes Wohlgefallen sich<br />
durch Werke verdiene – sondern es handelt sich um Gott selbst, Sein Wort <strong>und</strong> Sein Wohlgefallen;<br />
<strong>und</strong> in diesem Sinne legt nun der Täufer <strong>das</strong> Zeugnis ab, <strong>das</strong>s wer Gott suchen <strong>und</strong> vor Gott einst im<br />
Gericht bestehen wolle, gar nicht anders könne, als allein an den Einen sich halten, der aus dem<br />
Himmel gekommen, also allein uns Aufschluss <strong>über</strong> <strong>das</strong> da oben geben <strong>und</strong> allein der Gnade Gottes<br />
uns teilhaftig machen könne, weil alle Fülle der Güte <strong>und</strong> des Wohlgefallens Gottes samt aller<br />
Macht <strong>und</strong> Gewalt ihm gegeben ist.<br />
V. 31. Die Propheten <strong>und</strong> Apostel sind an <strong>und</strong> für sich sterbliche Menschen, welche nicht helfen<br />
können; der Herr aus dem Himmel 1. Kor. 15,47 ist nur Einer. Der ἄνωθεν ist natürlich ἐπάνω;<br />
αἰώνιός ἐστιν ὁ ἐπάνω βροτῶν. Hiob 33,12. πάντων Neutr. oder Masc. Der Täufer spricht denselben<br />
Gegensatz aus, welcher V. 6 <strong>und</strong> 13 sich findet. Die Taufe Johannis war ohne Zweifel ἐκ τοῦ<br />
οὐρανοῦ Mt. 21,25 – aber Denen gegen<strong>über</strong>, welche bei ihm bleiben wollten, nachdem sie von<br />
Christo gehört, welche in ihm nicht den Boten Jenes, sondern einen göttlichen, himmlischen,<br />
großen Mann sehen <strong>und</strong> in seiner Gemeinschaft selbst ein Anrecht des Himmels erwerben wollten,<br />
bezeichnet er sich als ἐκ τῆς γῆς.<br />
V. 32. Aber auch <strong>das</strong> würde seinen Schülern nicht geholfen haben, wenn sie mit allem Volk Jesu<br />
nachgelaufen wären. Joh. lässt sich durch den Augenschein nicht trügen; dem πάντες V. 26 setzt er<br />
ein οὐδείς entgegen; hat Joh. mit seinem Zeugnis von Christo so wenig Eingang gef<strong>und</strong>en, so erkennt<br />
er es wohl, <strong>das</strong>s Jener mit dem Zeugnis dessen, was bei Gott Wahrheit ist, noch weniger Eingang<br />
finden wird.<br />
V. 33. ἐσφράγισεν: Der Zeuge im Gericht musste seiner Unterschrift „dies ist meine Hand“ sein<br />
Siegel beigeben. cf. Vitr. obs. s. III, 1. Jehova rechtet mit seinem Volk, <strong>das</strong>s sie Sünder seien, Er<br />
aber ihr Heil. Wer <strong>das</strong> Zeugnis, welches Christus, wie er’s oben im Himmel beim Vater gesehen <strong>und</strong><br />
gehört, <strong>über</strong> aller Menschen Wesen <strong>und</strong> Tun ausspricht, nicht annimmt V. 11. c. 5,30; 8,26.40;<br />
15,15, der sucht sich selbst zu rechtfertigen. Wer es aber angenommen, der hat eben damit seine<br />
Unterschrift <strong>und</strong> sein Siegel dafür abgegeben, <strong>das</strong>s nicht an Gott die Schuld liege, <strong>das</strong>s vielmehr Alles,<br />
was Gott in seinem Wort <strong>und</strong> in dem Gewissen den Menschen vernehmen lässt, wahr ist.<br />
V. 34. Dies begründet Joh. damit, <strong>das</strong>s Christus als der in die Welt gesandte Prophet Deut. 18,18<br />
die Worte redet, welche Gott in seinen M<strong>und</strong> gelegt, welche sich auch als Worte Gottes in den Herzen<br />
müssen fühlbar machen. – Eben dies erwartete man vom Messias, <strong>das</strong>s er den Menschen aus<br />
dem Himmel die Botschaft bringen werde, was sie zu tun hätten, damit sie selig würden. Gen.<br />
49,10. Ps. 40,10.11; 45,2.3. Jes. 45,19. Joh. 6,62. c. 17,6.8.14.<br />
οὐ γὰρ ἐκ μέτρου δίδωσιν ὁ θεὸς τὸ πν. ἐκ μέτρου – so <strong>das</strong>s nur ein bestimmt begrenztes Maß da<br />
wäre. Der Geist redet die Worte Gottes. Da nun Joh. auf Christum den Geist hatte kommen sehen,<br />
so wusste er, <strong>das</strong>s Gott nicht ein Halbes oder Geteiltes gibt, sondern <strong>das</strong>s die ganze Fülle der Gerechtigkeit,<br />
Wahrheit <strong>und</strong> Gnade Gottes auf ihm anwesend war. Kol. 1,19. Joh. 1,16.
3. Kapitel. 83<br />
V. 35. Die Kinder Adams sind φύσει τέκνα ὀργῆς Eph. 2,3; denn wie Adam glauben sie nicht ὅτι<br />
ὁ θεός ἀληθής ἐστιν. Aber zwischen Gott <strong>und</strong> Christo besteht <strong>das</strong> Verhältnis des πατήρ <strong>und</strong> des<br />
υἱός; deshalb ἀγαπᾷ: Kol. 1,13. Mal. 2,11. Jes. 42,1, <strong>und</strong> dies ist der Gr<strong>und</strong>, <strong>das</strong>s Gott Christo alles<br />
in seine Hand gegeben, auch die Macht gerecht zu sprechen, selig zu machen <strong>und</strong> ewiges Leben zu<br />
geben.<br />
V. 36. Wer nun ihn anerkennt als den Sohn, der hat eben darin ein ewiges Leben: denn sein Vertrauen<br />
<strong>und</strong> sein Halt ist <strong>das</strong> in Christo offenbar gewordene <strong>und</strong> den Menschen in sich aufnehmende<br />
ewige Wesen der ins Leben <strong>und</strong> Freiheit rufenden Gnade <strong>und</strong> Wahrheit Gottes. – Wer nicht glaubt<br />
ist ein ἀπειθῶν, denn Glaube ist Gehorsam Röm. 1,5; 11,30-32. Eph. 2,2; 5,6. – vitam videre cf. 3,3.<br />
Eccl. 9,9. Jes. 26,14 (LXX). – Der Zornblick, der auf ihm ruht, bleibet auf ihm. ἐπ᾽ αὐτόν. 1,33.52.<br />
4. Kapitel.<br />
In dem vorigen Kap. hat der Evangelist in dem Gespräch mit Nikodemus <strong>und</strong> dem Zeugnis des<br />
Täufers eine Darstellung dessen mitgeteilt, was eigentlich in dem Namen Χριστός, ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ<br />
enthalten ist, zugleich aber die Ursachen aufgedeckt, warum von Seiten der Menschen kein Verständnis,<br />
kein Glaube Christo entgegengekommen sei, weshalb auch Jesus selbst Vielen gar nicht<br />
sich habe vertrauen können. Denn die Menschen sind fleischlich, ohne es wissen zu wollen, sind irdisch<br />
gesinnt <strong>und</strong> wollen doch Bürger des Himmels sein, ihre Werke sind vom Wurm zerfressen <strong>und</strong><br />
statt die Züchtigung des Geistes anzunehmen <strong>und</strong> mit Gott sich versöhnen zu lassen, suchen sie sich<br />
selbst zu rechtfertigen. Joh. fährt nun fort darzutun, wie der Herr von Seiner Seite Alles aufgeboten<br />
<strong>und</strong> versucht habe, Bedürfnis für Sein Wort zu wecken, Seine Gnade <strong>und</strong> Gabe Jeglichem anzubieten,<br />
sich als den σωτὴρ τοῦ κόσμου zu offenbaren. Er wählt dazu ein Gespräch mit einer Samariterin,<br />
zugleich dadurch die Juden ihres Unglaubens wegen zu beschämen. Zwischen den Juden <strong>und</strong><br />
Samaritern bestand ein unversöhnlicher Hass. Der Ursprung der Samariter gehört der Zeit des Exils<br />
an. Bei der Wegführung der 10 Stämme durch Salmanassar waren an ihre Stelle Kolonien aus Assyrien<br />
in die Städte Samarias eingeführt worden, aus Babel, Cutha, deshalb Cuthari im Talmud, <strong>und</strong><br />
anderen Gegenden. Diese Völkerschaften brachten ihre Götter mit, ließen sich aber zugleich von einem<br />
Leviten im Gesetz Mosis unterrichten. Als zur Zeit des Cyrus die Exulanten des Reiches Juda<br />
den Tempel zu Jerusalem zu bauen begannen, wollten diese Ausländer daran Teil nehmen <strong>und</strong> suchten,<br />
da ihnen dies nicht gestattet werden konnte, auf alle mögliche Weise den Bau zu hindern. Die<br />
Feindschaft steigerte sich, als ein Sohn des Hohenpriesters Jojada, weil er wider <strong>das</strong> Gesetz eine<br />
Tochter des Saneballat, Satrapen von Samarien, geheiratet, von Nehemia aus Jerusalem verwiesen<br />
wurde. Josephus scheint nun verschiedene Erzählungen irrig kombiniert zu haben, wenn er berichtet,<br />
eben von diesem Sohne des Hohenpriesters, der vor 400 gelebt haben muss (den er Manasse<br />
nannte), sei mit Erlaubnis Alexanders d. Gr. der Tempel auf Garizim in Nachahmung des von Jerusalem<br />
gebaut worden. Von Hyrcan wurde 129 dieser Tempel zerstört, doch bestand ein Kultus auf<br />
dem Berge Garizim fort, welchen sie den mons benedictus nannten <strong>und</strong> dessen Namen sie Deut.<br />
27,4 an die Stelle des Ebal in ihren codex gebracht hatten. Sie hatten bloß den Pentateuch, waren<br />
übrigens von jüdischer Theologie sehr abhängig, hatten in gleicher Weise die Erwartung eines Messias<br />
<strong>und</strong> waren um so begieriger, alle Vorrechte der Juden auch für sich in Anspruch zu nehmen, je<br />
mehr sie von jenen zurückgestoßen wurden.<br />
V. 1-3. ὁ κύριος – bei Joh. selten. So brachte es aber der Eindruck der Gespräche des vorigen Kapitel<br />
mit sich. πλείονας μαθητὰς ποιεῖ: er wollte keinen Anhang, wollte keine Opposition machen,<br />
wollte auch keinen Gr<strong>und</strong> zum Anstoß geben – <strong>und</strong> solche Feindseligkeit verleidete ihm den Aufenthalt<br />
in Judäa.
84 4. Kapitel.<br />
καίτοιγε obwohl er gar nicht einmal selbst taufte.<br />
Die Pharisäer beurteilten Christum nach sich selbst; er schien ihnen ein kirchlicher Demagog,<br />
<strong>und</strong> mit Eifersucht <strong>und</strong> Furcht sahen sie seinen Anhang wachsen. Nam in illo omnis honos detrimentum<br />
erat publicae auctoritatis. Grotius. Ihrer Feindseligkeit weicht Jesus aus καὶ ἀπῆλθε, ging<br />
seitab. – Warum taufte Christus selbst nicht, hat man gefragt? Die Kirchenväter meinten, wenigstens<br />
die Apostel hätten doch vom Herrn selbst getauft werden müssen. Christus aber konnte doch<br />
nicht auf seinen Namen taufen, so lange er nicht verklärt war; dies Taufen der Jünger war eigentlich<br />
nur Fortsetzung der Johannes-Taufe; richtig sagt Bengel: baptizare actio ministerialis cf. 1. Kor.<br />
1,17.<br />
V. 4. Der nächste Weg ging durch Samarien. Die Juden gingen lieber am Jordan vorbei oder<br />
durch Peräa; gingen sie aber durch Samarien, so enthielten sie sich aller Gemeinschaft mit den Bewohnern.<br />
Mt. 10,5. – Lk. 9,52; 10,30 ff.; 17,11. Act. 8,5; sie betrachteten es als ein nicht immer zu<br />
vermeidendes διέρχεσθαι.<br />
V. 5. Συχάρ beglaubigter als Συχάρ (Σίμων <strong>und</strong> Συμέων.) Das hebr. ש¦כæם gewöhnlich Σίκιμα oder<br />
Συχέμ. Die Form Συχάρ hat man sich erklären wollen als Spottname = שæקœר Reland Hab. 2,18 oder<br />
domus percussionis statt Hebrunpa בÜית הÚמ¤נ¦תœש Jes. 28,1; wie die Samariter ihrerseits Jerusalem ש¤כור<br />
nennen. Aber <strong>das</strong> r ist wohl nur andere Aussprache statt m, wie solche Vertauschung der liquidae<br />
nicht ungewöhnlich, als Βελιάρ <strong>und</strong> Βελιάλ, אצœר נ¦בוכÚד¦רæ u. a.<br />
Zu dem von Jakob dem Joseph geschenkten Felde siehe Gen. 48,22; 33,19. Jos. 24,32 LXX.<br />
V. 6. Sichem, zur Römer-Zeit Neapolis, jetzt Nablus, liegt in einem reichen, ungemein fruchtbaren<br />
Tale zwischen den an 800 Fuß hohen Bergen Garizim im Süden <strong>und</strong> Ebal im Norden. Östlich<br />
davon breitet sich eine Ebene aus, welche nach Jerusalem zu in einer Länge von 2 St<strong>und</strong>en allmählich<br />
sich verengt. Vor der Stadt in dieser Ebene an die nördlichen Berge gelehnt mag der Acker gelegen<br />
haben, den einst Jakob von den Söhnen Hemors gekauft, wo bei der Besitznahme des Landes<br />
die Gebeine Josephs beigesetzt wurden. Die Tradition enthielt dar<strong>über</strong> noch einige bestimmtere Angaben,<br />
welche wir im A. T. selbst nicht finden. cf. Act. 7,16 <strong>und</strong> Lightfoot zu dieser Stelle. LXX<br />
Gen. 48. ἐγὼ δὲ δίδωμί σοι Σίκιμα ἐξαίρετον ὑπὲρ τοὺς ἀδελφούς σου. – Noch heute findet sich dort<br />
nach einstimmiger Überlieferung der Jakobsbrunnen, hart am Fuße des Garizim, in den Felsen gehauen,<br />
9 Fuß im Durchmesser <strong>und</strong> von 105 Fuß Tiefe; Manndrell fand im März 15 Fuß tief Wasser<br />
darin. Robinson III, 330.<br />
ἐκαθέζετο οὕτως – richtig Euthym. ἁπλῶς ὡς ἔτυχεν. Erasmus u. A. haben <strong>das</strong> οὕτως als Anaphora<br />
des Partizips genommen (Win. 702) „er setzte sich so – nämlich ermüdet, wie er war,“ aber<br />
Fritzsche hat richtig bemerkt, οὕτως müsse dann vor dem verbum finit. stehen.<br />
ἐπί τῇ πηγῇ cf. על הבאר Ex. 2,15 .יישכ Die sechste St<strong>und</strong>e – <strong>das</strong> ist also Mittag. Irrig will Rettig<br />
(Stud. <strong>und</strong> Krit. 30) die St<strong>und</strong>en hier von Mitternacht an, also nach römischer <strong>und</strong> unserer Art gezählt<br />
haben.<br />
V. 8. Um Wasser zu schöpfen, bedurfte es eines Schlauchs <strong>und</strong> Strickes; Beides hatten die Jünger<br />
wohl mit sich genommen.<br />
V. 9. An Kleidung <strong>und</strong> Sprache mochte <strong>das</strong> Weib Jesum als Juden erkennen. – Joh. fügt zur Erklärung<br />
hinzu, <strong>das</strong>s Juden mit Samaritern nicht Gemeinschaft pflegen. Die Rabbiner sagen: „Samaritani<br />
panem comedere aut vinum bibere, probibitum est. Dicunt, qui edit fructum Samaritani est ut<br />
edens carnem porci.“ – Jesus hätte aus demselben Gefäß mit der Samariterin trinken müssen. – Das<br />
Weib, gewohnt von Juden nur mit Verachtung behandelt zu werden, staunt dar<strong>über</strong>, ob denn dieser
4. Kapitel. 85<br />
Jude auf seinen Glauben nichts halte. Sie sagt: „Lässest Du Dich mal zu einer Bitte herab bei einer<br />
Samariterin, weil Du von Durst gequält wirst?“<br />
V. 10. Die Antwort Jesu: „So stolz bin ich nicht, <strong>das</strong>s ich meine Bedürfnisse verleugnen <strong>und</strong> von<br />
Dir nicht mir erbitten sollte, was Du mir geben kannst. Indessen wenn Du Bedürfnis nach einer<br />
Gabe Gottes hättest <strong>und</strong> wüsstest, wen Du vor Dir hast, so würdest Du wohl an ihn eine Bitte gerichtet<br />
haben.“<br />
ᾔτησας Aor.: Du hättest gebeten. – ὕδωρ ζῶν wird Quellwasser genannt im Gegensatz des Zisternen-Wassers.<br />
Gen. 26,19 LXX. Doch dies kann nicht gemeint sein. Die Worte sagen <strong>das</strong>selbe, als<br />
wenn wir sagten: er befriedigte den Durst der Seele. Diese Wendung des Gesprächs ist der Natur der<br />
Sache nach nicht so unvermutet als sie scheint. Die Samariterin hatte von dieser Bitte ja Veranlassung<br />
genommen, <strong>das</strong> religiöse Verhältnis zwischen Juden <strong>und</strong> Samaritern in Frage zu bringen.<br />
V. 11. Die Samariterin gibt eine ausweichende Antwort; <strong>das</strong>s sie aber im Gr<strong>und</strong>e den Sinn der<br />
Worte Jesu wohl verstanden geht aus V. 12 hervor.<br />
κύριε ist damals übliche höfliche Anrede. 12,21.<br />
V. 12. τὰ θρέμματα αὐτοῦ. .צ©אנו Probat aquae copiam. – Die Samaritaner nannten sich Söhne Israels<br />
<strong>und</strong> leiteten ihr Geschlecht von Joseph ab. Reland diss. de Samaritanis § 26. Diss. misc. T. II.<br />
Das Weib meint, dieser Brunnen sei kein gewöhnlicher, sondern ein heiliger; Jakob der Patriarch<br />
habe an solchem Wasser genug gehabt – was denn er wohl Besseres geben könne.<br />
V. 14. Jesus erklärt nun, was er unter lebendigem Wasser will verstanden haben, ein solches, welches<br />
innerlich selbst zu einem Quell wird eines Wassers, welches nicht diesem irdischen Leben angehört,<br />
sondern in ein ewiges Leben sprudelt. ἁλλομένον cf. 6, 27. Virg. Ecl. 5, 46 quale per aestum<br />
dulcis aqua saliente sitim restinguere rivo. – cf. Cant. 4,15. Joh. 6,68; 12,50; 17,3. Hebr. 4,12. Wasser<br />
ist sehr gewöhnlich Bild der Wahrheit Sir. 15,3; Baruch 3,12. Die Wahrheit, die reine Lehre,<br />
wird bei den Rabbinern sehr häufig einer Wasserquelle verglichen. – Jer. 2,13 sagt Gott: Mich, die<br />
lebendige Quelle verlassen sie. – Es ist Bild des Lebens, des nie versiegenden. Jer. 17,13. Zach.<br />
14,8. – c. 7,8. Ez. 47,1. Joel 4,18. Apoc. 22,1. Jes. 12,3. Ps. 36,10. cf. Lampe pag. 720. Rabbinische<br />
Stellen vom Messias: Sicut redemtor primus produxit puteum (Moses Num. 20,11) ita redemtor posterior<br />
producet aquas prout scribitur Joel 4,10: Et fons e domo Jovae prodibit.<br />
In anderm Sinne sagt die Weisheit bei Sirach: wer mich trinkt, dürstet immer.<br />
V. 15. Die Frau will von solch geistigem Bedürfnis nichts wissen; sie hält sich wiederum an <strong>das</strong><br />
Sichtbare, <strong>und</strong> antwortet, es wäre ihr ganz willkommen, wenn sie nicht mehr zu dürsten hätte.<br />
V. 16. Jesus gibt nun dem Gespräch mit einem Mal eine ganz andere Wendung. Da die Frau ihr<br />
Inneres <strong>und</strong> was ihr geistig Not tat, Christo entziehen wollte, so dringt er ihr nun ans Herz, ihre Seele<br />
zu gewinnen. Der Geist eröffnet ihm einen Blick in <strong>das</strong> Leben dieser Frau <strong>und</strong> um sie bei sich<br />
selbst zum Eingeständnis zu bringen, sagt er, <strong>das</strong>s sie ihren Mann rufen solle. Da hatte er den w<strong>und</strong>en<br />
Fleck getroffen; beschämt sagt die Frau, sie habe keinen Mann.<br />
καλῶς richtig. Nicht mit Ironie.<br />
V. 18. Fünf Männer, indem sie sich immer wieder scheiden ließ. Dergleichen Unordnung war jener<br />
Zeit nicht ungewöhnlich. Mit dem sechsten war sie gar nicht ehelich verb<strong>und</strong>en.<br />
V. 19.20. Getroffen bekennt die Frau, einen Propheten vor sich zu haben; von sich aber <strong>das</strong> Gespräch<br />
ablenkend, fragt sie nun, was denn die wahre Religion sei.<br />
ἐν τῷ ὄρει τούτῳ – sie weist auf Garizim.
86 4. Kapitel.<br />
V. 21.22. Jesus lässt nicht nach: wie sich die Frau auch seinem sie ergreifenden Wort entziehen<br />
will, um so erregter wird er selbst; Weib, glaube mir – redet er nun sie an. Frage nicht nach dem Ort<br />
<strong>und</strong> Tempel, wo angebetet werden solle; ist freilich einmal die Frage davon, so seid ihr im Irrtum:<br />
<strong>das</strong> Heil kommt von den Juden.<br />
Das Neutr. ὃ οὐκ οἴδατε ist nicht geradezu <strong>das</strong> Objekt der Anbetung; der Ausdruck ist allgemeiner<br />
zu nehmen: ohne Verstand – wir aber mit Verstand.<br />
An diesem entschiedenen Zeugnis, <strong>das</strong>s von den Juden <strong>das</strong> Heil ausgehe – hat Semler u. A. Anstoß<br />
genommen. Auch diejenigen Kritiker werden sich in diesen Spruch nicht finden können, welche<br />
Polemik gegen die Ἰουδαῖοι annehmen.<br />
V. 23. προσκυνηταί ist ἅπαξ λεγ. im N. T., findet sich indes auch auf einer alten Inschrift. τῷ<br />
πατρί mit Nachdruck. Dativ; gleich darauf Accus. αὐτόν.<br />
ἐν πνεύματι καὶ ἀλήθεία. Nicht geradezu gleich einem Adverb, wie Winer will. Theophylact,<br />
Lightfoot glauben, <strong>das</strong> πνεύματα sei Opposition dem jüdischen Dienst als einem äußerlichen – <strong>das</strong><br />
ἀλήθεία dem samaritanischen als einem irrigen. Mehrere Kirchenväter verstehen unter πνεῦμα den<br />
heiligen Geist (Athan., Basil., Bengel). – Andere dagegen stellen πνεῦμα gegen<strong>über</strong> dem äußerlichen<br />
Werk als interior cordis fides, quae invocationem parit, deinde conscientiae puritas et abnegatio<br />
nostri (Calvin). Die Veritas bezeichnet Lampe als et patris et adoratoris. Nach Lücke soll πνεῦμα<br />
hier <strong>das</strong> Geisteswesen im Menschen, ähnlich nach Tholuck <strong>das</strong> Heiligtum des Menschengeistes bezeichnen.<br />
Es muss aber die Stelle zunächst nicht als Dogma, sondern im lebendigen Fortgang des<br />
Gesprächs gefasst werden. Jesus bedient sich nachdrücklich der Bezeichnung Vater; προσκυνεῖν<br />
heißt eigentlich die Hand auf den M<strong>und</strong> legen, sie küssen <strong>und</strong> sodann gegen Jemand ausstrecken:<br />
also in Ehrfurcht verstummen <strong>und</strong> den Zoll der Liebe <strong>und</strong> des Dankes in Demut Jemanden darbringen.<br />
Die Menschen glauben Gott dienen <strong>und</strong> ihre Schuldigkeit erweisen zu müssen, als fordere <strong>das</strong><br />
Gott für sich. Jesus war gekommen, Gott zu offenbaren in der Macht seiner Liebe, in der Gewalt<br />
seiner errettenden Güte, <strong>und</strong> so sieht er schon den Namen des Vaters also verherrlicht vor den Menschen,<br />
<strong>das</strong>s die Menschen verstummen, sich beugen voll Dank <strong>und</strong> Anbetung – nicht mit äußeren<br />
Gebärden anbeten, sondern ἐν πνεύματι, weil die Offenbarung Gottes in Christo Geist <strong>und</strong> Leben<br />
ist, <strong>und</strong> in Wahrheit, weil sie sich nicht dazu zwingen, sondern es von Herzen tun, so <strong>das</strong>s es kein<br />
Schein oder Trug ist.<br />
V. 24. Es ist nicht etwa ein Irrtum bloß der Juden <strong>und</strong> Samaritaner, die Anbetung Gottes in einem<br />
sichtbaren Gottesdienst zu suchen. πνεῦμα ὁ θεός: wie könnte er also Gefallen haben an einem<br />
Dienst <strong>und</strong> Beugen, welches nur nach Zeit, Ort <strong>und</strong> Umständen geschieht, welches der Kirche, der<br />
Hostie oder sonst einem Sichtbaren gilt, <strong>und</strong> wobei <strong>das</strong> innerste Wesen des Menschen aufrecht stehen<br />
bleibt. Wie Gottes Wesen Geist ist, so muss diesem Wesen gemäß auch die Anbetung Gottes<br />
sein. Jes. 66,1. 1. Reg. 8,27. Act. 7,48 f. 17,25. Jud. V. 20. Eph. 6,18. Ps. 51.<br />
V. 25. Eben aber weil Gott Geist ist – fürchtet sich der Mensch, vor ihm zu erscheinen; freilich<br />
fühlt die Frau, <strong>das</strong>s sie zu Gott in ein ganz anderes Verhältnis kommen müsse als bisher, aber sie<br />
will <strong>das</strong> – wie <strong>über</strong>haupt Alles, was Gott betrifft, was ihr im Geiste noch unklar <strong>und</strong> ferne ist – jetzt<br />
nicht hören: ja die Zeit des Messias werde noch wohl den Schleier lüften, meint sie, der <strong>über</strong> so vielen<br />
Fragen des Geistes <strong>und</strong> Lebens liegt. – Noch die späteren Samaritaner, deren es noch eine kleine<br />
Zahl in Nablus gibt, erwarten einen Messias unter dem Namen des ,הÚתÚהÜב nach Gesenius <strong>und</strong> de<br />
Sacy Bekehrer, nach Hengstenberg restitutor. Cf. Gesenius de Samaritanorum theologia ex fontibus<br />
ineditis p. 41.<br />
ὁ λεγόμενος χριστός wie c. 1,41.
4. Kapitel. 87<br />
V. 26. Jesus fühlt, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Weib gewonnen wird; auch die letzte Ausflucht entnimmt er ihr: er<br />
vertraut sich ihr selbst als den, der dazu gesalbt von Gott, ihnen den Weg der Seligkeit zu zeigen. –<br />
ὁ λαλῶν σοι – der dir ins Herz <strong>und</strong> Gewissen redet. Dativ.<br />
V. 27. ἐπὶ τούτῳ <strong>über</strong> dem. – Die Jünger w<strong>und</strong>erten sich, denn es schien ihnen verächtlich, mit<br />
einem Weibe (γυναι κός ohne Art.) zu reden. Pirke Aboth: Docuerunt sapientes ne multiplices colloquium<br />
cum muliere. R. Sam. sagt: Ein Weib grüßt man gar nicht. Dennoch musste der Ernst des geführten<br />
Gesprächs sich so den Mienen <strong>und</strong> der ganzen Szene aufgeprägt haben, <strong>das</strong>s die Jünger<br />
nicht einmal zu fragen den Mut haben.<br />
V. 28. Das Weib vergisst in der Tat den leiblichen Durst – sie legt ein Bekenntnis ab (τοῖς<br />
ἀνθρώποις) vor der ganzen Stadt – sie ruft Alle herzu mit der Frage, ob nicht der, welcher ihr ganzes<br />
Leben ihr aufgedeckt habe, der Christus sei. – μήτι steht zwar gewöhnlich, wo eine verneinende<br />
Antwort erwartet wird; doch auch in andern Fällen siehe Win. § 61 p. 598. Joh. 4,33; 8,22. Mt.<br />
12,23. Es liegt in dem μή eine Art Furcht, die sich der Frau bemächtigt hat. cf. V. 42.<br />
V. 30. Das Zeugnis der Frau ist auch von augenblicklichem Erfolg. Ehe dieser jedoch weiter berichtet<br />
wird (V. 39), wird eine Zwischenunterredung Jesu mit den Jüngern eingeschaltet V. 31-38.<br />
V. 31-38.<br />
V. 31. ἠμώτων cf. 2,18 ἀπεκρίθησον. – Es lag in ihren Gedanken eine Frage an den Herrn. Christus<br />
muss in innerer Bewegung, in Nachdenken, vor ihnen gesessen haben: er weist ihre immer irdischen<br />
Gedanken damit zurück, <strong>das</strong>s er andere Genießung gehabt.<br />
V. 34. Sein Leben, seine Speise, seine Stärkung war, <strong>das</strong> Wort des Vaters auszuführen. Welche<br />
Kraft musste in dem Gespräch von ihm ausgegangen, wie musste er davon erfüllt sein, <strong>das</strong>s er in die<br />
Seele eines Weibes hatte ein Wort werfen können, welches gefasst hatte. In andern Fallen, nach erfolgloser<br />
Rede, ist Christus so müde, <strong>das</strong>s er kaum geweckt werden kann. Der Wille des Vaters war<br />
eben dieser, den Durst der Seele zu wecken, die Gewissen zu <strong>über</strong>führen, <strong>das</strong> in Ihm erschienene<br />
Heil anzubringen. – ἵνα zu unterscheiden von ὅτι.<br />
V. 35. Dieser Vers ist als Sprichwort zu nehmen. λέγετε cf. Mt. 16,2. Zwischen der Aussaat im<br />
Herbst <strong>und</strong> der Ernte im Frühjahr waren 4 Monate, <strong>und</strong> so pflegte man <strong>über</strong>haupt bei jedem Ding,<br />
was seine Zeit haben wollte, zu sagen: Noch 4 Monat <strong>und</strong> die Ernte kommt, d. h. man warte die Zeit<br />
nur ab – es folgt der Lohn, der Gewinn, der Segen. – Zu der Annahme, <strong>das</strong>s eben jetzt Saatzeit gewesen,<br />
liegt durchaus kein Gr<strong>und</strong> vor. τετράμηνος sc. χρόνος, andere Lesart Neutrum, welches indes<br />
selten vorkommt cf. Jud. 19,2; 20,47. Jon. 3,4. Mt. 9,37.<br />
Die folgenden Worte sind entweder bildlich zu nehmen: Alles muss seine Zeit haben; so sehet<br />
denn ihr jetzt die Ernte <strong>und</strong> die Frucht der Predigt schon kommen; oder es ist vielleicht in diesen<br />
Worten wirklich eine Hinweisung auf die umliegenden gerade reifen Erntefelder enthalten; wobei<br />
die bildliche Bedeutung natürlich stehen bleibt. Wir würden dann hier um Pfingsten, nicht aber im<br />
Herbst stehen.<br />
V. 36. Christus hat gefühlt, <strong>das</strong>s sein Wort Eingang gef<strong>und</strong>en; er sieht die Zeit kommen, von der<br />
er V. 23 gesagt; aus der Stadt nahen die Samariter heran; seine Jünger werden einmal den Lohn in<br />
Empfang nehmen <strong>und</strong> die Gemeinden sammeln; <strong>und</strong> so werden Beide sich freuen, der Säende <strong>und</strong><br />
der, welcher erntet. Amos 9,13. – Act. 8,5 ff.<br />
V. 37. ἐν γὰρ τούτῳ etc. ἀληθινός, da es den Art. hat, kann Apposition sein (Meyer, Winer): hier<br />
gilt, hier ist an der Stelle <strong>das</strong> Sprichwort, <strong>das</strong> wahrhaftige; es kann aber auch Prädikat sein: denn<br />
hier ist einmal <strong>das</strong> Sprichwort <strong>das</strong> rechte, <strong>das</strong> wahrhaftige. – cf. Arist. τ᾽ ἀλλότριον ἀμῶν θέρος.
88 4. Kapitel.<br />
Sui<strong>das</strong>: ἄλλοι κάμον, ἄλλοι ὢναντο. Ein Anderes bei den Griechen ἄλλοι μὲν σπείρουσ᾽, ἄλλοι δ᾽<br />
αὖ ἀμήσονται. Jes. 65,21.22. Mt. 25,24.<br />
V. 38. ἐπέστειλα Perf. – indem er sie zu Aposteln erwählt, war damit ihr Beruf in den Augen<br />
Christi schon ausgesprochen. – Christus denkt hier ohne Zweifel vornehmlich an den Täufer. –<br />
Beausobre vergl. <strong>das</strong> französische entrer dans le travail de q.<br />
V. 39. Hier zeigt sich die Macht eines von der Wahrheit hervorgerufenen offenen Bekenntnisses.<br />
Dieser V. nimmt V. 29 wieder auf.<br />
V. 42. λαλιά hier deutlich von λόγος unterschieden: Deine Erzählung. –<br />
ὁ σωτὴρ τοῦ κόσμου: so war einst Joseph genannt worden: Zaphnath Paneach. Ein σωτὴρ aus<br />
Todesgefahr nicht zur Erhaltung irdischen Lebens, sondern εἰς ζωήν αἰώνιον.<br />
V. 43-54. Ein zweites Zeichen in Galiläa.<br />
V. 44. Schwierig ist <strong>das</strong> γάρ – welches man auf vielerlei Weise zu erklären versucht hat. Unter<br />
den <strong>Neue</strong>ren nehmen Tholuck, Lücke γάρ in der Bedeutung nämlich: Jesus fand in Galiläa nicht den<br />
Glauben wie in Samaria, wie er selbst zeugte; nur der W<strong>und</strong>er wegen fand er eine Aufnahme. Neander<br />
denkt sich den Zusammenhang so, <strong>das</strong>s früher Christus in Galiläa keine W<strong>und</strong>er getan, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s<br />
erst jetzt die Galiläer dem Glauben geneigter geworden wären, nachdem sie Christum in Jerusalem<br />
hatten W<strong>und</strong>er tun sehen. Bei beiden Erklärungen wird πατρίς von Galiläa verstanden. Am einfachsten<br />
aber nehmen wir πατρίς nicht etwa für Judäa, weil Christus dort geboren, sondern mit Cyrill,<br />
Calvin, Beza, Olsh. als seine Vaterstadt Nazareth. Dem Sinn <strong>und</strong> der Zeit nach trifft dann diese<br />
Stelle ganz zusammen mit Lk. 4,16.23 cf. Mk. 6,1. Mt. 13,53. Als Christus zurückkehrte, ging er<br />
nicht nach Nazareth, sondern ἀπῆλθεν nach Galiläa. Mehrere cod. haben dies ἀπῆλθεν ausgelassen<br />
– aber es hat hier seinen Gr<strong>und</strong>. cf. Mt. 2,22; zu Galiläa im engeren Sinne gehörte Nazareth nicht.<br />
Mt. 4,12.<br />
V. 45. cf. c. 2,23. ἅ var. 1. ὅσα. – ἐδέξαντο in Synagogen <strong>und</strong> Häusern nahmen sie ihn bereitwillig<br />
als einen Propheten auf. – ἦλθον sie waren gegangen – worin eingeschlossen liegt: sie pflegten<br />
zu gehen.<br />
V. 46. βασιλικός ist ein königl. Beamter, wahrscheinlich des Herodes Antipas. Andere: aus königl.<br />
Geschlecht. cf. Wetstein.<br />
V. 47. καταβῇ cf. 2,12.<br />
V. 48. σημεῖα καὶ τέρατα bei Joh. nur hier, sonst sehr gewöhnlich verb<strong>und</strong>en, im A. T. – hebr.<br />
– <strong>und</strong> bei Lukas <strong>und</strong> Paulus. Auch bei Klassikern ist die Formel geläufig, Wetstein zu אותו ומלף¦ת¤ים<br />
Mt. 24,24. Manchmal steht umgekehrt τέρατα voran; auch τέρατα sind Zeichen, doch liegt mehr der<br />
Begriff des W<strong>und</strong>ers darin als in σημεῖα. Zusammenhang mit V. 45.<br />
V. 49. Der βασιλικός tut die Bitte nicht aus W<strong>und</strong>ersucht, sondern aus Liebe zu seinem Sohn; die<br />
Angst des Todes ist gleichsam an seiner Ferse.<br />
V. 50. Der W<strong>und</strong>ersucht ist der Herr ebensosehr immer ausgewichen – wie dem Unglauben; wo<br />
aber Not war <strong>und</strong> Angstruf, da ist er der Barmherzige <strong>und</strong> der Helfer. Das aber will Johannes zeigen,<br />
<strong>das</strong>s Christus, wo der Tod ist – <strong>das</strong> Leben schafft.<br />
V. 51. ἀπήvτησαν var. 1. ὑπήντησαν. ὅτι nach λέγω mit der oratio directa. Lachm. liest αὀῦ statt<br />
σοῦ. κομψότερον ἔσχε cf. Parallelstelle des Arrian bei Lücke. λομψὸς ἔξεις sagt der Arzt zum Kranken.<br />
V. 53. ἔγνω ὅτι sc. ἀφῆκεν ὁ πυρετός aus V. 52. In eben jener St<strong>und</strong>e.
4. Kapitel. 89<br />
V. 54. τοῦτο πάλιν δεῦτερον. Dieses wiederum ein zweites Zeichen tat Jesus, nicht τὸ δεύτερον.<br />
Es kann damit nicht gesagt sein sollen, es sei <strong>über</strong>haupt erst <strong>das</strong> zweite Zeichen Jesu – oder auch<br />
erst sein zweites Zeichen in Galiläa gewesen; es ist <strong>das</strong> zweite was Joh. erzählt. Noch in V. 46 hatte<br />
Joh. auf <strong>das</strong> erste von ihm erzählte σημεῖον zurückgewiesen; dort hatte sich Christus erwiesen als<br />
den Herbeischaffer alles dessen, was zum Leben <strong>und</strong> zur Freude not ist; hier erweist er sich als des<br />
Lebens Erretter <strong>und</strong> Erhalter im Angesicht des Todes. Dort hatten die Jünger geglaubt; auch hier<br />
glaubt der βασιλικός mit seinem ganzen Hause. Auch diese Geschichte beweist wieder, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />
Wort <strong>über</strong>all da triumphiert, wo man dem Worte glaubt. Das Wort schafft eine neue Welt in Genesung<br />
des Kranken <strong>und</strong> so klingt hier der ganze Prolog hindurch.<br />
Seit Semlers Vorgang haben Strauß, Weisse u. A., neuerdings Keim, Hase <strong>und</strong> B. Weiss behauptet,<br />
dieses W<strong>und</strong>er sei nur eine etwas verschiedene Relation des Lk. 7,1 <strong>und</strong> Mt. 8,5 Erzählten. Bei<br />
mancher Ähnlichkeit ist aber die völlige Verschiedenheit der Personen in die Augen fallend. Dort ist<br />
Christus in Kapernaum, <strong>und</strong> der Vater des Kranken ist ein römischer Centurio; hier ist der Bittende<br />
ein Jude <strong>und</strong> ein βασιλικός. – Es ist unmöglich, <strong>das</strong>s Joh., der alle seine W<strong>und</strong>er so sorgfältig auswählt<br />
<strong>und</strong> mit dem feinsten Detail erzählt, hier eine andere Geschichte in der Erinnerung sich habe<br />
erblassen lassen.<br />
5. Kapitel.<br />
Christus ist der Spender des Lebens; so offenbart er sich der Samariterin. Nicht W<strong>und</strong>er soll man<br />
bei ihm suchen als W<strong>und</strong>er – wohl aber in den Zeichen es erkennen, wer er ist; so nun auch als den<br />
Spender des Lebens, als den σωτήρ zeigt ihn <strong>das</strong> σημεῖον am Sohn des βασιλικός.<br />
Aber diese σημεῖα haben keineswegs <strong>über</strong>all diesen Erfolg, den Glauben an Christum zu<br />
wecken. Joh. geht zu der Heilung eines Gelähmten <strong>über</strong> (eines Gichtbrüchigen), welcher selbst<br />
Christum an die Juden verrät. Daran knüpft sich V. 18 ein Gespräch, welches Christus in Jerusalem<br />
mit den Juden gehalten, des Inhaltes: Wohin denn eigentlich die ἔργα Χριστοῦ ausgehen – <strong>und</strong> was<br />
die Juden an ihnen in Bezug auf Jesum selbst erkennen sollten.<br />
V. 1-17.<br />
ἑορτή in den besten Handschriften ohne Artikel. Die Frage, an welches Fest hier zu denken, hat<br />
zu vielen Debatten Anlass gegeben. Die gewöhnliche Meinung ist, Joh. habe den historischen Stoff<br />
nach Festreisen Jesu geordnet, c. 2 <strong>das</strong> erste Pascha – sodann hier c. 5, c. 6,4 ein anderes Pascha,<br />
während dessen Jesus in Galiläa war; c. 12 ein drittes Pascha <strong>und</strong> dazwischen ein Fest der Laubhütten<br />
<strong>und</strong> der ἐγκαίνια c. 7,2 <strong>und</strong> c. 10,22. Wenn aber wirklich dies die Absicht des Joh. gewesen<br />
wäre, so würden wir gerade hier eine genauere Bezeichnung des Festes nicht vermissen; es sind<br />
vielmehr diese Angaben bei Joh. fast nur beiläufig, mehr der einzelnen Erzählung angehörig, als<br />
<strong>das</strong>s sie einen Faden des gesamten Evangeliums bildeten. So sagt unsere Stelle <strong>über</strong>haupt nur dieses:<br />
<strong>das</strong>s bei Gelegenheit eines Festes Jesus nach Jerusalem gegangen. Irenäus, Luther, Scaliger,<br />
Lightfoot verstehen nun wirklich unter diesem Fest ein Pascha, so <strong>das</strong>s 4 Paschafeste im Leben Jesu<br />
herauskämen, welches auch Hengstenberg (Christol. 2, 568) dahin benutzt, um 3½ Jahre der öffentlichen<br />
Wirksamkeit nach der Weissagung Daniels zählen zu können. Cyrill, Chrysosth. Erasm., Calvin,<br />
Beza <strong>und</strong> Bengel, so auch neuerdings Godet, Meyer <strong>und</strong> B. Weiss nehmen ein Pfingstfest an;<br />
Hug <strong>das</strong> Purimfest, welches dem Pascha kurz voraufging, Coccejus <strong>das</strong> Laubhüttenfest, Keil lässt<br />
<strong>das</strong> Fest unbestimmt.<br />
An <strong>und</strong> für sich bezeichnet <strong>das</strong> ganz allgemeine ἑορτὴ τῶν Ι. ohne Artikel kein bestimmtes Fest,<br />
<strong>und</strong> da Joh. <strong>das</strong> Pascha gewöhnlich näher angibt, so möchte man eher hier an ein untergeordnetes
90 5. Kapitel.<br />
Fest denken. Der hervorgehobene Gr<strong>und</strong>, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> vorige Kapitel in den Herbst versetze, hier also<br />
an <strong>das</strong> Pascha, <strong>das</strong> erste Fest des folgenden Jahres am natürlichsten zu denken sei – ist zu c. 4,35<br />
schon widerlegt: wir werden deshalb dabei stehen bleiben müssen, dies Fest unbestimmt zu lassen,<br />
während durchaus keine Nötigung in der Stelle liegt, hier ein viertes Paschafest anzunehmen. Sehr<br />
entschieden ist daran festzuhalten, <strong>das</strong>s Joh. keine chronologische Gruppierung nach den Festen<br />
gibt.<br />
V. 2. Jerusalem bestand damals noch, ἔστι, jede andere Erklärung ist erzwungen – προβατικῇ sc.<br />
πύλῃ. So die LXX für <strong>das</strong> hebr. ©ן הÚצא שÚעÚר Neh. 3,1.32; 12,39. Zur Nordseite des Tempelplatzes stand<br />
der Herdenturm Mich. 4,8 cf. Gen. 35,21, durch dessen Tor die Rinder <strong>und</strong> Schafe zum Opfer geführt<br />
wurden. Dieses Tor wurde von Nehemia zuerst wieder aufgerichtet <strong>und</strong> lag bei den Türmen<br />
die- Seine Lage entspricht demnach ungefähr der des heutigen Stephantores. – Bei .חãנÚנ¦אÜל <strong>und</strong> מÜאה<br />
sem Tore war eine κολυμβήθρα, von κολυμβάω natare, ein Bad oder Teich (LXX für כœה ב¦רÜ Neh.<br />
2,14) ἐπιλεγομένη (var. 1. λεγομένη) Βηθεσδά d. i. חæס¦דœא בÜית Gnadenhaus, wie ähnlich Krankenhäuser,<br />
„Gnadenbild, Charité“ genannt werden. Πέντε στοάς ἔχουσα mit 5 Hallen versehen, die wohl<br />
nach dem Teich offen, hinten aber zugemauert waren. Hier lagen die Kranken, wie es in einer lateinischen<br />
Tragödie heißt: Aesculapii liberorum saucii opplent porticus. Die heutige Tradition bezeichnet<br />
den sogen. Birket Israil im Norden des Haram als den Teich Bethesda; dieser ist aber wahrscheinlich<br />
Festungsgraben gewesen, <strong>und</strong> da nach Eus. <strong>und</strong> Hieron. hier 2 Teiche sich bef<strong>und</strong>en haben<br />
müssen, so ist wahrscheinlicher an den zweiten zu denken, welcher nördlich an der anderen<br />
Seite der Straße lag, dessen Spuren die spätere Tradition vor der Kirche der heil. Anna aufgef<strong>und</strong>en<br />
haben will. cf. Krafft, Topogr. v. Jerusalem p. 178. Dieser Teich zeigte merkwürdiger Weise rotes<br />
Wasser; von Krafft wird er für identisch mit dem στρουθίον Teich bei Joseph. gehalten (Teich des<br />
Seifenkrautes) nördlich vom Tempel in Bezetha gelegen. – Die Konjekturen von Robinson, welcher<br />
die Quelle der Jungfrau, <strong>und</strong> von Thenius, welcher den Teich Siloah mit dem Bethesda identisch<br />
hält – sind nicht begründet.<br />
V. 3. ξηρόν quod succo vitali est destitutum ut ramus, qui exaruit. Daher ξηροί, Solche, denen ein<br />
Teil des Körpers gelähmt, abgestorben, erstarrt ist. – Die letzten Worte von V. 3 <strong>und</strong> V. 4 sind kritisch<br />
unsicher, da sie in bedeutenden Handschriften fehlen, in andern stark variieren. Die meisten<br />
neueren kritischen Ausgaben seit Mill haben dieselben gestrichen, nur Lachm. hat sie beibehalten.<br />
Sie finden sich bei Tertull., in der Vulgata, in der Peschito <strong>und</strong> bei den meisten Kirchenvätern; sie<br />
fehlen im cod. B., im cod. C. <strong>und</strong> die letzten Worte V. 3 in cod. A. Es ist indes leichter zu erklären,<br />
<strong>das</strong>s die Worte weggelassen – als <strong>das</strong>s sie aufgenommen wären. Freilich finden die Kirchenväter<br />
darin ein Symbol der Taufe – aber den Alexandrinern namentlich mussten die Worte anstößig sein.<br />
Im Zusammenhang können sei schwer entbehrt werden. cf. Apoc. 16,41 der ἄγγελος τῶν ὑδάτων.<br />
Bengel sagt: Circa balnea frequens θεῖον aliquid divinae opis est. Lightfoot bringt einige Stellen<br />
bei, worin die Heilkraft einer Quelle, insbesondere auch ein neues Hervorströmen, eine Bewegung<br />
des Wassers einem Engel zugeschrieben wird. – Joh. bestätigte hier in Betreff jener Quelle in Jerusalem<br />
den Glauben des Volkes. Es geschahen damals zu Jerusalem geheimnisvolle Dinge als Anzeichen<br />
auf die große Zeit, die herangebrochen war; sie wirkten vorbereitend.<br />
V. 5. Richtig verbindet de W.: „er zählte 38 Jahre, <strong>das</strong>s er krank war.“ cf. Joh. 11,1.7. Parallele<br />
aus Jos. bei Bretschn. ἤδη δ᾽ αὐτοῦ ἡμέρας ἔχοντος ἐν Σεκέλλᾳ. – Unrichtig die engere Verbindung<br />
von ἔχων mit ἐν ἀσθ. = ἀσθενῶς ἔχων, wo <strong>das</strong> ἔτη als Acc. temporis genommen wird.<br />
V. 6. Lange Zeit, nicht wie Luther, <strong>das</strong>s er da lag – sondern <strong>das</strong>s er krank war. – Du möchtest<br />
doch auch wohl gern ges<strong>und</strong> werden?
5. Kapitel. 91<br />
V. 8. cf. Mt. 9,6. Der Kranke konnte mit Not gehen – doch war er bettlägerig. ἔγειρε var. lec.<br />
ἔγειραι.<br />
V. 10. ἀχθοφορεῖν, eine Last zu tragen war streng verpönt am Sabbat. cf. Grotius mit Beziehung<br />
besonders auf Neh. 13,15. Aber auch die Heilung am Sabbat galt für unerlaubt. Mt. 12,10. Lightf.<br />
Trotz des Spruches: omne dubium vitae (Lebensgefahr) pellit sabbatum, war der Gebrauch von<br />
Heilmitteln doch sehr beschränkt.<br />
V. 13. ἰαθείς sc. ἀσθενῶν. – ἐξένευσεν subduxit se, sehr oft in den LXX.<br />
V. 14.15. So wenig Dankbarkeit hatte der Geheilte, <strong>das</strong>s er sich nicht einmal erk<strong>und</strong>igt hatte nach<br />
dem, der ihn ges<strong>und</strong> gemacht; aber ein frommer Jude in seinen eignen Augen, ging er in den Tempel,<br />
Gott seinen Dank zu bringen. Jesus, der sein Herz durchschaute, warnt ihn nun vor sich selbst.<br />
μηκέτι ἁμάρτανε ist ganz allgemein zu fassen. Krankheit ist der Sünde Sold; aber noch eine schlimmere<br />
Strafe wartet derer, die sich durch Gottes Güte nicht zur Buße leiten lassen. An diesem Worte<br />
nahm der selbstgerechte Jude aber ein Ärgernis <strong>und</strong> macht den Feinden den Namen dessen bekannt,<br />
dem er Alles verdankte. Es ist kaum erklärlich, <strong>das</strong>s sehr viele ältere <strong>und</strong> neuere Exegeten diese Anzeige<br />
in gutem Sinne gedeutet haben. Es war ein Verrat an der Liebe Jesu.<br />
V. 16. Die Juden aber hielten auf ihren Sabbat <strong>und</strong> wollten den nicht geschändet haben.<br />
V. 17-47. Jesu Verantwortung vor den Juden in Jerusalem.<br />
V. 17. ἀπεκρίνατο cf. 2,18. – Diese Verse bilden den Übergang zu der längeren V. 29 beginnenden<br />
Rede. – Die Juden, statt sich zu freuen der Werke, der W<strong>und</strong>ertaten Christi, wie einst <strong>das</strong> Volk<br />
lobpreisend ausrief „Denn Gott hat besucht sein Volk“ – halten ihm steif ihr Gesetz entgegen, <strong>das</strong><br />
Gesetz Mosis, wie sie es fleischlich gedeutet hatten <strong>und</strong> eigene Gerechtigkeit als aus Werken des<br />
Gesetzes suchten. Wollten nun die Juden aus dem Gesetz <strong>über</strong> Gottes Willen belehrt sein – so hält<br />
Christus ihnen hier vor, <strong>das</strong>s sein Vater bis auf diesen Tag Güte <strong>und</strong> Barmherzigkeit erweise, <strong>das</strong>s er<br />
sich darin nicht stören lasse durch den Sabbat, <strong>das</strong>s also auch Er, eines solchen Vaters Sohn, nicht<br />
anders wirke; ob denn Gott an einem solchen Sabbat ohne Barmherzigkeit Gefallen haben könne. –<br />
Auf ἐργάζομαι liegt ein Nachdruck, woran weiter V. 20 anknüpft. Dadurch fühlten sich die Juden<br />
innerlich gestraft, <strong>das</strong>s ihre Werke nicht taugten; in ihrem Herzen dachten sie, die Werke eines Menschen<br />
sind aber <strong>über</strong>haupt unvollkommen, nur Einer ist gut: Gott, <strong>und</strong> so betrachteten sie es als Gotteslästerung,<br />
<strong>das</strong>s Christus sagte, er wirke ebenso wie Gott selbst wirke. 23<br />
V. 18. μᾶλλον. Oben διώκειν, hier ἐζήτο. Um so viel mehr nicht bloß verfolgten sie ihn, sondern<br />
auch –. πατὴρ ἴδιος, Christus für sich im Gegensatz gegen sie alle. – cf. Röm. 8,32.<br />
Richtiger Schluss der Juden: ἴσον ἑαυτόν etc.<br />
In der Gewissheit nun, <strong>das</strong>s Er des Vaters Sohn, eben dazu in die Welt gesandt, Gottes Werk zu<br />
tun, Gottes Wort zu reden, in der Gewissheit seines Einsseins mit dem Vater, in dem Ernst seines<br />
ganzen Wesens, nicht eigne Ehre zu suchen, sondern Gott zu offenbaren <strong>und</strong> Seine Liebe, spricht<br />
Christus in den erhabensten Worten es aus, in welchem Verhältnis er zum Vater steht V. 19-24; was<br />
der Zweck seiner Sendung <strong>und</strong> sein Werk ist auf Erden V. 24-30; mit welcher Beglaubigung er vor<br />
ihnen stehe V. 31-37; was aber der Gr<strong>und</strong> sei, warum sie nicht glaubten, weil sie ein geistliches Leben<br />
schon zu haben vermeinten, weil die Liebe Gottes nicht in ihnen sei, vielmehr sie Ehre von ein-<br />
23 Sophocles Oedipus Coloneus: τελεῖ τελεῖ Ζεύς τι κατ᾽ ἦμαρ. Philo: παύεται οὐδέποτε ποιῶν ὁ θεὸς ἄλλ᾽ ὣσπερ ἴδιον<br />
καίειν τοῦ πυρὸς, οὕτω καὶ θεοῦ τὸ ποιεῖν. Maximus Tyrius: οὐδὲ γὰρ ὁ Ζεὺς σχολὴν ἄγει; ἢ γὰρ ἄν ἐπαύσαντο αἱ<br />
ἀνθρώπων ἀρεταὶ καὶ ζώων σωτηρίαι καὶ καρπῶν γενέσεις. cf. Grotius. ἡ Λιὸς πραγματεία ἀένναος χωρηγεῖ τὴν<br />
σωτηρὶαν τοῖς οὖσι.
92 5. Kapitel.<br />
ander nähmen, so <strong>das</strong>s eben der Moses sie einmal ihrer Gesinnung wegen anklagen werde, auf den<br />
sie sich stützten V. 38-47.<br />
V. 19.20. Darin fühlt sich Christus eins mit dem Vater, <strong>das</strong>s er Leben schafft auf Erden <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />
Verlorene selig macht. Was waren seine Werke denn anders als Kraft <strong>und</strong> Macht der Barmherzigkeit,<br />
welche die Sünde <strong>und</strong> ihre Folgen aufhob <strong>und</strong> den Menschen <strong>das</strong> Leben wiedergab. Es liegt<br />
eben darin, <strong>das</strong>s er υἱός ist; ein Sohn kann nicht anders. οὐ δύναται d. h. so ganz <strong>und</strong> gar ist der<br />
Sohn nur darauf bedacht, des Vaters Willen zu tun – <strong>das</strong>s er gar nicht einmal etwas zu tun vermag<br />
von sich selbst; nicht <strong>das</strong> Geringste tut er aus eigner Eingebung, in eigner Kraft, nach eignem Ermessen<br />
– wie denn Christus unaufhörlich in der Schrift <strong>und</strong> im Gebet nach dem Willen des Vaters<br />
geforscht hat. Comparatio est sumta a discipulo qui magistrum sibi praeeuntem diligenter intuetur,<br />
ut imitari possit Hebr. 2,9. Grotius.<br />
V. 20. Der Sohn könnte aber nicht βλέπειν – wenn nicht der Vater δείκνυσι; er enthüllt aber dem<br />
Sohne alle seine Werke, den ganzen Rat der Herrlichkeit <strong>und</strong> Gnade zum Heil der Menschen, weil<br />
er den Sohn liebt. Ist es nun so, so sollten sich die Juden gegen seine Werke <strong>und</strong> <strong>das</strong> Gericht, welches<br />
sie fühlten, nicht erbittern <strong>und</strong> ihren Sabbat dagegen stellen, sondern die Gerechtigkeit anerkennen,<br />
<strong>und</strong> wie sie in Gott Wahrheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit wussten, so auch im Sohn dieselbe ehren<br />
<strong>und</strong> sich dem unterwerfen, welchen der Vater gesandt.<br />
V. 21. cf. Deut. 32,39. „Sehet ihr nun, <strong>das</strong>s ich Gott bin: ich töte <strong>und</strong> ich mache lebendig.“ 1.<br />
Sam. 2,6. – ἐγείρειν erwecken <strong>und</strong> sodann ζωοποιεῖν beleben.<br />
οὓς θέλει ganz nach dem uneingeschränkten Willen seiner Gnade <strong>und</strong> Wahrheit.<br />
V. 22. Das οὓς θέλει führt unmittelbar <strong>über</strong> zur κρίσις. Act. 17,31. 1. Petr. 4,5. Eben in der Auswahl<br />
Jesu, <strong>das</strong>s er sich zu Sündern, Kranken etc. bekannte, lag <strong>das</strong> Gericht. – Als Salomo Gericht<br />
geübt hatte, da fürchtete man seinen Namen im ganzen Lande. Wo also <strong>das</strong> Gericht geübt wird nach<br />
Gerechtigkeit <strong>und</strong> Wahrheit, da ist die Ehrfurcht. Beruht doch aller Dienst Gottes zuletzt darauf,<br />
<strong>das</strong>s man die Gerechtigkeit seiner Gerichte fühlt. – cf. Ps. 2,11. Phil. 2,10. Usus sabbati est Deum<br />
honorare, sic et usus sabbati est honorare filium.<br />
Zu V. 23 cf. 4,34. c. 6,38; 7,16.<br />
V. 24-28.<br />
Das verfehlten eben die Juden, <strong>das</strong>s sie <strong>das</strong> „Tun“, <strong>das</strong> „Vollführen“ nicht beachteten. Gleichwie<br />
nun der Herr Mt. 5 Vollkommenheit predigt, gleichwie der Vater im Himmel vollkommen ist <strong>und</strong><br />
zwar gerade in den Erweisungen seiner Güte – also waren auch seine ἔργα; er tat, was er lehrte.<br />
Alle seine Werke gingen auf <strong>das</strong> Eine aus, <strong>das</strong> ins Werk zu setzen, was <strong>das</strong> Gesetz als den Willen<br />
Gottes vorhielt: <strong>das</strong> Leben. Das Höchste aber von Hilfe ist ja wohl dieses, nicht bloß die Kranken<br />
zu heilen, sondern die Toten lebendig zu machen, <strong>und</strong> da nun unter Toten gar kein Unterschied ist,<br />
so liegt es an ihm, welche Toten er lebendig machen will. Die exegetische Tradition geht in der Erklärung<br />
der folgenden Stelle nach verschiedenen Seiten auseinander. Tert., Chrysost., Theoph.,<br />
Beza, Bengel denken gleich bei V. 24 an die Auferstehung des Fleisches am jüngsten Tage; die Rationalisten<br />
dagegen, Ammon, Eichhorn etc., wollen die ganze Stelle bis V. 29 von einer geistig-moralischen<br />
Erweckung verstehen; Aug. endlich, Calvin, Lampe, Thol., Lücke erklären V. 24-27 von<br />
der Schöpfung zum Leben durchs Wort also den Glauben, dagegen V. 28 ff. von den rebus novissimis<br />
im eigentlichen Sinne. Das Letzte ist ohne Zweifel <strong>das</strong> Richtige.<br />
V. 24. Durch die vorangehenden Worte hat es Christus die Juden wohl fühlen lassen, <strong>das</strong>s nur Einer<br />
in dem Verhältnis des Sohnes zu Gott steht, <strong>das</strong>s aber sie innerlich tot waren, in keiner Bezie-
5. Kapitel. 93<br />
hung zu Gott standen. – Darum erhebt er nun aufs neue mit einem wiederholten ἀμήν, ἀμήν seine<br />
Stimme, <strong>und</strong> als des Vaters gnädigen Willen ruft er es in die Herzen Aller, die sich in Sünden tot<br />
fühlen, hinein, <strong>das</strong>s Gott nicht wolle den Tod des Gottlosen, sondern <strong>das</strong>s er sich bekehre <strong>und</strong> lebe.<br />
So gehört <strong>das</strong> ὁ λόγον μου ἀκούων <strong>und</strong> <strong>das</strong> „πιστεύων τῷ πέμψαντί με“ zusammen. 3,33; 7,16.<br />
μεταβέβηκεν. Er ist aus dem einen Gebiet in <strong>das</strong> andere her<strong>über</strong>gegangen, c. 8,51.52. Was hier unter<br />
θάνατος zu verstehen, dazu gibt 1. Joh. 3,14 einen Beleg. – Eph. 2,5.<br />
V. 25: 4,23. τῆς φωνῆς nicht einmal die Worte hören sie, sondern, wie ein Schlafender, nur die<br />
Stimme, die sie ins Leben ruft.<br />
V. 26. <strong>Neue</strong>re Exegeten deuten diese Stelle von dem neuen Lebens-Prinzip, <strong>das</strong> mit Christo in<br />
die Welt gekommen; ein Prinzip hat aber nicht in sich selber Leben, sondern wird erst lebendig in<br />
den Gedanken der Menschen, kann von Tod <strong>und</strong> Sünde nicht frei machen. Mit Christo ist nicht eine<br />
neue Idee – ein Lebens-Prinzip in die Welt gekommen, sondern ein allmächtiger <strong>und</strong> ewiger Seligmacher<br />
<strong>und</strong> Erretter. Das ist eben <strong>das</strong> Elend der Menschen, <strong>das</strong>s sie nichts auszuführen vermögen<br />
<strong>und</strong> da in der Gewalt des Todes sich zeigen, wo es <strong>das</strong> Tun gilt. Ein Mensch hat in sich selbst nicht<br />
Leben, <strong>und</strong> losgerissen von Gott ist ihm die μετάβασις εἰς ζωήν unmöglich. – Dem Sohn allein hat<br />
der Vater es gegeben, zu haben Leben ἐν ἑαυτῷ – nicht für ihn selbst, sondern <strong>das</strong>s in Ihm unser Leben<br />
sei. c. 1,4.<br />
V. 27. Aber auch κρίσιν ποιεῖν (cf. für den Ausdruck Wetstein) hat er Vollmacht, eine Scheidung<br />
zu machen zwischen denen, welche er lebendig machen will <strong>und</strong> denen, bei welchen dies nicht geschieht,<br />
weil er υἱὸς ἀνθρώπου ist – ohne Art., also mit Hervorhebung des im Worte liegenden Begriffs.<br />
Irrig ist deshalb, wenn Lücke u. A. diese Bezeichnung als gleichbedeutend mit Messias nehmen:<br />
weil er der Messias ist. Warum ist dann aber nicht eine andere Bezeichnung etwa als βασιλεὺς<br />
τοῦ Ἰσραήλ gewählt? Es kommt zunächst auf die Fassung des Begriffs υἱὸς τ. ἀνθρ. selbst an. Olsh.,<br />
Neander u. A. verstehen darunter den idealen Menschen; gerade aber <strong>das</strong> υἱὸς bezeichnet vielmehr<br />
einen realen Menschen. Ist denn etwa <strong>das</strong> ein idealer Mensch, der seufzt, weint, betet, verfolgt wird,<br />
leidet <strong>und</strong> stirbt? de Wette <strong>und</strong> Thol. erklären: „weil alle Tätigkeit Gottes durch den menschgewordenen<br />
λόγος vermittelt wird.“ So fragen wir aber weiter, was ist der Gr<strong>und</strong> dieser Vermittlung? Nun<br />
stimmen Alle darin <strong>über</strong>ein, <strong>das</strong>s die Bezeichnung Menschensohn aus Dan. 7,13.14 genommen ist,<br />
similis filio hominis, σχήματι εὑρεθεὶς ὡς ἄνθρωπος, welches sodann Paulus Phil. 2,7 ff. erklärt. cf.<br />
Hebr. 2,14 ff. Ps. 40,3. 82,7. Job. 25,6. Es liegt demnach in diesem Ausdruck, <strong>das</strong>s Christus freiwillig<br />
es <strong>über</strong> sich genommen hat, an der Stelle eines Jeden, der Mensch heißt, vor Gott <strong>das</strong> sich anzueignen,<br />
was des Menschen Zustand <strong>und</strong> Los war (obedientia passiva), <strong>und</strong> <strong>das</strong> zu erfüllen, was der<br />
Mensch schuldig war zu tun (obedientia activa). Eben deshalb ist Er aller Menschen Richter.<br />
Die Peschito, Chrys. <strong>und</strong> Theoph., den Sinn verfehlend, haben die Worte ὅτι etc. zum folgenden<br />
Verse ziehen wollen, was schon die Härte der Konstruktion nicht erlaubt. Wetst.: Dat Deus iudicem<br />
ex hominibus, qui ipse in omnibus tentatus est.<br />
V. 28.29. μὴ θαυμάζετε cf. 3,7. 1. Joh. 3,13. Was Christum den Juden als eine Wahrheit des unsichtbaren<br />
Lebens vorhält – <strong>das</strong> sagt er, werde einst vor aller Augen offenbar werden. cf. Mt. 26,64.<br />
ἔρχεται ὥρα, nicht wie oben καὶ νῦν ἐστιν. Adam starb eben desselben Tages, da er ungehorsam<br />
wurde dem Worte Gottes: der leibliche Tod folgte hintennach. Das Leben beginnt mit dem Hören<br />
<strong>und</strong> Glauben des Wortes Gottes, wie auch <strong>das</strong> Gericht: <strong>das</strong> letzte Gericht am Ende der Welt wird nur<br />
offenbar machen was unsichtbar, <strong>und</strong> an Glauben schon eingetreten ist. cf. Eph. 3,3.4. Röm.<br />
8,10.11.<br />
ἀκούσονται 1. Thess. 4,16. 1. Kor. 15,52. Mt. 24,31. – ἀνάστασις Lk. 14,14. Mt. 25,46. 2. Petr.<br />
2,9.
94 5. Kapitel.<br />
Jesus hatte hier von sich ausgesprochen, was die Juden nach Ez. 37. Jes. 26,19. Dan. 12,2.13 von<br />
der Zeit des Messias erwarteten: ein Odem des Lebens, der <strong>über</strong> die Totenfelder hingehe, eine Stimme<br />
allmächtigen Wortes, welches die Toten aus der Gruft rufen werde. Die Juden hatten dies<br />
fleischlich gedeutet (cf. Berthodt Christologia Judaeorum § 35-42), wie auch viele Christen sich die<br />
παρουσία Christi immer verb<strong>und</strong>en denken mit Posaunenstößen <strong>und</strong> 1000jährigem Reiche. Jesus<br />
machte den Juden an ihrem inneren Menschen die Wahrheit der Auferstehung <strong>und</strong> des Gerichts<br />
fühlbar, <strong>und</strong> indem er sie auf die endliche Offenbarwerdung aller Menschen mit ihren Werken hinwies,<br />
lag darin die ernsteste Mahnung, <strong>das</strong>s jetzt die Zeit für sie da sei, an den erschienenen Messias<br />
zu glauben, seine Stimme, die ins Leben rufende, zu hören. Dies der Übergang zu V. 30-47, worin<br />
Jesus vom Glauben an ihn als den Messias handelt.<br />
V. 30-47.<br />
V. 30. Christus kommt auf <strong>das</strong> zurück, wovon er ausgegangen V. 19: er spricht aber jetzt in der<br />
ersten Person – direkt von sich selbst. – Die Juden sollten in seinem Urteil <strong>das</strong> des Vaters <strong>und</strong> die<br />
Gerechtigkeit anerkennen. ζητεῖν LXX für ב¤קÜש אהÜב, Ps. 4,3. Mal. 3,1. curare aliquid, praecipuum<br />
habere. c. 7,4; 8,50.<br />
V. 31. Wenn Christus in seinem anscheinend harten Urteil <strong>über</strong> die Juden <strong>das</strong> ausspricht, was<br />
Gott in seinen M<strong>und</strong> gelegt – so ist es nun andererseits der Vater selbst, der für ihn Zeugnis ablegt.<br />
Bei den Juden hieß es im Gesetz: testibus de se ipsis non credunt. Bei den Griechen hieß es sprichwörtlich:<br />
οἴκοθεν ὁ μάρτυς. Der Jurist Pomponius sagt: nullus idoneus testis in re sua intelligitur. –<br />
cf. Joh. 8,13.<br />
V. 32. Dieser ἄλλος wäre nach Chrys., Theoph., de Wette der Täufer. Richtig aber Cyrill, Augustinus<br />
<strong>und</strong> die meisten <strong>Neue</strong>ren: Gott.<br />
V. 33. Ihr habt freilich eurerseits auch selbst ein Zeugnis geholt <strong>und</strong> empfangen, sagt Christus; er<br />
als der Sohn Gottes kann freilich von einem Menschen <strong>das</strong> Zeugnis nicht annehmen, τὴν<br />
μαρτυρίαν, als <strong>das</strong> gültige für sich selbst, aber die Juden konnten doch dadurch sich eine Weisung<br />
zukommen lassen.<br />
μαρτυρεῖν mit dem Dat. der Wahrheit Zeugnis geben. So häufig bei Joh. c. 18,37. Act. 14,3.<br />
Hebr. 10,15. Auch bei den Attikern, Demosth.<br />
V. 35. Sir. 48,1 heißt es: καὶ ἀνέστη Ἠλάς προφήτης ὡς πῦρ καὶ ὁ λόγος αὐτοῦ ὡς λαμπὰς<br />
ἐκαίετο. (Lk. 12,35. 2. Petr. 1,19).<br />
ἀγαλλιαθῆναι – andere Form mit σ. Beide sind sprachlich richtig.<br />
Jesus spricht hier zu Solchen, welche die Taufe Joh. angenommen hatten, aber nur für den Augenblick<br />
sich dadurch hatten erregen <strong>und</strong> erwärmen lassen; an des Propheten mächtiger Stimme<br />
hatten sie sich erfreut.<br />
ἦν Imp. Joh. saß eben jetzt wohl gefangen.<br />
V. 36. τὴν μαρτυρὶαν mit dem Artikel. τοῦ Ἰωάννου nämlich als <strong>das</strong> Zeugnis des Joh.<br />
αὐτὰ τὰ ἔργα nachdrücklich wiederholt c. 9,32; 10,25.37; 14,10; 15,24. 1. Joh. 5,9.<br />
V. 37. Es muss hier ein anderes Zeugnis gemeint sein, als V. 36; den ἔργοις steht hier entgegen<br />
<strong>das</strong> αὐτός. Richtig erkannten dies Augustinus, Hilarius u. A. Worin besteht nun aber dieses<br />
Zeugnis? Die folgenden Worte machen dies klar. Gott zu sehen <strong>und</strong> zu hören ist dem Sterblichen<br />
nicht gestattet cf. 1,18; 3,32 – hatten doch die Juden selbst einst Gottes Stimme zu hören sich geweigert.<br />
Ex. 20,9. Deut. 18,16. Gott redet durch sein Wort, indem der Geist im Geist des Menschen
5. Kapitel. 95<br />
dessen Wahrheit bezeugt. Nun wusste Christus, <strong>das</strong>s Gott auch in den Gewissen der Juden wohl <strong>das</strong><br />
Wort Christi als Gottes Wort bezeugt habe: deshalb V. 38: ihr habt sein Wort οὐ μένοντα. So c. 8,37<br />
<strong>das</strong> Wort οὐ χωρεῖ es gewinnt nicht Kaum.<br />
V. 39. Dem Worte Gottes in Christo gegen<strong>über</strong> beriefen sich nun aber die Juden auf ihre Bibel.<br />
Weil sie durch Anweisung der Schrift eines neuen unvergänglichen Lebens schon teilhaftig geworden<br />
zu sein glaubten – so waren sie nicht geneigt, zu Christo zu kommen.<br />
Ist ἐρευνᾶτε Indic. oder Imperativ? Das Letztere ist trotz Lückes Einreden unbedingt vorzuziehen<br />
(mit Chrysost., Theoph., Aug., Calvin, Wetstein). Doch ist der Imper. in abweisendem Sinne zu<br />
fassen: Ja forschet nur, da ihr glaubt etc. Sie sind’s ja eben, die von mir zeugen – aber ihr wollt nicht<br />
etc.<br />
Einem frommen Juden war die Bibel der einzige Wegweiser zum Leben. Pirke Aboth 2, 7. Qui<br />
multus est in studio legis, is vitain sibi multiplicabit. Qui acquirit sibi verba legis, is acquirit sibi vitam<br />
aeternam. „Versa eam et versa eam nam omnia in ea sunt.“ – Ps. 1,2. Sir. 24,32. Mt. 5,17;<br />
19,16 f.<br />
V. 41. Nicht Ehre, wie Menschen sie geben, sucht Christus – ob die Liebe Gottes da sei, danach<br />
fragt er. Deut. 32,47.<br />
V. 42. cf. Mt. 6,1 ff.<br />
V. 43. Beng. zählt 68 Messiasse, welche die Juden mehr oder weniger getäuscht haben. Solche<br />
gewannen eben dadurch Eingang, <strong>das</strong>s sie den Sinnen <strong>und</strong> Neigungen entgegenkamen.<br />
V. 44. μόνου ist keineswegs gleich μόνον – sondern mit θεοῦ unmittelbar zu verbinden: von dem,<br />
der allein Gott ist.<br />
6. Kapitel.<br />
Die w<strong>und</strong>erbare Speisung der 5000 V. 1-13 <strong>und</strong> Christi Wandeln auf dem Meer V. 14-21 zu<br />
vergl. Mt. 14,13-36. Mk. 6,30. Lk. 9,10-17. Das daran geknüpfte Gespräch in der Synagoge von<br />
Kapernaum; worin sich Christus als <strong>das</strong> Brot vom Himmel gekommen, <strong>und</strong> sein Fleisch <strong>und</strong> Blut<br />
als die rechte Speise, den rechten Trank erklärt V. 22-59. Dieser Rede Wirkung V. 60-71.<br />
V. 1-13.<br />
Die Synoptiker erzählen zwei w<strong>und</strong>erbare Speisungen: die von Joh. mitgeteilte ist die erste. (Die<br />
zweite Mt. 15. Mk. 8).<br />
V. 1. θαλάσση τῆς Γάλιλαίας der allgemeine Name, auch genannt nach der am See gelegenen<br />
Stadt Tiberias c. 21,1. So Pausanias λίμνη Τιβαρίς <strong>und</strong> später im Talmud. – Joh. verbindet hier beide<br />
Bezeichnungen. Der Name „See Tiberias“ fing eben an, allgemeiner in Gebrauch zu kommen.<br />
V. 3. τὸ ὄρος <strong>das</strong> Gebirge, welches sich als eine zusammenhängende Gebirgswand am östlichen<br />
Ufer erhebt.<br />
V. 4. Das Pascha war nahe. Eo tempore – sagt Bengel – magnus erat confluxus hominum; auch<br />
war eine größere Erregung der Gemüter eben zu der Zeit. Lampe bemerkt nicht unrichtig, <strong>das</strong>s auch<br />
mit Bezug auf die Rede Christi V. 22 ff. dieser Zusatz gemacht sei. – Eben <strong>das</strong> Volk, <strong>das</strong> nach Jerusalem<br />
zum Fest wollte, zog hinter Christo her.<br />
V. 5. Philippus ist auch c. 12,21 der Angeredete. Rem alimentarium fortasse curabat – meint Bengel.
96 6. Kapitel.<br />
V. 6. So liebte es wohl manchmal Jesus, mit seinen Jüngern zu verfahren. – Der Speisung ging<br />
voran eine lange Rede ans Volk. cf. Mt.<br />
V. 7. In der Kasse waren eben 200 Denare nur vorrätig; <strong>das</strong> sind 40 Tlr. Der Denar ist eine römische<br />
Silbermünze, mit dem Bild des Kaisers, im Handel <strong>und</strong> Wandel der attischen Drachme gleichgehalten;<br />
zwischen 6 <strong>und</strong> 7 Groschen an Wert. Ein Tagelöhner zu jener Zeit erhielt einen Denar<br />
Lohn.<br />
V. 9. Ein Knabe mit 5 Gerstenbroten. Das sind dünne, r<strong>und</strong>e Fladen – die Nahrung der Ärmeren.<br />
Jochanan dixit: hordeum factum est pulchrum. Dixerunt nuntia hoc equis et asinis. – Die römischen<br />
Kaiser verabreichten zur Strafe an die Soldaten Gerstenbrote. Jud. 7,13. – ὀψάριον eigentlich was<br />
hintennach, als Zukost gegeben ward, in der späteren Sprache geradezu = ἰχθύνιον. S. Wetstein ad<br />
1.<br />
V. 10. χόρτος πολύς: commoditas discumbendi. Die Gegend, wo die Speisung geschah, war in<br />
der Nahe von Bethsaida am Nordende des Sees, welches von dem andern Bethsaida wohl zu unterscheiden<br />
ist. Dies Bethsaida war von Philippus unter dem Namen Julias durch viele Neubauten verschönert<br />
worden. Dort nun, wo es sonst wüste – jetzt aber im ersten Frühling schöner, üppiger Graswuchs<br />
ist, im Blick auf die reiche Gegend – lagerte sich <strong>das</strong> Volk, der Männer 5000; die Weiber <strong>und</strong><br />
Kinder sind nicht gezählt.<br />
V. 11. εὐχριστήσας. Die Synoptiker εὐλόγησε. Es ist die bei Tische übliche ,ברכה <strong>das</strong> Dank- <strong>und</strong><br />
Segensgebet. Die Worte τοῖς μαθηταῖς, οἱ δὲ μαθηταὶ fehlen in A. B. D. <strong>und</strong> scheinen aus Mt. 14,19<br />
eingeflossen. In dem διέδωκε liegt übrigens dem Sinne nach <strong>das</strong>selbe eingeschlossen.<br />
V. 13. Facile condit Dominus, sed condita non vult temere interire. – Das ist doch die Macht des<br />
segnenden Gottes, aus dem Wenigen <strong>das</strong> Viele darzustellen; <strong>und</strong> die Sorgfalt seiner Erhaltung, von<br />
dem Geschaffenen Nichts umkommen zu lassen. Das W<strong>und</strong>er wird man in seinem Hergang so wenig<br />
erklären können, als den Naturprozess selbst, wodurch aus einem Samenkorn 100 Körner werden.<br />
Wohl aber zeigt sich in allem Tun Gottes eine Gesetzmäßigkeit, wonach er einen Beweis seiner<br />
Weisheit, Wahrheit <strong>und</strong> Treue gibt, in einer Form, wie es die Menschen zu fassen vermögen <strong>und</strong> es<br />
dem Leben <strong>und</strong> seinen Bedürfnissen entspricht. Das ist ein ewiges Tun Gottes, <strong>das</strong>s er aus einer<br />
Menge seiner eigenen besten Gaben sich, gar nichts macht, da wo man ihn verkennt; wiederum <strong>das</strong>s<br />
er denen, die um des Wortes willen in allerlei Not der Bedürfnisse geraten, <strong>das</strong> Wenige was vorhanden<br />
ist, ganz ausreichend macht, so <strong>das</strong>s noch 12 Körbe, also eine volle Zahl, übrig bleiben. So gibt<br />
er Jahr für Jahr Nahrung <strong>und</strong> Überfluss <strong>und</strong> lässt ein Stückchen Geld durch so viele Hände in einer<br />
von keinem Menschen <strong>über</strong>sehenen Ordnung wandern, <strong>das</strong>s Tausende gesättigt werden. Gott zerstört<br />
nicht seine Schöpfung, stellt aber in seiner Allmacht die Ordnung wieder her, <strong>das</strong>s da wo Er<br />
nicht ist, Alles wie Wasser zerrinnt, wiederum wo an Ihn geglaubt wird, <strong>das</strong> Wenige zu einer Fülle<br />
wird. Das ist seine εὐχαριοτία.<br />
V. 14 cf. c. 1,21. – Lk. 9,19.<br />
V. 14-21.<br />
V. 15. ἁρπάζειν. Lücke meint: sie hätten ihn mit nach Jerusalem nehmen wollen. In dem<br />
ἁρπάζειν liegt aber nur: fortreißen, in ihre Gewalt <strong>und</strong> ihren Willen bringen.<br />
Er ging auf den Berg wiederum; also hatte sich <strong>das</strong> Volk wohl am Fuß des Berges gelagert gehabt.<br />
Er allein – nach Lukas um zu beten.<br />
V. 16. ἤρχονο εἰς Κ. Jesus hatte ihnen gesagt, sie sollten hin<strong>über</strong> nach Bethsaida steuern. Sie waren<br />
nun nicht weit mehr von Kapernaum.
6. Kapitel. 97<br />
V. 17. Dunkel war’s; sie waren ohne den Herrn – <strong>und</strong> es war Sturm. οὐκ ἐληλύθει erklärt sich aus<br />
den synoptischen Berichten. Der Herr hatte die Jünger genötigt, gleich abzufahren, bis er <strong>das</strong> Volk<br />
entlassen habe; sie dachten nun, er möchte wohl in einem anderen Schiffe nachkommen <strong>und</strong> wollten<br />
ihn vielleicht in Kapernaum aufnehmen. Statt dessen war er allein auf den Berg gegangen. Als<br />
er nun aber die Jünger bei widrigem Wind inmitten des Meeres βασανιζομένους sah, da trieb ihn die<br />
Liebe so gewaltig, <strong>das</strong>s auch des Meeres Wellen ihn nicht zurückhalten konnten. Es war um die 4.<br />
Nachtwache.<br />
V. 19. Der See hat nach Josephus 40 Stadien Breite, 1-2 St<strong>und</strong>en; in die Länge misst er 6 St<strong>und</strong>en.<br />
ἐπὶ τῆς θαλάςσης kann an <strong>und</strong> für sich, in anderer Verbindung heißen am Meere Joh. 21,1, <strong>und</strong><br />
viele Exegeten, neuerlich Bleek u. A., wollen es so <strong>über</strong>setzen. Aber mit περιπατεῖν verb<strong>und</strong>en würde<br />
doch schwerlich <strong>das</strong> ἐπὶ τ. θ. <strong>über</strong>setzt werden können: am Meere wandeln. Überdies aber macht<br />
der Zusammenhang <strong>und</strong> die Vergleichung der Synoptiker ganz klar, <strong>das</strong>s ein Wandeln auf dem Meere<br />
gemeint ist. Hiob 9,8 heißt es von Gott: ὁ περιπατῶν ὡς ἐπ᾽ ἐδάφους ἐπὶ θαλάσσης. Bei den<br />
Ägyptern waren πόδες ἀνθρώπου ἐν ὕδατι περιτατοῦντες nach Horapollon Bild des Unmöglichen.<br />
V. 21. ἤθελον wird von Einigen <strong>über</strong>setzt als Adverb: sie nahmen ihn gern, willig auf. cf. Winer<br />
pag. 549. Andere ergänzen wenigstens bei εὐθέως postquam acceperunt. Allerdings kommt θέλω so<br />
vor; dann ist aber im Satz <strong>das</strong> θέλειν besonders hervorgehoben; <strong>das</strong>s es auch geschehen sei, liegt<br />
dann im Zusammenhang. Der Sinn ist wohl dieser: Sie nun waren gleich mit dem Gedanken beschäftigt,<br />
Christum nun ins Schiff zu nehmen, als müssten sie für ihn Sorge tragen: wie aber er im<br />
Schiff war, heißt es bei den Synoptikern: ἐκόπασεν ὁ ἄνεμος, da war alle Gefahr vorbei, da waren<br />
sie mit einem Male, wo sie hin wollten. – ἐγένετο nicht ἦν.<br />
V. 22-59.<br />
Joh. hatte im vorigen Kap. ein Gespräch Jesu mitgeteilt, worin derselbe als sein Werk dieses dargestellt<br />
hatte, zu erwecken zum Leben. Worin besteht nun aber dieses Leben <strong>und</strong> wie teilt er <strong>das</strong> Leben<br />
aus? Dieses zu erörtern wählt Joh. ein anderes Gespräch, in jenen ereignisvollen Tagen gehalten,<br />
von denen alle Evangelisten Meldung tun. Die Bewegung, der Andrang war ungeheuer an den<br />
Ufern des Galiläischen Meeres. Jesus hatte die Jünger ausgesandt gehabt nach allen Seiten, <strong>und</strong><br />
während er viele Heilungen vollzieht, ist eben die Nachricht von des Täufers Hinrichtung angelangt,<br />
<strong>und</strong> da kommen auch die Jünger wieder, ganz voll all der Dinge, welche durch sie geschehen<br />
sind. Die Macht dieser Eindrücke ist zu stark; während <strong>das</strong> Volk ihm nicht einmal Zeit <strong>und</strong> Raum<br />
lässt, Speise zu sich zu nehmen, entweicht er nach jenseits. Aber noch ehe er angekommen, ist <strong>das</strong><br />
Volk zu Fuß schon vorangeeilt – <strong>und</strong> wie Jesus nun die Menge sieht als Schafe ohne Hirten, da verschwindet<br />
alles Andere aus seiner Seele, es erbarmt ihn des Volkes, <strong>und</strong> den ganzen Tag predigt <strong>und</strong><br />
heilt er. – Den Abend ist die Speisung. – Da merkt er es dem Volk ab, <strong>das</strong>s sie ihn zum König ma -<br />
chen wollen – <strong>und</strong> <strong>das</strong> war wohl <strong>das</strong> Bitterste, was ihm geschehen konnte. Er drängt die Jünger,<br />
<strong>das</strong>s sie fortkommen. Er selbst ist dann auf dem Berg allein – war doch kein Einziger da, der ihn<br />
verstand. Er hält an im Gebet; da sieht er die Seinen in der Gefahr des Sturms. Übers Meer eilt er zu<br />
ihnen, Petrus will ihm entgegen; der Schrecken des Windes ist doch größer als der Glaube an den<br />
Herrn; von den Jüngern sagt Markus: ihre Herzen wären auch damals hart gewesen. Da musste es<br />
wohl Jesus in seinem Geiste durch <strong>und</strong> durch empf<strong>und</strong>en haben, was es hieß, <strong>das</strong>s er im Fleische erschienen<br />
war, Er, der allein Lebendige inmitten von Toten, denen kein Lebensruf an die hartschlafende<br />
Seele dringen wollte: aber so gewaltig lebt in ihm der Glaube des Vaters, dessen Werk er zu<br />
vollführen hat, so mächtig die Liebe, <strong>das</strong>s er es darauf wagt, alles Fleisches Unverstand <strong>und</strong> Herzenshärte<br />
an sich herankommen zu lassen, ja <strong>das</strong>s er sogar sein Blut dafür will hingeben, <strong>das</strong>s des
98 6. Kapitel.<br />
Vaters Wille geschehe, <strong>das</strong>s Sünde <strong>und</strong> Unglaube <strong>über</strong>w<strong>und</strong>en, <strong>das</strong>s die ewige Liebe betätigt sei,<br />
<strong>das</strong>s aus so großem Tode dennoch <strong>das</strong> Leben hervorkomme. Aus der Erkenntnis dieser völligen<br />
Hingebung <strong>und</strong> Aufopferung seiner selbst, damit nur <strong>das</strong> Werk, <strong>das</strong> ihm der Vater gegeben, durch<br />
ihn vollführt werde, erklärt sich nun die ganze sonst so schwierige Rede.<br />
V. 22 bereitet die Frage in V. 25 vor. ἦν: der Erzähler versetzt sich in den Zeitmoment des Gewahrwerdens;<br />
deshalb <strong>das</strong> Imperf., wo wir <strong>das</strong> Plusq. p. gebrauchen. cf. V. 24. – πέραν mit Bezug<br />
auf die Stelle, wo Jesus jetzt war; anders in V. 25.<br />
V. 25. γέγονας = έλήυθας. Lk. 10,32. Es liegt in dieser Frage ein Vorwurf: Wie bist Du uns so unbemerkt<br />
entgangen, warum entziehst Du Dich uns? da doch wir Dich suchen.<br />
V. 26. Der Sinn ist: Ihr sucht mich freilich – aber nicht sowohl, <strong>das</strong>s jene Speisung in euch <strong>das</strong><br />
Bedürfnis erweckt hätte, den zu erkennen <strong>und</strong> seine Gabe, der in eurer Mitte aufgetreten ist – als<br />
weil ihr euch selbst, durch ein solches W<strong>und</strong>er geistig ganz erregt, als <strong>das</strong> Volk Gottes besiegelt<br />
glaubt. – χορτασθῆναι ist eine vox magis brutorum quam hominum exsaturationi propria, cf. aber<br />
Athen. Deipnos. III, 21 c. not. Casauboni. – Höchst oberflächlich ist die Meinung, Christus werfe<br />
dem Volk vor – <strong>das</strong>s es ihm nur um die leibliche Sättigung zu tun sei. Der ganze Verlauf des Gespräches<br />
zeigt, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Volk, weil es nun den Messias in seiner Mitte hatte – statt diesen ins Auge<br />
zu fassen <strong>und</strong> ihm gegen<strong>über</strong> der inneren Leere sich bewusst zu werden, vielmehr voll Schwindels<br />
wurde <strong>und</strong> mit dem Messias sich als <strong>das</strong> Volk behaupten wollte; Er sollte ihr König <strong>und</strong> sie die Leute<br />
sein.<br />
V. 27. ἐργάζεσθε cf. Phil. 2,12. κατεργάζεσθαι σωτηρίαν. operosum esse circa aliquid, acquirere<br />
negotiando, labores sumtusque impendendo. Prov. 31,18 .מחר Lk. 19,16. Clem. Alex. zu der Stelle<br />
ἐγάζεσθαι ἀλήθείαν: ἐγάζεσθαι δέ ἐστι τὸ προσεκπονεῖν ζητοῦτα τὴν ἀλήθείαν. So heißt es bei Polaephatus<br />
von einer τριήρης: πολλάκις εἰγάζετο βρῶμα. Bei Hesiod βίον ἐργάζεσθαι. Es heißt also<br />
hier ἐργ. – trachtet mit Ernst danach. Sucht also nicht eine augenblickliche Sättigung, eine Erregung<br />
<strong>und</strong> Befriedigung eignen Wesens, ergebt euch nicht einem Taumel, der vor<strong>über</strong>gehen müsste, sondern<br />
leget Fleiß an, für die ewigen Bedürfnisse eurer Seele die Gabe in Empfang zu nehmen, welche<br />
euch geboten wird. – ἡ βρῶσις mit dem Art. Diese Redeweise war ganz geläufig in jener Zeit.<br />
Hungern <strong>und</strong> Dursten nach Gerechtigkeit Mt. 5,6. Röm. 14,17 (die Gegen<strong>über</strong>stellung von Speise<br />
<strong>und</strong> Trank – <strong>und</strong> Friede <strong>und</strong> Freude). Philo de profugis p. 470 ῥῆμα θεοῦ κ. λόγον θεῖον ἡ δ᾽ ἔστιν ἡ<br />
οὐράνιος τροφή. Derselbe Alleg. τὸ γὰρ φαγεῖν σύμβολόν ἐστι τροφῆς ψυχικῆς. cf. Grotius ad Mt.<br />
26,26. Sir. 2,21 πλησθὴσουσι τοῦ νόμου δώδει. Deus cibator populi. Prov. 9,2. Ps. 132,15. Jer.<br />
31,25.<br />
ἐσφράγισεν. 1) Mit dem Siegel versehen als Zeichen öffentlichen Amtes, 2) zum Siegel setzen<br />
d. h. <strong>über</strong> Alles wert halten, 3) versiegeln: sigillo impresso approbare et confirmare. cf. Ex 9,4.<br />
Apoc. 7,3; 14,1.2. Kor. 1,22. Eph. 1,13; 4,30. Der Hohepriester hatte auf der Stirne ein Blatt, worauf<br />
eingeschrieben mit Siegelstecherschrift ליהוה .קדש Ex. 28,36. Zach. 14,20. Hagg. 2,24. – Die Lehre<br />
einer Versiegelung war ein bekanntes Dogma damaliger Zeit. – Christus als der vom Vater Versiegelte<br />
heißt auch der χαρακτήρ Hebr. 1,3. εἰκών τοῦ θεοῦ Kol. 1,15. Zach. 3,9. Ex. 23,21. Denn <strong>das</strong><br />
aufgedrückte Siegel ist <strong>das</strong> des Wesens, der Wahrheit <strong>und</strong> Herrlichkeit Gottes des Vaters.<br />
V. 28. In den Worten Christi lag es, <strong>das</strong>s sie nicht eignen Willen tun sollten – sondern nach Gott<br />
fragen <strong>und</strong> seiner Gerechtigkeit. Deshalb <strong>das</strong> ὁ θεός nachdrücklich zu Ende gestellt V. 27. Wie nun<br />
die Juden ein eignes Leben führen wollten geistlicher Genießungen – so wollen sie auch nun selbst<br />
sich ans Tun machen, Jesus möge ihnen nur Anweisung geben. So einmal auch <strong>das</strong> Volk zu Mose:<br />
Alles, was der Herr sagt, wollen wir tun.
6. Kapitel. 99<br />
V. 29. Von eurer Seite – fährt nun Jesus fort – werden gar keine ἔργα gefordert; sondern nur ein<br />
Werk, τὸ ἔργον κατ᾽ ἐζοχὴν, פ¦ ה Jes. 5,12: der Glaube an den, welchen er gesandt. Phil. 1,29.<br />
Eph. 2,8. Glaube ist allein Werk, wirkliches Tun <strong>und</strong> entspricht allein dem Willen Gottes.<br />
עÚל י¦ה©וœ<br />
V. 30. Wie <strong>das</strong> Volk <strong>das</strong> Eine, was ihm Not tat, nicht erkannte, so konnte es es auch an allen<br />
W<strong>und</strong>ern Christi nicht wahrnehmen, <strong>das</strong>s Er gesandt sei, dieses Eine zu geben. Sie hatten eine andere<br />
Vorstellung von einem Messias <strong>und</strong> wollten Zeichen vom Himmel; sie wollten ἰδεῖν <strong>und</strong> sodann<br />
πιστεῦσαι. cf. c. 2,18.<br />
V. 31. cf. Deut. 8,3.16. Ps. 78,19.24 שœמÚי¤ם דœגœן לœמו נœתÚן Ex. 16,15 sagt Moses vom Manna: hic est panis<br />
ille, quem vobis dedit Deus in cibum. Joseph. nennt es θεῖον καὶ παράδοξον βρῶμα. cf. eine<br />
Stelle des Artapanus Eus. praep. 9, 27. Das Manna galt als eine esca spiritualis. Der Name μάννα ist<br />
מœן mit dem Art. stat. emph. Als die Israeliten nämlich die Körner zuerst sahen, riefen sie מœן hebr. <strong>das</strong><br />
Ansicht, hoc est. Richtig aber ist die (מנה) was Einige erklären: Quid hoc est, Andere donum ,הוא<br />
<strong>das</strong>s der Name מœן ein schon gebräuchlicher war <strong>und</strong> wie noch heute bei den Arabern den ausgeschwitzten<br />
Saft der Manna-Tamariske bezeichnete.<br />
V. 32. Die Juden beriefen sich mit Hintansetzung Gottes auf Moses; <strong>das</strong>s ihre Väter einst Ekel<br />
gehabt an der losen Speise des Manna, beachteten sie nicht – sahen darin nur die himmlische Nahrung<br />
<strong>und</strong> erwarteten vom Messias noch größere Dinge. cf. die Stellen bei Lücke pag. 129. 132.<br />
Buxtorf, historia Mannae. cap. 2. Grotius zu V. 33. Der redemtor sec<strong>und</strong>us, heißt es im Talmud,<br />
werde Manna vom Himmel <strong>und</strong> Wasser aus dem Felsen geben. Wenn nun Jesus hier ὑμῖν sagt, so ist<br />
offenbar, <strong>das</strong>s sich die Juden als durch Moses <strong>und</strong> sein Gesetz geistig mit himmlischer Nahrung zu<br />
einem seligen Leben gespeist betrachteten. Moses bleibt aber als solcher ein Mensch; denn wahre<br />
Seelenspeise kann allein Gott aus dem Himmel darreichen; <strong>das</strong> allein verdient doch wahrhaft Brot<br />
Gottes genannt zu werden, was nicht aus den Wolken, sondern aus dem Himmel herkommt, was<br />
nicht eine fleischliche Einbildung nährt, sondern wahrhaft der Welt Leben zu geben vermag (τὸν<br />
ἀληθινόν zu Ende). ὁ καταβαίνων der Herabsteigende, nämlich Christus.<br />
V. 34. Die Gedanken der Menschen treffen nie mit den Gedanken Gottes zusammen. Vorher<br />
wollten die Juden selbst wirken; jetzt, innerlich <strong>über</strong>führt, <strong>das</strong>s allein Gott im Himmel Leben <strong>und</strong><br />
Seligkeit in seiner Hand hat, fordern sie, <strong>das</strong>s darum der Herr nur am Geben bleiben möge, während<br />
sie sich zu gleicher Zeit gegen <strong>das</strong> – was er ihnen eben jetzt nahe legt – verschließen. cf. 4,15.<br />
Chrysost., Aug., Calvin nehmen die Antwort ironisch: Solches Brot gebe es nicht; sonst wünschten<br />
sie wohl dergleichen. Man kann den Zusammenhang der Gedanken so geben: Ihr setzt euch durch<br />
vor<strong>über</strong>gehende Genießungen <strong>über</strong> eure wahren Bedürfnisse hinweg, <strong>und</strong> solltet nach dem Reiche<br />
Gottes trachten. „Wohlan, wir wollen es mit Werken tun.“ Nein, nicht Werke sind nötig, sondern<br />
<strong>das</strong>s ihr glaubet. „Wie glauben? Wirst Du uns <strong>das</strong> Heil erwirken? Beim Gesetz ist uns doch so viel<br />
zuteil geworden.“ Wie viel auch, aber Gottes Gabe habt ihr nicht. „Nun, so gib Du uns denn immerdar.“<br />
Hier, da habt ihr mich selbst. Aber ihr sehet mich <strong>und</strong> fasst doch kein Herz zu mir. Euch nach<br />
eurem Willen mich geben, kann ich nicht, aber den Willen werde ich ausführen, selig zu machen,<br />
was verloren ist.<br />
V. 35-40. Was konnte Jesus den Juden geben, wenn sie nicht in ihm selbst <strong>das</strong> von Gott ihnen gegebene<br />
Heil erkannten: denn seine Gabe ist wie er selbst. Deshalb ἐγώ εἰμι ὀ ἄρτὸς τῆς ζωῆς. ὁ<br />
ἐρχόμενος πρός με wird nicht hungern, der wird sich also nichts mehr ausbitten; so muss aber Hunger<br />
<strong>und</strong> Durst ihn zu Christo hingetrieben haben.<br />
V. 36. ἀλλ᾽ εἶπον braucht nicht auf c. 5 bezogen zu werden, da jene Rede in Jerusalem gehalten<br />
ist. καί–καί Beides zusammen, was eigentlich nicht zusammen stattfinden könnte: deshalb dem Sinne<br />
nach obgleich. ἑωράκατε entsprechend dem ἴδωμεν V. 30.
100 6. Kapitel.<br />
V. 37. Ich kann aber auch kein solcher Messias sein, fährt Christus fort, wie ihr ihn wollt. Ich suche<br />
euch nicht, aber auch ihr habt kein Anrecht an mich. πᾶν ὃ δίδωσι Neutrum: was es auch immerhin<br />
sei. So lautete die Verheißung: Ich <strong>und</strong> die Kinder, die Gott mir gegeben. Jes. 8,18. Wenn er<br />
sein Leben gegeben, wird er Samen sehen. Jes. 53. Ps. 110 etc.<br />
V. 38. Sie, die Juden, könnten ihn ja nicht zu ihrem Willen haben wollen – denn er selbst könne<br />
nicht seinen Willen tun – sondern den Willen Gottes.<br />
V. 39. Wer aber wollte sich diesem Willen nicht unterwerfen, dem Willen ewigen Heils? Christus<br />
hält sich an <strong>das</strong>, was der Vater ihm gegeben: von diesem πᾶν ist aber Niemand ausgeschlossen;<br />
denn wie sich Christus vor Allen offenbart als den, der er ist – so ist es nun eines Jeden Sache,<br />
θεωρεῖν καὶ πιστεύειν.<br />
ἐξ αὐτοῦ zu πᾶν genommen. οὐ μὴ ἐκβαλῶ die Juden fühlten sich innerlich abgewiesen. Illud<br />
non ejiciam foras – Luther – iuxta tropum scripturae, quae per negativas vehementissime affirmat,<br />
intelligendum est ita, non ejiciam sed lubentissime amplectar, ut sit expressio iuc<strong>und</strong>ae et promtae<br />
obedientiae Chr. ad patrem simul et commendatio dulcissimae caritatis.<br />
V. 40. Grotius fasste θεωρῶν – die Theorie – dies als Hebraismus – doch siehe dagegen Raphelius<br />
annot. ex Xenophonte p. 114 <strong>und</strong> Wolf, curae. – Es kann aber auch auf θεός sich beziehen.<br />
ἀναστήσω vgl. Luther bei Lücke. Das Leben, welches er hat – ob er auch stirbt; am Ende werde ἐγώ<br />
ich es offenbar machen. ἀναστήσω ist übrigens neuer Satz, nicht mehr zu ἵνα zu ziehen, wie de W.<br />
will. τῇ ἐσχάτῃ Dativ ohne ἐν.<br />
V. 41-43. Die Juden murren, <strong>das</strong>s Jesus gesagt, er sei <strong>das</strong> Brot vom Himmel gekommen. cf. c.<br />
7,27.40. – Lk. 3,38.<br />
V. 43-51.<br />
In dem gewöhnlichen Leben vergisst leicht ein Jeder, <strong>das</strong>s er gar nicht leben würde ohne Brot.<br />
So auch die Juden hielten sich für leiblose Leute – wollten einen ganz himmlischen herrlichen Messias<br />
<strong>und</strong> wollten mit Engelspeise bewirtet werden. Dass sie innerlich ohne Leben waren bei Gott,<br />
<strong>das</strong>s sie sich in dieser Welt nur nährten mit irdischer vergänglicher Speise, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s ihre Geistlichkeit<br />
<strong>und</strong> Heiligkeit nur in der Idee bei ihnen existierte, aber <strong>das</strong> Wort Gottes keineswegs in succum<br />
et sanguinem bei ihnen <strong>über</strong>gegangen war – beachteten sie nicht. Sie nahmen daran Anstoß, <strong>das</strong>s sie<br />
einen Menschen vor sich sahen, welcher in seiner Person, in seiner menschlichen Erscheinung Alles<br />
<strong>das</strong> konzentriert <strong>und</strong> wahrhaft gegenwärtig nannte – was nicht von der Erde, sondern vom Himmel<br />
ist – die Seligkeit <strong>und</strong> <strong>das</strong> ewige Leben. Es konnte ihnen nicht einleuchten, <strong>das</strong>s Christus sie aus allen<br />
ihren Himmeln herunterriss <strong>und</strong> sie sodann auf seine Person wies, <strong>das</strong>s allein in ihr <strong>das</strong> zu finden<br />
sei, was sie bei Gott im Himmel suchten. Und so hält nun Jesus allen Ernstes den Juden diese<br />
Wahrheit vor, <strong>das</strong>s so gewiss Niemand sein Leben nähren würde ohne Brot zu essen – so gewiss<br />
Niemand des ewigen Lebens werde teilhaftig sein, der nicht glaube an den Sohn Gottes, welcher als<br />
Mensch hier auf Erden erschienen ist <strong>und</strong> sein Blut d. i. sein Leben für die Welt dahingegeben hat.<br />
V. 44. Jesus nimmt den letzten Satz seiner Rede V. 39 wieder auf. Dass die Juden nicht den Sohn<br />
Josephs <strong>und</strong> der Maria in ihm sehen sollen – sagt Jesus am schärfsten damit aus, <strong>das</strong>s er sich gleichsam<br />
ganz aus ihrer Mitte entrückt, eine Kluft zwischen sich <strong>und</strong> ihnen befestigt, indem er spricht: es<br />
könne Niemand zu ihm kommen etc. Er beruft sich also um so entschiedener auf den Vater im Himmel;<br />
wer Gottes des Vaters Zug in ihm nicht fühle, der kenne ihn gar nicht. So gewiss sei er nicht<br />
ihres Gleichen – sondern des Vaters Sohn – <strong>das</strong>s sie sich abgestoßen fühlen mussten, wenn sie nicht<br />
nach Gott allein <strong>und</strong> seiner Gerechtigkeit suchten. Zu ἑλκύνειν cf. 12,32. Die Proselyten, wenn sie
6. Kapitel. 101<br />
Beschneidung <strong>und</strong> Taufe empfangen hatten, wurden גרורים genannt. – Diese Stelle ist in der Frage<br />
der Prädestination vielfach erörtert; die Stellen von August. siehe bei Lücke, <strong>und</strong> von Luther de servo<br />
arb. bei Lampe. Während Jesus redet – übt der Vater im Himmel selbst einen unwiderstehlichen<br />
Zug seiner Macht <strong>und</strong> Liebe, so <strong>das</strong>s aller Widerstand, Furcht <strong>und</strong> Verzweiflung <strong>über</strong>w<strong>und</strong>en wird.<br />
Jer. 31,3. Cant. 1,4. Hos. 11,4.<br />
V. 45. ἐν τοῖς προφηται d. h. im Buch der Propheten. Das ganze A. T. νόμος καὶ προφηταις. –<br />
Jes. 54,13. cf. Jer. 31,33. Joel 2,27. – 1. Thess. 4,9. 1. Joh. 2,20.<br />
V. 46. Doch sei diese Belehrung nicht so zu verstehen, fährt Jesus fort, als ob Jemand unmittelbar<br />
mit dem Vater in Gemeinschaft wäre; die Belehrung – der Zug des Vaters – geschieht eben durchs<br />
Wort, in Christo. So richtig Luther <strong>und</strong> Calvin. Der Vater zieht durch den Sohn in eben diesen Worten.<br />
V. 47-50. Es erfolgt demnach um so mächtiger die wiederholte Beteuerung – <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Manna<br />
wohl auch eine Gabe Gottes gewesen sei, die aber doch nicht <strong>das</strong> Leben habe mitteilen können denen,<br />
die es gegessen, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s eben jetzt ὁ ἄρτος τῆς ζωῆς zu ihnen aus dem Himmel herniedergekommen<br />
<strong>und</strong> vor ihren Augen sei. Denn <strong>das</strong> Manna hat Gott aus den Wolken fallen lassen, aber hier<br />
hat er seinen eignen Sohn, sein Einziges <strong>und</strong> Liebstes, sein andres Ich Fleisch werden, mit Menschen<br />
umgehen, Menschen sich <strong>und</strong> sein innerstes Wesen auftun <strong>und</strong> mitteilen lassen, <strong>und</strong> der Sohn<br />
selbst bezeichnet sich wiederholt als <strong>das</strong> Brot zu einem Zeichen, <strong>das</strong>s alle Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> alles<br />
Mark des Lebens in ihm gar nicht anders betrachtet werden solle als allein dazu vorhanden, damit<br />
Jeder zugreife <strong>und</strong> es sein eigen mache <strong>und</strong> allen Hunger <strong>und</strong> Durst seiner Seele daran stille.<br />
V. 48. ἄρτος τῆς ζωῆς V. 51 ὁ ζῶν; auch καταβάς, während oben καταβαίνων. Das Brot des Lebens<br />
steht als ein lebendiges da. cf. c. 4,10; 7,38. λόγος ζῶν Act. 7,38. Hebr. 4,12. ὁδὸς ζῶσα Hebr.<br />
10,20. ἐλπὶς ζῶσα 1. Petr. 1,3. θυσία Röm. 12,1. – Nur Ps. 119,50 hat ζῆν transitive Bedeutung<br />
ἔζησέ με – welche hier nicht anzuwenden.<br />
V. 51. Gilt für einen der schwierigsten Verse des ganzen Evang. Er bildet den Übergang. zu dem<br />
3. Absatz der Rede V. 53-59. – Das καὶ – δέ enthält eine Steigerung quia immo, immo vero cf. Elsner<br />
zu Joh. 15,27. Winer pag. 522 et vero.<br />
Der Übergang von der Bezeichnung ἄρτος τῆς ζωῆς zu dem φαγεῖν τὴν σάρκα μου ist sehr verschieden<br />
gefasst worden. Euthymius meint, bisher habe Christus mehr von sich κατὰ τὴν θεότητα<br />
gesprochen, jetzt komme er auf <strong>das</strong> ἑκούσιον πάθος; ähnlich Grotius: Das Lebensbrot ist nicht bloß<br />
meine Lehre, sondern auch mein Tod. Ein solcher Gegensatz liegt aber nicht vor. Richtiger deshalb<br />
die Ansicht der Meisten, <strong>das</strong>s die Art <strong>und</strong> Weise, wie Christus ein Brot der Seele werde, jetzt näher<br />
beschrieben werde. Zwingli: Dixi diu, me esse panem vitae sed nondum quo pacto id fiat, hoc iam<br />
aperiam. Die nun folgenden Worte haben sodann die meisten Kirchenväter direkt auf <strong>das</strong> Abendmahl<br />
bezogen; man erhärtete daraus die Notwendigkeit der Kinder-Kommunion (Dallaeus de cultu<br />
rel. lat. 1. V, c. 3. 4), die Böhmen bewiesen daraus <strong>das</strong> utraque – <strong>und</strong> die Katholiken halten noch<br />
jetzt an dieser Auslegung fest. Doch blieben sich die Kirchenväter in der Annahme, <strong>das</strong>s hier von<br />
dem Abendmahle geradezu gehandelt werde, keineswegs gleich (cf. Lampe); Clem., Orig. <strong>und</strong> Aug.<br />
verstanden die Stelle nicht bloß vom Tode, sondern der ganzen Erscheinung im Fleisch, <strong>und</strong> die Reformatoren<br />
lehrten <strong>über</strong>einstimmend eine manducatio spiritualis. cf. Luther, Mel. bei Tholuck. Calov<br />
rechnete die entgegenstehende Ansicht dem Calixt fast als Ketzerei an – während in neuerer<br />
Zeit Scheibel gerade diese Stelle zur Begründung des luther. Dogma benutzt hat. cf. Lindner, Lehre<br />
vom Abendmahl 1831. Tischendorf, diss. de Christo pane vitae etc.
102 6. Kapitel.<br />
Dass nun von dem Abendmahle als solchem hier nicht die Rede sei – folgt unwiderleglich daraus,<br />
<strong>das</strong>s <strong>das</strong>selbe noch gar nicht eingesetzt war, <strong>und</strong> wir müssen die Rede als für die damaligen Zuhörer<br />
berechnet erklären; <strong>das</strong>s sodann aus der Erklärung für die richtige Auffassung der coena Domini<br />
viel Gewinn resultieren könne, ist eine andere Sache. Luther sagt ganz entschieden: essen heiße<br />
hier glauben – vom Sakrament sei nicht die Rede. cf. seine Auslegung <strong>und</strong> Calvin zu V. 51.<br />
Christus sagt also: Das Brot, welches ich geben werde – ἡ σάρξ μου ἐστὶν. Die Worte ἣν ἐγὼ δώσω<br />
fehlen in vielen Handschriften <strong>und</strong> bei Lachm.; werden dann aber dem Sinne nach jedenfalls aus<br />
dem vorangehenden δώσω zu ergänzen sein. – διδόναι ὑπὲρ Mt. 20,28. 1. Kor. 13,3. Gal. 1,4; 2,20.<br />
Eph. 5,2.25. 1. Tim. 2,6. Tit. 2,14.–σάρξ alterniert mit σῶμα <strong>und</strong> αἷμα Lk. 22,19.20. Es ist von dem<br />
Hingeben in den Tod die Rede.<br />
Der Gedankenfortschritt ist nun dieser: Das Brot muss gebrochen <strong>und</strong> hingegeben werden, damit<br />
es innerlich zur Nahrung werde; indem nun die Juden Anstoß nahmen an seinem „Mensch sein“ –<br />
so betont Jesus so stark gerade sein „Mensch sein,“ <strong>das</strong>, was in ihm menschliche Art, Wesen, Form<br />
<strong>und</strong> Gestalt hat – <strong>das</strong>s er geradezu sein Fleisch – <strong>das</strong> Brot nennt; die ganze Fülle seiner himmlischen<br />
Herrlichkeit, Hoheit <strong>und</strong> Wahrheit drängt er in seiner sichtbaren Erscheinung, seinem Fleischgeworden-sein<br />
zusammen <strong>und</strong> wird es darangeben, <strong>das</strong>s gleichwie ein Brot, sein Leib gebrochen<br />
werde, damit er innerlich am Geiste den Menschen zur Nahrung werde <strong>und</strong> zum ewigen Leben.<br />
Luther sagt mit <strong>Recht</strong>, dies Wort sei ein Donnerschlag wider alle Schwärmer, die <strong>das</strong> Wort<br />
Fleisch nicht leiden mögen; wiederum so enthielte es alle Schätze des Himmels für denjenigen in<br />
sich, der <strong>das</strong> ἡ σάρξ μου versteht, wer der ist, der hier von seinem Fleische spricht.<br />
V. 52. Oben ἐγόγγυζον – hier ἐμάχοντο πρὸς ὰὐτούς.<br />
V. 53-59.<br />
V. 53. σάρξ <strong>und</strong> αἷμα cf. Drusius <strong>und</strong> Lightfoot zu Mt. 16,17.<br />
V. 54. τρώγειν wird zunächst vom Essen ungekochter Speisen gebraucht; es ist verwandt mit<br />
τρώω, τρύω <strong>und</strong> bedeutet eigentlich nagen, knuppern, mit den Zähnen zermalmen.<br />
V. 55. Statt ἀληθῶς haben mehrere codd. <strong>und</strong> die griech. Väter ἀληθής. Lücke behauptet, als Adjektiv<br />
müsste nach Joh. Sprachgebrauch ἀληθινός stehen; vergl. aber c. 5,31 f.<br />
V. 57. διά wegen, weil der Vater lebt <strong>und</strong> es so gewollt. – Der Nachsatz beginnt mit λαὶ ὁ<br />
πρώγων.<br />
V. 58. ζήσεται; die ältere Form ζήσει – welche einige codd. haben.<br />
Der Anstoß, den die Juden nahmen, lag darin, <strong>das</strong>s sie sich für Kinder Gottes – Jesum aber für<br />
einen Sohn Josephs hielten, in sich lauter himmlische Eigenschaften, in Jesus nur eine menschliche<br />
Erscheinung sahen. Das Verständnis liegt darin, die Kluft anzuerkennen, welche zwischen Gott <strong>und</strong><br />
Mensch ist – sodann ist es gerade ἡ σάρξ des Sohnes Gottes, in welcher die καταλλαγή geschehen<br />
כ¤י נæפæש 17,11. Lev. ist. – Jesus bezieht sich hier auf <strong>das</strong> Gesetz, welches streng verbot, Blut zu essen<br />
. Die Juden durften gar<br />
nicht ihre Hand ausstrecken zu einer Speise, worin Leben, die im Leben; nur ein Leben, eine Gabe<br />
war ihnen dargereicht, <strong>das</strong> der Schuld verfallene Leben zu erretten, <strong>das</strong> Blut auf dem Altar. Und so<br />
wie nun Jesus als <strong>das</strong> Lamm Gottes, da er Fleisch ward, der Welt Sünde auf sich genommen <strong>und</strong><br />
sein Blut auf den Altar gebracht hat, so ist dieses Blut es, welches allem Lebendigen, <strong>das</strong> aber der<br />
Sünde wegen dem Tode verfallen war – die gnädige Bedeckung <strong>und</strong> in dieser <strong>das</strong> Leben zuspricht;<br />
während alle andere Genießung, welche anderswo <strong>das</strong> Leben sucht, eben dieses Blutes wegen mit<br />
dem Tode bestraft wird.<br />
הÚבœשœר בÚדœם<br />
הוא ואãנ¤י נÚתÚת¤יו לœכæם עÚל הÚמ¤ז¦בÜחÚ ל¦כÚפÜר עÚל נÚף¦שותÜיכæם כ¤י הÚדœם הוא בÚנæפæש י¦כÚפÜר
6. Kapitel. 103<br />
Ein Mensch muss menschliche Speise haben; weil er Fleisch ist, kann er mit Gott nicht verkehren:<br />
so wird ihm denn nun geboten ein greifbares <strong>und</strong> genießbares Brot, ihm, der selbst Fleisch ist,<br />
nämlich Fleisch <strong>und</strong> Blut; in eben demselben Fleisch <strong>und</strong> Blut aber die Kraft der Gottheit – so gewiss<br />
es wahr ist, <strong>das</strong>s in Christo die ganze Fülle der Gottheit gewohnt hat σωματικῶς. Oder mit andern<br />
Worten: Gott kann sich dem Menschen nicht offenbaren, wie Er Gott ist. Damit nun der<br />
Mensch, ohne Leben in sich selbst – nicht einst im Gericht vor Gott erstarre, hat Gott Seinen Sohn<br />
gesandt, <strong>und</strong> der Sohn offenbart den Vater <strong>und</strong> gibt sein Leben für die Welt hin, auf <strong>das</strong>s Jeder, den<br />
Menschen Jesum schauend, im Geiste in diesem ihm gegebenen Fleisch <strong>und</strong> Blut erfasse, festhalte<br />
<strong>und</strong> glaube den Gott im Himmel, der ihn gesandt hat. Nicht nach eurem Willen, sagt also Jesus zu<br />
den Juden, kann ich euer Messias sein, ein Himmelsmann, wie ihr ihn euch träumt; wie aber <strong>das</strong><br />
mein Messiasberuf ist, <strong>das</strong>s ich mich aus dem Himmel herunterbegeben auf die Erde <strong>und</strong> habe also<br />
eure Niedrigkeit <strong>und</strong> euer Fleischsein geteilt, um euch teilhaftig zu machen meiner Hoheit, so will<br />
ich auch noch mich als ein Brot brechen <strong>und</strong> so ganz wie ich hier bin <strong>und</strong> was ich bin zu einer Genießung<br />
für eure Seelen hingeben; nicht euer König kann ich sein – aber für euch will ich mich töten<br />
lassen; ich will Alles <strong>über</strong> mich ergehen lassen <strong>und</strong> euch aus meinem Tode heraus die Frucht des<br />
Lebens reichen; wie ihr mich auch verkennt, ich werde aber noch mein Leben darum hingeben, <strong>das</strong>s<br />
es einstmals in eurem Geiste lebendig <strong>und</strong> geglaubt werde, <strong>das</strong>s dort droben eine alle Sünde tilgende<br />
Macht der Gerechtigkeit <strong>und</strong> Liebe thront. 24<br />
Lightfoot zu V. 51 teilt eine Stelle mit aus dem Talmud, worin die Phrase מœש¤יחÚ אכÚל vorkommt,<br />
den Messias, seine Gegenwart genießen – doch scheint dies nicht allgemein üblich gewesen zu sein.<br />
V. 60-66. cf. Lk. 9,18 ff.<br />
V. 60.61. Viele der Jünger Jesu wählen <strong>das</strong> dahinten Liegende <strong>und</strong> verlassen Jesum.<br />
V. 60. μαθηταί im weiteren Sinne.<br />
V. 61. σκληρός eigentlich trocken, spröde, steif – daher hart, streng קœשæה (hart). Eur. sagt:<br />
μαλθακὰ ψευδῆ λέγω σκληρ᾽ ἀληθῆ.<br />
V. 62. ἀναβαίνεινv im Gegensatz des früher gebrauchten καταβαίνειν.<br />
Das Ärgernis lag darin, <strong>das</strong>s die Juden nichts wissen wollten von einem Messias, der in den Tod<br />
gehen werde <strong>und</strong> sich selbst nicht anerkennen als Fleisch, <strong>das</strong>s sie einer solchen Speise bedürften;<br />
nun aber lag von Seiten Christi in dieser Rede die äußerste Herablassung, indem er in seinem<br />
Fleisch <strong>und</strong> Blut ihnen, welche fleischlich gesinnt waren, seine Gerechtigkeit bot, <strong>und</strong> so sagt er<br />
denn nun, wenn sie nicht verstehen wollten seine Herrlichkeit in seiner Entäußerung, was sie dann<br />
selbst würden noch zu sagen haben, wenn sie den, der als Menschensohn vor ihnen stände, nun<br />
würden einmal verherrlicht sehen als den Sohn Gottes. cf. Mt. 26,64. – Meyer, de Wette, Lücke<br />
wollen seltsamer Weise hier gar nicht von der Verherrlichung, sondern der späteren schmerzlichen<br />
Wirklichkeit des Todes des Messias die Rede sein lassen.<br />
24 Man erkenne sich selbst als Fleisch <strong>und</strong> erkenne sodann den an, welcher sagt mein Fleisch; man sehe <strong>das</strong> Fleisch,<br />
man fasse es – wie er sich hingibt, so nehme man ihn – <strong>und</strong> ergreife in ihm <strong>das</strong>, was in ihm ist: <strong>das</strong> Leben, halte in<br />
ihm, dem Menschen, sich an Gott den Unsichtbaren, der ihn gesandt hat; indem man ihn schauet, seine Augen öffnet,<br />
glaube man in ihn als den Boten des Vaters, der uns sagt, was im Herzen des Vaters ist etc. Mein Glaube ist<br />
nicht ein bloßer Gedanke, sagt Luther – ich fasse, ich genieße Christum, in ihm <strong>das</strong> Leben etc. Leben ist nur in der<br />
Gemeinschaft mit Gott – wie aber in diese Gemeinschaft treten? Gott kann nicht gesehen werden – siehe, es erscheint<br />
ein Mensch; er lebt διὰ τὸν πατέρα – <strong>und</strong> indem er an Allem, was des Menschen eigen ist, teilnimmt, ja es<br />
sein eigen macht, gibt er <strong>das</strong> Leben in ihm <strong>und</strong> alle Kräfte des Himmels ganz hin – damit Jeder, der an ihn glaubt,<br />
lebe δἰ αὐτὸν.
104 6. Kapitel.<br />
V. 63. Die Juden wollten ihre fleischlichen Vorstellungen eines himmlischen Messias behaupten;<br />
sie hätten aber <strong>über</strong> <strong>das</strong> Fleisch <strong>das</strong> Gericht sollen ergehen lassen <strong>und</strong> den Lebensodem des Geistes<br />
walten lassen, der in Jesu Worten sich ihnen fühlbar machen musste. 2. Kor. 3,6. λελάληκα – varia<br />
lectio λαλῶ. ἡ σάρξ – aber nicht μου.<br />
Die Erklärung von Augustin, Calov, Bengel: meine irdische Erscheinung an sich gibt <strong>das</strong> Leben<br />
nicht, sondern nur insofern sie Vehikel des Geistes ist – ist falsch.<br />
V. 64. ἐξ ἀρχῆς von Anfang, wo er sie sah.<br />
V. 65. Der Sohn ist <strong>das</strong> Herz des Vaters; nun wird doch Niemand zu Gottes Herzen kommen können,<br />
dem nicht Gott sein Herz aufschließen will. Man hat gefragt (de W., Strauß etc.), wenn Jesus<br />
den Verräter gekannt, warum er ihn denn in seiner Nähe gelassen? Die Antwort ist, <strong>das</strong>s Jesus die<br />
Menschen so nahm, wie sie sich gaben, gewaltsam nirgends eingriff <strong>und</strong> Alles in seiner Art zu seiner<br />
Reife kommen ließ – also auch <strong>das</strong> Böse. Wer sich an die Flamme heranmacht mit unreinem<br />
Herzen <strong>und</strong> sich selbst doch nicht ändern will, wird in seiner Person den Beweis liefern müssen,<br />
<strong>das</strong>s die Flamme brennt. V. 66. εἰς τά ὀπίσω cf. Phil. 3,14.<br />
V. 67-71.<br />
V. 69. πιστεύειν <strong>und</strong> γινώσκειν verb<strong>und</strong>en. 1. Joh. 4,16. Das ist kein πιστεύειν, <strong>das</strong> nicht zugleich<br />
ein γινώσκειν – <strong>und</strong> wiederum gibt es in den Dingen Gottes gar kein γινώσκειν als <strong>das</strong> πιστεύειν.<br />
Bei Joh. ist <strong>das</strong> Erkennen immer die Erfahrung <strong>und</strong> Gewissheit des Glaubens; nicht eine höhere Stufe<br />
der Einsicht im Sinne der Kirchenväter <strong>und</strong> aller falschen Gnosis. Statt ὁ χριστὸς, ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ<br />
Syr., Tert. adv. Pr. 21: ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ bei B. C. D. cf. Mt. 16,16. – ὁ ἅγιος τ. θ. c. 10,36.<br />
ῥήματα ζωῆς vergl. V. 63.<br />
V. 70. διάβολος nicht ὁ διάβολος, hebr. (שœטœן ein Widersacher – der die Gerechtigkeit Gottes nicht<br />
will Gerechtigkeit sein lassen, an ihr sich innerlich ergrimmt <strong>und</strong> verderben will, wo Gott errettet.<br />
Sagte Christus dies zu Allen, so war dies eine Aufforderung an Alle, sich selbst zu prüfen.<br />
Ἰσκαριώτης א¤יש ק¦ר¤ יות Stadt in Juda. Jos. 15,25. Da eine andere Lesart den Genitiv hat, so ist<br />
fraglich, ob dies der Beiname des Ju<strong>das</strong> oder seines Vaters war.<br />
V. 1-14. Er zieht hinauf zum Fest.<br />
7. Kapitel.<br />
Jesus am Laubhüttenfest in Jerusalem.<br />
Der Zeit nach ist Joh. 7,1-10 = Lk. 9,51. Mt. 19,1. Mk. 10,1.<br />
1. Jesus bleibt in Galiläa <strong>das</strong> ganze Jahr bis zum Spätherbst. – Die chronologische Folge der Begebenheiten<br />
ist <strong>über</strong>haupt diese:<br />
Im 15. Jahr des Tiberius, im 30. des Alters Jesu – die Taufe Johannis.<br />
Im 31. Jahre Jesus auf dem Pascha in Jerusalem. Er verweilt in Judäa – begibt sich sodann von<br />
den Pharisäern angefeindet durch Samaria nach Galiläa <strong>und</strong> nimmt seinen Wohnsitz in Kapernaum.<br />
Joh. 5. Lk. 4.<br />
Im Jahre 32 die Speisung am Galiläischen Meer zur Zeit des Pascha. Joh. 6. Lk. 9. Jesus bleibt in<br />
Galiläa bis zum Spätherbst. Mt. 15-18. Sodann heißt es, <strong>das</strong>s er ἐστἠριξε πρόσωπον αὐτοῦ gen Jerusalem<br />
zu gehen. Lk. 9,51; 13,22; 17,11. Laubhüttenfest in Jerusalem. Joh. 7. Im Dezember zum Fest<br />
der ἐγκαίνια in Jerusalem. Joh. 10. Von da nach Peräa (wiederum). c. 10,40 cf. 11,54.
7. Kapitel. 105<br />
Endlich im Jahre 33 zum letzten Pascha Lk. 19,29. Joh. 12.<br />
Die gewöhnliche Zeitrechnung ist vielleicht ein Jahr zu spät angesetzt. Denn <strong>das</strong> 15. Jahr des Tiberius<br />
wäre nach der gewöhnlichen Zeitrechnung <strong>das</strong> 29. Christi; sodann ist der Tod des Herodes<br />
nach Josephus spätestens in <strong>das</strong> 28. Jahr der Schlacht bei Actium, <strong>das</strong> 42. des Augustus zu setzen.<br />
In V. 1 verschiedene Lesart in Betreff der Wortstellung.<br />
V. 2. Das Laubhüttenfest ist <strong>das</strong> letzte des Jahres, am 15. des Monats Tisri zu halten – der mit<br />
dem Oktober gleichzeitig ist. Jos. nennt es ἑορτὴ ἁγιωτάτη καὶ μεγίστη; die Talmudisten <strong>das</strong> הœג vorzugsweise.<br />
Sach. 14. Plutarch: ἑορτὴ μεγίστη καὶ τελειοτάτη τῶν Ἰουδαίων.<br />
V. 3. Seine Brüder – Söhne Josephs <strong>und</strong> der Maria. Die Jünger – die nämlich Christus im ganzen<br />
Lande habe; denn in Jerusalem kamen alle Juden zum Fest zusammen. Jesus hatte lange kein Fest<br />
besucht.<br />
V. 4. καὶ ζητεῖ αὐτός <strong>und</strong> sucht gleich wohl selbst. – Ein Diasyrmus. αὐτός Mt. 12,50. Mk. 15,43.<br />
καὶ wie <strong>das</strong> hebr. .ו¦ ἐν πρυπτῷ entgegengesetzt ἐν παῤῥησίᾳ. cf. eine Stelle des Philo bei Lücke. –<br />
Die Brüder meinten, <strong>das</strong>s Jesus sich mit Unrecht <strong>über</strong> den Unglauben beschwere; sie hätten ihn gerne<br />
im ganzen Lande geehrt gesehen.<br />
φανέρωσον cf. c. 2,11.<br />
V. 5. Sie glaubten nicht – nämlich im wahren Sinne des Wortes.<br />
V. 6. cf. c. 2,4. Meine Zeit, entweder speziell, <strong>das</strong> zu tun, was ihr mir anmutet – oder allgemein:<br />
die Zeit, wo ich handele, eingreifen kann. Ihre Zeit sei immer bereit – sagt Jesus, da sie nach eignem<br />
Willen verfahren <strong>und</strong> hier in der Welt zu Hause sind; seine Zeit sei, abzuwarten den Wink <strong>und</strong><br />
<strong>das</strong> Wort des Vaters.<br />
V. 8. οὔπω ἀναβαίνω. Non iam vobiscum ut specter in via et urbe, ascendo. Unus iam proprie<br />
ascensus ad pascha passionis Domino erat propositus: de hoc per aenigma loquitur. Beng. Einige<br />
Handschriften <strong>und</strong> griechische Väter lesen ὀυκ – woraus schon Porphyrius gegen Christum den Einwurf<br />
der Unbeständigkeit gemacht hat, da er nachher doch gegangen sei. Dem Sinne nach liegt aber<br />
jedenfalls ein οὔπω in der Stelle, welches gleich darauf bei πεπλήρωται gesetzt ist. Auch <strong>das</strong> Präsens<br />
ἀναβαίνω ist zu beachten. Seine Zeit war noch nicht erfüllt; auch <strong>das</strong> musste er noch erleben in<br />
Galiläa, <strong>das</strong>s man ihn, den Herrn allein da hinten ließ – während Alles gen Jerusalem strömte, angeblich<br />
um Gott zu dienen. Auf diese Anfrage der Brüder konnte Jesus nicht anders antworten, als<br />
Nein – er lässt die Welt in ihrem Lauf vorangehen, er selbst bleibt in dem verachteten Galiläa. Aber<br />
der Letzte wird er doch auf dem Plane sein, Er, der der Erste ist – <strong>und</strong> so erfolgt nun in seinem Geist<br />
ein anderer Antrieb, der Antrieb Gottes – <strong>und</strong> er geht hin. Es liegt hier keine Unbeständigkeit vor.<br />
cf. 2. Kor. 1,17.<br />
V. 10. cf. V. 4.<br />
V. 11. ἐκεῖνος Jener – auf den Alle zeigen, für den wir aber keinen Namen haben.<br />
V. 12. γογγυσμός sermo non audens erumpere in utram vis partem. οἰ ὄχλοι Plur. die Haufen –<br />
wie viel <strong>und</strong> mancherlei sie waren. Das war die Hauptfrage: soll man sein Wesen <strong>und</strong> Tun gutheißen<br />
– oder verdammen.<br />
πλανᾷ – wie man ihn auch πλανος nannte. Mt. 27,63.<br />
V. 13. παῤῥησίᾳ cf. V. 4.6.
106 7. Kapitel.<br />
V. 14-36. Jesus lehrt im Tempel.<br />
V. 14. μεσόω in der Mitte seiner Dauer sein; ἡμέρα μεσούσα heißt der Mittag. Der erste, letzte<br />
<strong>und</strong> mittlere Tag des Festes waren die höchsten. cf. Lampe. pag. 316 not. r. Die Gelegenheit zu lehren<br />
war teils in den Hallen, teils in einzelnen dazu bestimmten Gemächern, teils in den Vorhöfen gegeben.<br />
Lightfoot zu Lk. 2,46. Vitr. de Synag. Prol. c. IV p. 39. – Allerdings hatte Jesus als Laie eigentlich<br />
nicht die Befugnis zu lehren; es ist aber aus vielen Beispielen klar, <strong>das</strong>s man ihm dieselbe<br />
aller Orten willig zugestanden hat. – cf. Pacht, de eruditione Judaica, Gott. 1742.<br />
V. 15. γράμματα sind nicht allein „Wissenschaft, Gelehrsamkeit“ wie Thol. <strong>über</strong>setzt – sondern<br />
die Schrift κατ᾽ ἐξοχήν – die heilige Schrift. Das Volk hielt dafür, es könne Einer nur predigen <strong>und</strong><br />
die Schrift auslegen, wenn er Theologie studiert hätte. Christus hatte nie zu den תלמידי חכמים gehört;<br />
es heißt aber bei den Juden: „Etsi quis in Scriptura et Mischna versatus est, neque tamen sapientibus<br />
operam dedit – is plebeius est.“ Wie sehr übrigens auch nicht Gelehrte mit der Schrift bekannt gemacht<br />
werden von Jugend auf, zeigt <strong>das</strong> Beispiel des Timotheus. 2. Tim. 3,15.<br />
V. 16-19. Die Lehre Christi <strong>und</strong> der Schlüssel zu ihrer Bewährung im Gegensatz gegen die<br />
falsche Gesetzauslegung.<br />
Jesus benutzt diese aufgeworfene Frage <strong>über</strong> den Ursprung seines von ihnen bew<strong>und</strong>erten Verständnisses<br />
der Schrift, um ihnen Anleitung zu geben, woher er seine Lehre habe <strong>und</strong> wie sie sich<br />
von der Wahrheit derselben <strong>über</strong>zeugen könnten.<br />
V. 16. Er der יהוה ;מלאך seine Lehre die Lehre Gottes. Ist aber die Lehre Gottes – so kann sie auch<br />
nur aus Gottes Wort <strong>und</strong> Willen geprüft werden.<br />
V. 17. Der Schlüssel der Beurteilung. Die Rationalisten erklären die Stelle von der sittlichen<br />
Vollkommenheit der Lehre Christi – wovon er aber nichts sagt. Luther, Mel., Lampe u. A. verstehen<br />
nach 6,29 unter dem θέλημα θεοῦ den Glauben, <strong>und</strong> August. folgert daraus den Satz: fides praecedit<br />
intellectui; wenn ihr euch willig im Glauben hingebet, so wird der heil. Geist euch erleuchten. Es ist<br />
aber, da im Vorigen von der Schrift die Rede ist – <strong>das</strong> θέλημα θεοῦ zu verstehen, wie es im Gesetz<br />
ausgedrückt ist; wer sich nun daran macht – sagt Jesus – <strong>das</strong> Gesetz in Ausübung zu bringen, wem<br />
es Ernst ist (θέλει), den Willen Gottes zu tun, der wird zur Einsicht kommen. – Einen andern Weg<br />
gibt’s nicht.<br />
ἀδικία <strong>und</strong> ἀλήθεία cf. 1. Kor. 13,6.<br />
V. 18. Er steht wie er stehen soll – sein Benehmen ist aufrichtig. Jesu Lehre war in Summa diese:<br />
<strong>das</strong>s sie, die Juden, gottlos seien <strong>und</strong> Er allein der Sohn, ihnen zum Heil gesandt. Darin schien nun<br />
Jesus sich selbst sehr hoch zu erheben <strong>über</strong> alle Andern; würden aber die Juden aus dem Gesetz sich<br />
haben belehren lassen in eigner Erfahrung, wer sie seien – so würden sie in der Lehre Christi gerade<br />
die Handhabung der δόξα θεοῦ erkennen, <strong>das</strong>s Menschen Sünder – Gott allein aber der Lebendige<br />
<strong>und</strong> Gnädige ist.<br />
V. 19. Statt aber im Gesetz Gottes Willen an sie zu beachten, rühmten sie sich des Gesetzes Mosis,<br />
was sie doch eben darin am schwersten verletzten, <strong>das</strong>s sie den töten wollten, von dem Moses<br />
.ש¤מ¦חÚת הÚתורœה geschrieben hat. cf. Deut. 32,10. cf. c. 5,46. – Gerade am Laubhüttenfest war die<br />
V. 20. Die Juden betrachteten es als eine fixe Idee <strong>und</strong> eine Eingebung des leidigen Teufels, <strong>das</strong>s<br />
er solche Gedanken von ihnen habe. cf. aber V. 25.
7. Kapitel. 107<br />
V. 22-24. Dass sie wirklich Mordgedanken gegen ihn hegten, macht Jesus den zum Fest versammelten<br />
Juden fühlbar, indem er sie daran erinnert, wie sie vor Jahr <strong>und</strong> Tag schon seine Heilung am<br />
Sabbat beurteilt hätten. cf. c. 5,16.<br />
θαυμάζειν nach Tholuck = horrore perf<strong>und</strong>i, obstupescere, von Entsetzen ergriffen werden; es ist<br />
aber vielmehr etwas nicht reimen, sich in etwas nicht finden können. – διὰ τοῦτο verbinden Vulg.<br />
<strong>und</strong> Euth. irrig mit dem Folgenden: Μωΰσης etc. – Christus gibt nun weiter den Juden einen andern<br />
Maßstab der Beurteilung an die Hand, da sie sein Tun mit ihren Begriffen von Gesetzmäßigkeit<br />
nicht reimen konnten. Ihr rühmt <strong>das</strong> Gesetz Mosis – sagt Jesus; damit dieses nun nicht gebrochen<br />
werde, beschneidet ihr am Sabbat – <strong>und</strong> mir zürnt ihr, <strong>das</strong>s ich am Sabbat nicht ein Gesetzeswerk,<br />
sondern den Willen des Vaters, ein Werk des Heils <strong>und</strong> der Erbarmung getan habe?<br />
Die Beschneidung im Gesetz Lev. 12,3 – die indes doch eigentlich von Abraham herrührt. cf.<br />
Röm. 4,11. Act. 7,8. περιτομὴν λαμβάνει. – Die Beschneidung war eine partielle Verw<strong>und</strong>ung, ihr<br />
gegen<strong>über</strong> ὅλον ἀνθρ. ὑγιηποιεῖν. – ἐποίησα – αὐτοκρατορικῶς.<br />
V. 24. xaκατ᾽ ὄψιν cf. Jes. 9,3, wie euch etwas in die Augen scheint, „auf den ersten Blick.“ ἡ<br />
δικαία κρίσις – denn dieses ist nur Eines, <strong>das</strong> wahre <strong>und</strong> allgemein bewährte. κρίνατε Aor. habt gerichtet.<br />
– Deut. 1,16; 16,18.<br />
V. 25-27. Der Juden Urteil <strong>über</strong> Jesum, ob er wohl der Messias wäre.<br />
Die in Jerusalem Ansässigen wussten von den feindseligen Absichten der ἄρχοντες. Da sie nun<br />
Jesum unangetastet sehen, verraten sie ihr eigenes Herz, indem sie es für möglich halten, <strong>das</strong>s Jesus<br />
sogar von Jenen als der Messias anerkannt sein möchte. Sie entledigen sich aber selbst der Wahrheit,<br />
die <strong>das</strong> Gewissen ihnen bezeugt, indem sie an Jesu ein notwendiges Merkmal des Messias vermissen.<br />
V. 26. μήποτε es haben doch nicht etwa? ἀληθῶς als der Wahrheit gemäß. – οὐδὲν αὑτῷ λέγουσι<br />
– reden ihm nichts darein.<br />
V. 27. Es war Lehre der Schulen, einerseits zwar, Christus werde in Bethlehem geboren werden –<br />
sodann aber, er werde verborgen sein <strong>und</strong> plötzlich wie ein Deus ex machina hervortreten. cf.<br />
Lightfoot.<br />
V. 28.29. Jesu Antwort auf der Juden Meinung, zu wissen, woher er sei.<br />
ἔκραξεν ein Schrei aus tiefster Seele. V. 37; 11,43; 12,44. Mt. 27,50. – ἐν τῷ ἱερῶ διδάσκων –<br />
also in seines Vaters Hause. Im schärfsten Kontrast gegen V. 27 ruft Jesus in die Gewissen des Volks<br />
hinein. ἀληθινός nicht gleich ἀληθής, wie Thol. will. ἀληθινός ist zuverlässig, häufig mit πιστός<br />
verb<strong>und</strong>en. Ihr wollt wissen, woher ich bin? – Bin ich doch vom Vater ausgegangen etc. ἐγώ mit<br />
Nachdruck V. 29.<br />
V. 30-32. Die St<strong>und</strong>e Jesu – d. h. seiner Vollendung ist noch nicht gekommen; aber sie naht heran.<br />
Vom Anfang des Kap., wie <strong>über</strong>haupt von dem Beginn dieser Reise nach Jerusalem Lk. 9,51 –<br />
steht Jesu sein naher Tod vor Augen.
108 7. Kapitel.<br />
V. 34-36. Jesu Wort von seinem Hingang eben dahin, woher er gekommen.<br />
V. 34. Aufgesucht von Häschern – weist Christus auf die Zeit hin, wo man ihn auch wohl suchen<br />
– vielleicht in anderen Gedanken – aber nicht finden werde. εἰμί wird von vielen εἶμι akzentuiert,<br />
was Bengel vorzieht, da es hiermit ἐλθεῖν <strong>und</strong> πορεύεσθαι zusammenstehe; anders c. 12,26; 14,3;<br />
17,24.<br />
V. 37-52. Jesu Auftreten am letzten Tage des Festes <strong>und</strong> die Bewegung, die in den<br />
verschiedenen Klassen des Volkes in Betreff seiner Person entsteht.<br />
V. 37. An <strong>und</strong> für sich dauerte <strong>das</strong> Laubhüttenfest 7 Tage, doch kam ein achter hinzu – dem ersten<br />
gleichgehalten als ein Sabbat. Der letzte Tag des Pascha, die πεντεκοστή <strong>und</strong> dieser Tag hießen<br />
cf. Neh. 8,18. Num. 29,35. Lev. 23,36. 2. Makk. 10,6. tract. Succa c. 4 § 1. 8. erkl. v. Dachs .עãצæרæ ת<br />
<strong>und</strong> Cramer. 2. Chr. 7. 8. Ohne Zweifel ist nun nicht der 7. Tag, wie Vitringa de festo Tabernaculorum<br />
nachzuweisen sucht, sondern der 8. als der letzte Tag gemeint. Von diesem heißt es im tr.<br />
Succa: כ¦בוד י¦חוœה מ¤פ¦נÜי חœג שæל אãחÚרון .טוב Dieser letzte Tag galt als der letzte Festtag des ganzen Jahres<br />
für besonders heilig; Philo nennt ihn τὸ ἐξόδιον; die Ernte war beendet, der Kreislauf des Jahres<br />
fand in diesem Feste seinen festen <strong>und</strong> heiligen Schluss. Jos. ant. III, 10. Philo de Septen. et festis<br />
bei Lampe. Es war dieses Fest <strong>das</strong> freudigste; Plutarch nennt es ein bacchantisches Fest. Der 8. Tag<br />
hatte auch noch dadurch eine Bedeutung, <strong>das</strong>s an ihm nur ein Farre geopfert wurde, an den 7 vorhergehenden<br />
zusammen 70; jene 70 – erklären die Rabbiner – seien geopfert für alle Nationen –<br />
dieser eine für <strong>das</strong> Volk des Eigentums.<br />
εἱστήκει cf. Act. 1,15; 2,14; 21,40. Gewöhnlich saß der Lehrer.<br />
V. 38. Eigentümlich war dem Laubhüttenfeste die effusio aquarum. cf. Henr. Maius diss. de haustu<br />
aquarum. Lightf. ad 1. Surenh. de alleg. V. T. p. 354. In feierlichem Geleit holte ein Priester aus<br />
der Quelle Siloa in einem goldenen Gefäß Wasser <strong>und</strong> unter Akklamationen <strong>und</strong> Hosiannaruf des<br />
Volkes, unter Hallelujah-Psalmen der Leviten <strong>und</strong> Trompetenton der Priester wurde <strong>das</strong> Wasser ausgegossen<br />
auf dem Brandopfer-Altar. Diese Libation geschah an allen 7 Tagen, wahrscheinlich auch<br />
am 8. morgens früh. Quicunque non viderit – hieß es – laetitiam propter haustionem huius aquae,<br />
non vidit unquam laetitiam ullam. Als Gr<strong>und</strong> dieser Libation wird angegeben 1) die Stelle Jes. 12,3;<br />
2) in diesem Wasser sah man <strong>das</strong> Symbol des heil. Geistes; Jonathan <strong>über</strong>setzt jene Stelle „ihr werdet<br />
die neue Lehre mit Freuden annehmen von dem auserwählten Gerechten;“ dies hieß auch die<br />
Sie- 3) es galt als ein Gebet um den Segen reichlichen Regens für <strong>das</strong> kommende Jahr. ;ש¤מ¦חת הÚתורœ ה<br />
he die ausführliche Beschreibung von Maius bei Lampe.<br />
Inmitten nun der Trunkenheit festlichen Jubels erhebt Jesus seine Stimme <strong>und</strong> ladet ein, ob denn<br />
nicht Einer da sei, welcher einen Durst der Seele fühle, den er trotz aller Quellen <strong>und</strong> Ströme, bei<br />
allem zeitlichen Glück <strong>und</strong> aller geistlichen Freude doch niemals zu stillen vermochte. cf. Mt.<br />
11,28.<br />
καὶ πινέτω haben Einige zu ὁ πιστεύων nehmen wollen, aber es beginnt mit den letzteren Worten<br />
offenbar ein neuer Satz.<br />
Wie die bildliche Rede vom Wasser an diesem Tage ganz an der Stelle war, leuchtet ein. Die<br />
Haphtare des ersten Festtages war Zach. 14,8 ἐξελεύσεται ὕδωρ ζῶν ἐξ Ἰερουσαλήμ. Der Ausdruck<br />
κοιλία ist, wie Bengel richtig bemerkt, gewählt mit Hinweisung auf die großen weitbauchigen Gefäße,<br />
die zu Seiten des Altars standen. Gieseler mit Beziehung auf Zach. 14,8: aus dem Innern des<br />
Berges. Andere gleich καρδία. – ποταμοί ganze Ströme. – Wie aber sind die Worte „wie die Schrift<br />
sagt“ zu verbinden? Die Meisten ziehen sie zu den nachfolgenden Worten <strong>und</strong> zitieren: Jes. 12,3;
7. Kapitel. 109<br />
44,3; 11,9. Ez. 47,1. Joel 2,23. Zach. 14,8. Indessen keine einzige dieser Stellen trifft völlig zu –<br />
<strong>und</strong> es ist jedenfalls bei dem Hervorströmen der Wasser an <strong>das</strong> Wasser aus dem Felsen zu denken;<br />
war ja doch <strong>das</strong> Laubhüttenfest ein Gedächtnis der Zeit, wo Gott inmitten der Wüste sein Volk gekleidet,<br />
getränkt <strong>und</strong> gespeist. cf. 1. Kor. 10,4.5. Es können indes die Worte „wie die Schrift gesagt“<br />
auch zu dem ὁ πιστεύων bezogen werden. Im Gegensatz gegen Alles <strong>das</strong>, was die Juden als schriftgemäß<br />
trieben – hält Jesus den Glauben an sich als <strong>das</strong> vor, wovon die Schrift gesprochen <strong>und</strong><br />
knüpft daran die Verheißung des mächtigen Hervorströmens lebendiger Wasser aus eines Menschen<br />
Innerstem, in welchem Bilde er alles <strong>das</strong> zusammenfasst, was die Juden als die Freude, den Segen<br />
<strong>und</strong> die Bedeutung des Festes betrachteten. ὕδατος ζῶντος zu Ende gestellt.<br />
V. 39. οὔπω γὰρ ἦν – cod. B. u. A. setzen zu δεδομένον. Es liegt auf der Hand, <strong>das</strong>s der Evangelist<br />
hier nicht sagen will, der heil. Geist sei vorher <strong>über</strong>haupt nicht da gewesen – oder <strong>das</strong>s er einen<br />
Unterschied A. <strong>und</strong> N. T. machen wollte, wie Thol. meint. Es steht πνεῦμα ἅγιον ohne Art. wie immer,<br />
wo von der Gemeinschaft des heil. Geistes mit dem Menschengeist die Rede ist. Nun waren<br />
aber alle Juden nach ihrem Bedünken an diesem Tage als von Freude des heil. Geistes erfüllt; an einem<br />
Feste aber freut man sich der Ehre <strong>und</strong> Herrlichkeit dessen, dem <strong>das</strong> Fest gilt, also hier der<br />
Herrlichkeit Gottes, der sich ein Volk erwählt hat inmitten der Wüste, es zu führen in ein Land, <strong>das</strong><br />
von Milch <strong>und</strong> Honig fließt, <strong>das</strong> viele Quellen der Tiefe <strong>und</strong> der Wolken Segen von oben hat. Wie<br />
aber konnte Jemand voll der Herrlichkeit des aus Tod zum Leben erlösenden Gottes sein, so lange<br />
Christus in den Herzen <strong>und</strong> Gewissen nicht erkannt war als der, in dem diese ganze δόξα offenbarlich<br />
war? Wie konnte der Vater vom Himmel mit seiner heiligen Gottesfreude die Geister erfüllen,<br />
so lange sein alleiniger Sohn verkannt <strong>und</strong> bei Seite gesetzt war? So gewaltig fühlte <strong>und</strong> wusste Jesus<br />
die Herrlichkeit des Vaters, die Macht der erlösenden Liebe in ihm, <strong>das</strong>s die an ihn Glaubenden<br />
– ob sie auch einem Felsen gleichen – dennoch würden einmal hervorfließen in Wasser-Strömen.<br />
V. 40. Die Wirkung der Rede. Zu tief griffen doch solche Worte dem Volk ans Herz. Einige sagen:<br />
er ist der Prophet cf. c. 1,25 – andere: der Messias.<br />
V. 42. Bethlehem war damals nur eine κώμη. cf. Micha 5 .צœע¤יר – Wusste man aber nicht, <strong>das</strong>s<br />
Christus wirklich aus Bethlehem war? Die Schrift hatte auch gesagt: er wird ein Ναζωραῖος d. h. ein<br />
Verachteter sein. Die Wahrheit ist für die Suchenden; dem Unglauben ist in dem Anschein der Dinge<br />
immer eine Handhabe gegeben.<br />
V. 45. cf. 32. Oben hieß es φαρισ. καὶ ἀρχ. Denn aus den Herzen Jener ging die Verfolgung aus.<br />
V. 49. ὁ ὄχλος οὗτος: dieses Volk, verächtlich <strong>und</strong> eifrig Act. 6,4 – ὁ μὴ γεν. weil es nicht Einsicht<br />
hat. – Das עם הארץ hieß bei den Gelehrten שקץ abominatio. ἐπικατάρατος <strong>das</strong> im Gesetz so oft<br />
wiederholte .ארור – Da sprachen sie wie die Sappho: ὁ δῆμος οὐδὲν οὔτ᾽ ἀκούων οὔθ᾽ ὁρῶν <strong>und</strong><br />
Horaz: odi profanum vulgus et arceo. Das Volk soll an die Autorität seiner Priester glauben <strong>und</strong> der<br />
frommen Leute. Schöne Gesinnung in den Herzen dieser Führer <strong>und</strong> Hirten Israels<br />
V. 51. Nikodemus beruft sich auf Ex. 23,1. Deut. 1,16; 17,14 (9); 19,15 ff.<br />
V. 52. Die Pharisäer betrachten alle Anhänger dieses Galiläers als Galiläer, Leute, die von der<br />
Schrift <strong>und</strong> der Gerechtigkeit nichts wissen. Mit ihrem Standesgenossen Nikodemus gehen sie doch<br />
etwas säuberlicher um.<br />
Nur Jonas der Prophet war aus Galiläa; Reland setzt auch Thisbe, des Elias Geburtsort, Hieronymus<br />
Elcosch, den des Nahum, eben dahin. Auch Hosea soll Galiläer gewesen sein. Andere Lesart:<br />
ἐγείρεται, so <strong>das</strong>s es hieße: <strong>das</strong>s ein Prophet nicht erweckt sein kann. Dass allerdings die<br />
Synedristen nicht von alten Propheten, sondern der Zeit des Messias sprechen, scheint in dem<br />
ἐρεύνησον zu liegen, sowie in dem Ausdruck ἐγείρεσθαι.
110 8. Kapitel.<br />
8. Kapitel.<br />
Die Ehebrecherin c. 7,53–8,11.<br />
Die Perikope 7,53–8,11 wird von den meisten neueren Kritikern <strong>und</strong> Exegeten als unecht ausgewiesen.<br />
Und zwar aus folgenden Gründen: 1) sie fehlt in den ältesten Handschriften, unter welchen<br />
indessen H. u. C. hier defekt sind; ferner in den ältesten Codd. der Itala <strong>und</strong> der Peschito; in griechischen<br />
Majuskeln ist sie durch Asterisken oder Obolen als verdächtigt bezeichnet; 2) die griechischen<br />
Väter Orig., Apollon., Theod. Mops, Chrys., Theophylact <strong>und</strong> die Catenen <strong>über</strong>gehen unsere<br />
Perikope mit Stillschweigen; Enthym. Zigab. erklärt dieselbe, bemerkt aber, <strong>das</strong>s sie bei den sorgfältigen<br />
Abschriften teils nicht vorhanden, teils obolisiert sei; 3) die Ansicht, <strong>das</strong>s man die Perikope<br />
um ihres sittlichen Anstoßes willen im 3. oder 4. Jahrh<strong>und</strong>ert aus dem Texte der Handschriften entfernt<br />
habe, entbehre der Wahrscheinlichkeit; 4) der Stil hat kein johanneisches Gepräge, statt οὖν<br />
<strong>und</strong> καὶ wird vielfach δέ gebraucht; für ὄρθρον habe Joh. πρωΐ oder πρωΐα, für πᾶς ὁ λαός – ὁ<br />
ὄχλος; οἱ γραμματεῖς καὶ Φαρισαῖοι erinnere an die Synoptiker; 5) die Geschichte passe nicht in den<br />
Zusammenhang. Sie sei ein der synoptischen Darstellungsweise verwandtes altes Stück, welches<br />
hier ohne Gr<strong>und</strong> eingefügt sei <strong>und</strong> zwar nichts dem apostolischen Geiste unwürdiges enthalte, aber<br />
doch nicht johanneisch sei. Diese Gründe haben Semler, Knapp, Credner, Guericke, Lücke, Tholuck,<br />
Olsh., Bleek, Meyer, Ewald, Luthardt, Hengst., Godet, Weiss <strong>und</strong> Keil betont. Dagegen haben<br />
Mill, Lampe, Bengel, Schulthess (in Winer <strong>und</strong> Engelh. krit. Journ. Bd. 5, 3), Stier, Ebrard die Echtheit<br />
behauptet; auch im Interesse der negativen Kritik Bretschn., Strauß, Br. Bauer <strong>und</strong> Hilgenfeld.<br />
Sie führen für dieselbe an: 1) Hieronym. sage ausdrücklich adv. Pel. II, 17, <strong>das</strong>s sich die Stelle in<br />
vielen griechischen <strong>und</strong> lateinischen Codices finde. Sie komme vor in den Constitutt. apost. II, 24, 4<br />
<strong>und</strong> bei dem Verfasser der Synops. Scr. S. Ambrosius <strong>und</strong> Augustin kennen sie <strong>und</strong> heben es als die<br />
besten Kenner altkirchlicher Empfindungen hervor, <strong>das</strong>s dieselbe um ihres Inhaltes willen, welcher<br />
Anstoß geben konnte, entfernt sei. Nikon erzähle von den Armeniern, <strong>das</strong>s sie die Perikope darum<br />
ausgestoßen, weil vielen ihre Vorlesung lächerlich gewesen sei. In vielen Codd. der Itala, in der<br />
Vulgata stehe sie. 2) Die sprachlichen <strong>und</strong> exegetischen Schwierigkeiten <strong>und</strong> Anstöße widerlegten<br />
sich bei genauerer Untersuchung. 3) Wie bis auf den heutigen Tag die Stelle den Exegeten unbequem<br />
sei, so hätte auch die alte Kirche sie nicht aufgenommen, wenn sie nicht echt gewesen wäre.<br />
4) Der Schussvers des 7. Kapitels sei ganz in der Art des Joh. cf. 8,59, <strong>und</strong> die im 8. Kap. befindliche<br />
Rede von der ἁμαρτία stütze sich auf diese historische Einleitung.<br />
Wenn Lücke auf eine Stelle bei Eus. h. e. 3, 39 weise, wo dieser sage, <strong>das</strong>s Papias eine Erzählung<br />
von einem wegen vieler Sünden vor dem Herrn verklagten Weibe mitteile, welche sich im Εὐαγγ.<br />
καθ᾽ Ἑβρ. finde, <strong>und</strong> daraus mutmaße, es sei unsere Perikope aus jenem apokryph. Evang. in <strong>das</strong><br />
des Joh. aufgenommen, so konnte Papias unsere Erzählung aus dem Evang. des Joh. geschöpft haben,<br />
während nur Eus., der in seinem Exemplar sie nicht hatte, ihrethalben auf <strong>das</strong> Evang. καθ᾽<br />
Ἑβρ. verweist. Wird auch die Apologetik unserer Stelle zugeben, <strong>das</strong>s sie sehr an die synoptische<br />
Darstellung erinnert, so ist <strong>das</strong> doch nicht genug Beweis, um sie dem Joh. abzusprechen.<br />
c. 7,53. Jeder ging in sein Haus – sagt Joh.; Christus allein, der hier nicht zu Hause war, <strong>über</strong>nachtete<br />
draußen; Er der Gesalbte auf dem Berg der Oliven. Die Kritiker sagen nun, Joh. gebrauche<br />
nie <strong>das</strong> Wort οἶκος – sondern εἰς τὰ ἴδια; was konnte er denn aber hier für ein anderes Wort wählen<br />
im Gegensatz gegen draußen? Die Festbesuchenden gingen nicht εἰς τὰ ἴδια. Man sagt auch, ὄρθρου<br />
brauche Joh. sonst nie – ganz einfach weil er nur diesmal vom frühen Morgen spricht; er setzt sonst<br />
ὄχλος – hier aber λαός; man beachte aber, <strong>das</strong>s ὄχλος gewöhnlich mit einem Nebensinne „der<br />
Volkshaufe“ gesagt ist.
8. Kapitel. 111<br />
V. 1. ὄρθρου von ὄρνυμι – wo sich alles erhebt mit der Morgenfrühe.<br />
V. 2. καθίσας cf. c. 6,37.<br />
V. 3. στήσαντες ἐν μέσῳ – so <strong>das</strong>s sie einen Kreis um sie herumbilden <strong>und</strong> aller Augen auf der<br />
Sünderin ruhen.<br />
V. 4. ἐπαυτοφώρῳ als ein Wort geschrieben: in ipso furto. cf. Parallelen bei Wetstein.<br />
V. 5. Die Strafe des Ehebruchs war der Tod Lev. 20,10; nur in einem besonderen Falle Deut.<br />
22,24 wird Steinigung genannt. Was aber in dem einzelnen Falle galt, war ohne Zweifel die Strafe<br />
des Ehebruchs <strong>über</strong>haupt; außerdem war die Steinigung zur Zeit des N. T. die bei den Juden gewöhnlichste<br />
Art der Tötung; nachher im Talmud wird Strangulation als die gewöhnliche Todesstrafe<br />
angesetzt, wenn keine bestimmte angegeben sei.<br />
Dieses Gesetz nun war damals nicht mehr in usu, cf. Lighfoot ad 1.; <strong>über</strong>dies hatten die Juden<br />
nicht mal <strong>das</strong> <strong>Recht</strong>, die Todesstrafe zu exequieren; bei den Römern aber war nach der lex Julia auf<br />
den Ehebruch keineswegs der Tod gesetzt. Die Schriftgelehrten <strong>und</strong> Pharisäer wollten nun Jesum<br />
versuchen, ob er auch <strong>das</strong> Gesetz, <strong>das</strong> Wort Gottes in diesem Stück respektieren werde.<br />
V. 6. ἵνα ἔχωσιν κατηγορεῖν αὐτοῦ – bei wem, fragt man. Euthymius <strong>und</strong> Michaelis denken, sie<br />
hätten von Jesu nach seiner Barmherzigkeit auch hier nichts anders erwartet als Absolution – dann<br />
hätten sie aber Gr<strong>und</strong> gehabt ihn beim Volk <strong>und</strong> dem Synedrium anzuklagen, <strong>das</strong>s er <strong>das</strong> Gesetz<br />
umstoße; Grotius <strong>und</strong> Schulthess meinen, sie hätten ihn in Konflikt mit der bürgerlichen Gewalt der<br />
Römer bringen wollen, wenn er <strong>das</strong> Gesetz bestätigt hätte: ut eum accusarent aut apud Romanos imminutae<br />
maiestatis aut apud populum imminutae libertatis. Es bestand damals noch die Zelotensekte<br />
des Ju<strong>das</strong> Galilaeus, die <strong>über</strong>all <strong>das</strong> Gesetz nach dem strengsten Buchstaben vehmrichterlich in<br />
Vollzug setzen wollte. Die Pharisäer hatten sich aber gegen diese Zeloten erklärt. – Auf die Erde zu<br />
schreiben ist die Gebärde eines Nachsinnenden. Bei Aristoph. Acharn. sagt Jemand: Wo ich immer<br />
der Erste in der Versammlung sei, so lange ich allein bin – ἀπορῶ, γράφω – λογίζομαι. Man saß übrigens<br />
dem Boden damals näher. Einige codd. fügen hinzu: προσποιούμενος Fleiß anwendend oder<br />
μὴ προσποιούμενος αὐτούς, sie nicht beachtend. Dass Jesus ganz gleichgültig bei einer so wichtigen<br />
Frage auf die Erde nicht etwa schrieb, sondern allerlei Zeichen <strong>und</strong> Figuren machte, bedeutete –<br />
was gehet doch mich dies an, was versuchet ihr mich? Sie aber, bei sich dadurch in dem Glauben<br />
bestärkt, er wisse darauf nicht zu antworten, bestehen um so viel mehr auf einer Entscheidung.<br />
V. 7.8. ὀ ἀναμάρτητος. – Xenophon ὁρῶ γὰρ ἄνθρωπον οὐδένα ἀναμάρητον διατελοῦντα. – Jesus<br />
blickt nun nicht etwa scharf die Andern an, sondern beginnt wieder sein gleichgültiges Spiel; er<br />
wollte so wenig mit ihrer Sünde, als der des Weibes sich zu schaffen machen. Richtig aber bemerkt<br />
Euthym., wie geeignet dies gewesen sei, einen Jeden in seinen Gedanken auf sich selbst zu leiten<br />
<strong>und</strong> von Christo sodann unbemerkt sich davonzumachen.<br />
V. 9. Es fehlen in vielen codd. die Worte: καὶ ὑπό τῆς συνειδ. – sowie die Worte: ἕως τῶν<br />
ἐσχάτων d. h. die Jüngsten im Gegensatz der dem Alter nach πρεσβύτεροι.<br />
V. 11. Hätte <strong>das</strong> Weib doch auch weggehen können; sie fühlt sich aber in ihrer Schuld gebannt.<br />
Jesus nun nennt sie nicht unschuldig, er sagt „μηκέτι ἁμάρτανε,“ aber vor dem Richterstuhl Christi<br />
soll man nicht verklagen aus Hass <strong>und</strong> in Eigengerechtigkeit, da erteilt er nur Ablass als ein barmherziger<br />
Hohepriester.<br />
V. 12-20.<br />
Joh. hat es durch mehrere Kapitel durchgeführt (4–7) wie Christus sich erwiesen <strong>und</strong> k<strong>und</strong>getan<br />
als den Fürsten des Lebens zum Heil aller, die in ihn als den vom Vater Abgesandten, den Sohn des
112 8. Kapitel.<br />
Vaters glauben würden. Schon c. 6 aber hatte Jesus selbst die Notwendigkeit seines Todes verkündet,<br />
damit durch ihn der Welt <strong>das</strong> Leben zuteil werde. Was ist aber die Bedeutung dieses Todes <strong>und</strong><br />
wie wurde derselbe herbeigeführt? War er der allein Heilige, der μονογενής – so musste der Welt<br />
Sünde offenbar werden an ihm; <strong>das</strong> Volk musste an Ihm sich zeigen in seiner Feindschaft wider<br />
Gott <strong>und</strong> Sein Gesetz; Alles was sich selbst für lebendig <strong>und</strong> erleuchtet hält, kann nicht anders als<br />
dieses Leben zu Tode hassen; <strong>das</strong> Volk musste sich selbst durch die Tat bewähren als eben so geartet,<br />
wie Christus es gezeichnet – damit Er verherrlicht werde. Es steigert sich deshalb der Gegensatz<br />
<strong>und</strong> Widerstreit von Stufe zu Stufe; Jesus, sein baldiges Hinaufgehen zum Vater im Auge, dringt mit<br />
dem Zeugnis des Vaters immer tiefer in <strong>das</strong> Volk hinein, <strong>und</strong> ruft eben dadurch es hervor, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />
Volk, um seine Gerechtigkeit zu behaupten, ihn aus seiner Mitte hinausschaffen muss. Das 8. Kapitel<br />
enthält eine der schärfsten Reden Jesu cf. V. 44.48, welche angeknüpft ist an die Erzählung von<br />
der Ehebrecherin. Denn eben dies war der große Kampf: Christus war gekommen in der Gerechtigkeit<br />
des Vaters nicht sich selbst zu suchen, sondern, wo nichts als Sünde <strong>und</strong> Tod war, dahin <strong>das</strong> Leben<br />
zu bringen; <strong>das</strong> Volk aber <strong>und</strong> die Pharisäer, innerlich voll Ungerechtigkeit, glaubten es dadurch<br />
bei Gott gut zu machen, wenn sie die Sünde in Anderen verdammten <strong>und</strong> selbst eine Gerechtigkeit<br />
der Werke aufrecht zu erhalten suchten, die sie in Wahrheit nicht besaßen. Den Übergang nun von<br />
V. 1-10 zu der Rede V. 21 ff. bildet <strong>das</strong> Zwischenstück V. 11-20. Dort war Jesus der Richter – hier<br />
muss er selbst auf der Richtbank sitzen.<br />
V. 12. πάλιν bezieht sich auf V. 2.<br />
Ἐγώ εἰμι τὸ φῶς τ. κ. Schulthess glaubt, Jesus habe zu diesen Worten Anlass bekommen, da gerade<br />
die Sonne <strong>über</strong> dem Moria aufgegangen sei; Andere meinen, Christus habe vielleicht an eine<br />
vorgelesene Perikope als Jes. 42,6; 49,6; 9,1 etc. angeknüpft; die Meisten finden darin eine Anspielung<br />
auf zwei große Leuchter, welche am Laubhüttenfest im Vorhof der Weiber (nach Maimonides<br />
an allen Tagen des Festes) abends angezündet werden <strong>und</strong> durch ihr helles <strong>Licht</strong> die ganze Stadt erleuchteten.<br />
cf. Sach. 14,7.16. – Wir knüpfen aber am besten an <strong>das</strong> unmittelbar Vorhergehende an.<br />
Eben hatte sich die Gewalt der Finsternis darin recht voll gezeigt, <strong>das</strong>s jene Pharisäer, welche sich<br />
doch durchs Gesetz erleuchtet hielten, weder Sünden-Erkenntnis noch Barmherzigkeit aus dem Gesetz<br />
gelernt hatten. Diesen blinden Leitern gegen<strong>über</strong>, welche <strong>das</strong> Geheimnis der Gnade in Vergebung<br />
der Sünde auch bei Ehebrecherinnen nicht kannten, nennt sich Christus <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> der Welt.<br />
V. 13. Die Pharisäer, in ihrer Gerechtigkeit zu Schanden geworden – wollen nun aber Seine Gerechtigkeit<br />
nicht gelten lassen. cf. 5,31. Sie stellen sich somit als κριταί hin.<br />
V. 14-21. Jesus vor ihrem Richterstuhl bestätigt seine μαρτυρία, V. 14, macht ihnen fühlbar, wie<br />
wenig ihnen <strong>das</strong> Richten zieme V. 15, da nicht mal er richte, der wohl richten könnte V. 16, stellt ihnen<br />
sodann aber ein Doppelzeugnis hin, was sie nach ihres eignen Gesetzes Paragraphen doch mussten<br />
gelten lassen V. 17.18: weist sie sodann als solche von sich, die ihn richten wollten, ohne ihn zu<br />
kennen V. 19. Er geht endlich aus diesem Gericht unangetastet hervor V. 20. – Dass am Laubhüttenfeste<br />
wie vom Gesetz – so auch sehr viel vom Gericht die Rede war, teilt Wetstein mit zu V. 20.<br />
V. 14 scheinbarer Widerspruch mit c. 5,31. Lumen et aliis demonstrat – sagt Augustin – et se ipsum.<br />
V. 15 enthält deutliche Beziehung auf die Geschichte V. 1-10. Alle anderen Erklärungen abzuweisen.<br />
Augustin: ich richte jetzt nicht; Cyrill, Lücke: ich richte nicht κατὰ τὴν σάρκα; de Wette:<br />
ich richte nicht, als ob <strong>das</strong> mein Beruf wäre. – κ. τὴν σάρκα. Das Fleisch richtet immer nach eigennützigen<br />
Absichten; der Geist richtet nach Gottes Gerechtigkeit.
8. Kapitel. 113<br />
Zu μόνος in V. 16 vergl. V. 9. Gerechtigkeit <strong>und</strong> Wahrheit sind immer verb<strong>und</strong>en, wo von Gericht<br />
die Rede. Viele Parallelen bei Wetstein. – cf. 5,30.<br />
V. 17. Jesus sagt „euer Gesetz,“ teils um ihnen fühlbar zu machen, <strong>das</strong>s, wie sie es auslegen, es<br />
keineswegs Gottes Gesetz ist, teils um sie dadurch zu schlagen, worauf sie sich berufen. cf. Deut.<br />
19,15. – cf. 7,51.<br />
V. 19. Sie fragen nicht: wer ist dein Vater – sondern wo?<br />
V. 20. γαζοφυλάκιον im engsten Sinne ist der Kasten, worin <strong>das</strong> Schatzgeld des Tempels geworfen<br />
wird; cf. Mk. 12,41. Lk. 21,1; sodann heißen γαζοφυλάκια Schatzkammern, <strong>und</strong> zwar hier<br />
wahrscheinlich eine Kammer im äußern Hofe, wo der Hauptalmosenstock stand. Krafft Topogr. p.<br />
163. Jos. ant. XIX, 6, 1.<br />
V. 21-29. Jesus redet von seinem Heimgang zum Vater.<br />
V. 21. πάλιν cf. 7,33.34. – ἁμαρτία cf. V. 7. Alle hatten sich als Sünder selbst bekannt.<br />
V. 22. Dass es noch eine andere Welt gibt als die, welche der menschliche Fuß betritt, bedenken<br />
die Juden nicht. Origenes schien es unglaublich, <strong>das</strong>s die Juden Christo <strong>das</strong> crimen der αὐτοχειρία<br />
sollten zugetraut haben. Da er aber so bestimmt von seinem Tode sprach, <strong>und</strong> sie von ferne nicht<br />
daran dachten, <strong>das</strong>s sie die Tötenden sein würden – so meinten sie, er werde in einer Art von furor<br />
sich selbst einmal Gewalt antun. cf. 7,35.<br />
V. 23. Jesus macht ihnen nun fühlbar, <strong>das</strong>s, was innerlich geschieden ist, auch einmal räumlich<br />
wird geschieden sein. – τὰ κάτω ist nicht etwa die Unterwelt: es ist gleich dem ἐκ τοῦ κόσμου<br />
τούτου cf. Act. 2,19.<br />
V. 24. Was ἐκ τῶν κάτω ist, fällt eben deshalb hin; hinfallen ist sterben: cadere verwandt mit occidi;<br />
θνήσκω mit θείνω, מות sterben mit מוט wanken. Prov. 15,24. cf. <strong>das</strong> ב ©אר י ©ר¦ דÜי in den Psalmen.<br />
V. 25. Crux interpretum. Da Jesus den Juden so scharf vorhält, <strong>das</strong>s er anderswoher ist <strong>und</strong> anderswohin<br />
geht, als sie, so fragen sie gerade heraus: Σὺ τίς εἶ; – Impudentissima eorum oratio est:<br />
quis tu es, quis mihi es, cur meum tibi? (Terent.) Die Antwort Jesu τὴν ἀρχήν etc. ist sehr verschieden<br />
erklärt worden. Das ὅ, τι ist zwar von Einigen als Particula gelesen, lat. quia – ist aber ohne<br />
Zweifel neutr. von ὅστις. Zuerst ist die Bedeutung von τὴν ἀρχήν zu ermitteln. Als Akkusativ haben<br />
es nur Wenige genommen, z. B. Augustin: principium me credite; alle griech. Ausleger aber nehmen<br />
es als Adverb. – Falsch bestimmt dessen Bedeutung 1) Paulus als „erstlich,“ so <strong>das</strong>s ein Weiteres<br />
folgen sollte; aber diese Bedeutung hat <strong>das</strong> Wort so wenig als die von profecto, wie Kuinoel <strong>über</strong>setzt:<br />
profecto sum Messias, sicut etiam dico vobis. 2) Es kann heißen von der Zeit: Vordem, anfangs.<br />
So Fritzsche: sum a rerum primordiis ea natura, quam me esse profiteor; was aber nicht von<br />
ferne in den Zusammenhang passt. Tholuck, wie Mel. <strong>und</strong> Beza: „was ich euch schon im Anfange<br />
gesagt habe, <strong>das</strong> bin ich;“ aber τὴν ἀρχήν gehört nicht zu λαλῶ – sondern zu dem zu ergänzenden<br />
εἰμι; auch <strong>das</strong> καί kommt dann nicht zu seinem <strong>Recht</strong>. 3) τὴν ἀρχήν in der Bedeutung: von vornherein,<br />
vorab, vor allen Dingen. Da erklärt nun <strong>das</strong> Folgende Luther: Fürs erste bin ich euer Prediger.<br />
Grotius: ich bin <strong>das</strong>, was ich euch gesagt habe – nämlich <strong>das</strong> <strong>Licht</strong>. Aber <strong>das</strong> ὅτι καὶ λαλῶ ist damit<br />
noch nicht erklärt. Richtig de Wette: Ich bin eben <strong>das</strong>, was ich euch sage: ich bin vornehmlich aus<br />
meinen Reden zu erkennen. Man sagt zwar, τὴν ἀρχ. habe die Bedeutung omnino nur in negativen<br />
Sätzen, es kann indes ganz einfach die Bedeutung primum, worum es sich zunächst <strong>und</strong> zuerst handelt,<br />
beibehalten werden. – Christus suchte seine eigne Ehre nicht; er hatte sich bezeugt als <strong>das</strong> Brot<br />
des Lebens, als des Volkes <strong>Licht</strong> <strong>und</strong> Heil; wollten sie dies nicht annehmen, so konnte er ihnen nicht<br />
sagen, was er noch Anderes für sich selbst war. Er ist ganz sein Wort <strong>und</strong> geht <strong>über</strong> sein Wort nicht
114 8. Kapitel.<br />
hinaus <strong>und</strong> kann nichts anderes von sich sagen, als was er schon gesagt hat. Wie von Ewigkeit <strong>das</strong><br />
Wort war, so bleibt es auch im Streit der Menschen <strong>und</strong> eben <strong>das</strong>, was es redet, ist es. Für den Ausdruck<br />
ist noch zu vergleichen 1. Joh. 3,2. Curtius 7, 8. 26. Homo es: id quod es semper te esse cogita.<br />
Plautus: eho, dic mihi quis igitur ille est? quem dudum dixi in prineipio tibi. – Lücke in der neuesten<br />
Auflage hat eine Erklärung des Euthym. wieder aufgenommen, indem er mit Lachm. den Satz<br />
als Frage interpungiert: Überhaupt, wozu rede ich noch mit euch? – Olsh. u. A. verbinden τὴν<br />
ἀρχήν mit V. 26 πολλὰ ἔχω: Fürs Erste habe ich, was ich auch offen sage, Vieles an euch zu tadeln.<br />
V. 26. Was Jesus sagte, würden die Juden verstanden haben, wenn sie <strong>das</strong> angenommen hätten,<br />
was er ihnen <strong>über</strong> sie selbst sagte. Dass er in seinem Urteil <strong>über</strong> sie nicht zu viel sagte, dafür beruft<br />
er sich auf den Vater.<br />
εἰς τὸν κόσμον soll nach Lücke <strong>und</strong> Thol. gleich τῷ κόσμῳ sein. Es liegt aber in dem εἰς <strong>das</strong><br />
Hineinrufen aus einer andern Sphäre, unbekümmert darum, ob es aufgefangen wird.<br />
V. 27. Sie verstehen nicht, <strong>das</strong>s er sie, statt von sich etwas zu sagen, auf den Vater wies, dessen<br />
Stimme in seinem Wort an ihr Herz dringen zu lassen. Dann freilich hätten auch sie ihn gekannt als<br />
den Sohn.<br />
V. 28. Die Erkenntnis Christi, <strong>das</strong>s er allein der Sohn des Vaters war, sie aber Ungerechte <strong>und</strong><br />
Mörder, konnte erst erfolgen, wenn sie ihn würden erhöht, d. h. als ein Opfer aufs Holz gebracht haben.<br />
c. 3,14. Das ist die Stelle, wo er noch heute vom ganzen Weltkreis angebetet wird.<br />
ὅτι ἐγώ εἰμι – אני הוא Deut. 32,39 sum quem me esse profiteor; Deus sum Deus.<br />
V. 29. ὅτι nehmen Olsh. <strong>und</strong> Meier falsch als causa cognoscendi. Jesus tröstet sich, da er von Allen<br />
wird verworfen sein, der Liebe des Vaters; denn er tut <strong>das</strong> ihm Wohlgefällige.<br />
ἀρεστά Parallelen bei Wetstein.<br />
V. 30-59. Jesus behauptet sich aufs entschiedenste als den υἱός μονογενής, den allein<br />
Wahrhaftigen, Heiligen <strong>und</strong> Ewigen gegen<strong>über</strong> den Juden, welche sich rühmen, Gottes Volk<br />
<strong>und</strong> Same Abrahams zu sein.<br />
V. 31. ἐν λόγῳ μένειν 2. Joh. 9. Evang. 6,56; 15,7. Lysias: ἐμμένειν ὃρκοις. Glauben ist verbum<br />
accipere; es muss folgen <strong>das</strong> μένειν; sodann wird <strong>das</strong> Wort selbst im Kampf des Lebens sich bewähren,<br />
sich zu erkennen geben als ἡ ἀλήθεία <strong>und</strong> als die erkannte Wahrheit wird es aus allen Banden<br />
erlösen.<br />
V. 33. Wenn auch die Juden sich unter römischer Botmäßigkeit befanden, so behaupteten sie<br />
doch um so eifriger die Freiheit ihres Glaubens. cf. Lightfoot. Sie stützten sich auf Gen. 18,18. Die<br />
Redenden sind dieselben wie V. 30. Pythagoras: έλεύθερον ἀδύνατον εἶνα τὸν πάθεσι δουλεύοντα<br />
καὶ ὑπὸ παθῶν κρατούμενον.<br />
V. 34. Dass die Juden in dem Erbteil Abrahams, somit ἐν τῇ οἰκιᾳ seien, leugnet ihnen Christus<br />
nicht; dennoch seien sie in demselben durch eine fremde Macht geknechtet, die ἁμαρτία. – Cicero:<br />
Recte solus liber nec dominationi cuiusq. parens neque obediens cupiditati. Die servi gehörten nicht<br />
ins Haus – ins tabernaculum. Die Juden in der Feier des Laubhüttenfestes glaubten sich recht des<br />
Besitzes <strong>und</strong> Erbes freuen zu dürfen. Gen. 21,10. Gal. 4,5. Mt. 21,43. Irrig die Ansicht der Alten,<br />
welche unter δοῦλος Mosen verstehen nach Hebr. 3,5.<br />
V. 37. χωρεῖ Luther, Lücke u. A. = προκόπτει Fortgang haben unter euch. Richtig: es gewinnt<br />
nicht Raum in euch. Umgekehrt Mt. 19,11 οὐ χωρεῖτε τὸν λόγον.
8. Kapitel. 115<br />
Jesu Wort ist <strong>das</strong> des Vaters; es handelt sich um <strong>das</strong> μένειν im Worte. Es kann aber Niemand in<br />
diesem Wort seinen Stand nehmen, <strong>und</strong> <strong>das</strong> Wort selbst kann in ihm nicht χωρεῖν, wenn seine ganze<br />
Denk- <strong>und</strong> Handlungsweise eine entgegengesetzte ist. Jesus stellt seinem Wort gegen<strong>über</strong> seine<br />
Werke.<br />
V. 41. ἕνα πατέρα ἔχομεν – es ist kein falsches Blut in uns; nur Einem danken wir unser Leben,<br />
auf Einen führen wir was wir sind <strong>und</strong> haben zurück, auf Gott. Jes. 63,9; 64,8. Deut. 32,6. Im A. T.<br />
wird Gott sehr häufig als der Gemahl der Gemeinde im Ganzen, die Einzelnen als die Kinder bezeichnet.<br />
V. 42. ἐξῆλθον entspricht dem hebr. יצא Mich. 5,1. Jes. 11,1. – ἐξῆλθον bezeichnet <strong>das</strong> Wesen,<br />
den Ursprung; <strong>das</strong> ἥκω die Erscheinung in der Welt.<br />
V. 43. de Wette <strong>über</strong>setzt: warum – <strong>das</strong>s ihr nicht; gewöhnlich wird aber ὅτι in der Bedeutung<br />
von „weil“ als Antwort auf die Frage genommen. Zu beachten ist der Unterschied zwischen λαλιά<br />
<strong>und</strong> λόγος: Die ganze Art zu sprechen, sich auszudrücken, d. i. die λαλιά, verstanden die Juden<br />
nicht, weil sie der verkehrten Gesinnung wegen sein Wort, d. i. den Kern der Rede, nicht hören <strong>und</strong><br />
nicht ertragen konnten, ohne in blinden Zorn zu geraten. cf. Tittm. de synon. p. 92.<br />
V. 44. Das ἀνθτρωποκτόνος beziehen Doederlein, Nitzsch, Kling, Lücke, de W. auf den Mord<br />
Kains 1. Joh. 3,12, welcher durch Anreizung des Teufels erfolgt sei. Aber warum nicht auf die Verführung<br />
Adams? cf. 1. Joh. 3,8. Hebr. 2,14. Röm. 5,12. Theoph. ad Ant. 2, 29. Es ist nicht etwa bloß<br />
vom leiblichen Tode, sondern vom „verderben, umbringen“ die Rede. ἦν Imp. <strong>das</strong> war seine Natur<br />
gleich von Anfang – ist es nicht jetzt erst.<br />
ἕστηκεν ist aber als Praet. zu nehmen; eben dadurch ist er der διάβολος geworden. Es ist dictum<br />
probans in Bezug auf den Abfall des Teufels. 2. Petr. 2,4. – Wie ist der Begriff ἀλήθεία <strong>und</strong> ψεῦδος<br />
hier zu bestimmen? Wahr nennt man denjenigen, der sich so gibt, wie er ist: ἀλήθεία ist demnach<br />
<strong>das</strong> Gemäßsein der Bestimmtheit <strong>und</strong> Ordnung aller Dinge <strong>und</strong> Wesen, wie sie von Gott gesetzt<br />
sind. Aus dieser Ordnung, worin er geschaffen, trat der Teufel heraus in Selbst-Erhebung, indem er<br />
Gott nicht wollte Gott, sein Wort nicht Wahrheit sein lassen <strong>und</strong> selbst etwas anderes werden, als er<br />
war. Er konnte in der Wahrheit nicht bestehen, weil in ihm selbst nicht ἀλήθεία ist, d. h. ein dem<br />
Gemäßsein, was er von Gottes wegen war. Des Teufels Art ist deshalb, die Ordnung aller Dinge umzudrehen,<br />
<strong>das</strong> Wesen zum Schein <strong>und</strong> den Schein zum Wesen, Sünde zur Gerechtigkeit <strong>und</strong> Gerechtigkeit<br />
zur Sünde zu machen. – Jesus nun sprach die Wahrheit, indem er Alles nach seinem Wesen<br />
auch benannte, Gott <strong>und</strong> Sein Wort oben setzte <strong>und</strong> alles Sichtbare ihm unterwarf. Die Juden wollten<br />
aber etwas anderes sein als sie waren – <strong>und</strong> damit sie ihre Gerechtigkeit behaupten möchten,<br />
mussten sie Christo feindselig werden, eben wie auch der Teufel deshalb den Menschen verderben<br />
wollte, weil gerade an ihm Gottes Herrlichkeit <strong>und</strong> Gnade sich offenbaren wollte, womit des Teufels<br />
Hochmut verdammt wurde.<br />
V. 46. ἁμαρτία nehmen Chrys., Aug., Luther in der Bedeutung Sünde. Aber was heißt hier Sünde?<br />
Wegen des Gegensatzes von ἀλήθεία erklären die Meisten es als „Lüge, Irrtum, Trug.“ Die<br />
Schleiermacher’sche Schule hat dagegen wiederum die Bedeutung Sünde hervorgezogen: Ullmann,<br />
Lücke, de Wette, auch Olshausen. Gegen Ullm. Fritzsche de ἀναμαρτησίᾳ. Nun ist aber gerade in<br />
der Schleiermacher’schen Schule der Begriff „Sünde“ <strong>über</strong>haupt durchaus alteriert; er ist bei ihr ein<br />
Moral-Begriff <strong>und</strong> gegen<strong>über</strong>gestellt einer sittlichen Vollkommenheit. Von einem sittlichen Vergehen<br />
kann hier ἁμαρτία nicht gesagt sein wegen des Gegensatzes von ἀλήθεία. Was ist aber <strong>über</strong>haupt<br />
ἁμαρτία? Die Juden, sich selbst der Gesetzmäßigkeit rühmend, von Christo aber der Ungerechtigkeit<br />
<strong>über</strong>führt, gingen immer darauf aus, Christus in Konflikt mit dem Gesetz zu bringen cf.<br />
V. 5, <strong>das</strong>s er nur einmal in Einem Punkte die Wahrheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit verfehlen möchte. Nun
116 8. Kapitel.<br />
sagt hier Jesus: „Wer von euch kann mich dessen <strong>über</strong>führen, <strong>das</strong>s ich in Tat <strong>und</strong> Wort es irgend einmal<br />
verfehlt, den rechten Punkt nicht getroffen, <strong>und</strong> Gottes Wort <strong>und</strong> Willen nach seinem innersten<br />
Kern, Wesen <strong>und</strong> Geist nicht aufrechtgehalten <strong>und</strong> bewahrt hätte?“ So oft sie Jesum anfassen wollten,<br />
hatte er den Geist des Gesetzes so gehandhabt, <strong>das</strong>s sie innerlich in sich zurückgeschlagen waren,<br />
um so gewichtiger es erfahren hatten, <strong>das</strong>s er eben <strong>das</strong> befolgte, tat <strong>und</strong> durchhielt, was Gottes<br />
Wille <strong>und</strong> Gebot war.<br />
ἁμαρτία ist demnach: in Tat oder Wort irgend nur mal den Willen Gottes, des Gesetzes <strong>Recht</strong> <strong>und</strong><br />
Wahrheit, die Liebe Gottes <strong>und</strong> des Nächsten verfehlen.<br />
V. 48. καλῶς λέγειν cf. 5,17. Σαμαρείτης gleich Ketzer; δαιμόνιον ἔχειν besessen, wahnwitzig<br />
sein.<br />
V. 53. Homer: κάτθανε καὶ Πάτροκολς ὃς πόλλον σεο ἀμείνων.<br />
V. 54. οὐδέν <strong>das</strong> Neutr.<br />
V. 56. Meinen Tag cf. Lk. 17,22. Die Redensart „einen Tag sehen“ auch bei Griechen <strong>und</strong> Lateinern<br />
sehr üblich. – Die älteren Exegeten <strong>und</strong> Olshausen erklären diese Stelle davon, <strong>das</strong>s Abraham<br />
die Zukunft Christi in einem prophetischen Gesicht gesehen hätte; Lampe, Lücke, Thol., de Wette<br />
deuten es von einem Schauen des Abraham aus dem Himmel auf die Gegenwart Christi. Die erstere<br />
Erklärung verstößt aber gegen die Bedeutung des ἡμέραν ἰδεῖν; die zweite hat den deutlichen Zusammenhang<br />
der Rede (V. 57) gegen sich. Abraham muss selbst etwas erlebt haben, was Jesus hier<br />
„seinen Tag“ nennt. Dem Abraham erschien der מלאך יה״ <strong>und</strong> kündete ihm an, <strong>das</strong>s er <strong>über</strong> ein Jahr<br />
wiederkommen werde. Gen. 18. Ein Jahr nachher erschien aber nicht Jehova, es wurde aber Isaak<br />
geboren. So sah denn Abraham in der Geburt Isaaks <strong>das</strong> in die Erscheinung Treten der Verheißung,<br />
<strong>das</strong> ins Leben Treten <strong>und</strong> Fleisch werden dessen, welchen Gott gesandt. Deshalb nennt auch Matth.<br />
Jesum einen υἱὸς Ἀβραάμ.<br />
V. 57. 50 Jahre sind die Zeit des vollendeten Mannesalters. – Jesus mochte in seiner ganzen Haltung<br />
älter erscheinen als er war. – ἑώρακας: Die Juden stellen es herum „Du hättest gesehen den berühmten,<br />
großen Abraham.“<br />
V. 58. εἰμί <strong>das</strong> Präsens von der Ewigkeit <strong>und</strong> Unveränderlichkeit des Wesens, dem in sich selbst<br />
Bestehen zu aller Zeit, im Gegensatz gegen γενέσθαι. Jer. 1,5 πρὸ τοῦ με πλάσαι σε ἐν κοιλίᾳ<br />
ἐπίσταμαί σε. Ähnlicher Gebrauch des Präsens cf. Bernh. Syntax p. 370. – Dieser Spruch als entschiedener<br />
Ausspruch der Präexistenz wird von Crell, Grotius von der Vorherbestimmung des Messias<br />
erklärt. Socin: anteq. Abraham fiat Abraham i. e. pater multarum gentium ego sum Messias.<br />
V. 59. Die Worte διελθών etc. cf. Lk. 4,30 hat Griesbach gestrichen, aber mit durchaus nicht zureichenden<br />
Gründen. Das παρῆγεν ist ganz nach johanneischer Art <strong>und</strong> wird c. 9,1 wieder aufgenommen.<br />
9. Kapitel.<br />
Heilung eines Blindgebornen am Sabbat. V. 1-12. Das mit demselben angestellte Verhör vor<br />
den Pharisäern V. 13-34. Dem von den Juden, weil er von Jesu geheilt ist, Ausgestoßenen<br />
offenbart sich Jesus als der Sohn Gottes. V 35-41.<br />
V. 1-12.<br />
V. 1. παράγών cf. 8,59. Wie ein Fremdling wandelt Jesus hin <strong>und</strong> her <strong>und</strong> verweilt allerwärts da,<br />
wo Hilfe <strong>und</strong> Genesung Not tut. – Andere <strong>über</strong>setzen: vor<strong>über</strong>gehend.
9. Kapitel. 117<br />
Aus V. 8 erhellt, <strong>das</strong>s dieser Blinde als Bettler irgendwo zu sitzen pflegte, ähnlich vielleicht wie<br />
der Bettler Act. 3.<br />
V. 2. Man hat zu den gezwungensten Erklärungen gegriffen, um es sich denkbar zu machen, in<br />
welchem Sinn die Jünger eine Sünde hätten meinen können, um derentwillen Jemand blind geboren<br />
würde. Einige denken an eine Sünde im Mutterleibe (cf. die Stelle des Talm. bei Wetst.); Andere als<br />
Tholuck an eine Antizipation der Strafe, de Wette an die Alexandrinische Lehre der Präexistenz,<br />
welcher die Jünger gehuldigt hätten. Diese Annahmen sind aber keineswegs notwendig. Nach damaliger<br />
Lehre der Pharisäer (cf. Jos. in der Hauptstelle <strong>über</strong> die Pharisäer) wurde jedes Unglück in<br />
engste Beziehung zu einer Sünde gesetzt. Das Unglück sollte nicht auf Gott, sondern auf Selbstverschuldung<br />
zurückgeführt werden. Nun kamen die Jünger im vorliegenden Falle ins Gedränge, <strong>und</strong><br />
ihre Frage will eben dies sagen, <strong>das</strong>s es doch nicht gut zu glauben sei, <strong>das</strong>s dieser Mensch schon vor<br />
seiner Geburt sollte gesündigt haben; – werde andererseits seinen Eltern die Schuld davon beigemessen,<br />
so werde der arme Mensch doch schuldlos sein.<br />
V. 3. Eben weil im Geiste der Jünger eine Anklage gegen Gott lag, gibt nun Jesus mit Wort <strong>und</strong><br />
Tat eine Theodizee. Er dreht die Frage „warum“ in die Frage um „wozu“; er blickt nicht zurück,<br />
sondern vorwärts, er rechtfertigt Gott nicht mit viel Grübeleien <strong>über</strong> die Sünde, sondern damit, <strong>das</strong>s<br />
er den Anstoß, <strong>das</strong> Elend wegschafft; in Gegenwart Jesu ist Sünde, Tod, Verderben nichts anderes<br />
als die von Gott ihm angewiesene Stelle, eine Umschaffung zu bewirken zum vollständigen Heile;<br />
vor Gott gilt weder die Erbsünde, noch die eigne Sünde – sondern Sein Heil <strong>und</strong> Seine Gerechtigkeit<br />
<strong>und</strong> Wahrheit, welche die Sünde samt Ursachen <strong>und</strong> Folgen aufhebt. Wer fragt nach der Krankheit,<br />
wenn <strong>das</strong> sichere Heilmittel zur Hand ist?<br />
τὰ ἔργα τ. θ. cf. 5,20.<br />
V. 4. νύξ im Gegensatz gegen ἡμέρα ist die Gewalt der Finsternis, die Zeit des Todes. νύξ ohne<br />
Artikel.<br />
V. 5. ὅταν mit Konjunktiv: quandoquidem. Fritzsche ad Marc. pag. 86.<br />
V. 6. Ähnlich Mk. 7,33; 8,23. – Der Speichel, besonders die saliva jejuna, wurde vielfach als<br />
Heilmittel besonders bei Augen angewandt. cf. Horatius: Cum tua pervidens oculis male lippus inunctis.<br />
Auch <strong>das</strong> andere, der πλός, kommt bei Ärzten vor. Serenus Sarnonicus (Arzt unter<br />
Caracalla): Si tumor insolitus typho se tollat inani, turgentes oculos vili circumline coeno. Vielfach<br />
war auch ein abergläubischer Gebrauch des Speichels gegen fascinationes verbreitet. cf. Ursinus<br />
Annales Sacrae P. II. 1. 3 loc. 2. Wetstein ad 1., besonders die Stelle aus Aristides <strong>über</strong> Aesculapius<br />
(wo Jemand 3 mal die Augen sich bestreichen lässt, sie sodann abwäscht <strong>und</strong> zuletzt in den Tempel<br />
geht), <strong>und</strong> die Stelle aus dem Talmud, Vaiikra Rabba fol. 175, 2.<br />
= י¤לוד nach der Form ש¤לחÚ V. 7. νίψαι mit εἰς in den Teich mit der Hand eintauchend. Siloam hebr.<br />
.שœלוחÚ Siloa war die Hauptquelle Jerusalems <strong>und</strong> lag fast ganz im Südende der Stadt, wo <strong>das</strong> Tal Tyropoeon<br />
zwischen dem Zion <strong>und</strong> dem Tempelberg nach dem Kidron-Tale hinabläuft. Als Titus Herr<br />
dieser Quelle war – nennt Jos. Jerusalem wasserlos. Schon Jesaja spricht von den sanft fließenden<br />
Wassern von Siloa; bei dem Quell war ein Teich, worin die Wasser gesammelt wurden. Da nun diese<br />
Quelle ihr Wasser erhält durch einen Kanal, welcher von der Quelle der Jungfrau her quer durch<br />
den Felsen in einer Länge von fast 1750 Fuß gehauen ist, so könnte man darin den Ursprung des<br />
Namens Siloa suchen. Es kann aber auch Siloa gleichbedeutend sein mit ג¤יחון „der Hervorbrechende,“<br />
welches Wort einmal im Targum für שלח gesetzt ist. Diese Quelle galt bei den Bewohnern Jerusalems<br />
für heilig. cf. Targ. zu 1. Chr. 11,22. Krafft Topogr. p. 127. 174.
118 9. Kapitel.<br />
Warum aber setzt Joh. hinzu <strong>das</strong> ἀπεσταλμένος. Lücke nimmt daran solchen Anstoß, <strong>das</strong>s er es<br />
als Glosse mit dem Syrer streichen will. Wetstein bemerkt, <strong>das</strong>s Christus selbst ἀπεσταλμένος war<br />
<strong>und</strong> hieß, aber dabei lässt sich nicht recht ein Zusammenhang finden. Jesus schickte den Blinden an<br />
eine ziemlich entlegene Quelle, wo er sich musste hinführen lassen. cf. 2. Reg. 5,10. Dazu gehörte<br />
Glaube. In dem Namen ש¤לחÚ lag nun etwas, was dem Blinden Mut einsprechen konnte; wie jene<br />
Quelle ἀπεσταλμένος hieß <strong>und</strong> ihren Lauf einhielt, so soll ein Jeder von dem Herrn gesandt nicht<br />
fragen, warum <strong>und</strong> wozu, sondern sich daran halten, <strong>das</strong>s er gesandt ist. Das „wozu“ ist die Sache<br />
dessen, der ihn sendet. Ähnlich die ῥύημ εὐθεῖα Act. 9,11.<br />
V. 8. θεωροῦντες die ihn zu sehen gewohnt waren; <strong>das</strong> Part. als Imperf. Aufzulösen.<br />
V. 11. Mit dem Namen Jesus kannte also der Blinde den Herrn. ἐπέχρισε hier mit dem Akkusativ<br />
ροὺς ὀφθαλαμούς verb<strong>und</strong>en. cf. V. 26.<br />
V. 13. cf. 8,3.<br />
V. 13-34.<br />
V. 14. Im Talmud heißt es: Sputum etiam super palpebras poni perhibitum.<br />
V. 15. Πάλιν cf. V. 10.<br />
V. 18. οὖν führt einen zweiten Akt der Verhandlung ein; um der Anerkennung des Wortes zu entgehen,<br />
schlugen sie einen andern Weg ein.<br />
V. 21. Aristophanes: τίς τῶν θεῶν οὐκ ἴσμεν ὅτι δ᾽ εἶκε πτερὰ τοῦτ᾽ ἴσμεν.<br />
ἡλικίαν ἔχειν Alter der Reife, Mündigkeit haben. Echt griechische Redensart. Er ist alt genug. Zu<br />
beachten <strong>das</strong> dreimal gesetzte αὐτός.<br />
V. 22. συντίθεσθαι <strong>über</strong>einkommen. Act. 23,20. Lk. 22,5.<br />
ἀποσυνάγωγος. 12,42; 16,2. c. 20,19. cf. ἀφορίζειν Lk. 6,22. Die Juden hatten späterhin drei<br />
Grade der Exkommunikation; damals indessen bestand wahrscheinlich nur eine einzige Exkommunikation,<br />
eine Ausschließung aus der Synagoge. cf. Vitringa de Synag. vet. 1. 1 p. I c. 9. 10. Gildemeister,<br />
Blendwerke des vulg. Ration. p. 10 ff.<br />
V. 24. δὸς δόξαν τῷ θεῷ. Jos. 7,19. Gib Gott als dem Herzenskündiger darin Ehre, <strong>das</strong>s du die<br />
Wahrheit bekennst <strong>und</strong> dich von diesem Gottlosen lossagest: formula obtestandi. Der Blinde sollte<br />
Christum verleugnen.<br />
V. 25. τυφλὸς ὤν ist ein blinder Mann. Das ὤν ist nicht als Imperfekt zu nehmen; er von Haus<br />
aus ist ein Blinder – jetzt aber sieht er.<br />
V. 30. ἐν τούτῳ: hierin, hierbei ist etwas Auffallendes, was ich mir nicht zu erklären weiß.<br />
V. 31. Hiob 8,5.6; 27,9. 2. Chron. 7,14. Ps. 34,18. 66,18.<br />
Ilias α, 213 ὅς κε θεοῖς ἐπιπείθηται μάλα τ᾽ ἔκλυον αὐ τοῦ. Tr. Berachoth: Quicunque verum habet<br />
timorem Dei, illius preces exaudiuntur.<br />
V. 32. ἐκ τοῦ αἰῶνος von der Welt her; eine im Griech. sehr gebräuchliche Redensart.<br />
οὐκ ἠδύνατο ποιεῖν οὐδέν. Der Blinde wird um so entschiedener, je mehr Jene sich gegen die ihnen<br />
in die Augen stechende Wahrheit verhärten.<br />
V. 34. ὅλος soll nach Lampe, Lücke <strong>und</strong> Olsh. heißen: nach Leib <strong>und</strong> Seele. Es ist aber vielmehr,<br />
wie wir im Deutschen sagen: Du bist ein ganzes Sündenkind. cf. 13,10. Tu, quantus es, vitiosus es.<br />
ἐν ἁμαρτίαις als einen Blindgebornen, einen Bettler verachten ihn die Pharisäer als einen von Haus<br />
aus von Gott Verworfenen <strong>und</strong> Gezüchtigten. – Ps. 51,7.
9. Kapitel. 119<br />
V. 35-41.<br />
V. 35. Aus dieser Stelle folgt klar, <strong>das</strong>s die Lehre vom Messias als dem υἱὸς θεοῦ damals im Lande<br />
eine ganz allgemein bekannte war. Irrig ist die Erklärung von de Wette <strong>und</strong> Meyer: Glaubst du an<br />
den Messias als den bereits erschienenen? Es besagt vielmehr, ob der Blinde nach dem Zeugnis der<br />
Schrift an den glaube, von dem alle Propheten geredet <strong>und</strong> dessen Erscheinung jetzt allgemein für<br />
nahe bevorstehend erachtet <strong>und</strong> von allen Gottesfürchtigen ernstlichst ersehnt werde.<br />
V. 36. καὶ τίς. Öfter ist ein solches καὶ der Frage vorangesetzt Mk. 10,26. Lk. 10,29. 2. Kor. 2,2.<br />
cf. class. Parallelen bei Wetstein. Es gehört zur Lebendigkeit der Rede, <strong>und</strong> schließt hier eine Bejahung<br />
der Frage ein: Wohl glaube ich <strong>und</strong> wenn dies, wer aber ist er? So ja – <strong>und</strong> nun weiter, wer?<br />
V. 37. καὶ – καὶ führt eben so lebendig in wechselseitigem Drängen der Frage <strong>und</strong> Antwort den<br />
Dialog fort.<br />
V. 39. κρίμα ist nicht geradezu gleich κρίσις wie de Wette will: κρίσις ist der Akt des Urteilens,<br />
κρίμα <strong>das</strong> Urteil selbst.<br />
V. 40. οἱ ὄντες μετ᾽ αὐτοῦ – wie denn Jesus immer ein Geleit hatte von allerlei Volk, insbesondere<br />
von religiösen Leuten.<br />
V. 41. εἰ τυφοὶ ἦτε. Diese Worte sind vielfach missverstanden. Die Erklärung von Lücke <strong>und</strong> de<br />
Wette „wenn ihr weniger Erkenntnis hättet, so würde euer Unglaube weniger schuldvoll sein“ ist<br />
ganz verfehlt. In der Antwort Christi liegt eine meisterhafte Wendung <strong>und</strong> Spitze. Die Pharisäer<br />
nämlich nahmen es als einen Vorwurf, <strong>das</strong>s sie blind sein sollten, indem sie bei sich selbst wohl<br />
fühlten, <strong>das</strong>s sie es waren. Nun sagt Christus ironisch: „Wäret ihr blind, <strong>das</strong> wäre gar kein Vorwurf<br />
in meinem M<strong>und</strong>e; dann würde ich euch selig sprechen; weil ihr aber etwas sein wollt, was ihr nicht<br />
seid, so bleibt eure Sünde.“ Die Blindheit – dagegen bot Jesus die Hilfe; aber eben <strong>das</strong> ist die Sünde,<br />
von der es keine Hilfe gibt, vor Gott sich nicht anerkennen wollen, wer man ist.<br />
10. Kapitel.<br />
Jesus der gute Hirte <strong>und</strong> eins mit Gott.<br />
Die Pharisäer waren die Leiter des Volks; sie waren die strengste Sekte der Juden, in Bezug auf<br />
den Glauben orthodox, in Bezug auf Leben <strong>und</strong> Gottesdienst sehr kirchlich, gesetzmäßig <strong>und</strong> eifrig.<br />
Josephus berichtet von ihnen, <strong>das</strong>s alle Fragen anlangend den Gottesdienst nach ihren Vorschlägen<br />
<strong>und</strong> Ansichten geleitet wurde. Die meisten hohen Stellen waren von Männern ihrer Partei eingenommen.<br />
Das Volk glaubte an sie, <strong>und</strong> wer irgend gewissenhaft war, folgte ihren Vorschriften. Sie<br />
beriefen sich in Allem auf die Schrift, auf <strong>das</strong> Gesetz Mosis. Gegen ihre Gesetzes-Auslegung aber<br />
machte Jesus eine andere geltend c. 7,16 ff.; mitten in dem Festjubel bezeichnete er die Gesamtheit<br />
der kirchlichen Institute als unzulänglich <strong>und</strong> rief zu sich, zu dem Glauben an Ihn 7,37. An diesen<br />
Glauben knüpfte er <strong>das</strong> Leben <strong>und</strong> die Erweckung aus Toten, die wahre Befriedigung <strong>und</strong> Ernährung<br />
des inneren Lebens, die Erleuchtung <strong>und</strong> die Gabe des heil. Geistes. Nicht minder die strenge<br />
Sittenzucht war c. 8 zu Schanden geworden; Christus war gekommen, Gott zu verherrlichen, die<br />
Welt zu erlösen; gerade aber als Solcher musste er in Gegensatz gegen die Pharisäer treten, welche<br />
um eine erlogene Kindschaft Gottes zu behaupten – Ihn als den Sohn nicht anerkennen können;<br />
weil er es aber dennoch war, ihn töten müssen. c. 8. Dieser scharfe Gegensatz zwischen Gottes Volk<br />
<strong>und</strong> Gottes Sohn macht sich aber auch tatsächlich offenbar; den Christus heilt, den werfen die Pharisäer<br />
hinaus; die δόξα θεοῦ ist bei ihnen identisch mit der Verleugnung Christi; <strong>und</strong> wiederum: den<br />
sie herausgeworfen, nimmt Jesus an; was bei Jenen schwarz, ist bei ihm weiß, <strong>und</strong> was bei ihm
120 10. Kapitel.<br />
weiß, ist bei Jenen schwarz. So steht denn der ganzen Welt des Synedriums <strong>und</strong> aller ἄρχοντες τοῦ<br />
λαοῦ, dem ganzen Ansehen der Φαρισαῖοι, aller geistlichen Gewalt, Leitung <strong>und</strong> Obrigkeit also –<br />
dieser eine Galiläer gegen<strong>über</strong> mit der Hand, welche W<strong>und</strong>er tut, mit dem Wort, dem noch Keiner<br />
widerstanden. Mitten innen schwebend, <strong>und</strong> unsicher, wohin es sich neigen solle, steht <strong>das</strong> Volk; er<br />
ist ἀγαθός, sagen die Einen; die Andern: πλανᾷ τον ὄχλον. – Dass Christus wohl eines Königs<br />
Macht habe in Israel, daran fehlte es nicht an Beweisen. Die ausgesandten Diener kehren zurück,<br />
selbst geb<strong>und</strong>en; in der Mitte des Synedriums spricht <strong>das</strong> Gesetz durch den M<strong>und</strong> des Nikodemus.<br />
Auf der Erde saß er – aber vor seinem Richtstuhl fliehen alle Pharisäer hinweg, alle Ankläger; während<br />
er allen Angriffen bloßgestellt ist <strong>und</strong> die heimlich gärende Feindschaft fast herausfordert, gegen<br />
ihn zur Tat zu werden – bekleidet ihn dennoch eine maiestas inviolabilis, <strong>und</strong> wenn auch die<br />
Pharisäer die Macht behalten, aus ihrer Synagoge zu stoßen, so steht doch der Blinde als Sehender<br />
vor ihnen <strong>und</strong> seine Antworten sind blitzend genug, während sie selbst wie blind <strong>und</strong> wahnsinnig<br />
die helle <strong>und</strong> klare Wirklichkeit leugnen wollen.<br />
Im Gegensatz nun gegen diese ὁδηγοὶ τυφλοί Mt. 23,16.24 – mit Beziehung auf diejenigen im<br />
Volk, welche in den Gefahren des Lebens einer Leitung zur σωτηρία bedürfen, aber bei Jenen nicht<br />
finden – stellt sich Jesus nun selbst dar in der παροιμία vom guten Hirten V. 1-18, welche eng mit c.<br />
9 zusammenhängt. cf. V. 7. Demnach sind diese drei Punkte zu beachten: 1) die falschen Leiter:<br />
κλέπται, λῃσταί, ἀλλότριοι, μισθωτοί; 2) die der Leitung Bedürftigen: τὰ πρόβατα – welche bezeichnet<br />
werden als ἴδια, als solche, die νομὴν εὑρήσουσι <strong>und</strong> als die, welche versammelt werden<br />
sollen zu einer ποίμνη; 3) in welcher Beziehung Jesus selbst zu den Schafen steht. Dabei kommt<br />
nun aber ein Mehrfaches in Betracht, wonach <strong>das</strong> Bild verschieden gewandt wird, <strong>und</strong> sich hauptsächlich<br />
in zwei Hälften zerlegt.<br />
V. 1-6.<br />
Das Bild von der Herde <strong>und</strong> dem Hirten ist durchgehend durch die ganze Schrift. Zu Gr<strong>und</strong>e<br />
liegt die Stelle von Moses Num. 27,17. Von David, der selbst ein Hirte gewesen, wird <strong>das</strong> Bild besonders<br />
häufig angewandt. Ps. 23. Er wird von Nathan bezeichnet als von der Herde gerufen, zu<br />
weiden <strong>das</strong> Volk Israel. Ps. 78,70-72. Das Volk wurde einer Herde verglichen Ps. 95,7. Ps. 100;<br />
77,21; 78,52. Jer. 13,17. Der König Israels, der Messias, wird von allen Propheten unter dem Bild<br />
des Hirten dargestellt. Jes. 40,11. Jer. 23,1. Ez. 34,23; 37,24. Micha 2,13; 5,3. c. 7,14. Ps. 78,71.<br />
Zach. 11,4. – So war den Juden <strong>das</strong> Bild ganz geläufig; es bezeichnete den König <strong>und</strong> Herrn seiner<br />
Gemeinde nach seiner Treue <strong>und</strong> Sorgfalt für die ihm anvertrauten Seelen. Es bestand auch der<br />
Amtsname der pastores, der פרסנים in den Synagogen, <strong>und</strong> Moses <strong>und</strong> David wurden die guten Hirten<br />
genannt. Jesus selbst bedient sich des Bildes oft: Joh. 21,15. Lk. 15,4 ff. Mt. 9,36; 26,31. Chald.<br />
Paraphr. zu Cant. 1,8. donec mittam iis regem Messiam, qui ducat eos in requiem ad tabernaculum<br />
ipsorum quod est domus sanctuarii, quam aedificabant iis David et Salomon pastores Israelis. – cf.<br />
Targum zu Jer. 33,13.<br />
αὐλή ist die unter freiem Himmel aufgeschlagene Hürde, Phavorinus: ὁ περιτετειχμένος καὶ<br />
ὕπαιθρος τόπος; αὐλή von ἄω spiro, quia ventis perflatur. An derselben befand sich eine Türe, woran<br />
ein Unterhirt als θύρωρος. cf. Bochart Hierz. P. 1 1. 2 c. 44. – Wer nicht durch die Türe ging,<br />
musste <strong>über</strong> <strong>das</strong> Gehege steigen – deshalb ἀναβαίνων.<br />
κλέπτης Jer. 23,30. Jes. 1,23. Ez. 34,2-5. Jer. 10,21; λῃσταί Hos. 6,9. Mt. 21,13. Lk. 19,46.<br />
V. 3. τὰ ἴδια: sie sind sein Eigentum. So sagt Xenophon von den Schafen χαίρουσι τὴν φωνὴν<br />
τοῦ δεσπότου γνωρίζούσαι. Corippus: et in unum congregat agnos, nomina nota vocans. Longus IV:<br />
τοὺς αἶγας προσεῖπε καὶ τοὺς τράγους ἐκάλεσεν ὀνομαστί.
10. Kapitel. 121<br />
V. 4. Es waren in einer Hürde oft mehrere Herden vereinigt; es folgen also nur τὰ ἴδια einem jeden<br />
Hirten. ἐκβάλλειν cf. Mt. 9,38; Mk. 1,12.<br />
V. 5. ἀκολουθήσωσιν var. 1. σουσιν Fut. Beides ist nach οὐ μὴ gebräuchlich. cf. Winer p. 592.<br />
V. 6. παροιμία. Quinctilian macht diesen Unterschied zwischen παροιμία <strong>und</strong> παραβολὴ;<br />
παροιμία velut fabella brevior est et per allegoriam accipitur: παραβολὴ longius res, quae comparentur,<br />
repetere solet. – τίνα ἦν Lk. 8,9. Die Deutung der Allegorie liegt auf der Hand; sie wurde<br />
von den Pharisäern nicht verstanden, weil sie die Anwendung nicht machten auf Jesum <strong>und</strong> sich<br />
selbst. – Es wurden denen, welche sich in die Gemeinde hineinschleichen <strong>und</strong> drängen, um für sich<br />
selbst davon Gewinn zu ziehen – der rechtmäßige Führer, Leiter <strong>und</strong> Herr der Gemeinde gegen<strong>über</strong>gestellt.<br />
Die θύρα ist der einzig rechtmäßige Eingang – der θύρωρος der dabei angestellte Wächter.<br />
Unter dem Letzteren haben Einige Gott, Andere den heil. Geist, Lampe den Täufer verstehen wollen.<br />
Richtiger aber ist die gesamte Stelle allgemein zu fassen als Zeichnung eines treuen Hirten. Da<br />
nun die Pharisäer die Anwendung auf sich nicht machen wollen – so gibt nun Jesus eine Anwendung<br />
<strong>und</strong> Ausführung, wie er sein soll <strong>und</strong> sich unterscheidet von denen, welche in der Herde nur<br />
einen Gegenstand ihrer eigennützigen Zwecke haben. Es ist vergebliche Mühe, im Folgenden die<br />
einzelnen Züge des Bildes zu fixieren; dies ist aber kein Mangel, wie Lücke meint; denn da Jesu<br />
nicht die Ausführung des Bildes die Hauptsache ist, sondern die unter dem Bilde vorgestellte Sache<br />
– so wendet er es mit größter Freiheit <strong>und</strong> Biegsamkeit je nach den einzeln hervortretenden Beziehungen.<br />
V. 7. Den Pharisäern gegen<strong>über</strong> handelt es sich zunächst um den rechtmäßigen Zutritt zur Herde<br />
– ἡ θύρα τῶν πρ. ist deshalb hier: Die Türe zu den Schafen.<br />
V. 8. Alle, die vor mir kamen: natürlich sind nicht die Propheten gemeint (wie schon <strong>das</strong> εἰσι<br />
Praes. zeigt), auch nicht falsche Messiasse, sondern die, welche, ohne Christum abzuwarten, bereits<br />
als Herren <strong>und</strong> Leiter in der Herde verfuhren. Im Gegensatz zu ihnen hatte Joh. der Täufer auf<br />
Christum hingewiesen.<br />
V. 9. Ehe man Andere leiten will, sollte man suchen, für sich selbst den Eingang gef<strong>und</strong>en zu haben;<br />
deshalb bezeichnet Christus sich weiter als die Tür für die Schafe selbst. Ganz irrig denkt<br />
Lücke auch hier an Hirten, wozu <strong>das</strong> νομὴν εὑρήσει nimmermehr passt. Ein- <strong>und</strong> ausgehen Num.<br />
27,17. Ps. 121,8. – Das σωθήσεται lässt durchblicken, wovon eigentlich Jesus redet.<br />
V. 10. Jesus stellt sich nun selbst den Verderbern unter dem Bilde des guten Hirten gegen<strong>über</strong>.<br />
ὁ καλός cf. c. 2,10. 1. Tim. 4.6. 2. Tim. 2,3. 1. Petr. 4,10.<br />
ψυχὴν τιθέναι entfernter nur zu vergleichen ist <strong>das</strong> hebr. ב¦כÚף שום נæפæש <strong>das</strong> Leben in die Waagschale<br />
legen; oder <strong>das</strong> bei Homer gebrauchte ψυχὴν παρατίζεσθαι. Auch <strong>das</strong> lateinische deponere vitam<br />
entspricht nicht. Ohne Zweifel beruht dieser dem Joh. eigentümliche Ausdruck auf der Stelle Jes.<br />
53,10: Das Leben als Unterpfand, als Löse- <strong>und</strong> Schuldgeld dreinsetzen, <strong>das</strong>s ein Anderer erhalten<br />
werde. Jakob <strong>und</strong> David waren Exempel solcher guten Hirten. cf. 1. Sam. 17,35. Jes. 31,4. Amos<br />
3,12. Columella 7, 6.: Magister autem pecoris acer, strenuus, laboris patientissimus, alacer atque audax<br />
esse debet et qui per rupes, per solitudines, per vepres facile vadat, et non, ut alterius generis<br />
pastores, sequatur sed plerumque ut antecedat gregem.<br />
V. 12. Aristides sagt, <strong>das</strong>s er <strong>das</strong> Amt des Redners sehr hoch geachtet von Anbeginn, wer aber<br />
dem Volke schmeichle, die Menge im Auge habe oder nach Geld geize, den nenne er μισθωτόν<br />
nicht ῤήτορα. – Themistius: ποίμνιον ἐκεῖνο εὔκολον τοῖς λύκοις, ὅτῳ ὁ ποιμὴ ἀπεχθαίνοιτο –<br />
κακὸς βουκόλος – αὐτὸς δὲ ἔσται μισθωτὸς ἀντὶ βουκόλου.
122 10. Kapitel.<br />
αὐτὰ – τὰ πραβατά ist im leichten Gefüge <strong>und</strong> schönem Fluss der Rede noch einmal wiederholt,<br />
τὰ πραβατά, solche Tiere, die sich nicht zu helfen wissen.<br />
V. 14. Die παροιμία wird ganz zum einfachen Bilde, zur Allegorie. – Dasselbe Band also zwischen<br />
Christo <strong>und</strong> der Gemeinde, was zwischen dem Vater <strong>und</strong> ihm.<br />
V. 16. Ein Hirte hatte oft eine sehr große Herde in mehrere Hürden verteilt, die dann aber zu Zeiten<br />
zusammengebracht wurde. Jesus gab seinen Sendlingen zwar Anweisung nur zu den πρόβατα<br />
ἀπωλολότα Mt. 10,5.6; 15,24 des Hauses Israel zu gehen, aber <strong>das</strong> Herzukommen aller Heiden hat<br />
er klar vor Augen. Mt. 28,19. Mk. 16,15. Mt. 21,43; 24,14. Mk. 13,10.<br />
V. 17. Wie <strong>über</strong>all, so auch hier bezieht sich Jesus auf den Willen des Vaters. Schon V. 14/5 hieß<br />
es: γινώσκω τὰ ἐμὰ – καθώς etc. γινώσκειν schließt die Bedeutung der Liebe in sich (cf. <strong>das</strong> deutsche<br />
sich verstehen) wie <strong>das</strong> hebr. ידע Ps. 1,6; 89,16; 101,4. Amos 3,2. Mt. 7,23; es heißt Jemanden<br />
kennen <strong>und</strong> erkennen als einen Solchen, wie man ihn gerade sucht. Der Vater kennt den Sohn als<br />
denjenigen, in welchem Er Sein Werk, Seine Liebe, Sein Wohlgefallen geschehen lässt; der Sohn<br />
kennt den Vater als den Gott aller Herrlichkeit <strong>und</strong> Wahrheit <strong>und</strong> als seinen Belohner; <strong>das</strong>selbe Verhältnis<br />
zwischen Christo <strong>und</strong> der Gemeinde. ἵνα πάλιν λάβω αὐτήν: Jesus hat nicht etwa den Tod<br />
gesucht, um durch den Tod entb<strong>und</strong>en zu werden – sondern um im Tode den zu <strong>über</strong>winden, der des<br />
Todes Gewalt hat; er hat seine Seele, sein Leben für uns eingesetzt in den Tod, um aus dem Tode<br />
heraus es wiederzunehmen <strong>und</strong> als der Fürst des Lebens immerdar für seine Brüder <strong>über</strong> den Tod zu<br />
herrschen. Röm. 6,10. Von den Gottlosen heißt es umgekehrt im 49. Psalm, <strong>das</strong>s der Tod ihr Hirte<br />
sei.<br />
V. 18. cf. 5,26. – 2,19.<br />
Ernesti hat <strong>das</strong> Hirtenamt Christi den drei Ämtern beiordnen wollen; es ist aber <strong>das</strong> königliche<br />
Amt selbst. cf. Hos. 2. Sach. 11. Ez. 34. Jer. 30.<br />
V. 19-21.<br />
Der enge Zusammenhang der vorigen Rede mit c. 9 geht auch aus V. 21 hervor. Aber wie schon<br />
früher c. 7 – so entsteht auch hier ein σχίσμα der Meinungen.<br />
V. 22-42. Jesus in Jerusalem am Fest der Tempelweihe.<br />
V. 22. τὰ ἐγκαίνια sc. τοῦ ἱεροῦ hebr. חãנðכœה ist <strong>das</strong> von Ju<strong>das</strong> Makkabäus angeordnete am 25. des<br />
Monats Kislev (Dezember) 8 Tage begangene Freudenfest der Reinigung des Tempels nach der Entweihung<br />
durch Antiochus Epiphanes. Dasselbe Fest wird auch τὰ φῶτα genannt wegen der üblichen<br />
allgemeinen Illumination. 1. Makk. 4,41-59. 2. Makk. 10,1-8. Jos. Arch. 12, 7, 7.<br />
V. 23. Weil es Winter war, saß Jesus nicht im Vorhof unter freiem Himmel, sondern wanderte in<br />
der στοὰ Σαλομῶνος umher. Salomo hatte die Halle ולœם gebaut, welche bei der Zerstörung stehen<br />
geblieben sein soll. Es ist dies die prächtige Halle, die im Osten den Tempelhof umschließt; an der<br />
Südseite wurde von Herodes eine dreifache Halle neu erbaut, die στοὰ βασιλική. Jos. Arch. 20, 9. 7.<br />
– 1. Reg. 6, 3. Act. 3, 11.<br />
V. 24. αἴρειν aufheben <strong>und</strong> sodann in der Höhe, in der Schwebe halten, ohne es anderswo niederzusetzen.<br />
Suspensum tenere; zwischen Furcht <strong>und</strong> Hoffnung schweben oder hängen. Philo verbindet<br />
<strong>das</strong> Wort manchmal mit μετεωρίζειν. Auch bei Klassikern kommt es in dem Sinne eines Schwebens<br />
in Furcht, Hoffnung <strong>und</strong> Erwartung nicht selten vor.<br />
א
10. Kapitel. 123<br />
V. 26. Die Worte καθὼς εἶπον ὑμῖν sind in einigen Handschriften ausgelassen, weil ausdrücklich<br />
die folgenden Worte sich früher nicht finden. cf. aber V. 4. 14.<br />
οὐ γάρ – andere Lesart ὅτι οὐκ.<br />
V. 28. ἐκ τῆς χειρός μου cf. V. 39. Im Hebr. ist der Gebrauch des ב¦יÚד sehr ausgedehnt, ebenso im<br />
Aramäischen; es bezeichnet: aus meiner Gewalt, aus meinem Besitz; aus meiner Herrschaft <strong>und</strong> Gemeinschaft.<br />
V. 30. Dictum probans der Gottheit Christi. Das ἕν ἐσμεν erklären alle Nach-Nicänischen Väter<br />
(cf. Maldonatus) von der unitas essentiae. Origenes dagegen <strong>und</strong> ähnlich die Antiochiener Schule<br />
drückt sich so aus: θρησκεύομεν τὸν πατέρα τῆς ἀλήθείας καὶ τὸν τὴν ἀλήθειαν, ὄντα δύο τῇ<br />
ὑποστάσει πράγματα, ἓν δὲ τῇ ὁμονίᾳ καὶ τῇ συμφωνίᾳ καὶ τῇ ταυτότητι τοῦ βουλήματος. – Unter<br />
den Reformatoren ist Calvin der einzige, welcher eine Willens-Einheit, nicht <strong>das</strong> ὁμοούσιον in dieser<br />
Stelle bezeichnet glaubt. Die unitas essentiae, <strong>das</strong> ὁμοούσιον ergibt sich aber aus folgenden<br />
Gründen:<br />
1) Eben so wenig als es heißt εἷς ἐσμεν – heißt es ἕν βουλόμεθα oder dergl. ἕν εἶναι ist unitas essentiae.<br />
Für den Ausdruck zu vergl. c. 17,22. 1. Joh. 5,7. Der Scholiast zu Eurip. Orest. 1192 ὡς εἰ<br />
ἔλεγεν, ἓν σῶμα καὶ μία ψυχὴ ἐσμέν πᾶν γὰρ τὸ καθ᾽ ἡμᾶς ἕν φησι καὶ ταὐτό ἐστιν.<br />
2) Eben vorher hat Jesus gesagt: ὁ πατὴρ μείζων πάντων ἐστιν, hat gesagt: Niemand kann sie aus<br />
meiner Hand reißen – <strong>und</strong> sodann: Niemand kann sie aus meines Vaters Hand reißen. Damit ist also<br />
von Christo dieselbe Macht ausgesagt, als vom Vater. Woraus Euthymius folgerecht schließt: εἰ δὲ<br />
ἓν κατὰ τὴν δύναμιν, ἓν ἄρα καὶ τὴν θεότητα καὶ οὐσίαν καὶ φύσιν. Ja, wenn auch wirklich nur die<br />
vollkommene Einheit des Willens <strong>und</strong> Sinnes in dieser Stelle ausgesprochen wäre, so würde auch<br />
daraus die Einheit des Wesens folgen; denn Christus legt sich hier die un<strong>über</strong>windliche Macht der<br />
Liebe bei; Niemand aber ist gut als der einige Gott; Gott ist die Liebe. Da die Gesinnung <strong>und</strong> der<br />
Wille Christi ein stets wirksamer <strong>und</strong> tätiger ist, er allezeit schafft <strong>und</strong> wirkt wie Gott, so ist er<br />
selbstverständlich Gott selbst. Ein Mensch, der wie Gott Geist <strong>und</strong> Leben ist, ist eben auch seinem<br />
innersten Naturgr<strong>und</strong>e nach Gott gleich. Wer eine wirkliche Willenseinheit annimmt, nimmt auch<br />
eine metaphysische Einheit an.<br />
3) Jesus verheißt hier den an Ihn Glaubenden <strong>das</strong> ewige Leben zu geben. Allen Gewalten Himmels<br />
<strong>und</strong> der Erde gegen<strong>über</strong> spricht er ihnen Mut zu, zu Ihm Zuflucht zu nehmen. Ewiges Leben,<br />
Errettung von Sünde <strong>und</strong> Tod kann aber nur Einer geben <strong>und</strong> soll auch nur bei Einem gesucht werden,<br />
bei Gott. Deshalb sagt Christus: Hier, wo es gilt selig-zu-sprechen, da ist es ein <strong>und</strong> <strong>das</strong>selbe,<br />
was der Vater ist, sagt <strong>und</strong> tut – <strong>und</strong> was ich bin, sage <strong>und</strong> tue; der Vater <strong>und</strong> ich, wir sind eins.<br />
4) Die Juden haben V. 33 den Schluss folgerichtig gemacht ποιεῖς σεαυτὸν θεὸν, welches Jesus<br />
keineswegs leugnet.<br />
V. 32. ἔδειξα cf. c. 2,18 δεικνύεις.<br />
V. 33. βλασφημία καὶ ὅτι also ein Doppeltes. Gott machte er sich gleich – <strong>das</strong> war die Blasphemie,<br />
<strong>und</strong> sich selbst gleich Gott. Auf Gotteslästerung stand die Strafe der Steinigung. Lev. 24,10 ff.<br />
– Das erhitzte Volk hat oftmals zu den Steinen gegriffen, um zu Ehren Gottes seinen Propheten zu<br />
töten. cf. Ex. 8,26; 17,4. 2. Mo. 8,26. – 2. Mo. 14,10. Lk. 20,6. Mt. 23,37. Ps. 82,6. In jenem Psalme<br />
sind die Fürsten <strong>und</strong> Richter des Volkes angeredet: Ich habe gesagt: א¤תæם אØלה¤ים Söhne des Höchsten<br />
ihr alle, d. h. durch Kraft <strong>und</strong> nach dem Willen des Wortes Gottes, worin Jehova <strong>das</strong> Volk Israel als<br />
sein Eigentum erklärt hatte, waren des Volkes Fürsten mit göttlicher Herrlichkeit bekleidet. Wenn<br />
nun Menschen um des Wortes Gottes willen, dessen sie teilhaftig geworden, Kinder des Höchsten
124 10. Kapitel.<br />
genannt werden – was muss denn von diesem Worte selbst geurteilt werden, welches in Christo<br />
Fleisch geworden? cf. 2. Petr. 1,1.<br />
V. 37. Jesus fordert keinen blinden Glauben an seine Person; die Werke des Vaters kann der nur<br />
tun, welcher mit dem Vater ὁμοούσιος ist; weshalb richtig in der Dogmatik die Gottheit Christi auch<br />
bewiesen wird aus den göttlichen Werken. Es will aber auch Jesus keinen blinden Glauben an seine<br />
Werke, aus denselben soll vielmehr ein Doppeltes erkannt werden: ὅτι ἐν ἐμοί etc.<br />
V. 41. Während die Pharisäer in Jerusalem nicht glauben trotz aller σημεῖα, hat <strong>das</strong> Wort Johannis,<br />
der kein σημεῖον getan, in Peräa die Gemüter für Christum gewonnen.<br />
11. Kapitel.<br />
Die Auferweckung des Lazarus. 25<br />
Man kann es begreifen, <strong>das</strong>s die Kritik alles mögliche getan hat, um diese großartige Offenbarung<br />
der Herrlichkeit Christi zu bestreiten <strong>und</strong> der Erdichtung zu <strong>über</strong>geben. Zunächst ist es falsch,<br />
wenn diese Totenerweckung gegen<strong>über</strong> den von den Synoptikern berichteten „zum Höhepunkt der<br />
W<strong>und</strong>ertätigkeit“ Christi gemacht wird; alle von den Evangelisten berichteten Totenerweckungen<br />
haben gleichen Wert: sie sind die Taten des Sohnes Gottes. So wenig wie Joh., so wenig wollten<br />
auch die Synoptiker alle W<strong>und</strong>er Jesu berichten, <strong>und</strong> indem letztere die galiläische Tätigkeit des<br />
Herrn <strong>und</strong> die letzte jerusalemische Festreise nebeneinander stellen in einer scharfen Sonderung, lag<br />
diese Tat Jesu nicht in dem Rahmen ihrer Geschichtseinteilung. Der Tod Jesu ist keineswegs, auch<br />
bei Joh. nicht, allein durch dieses „größte W<strong>und</strong>er“ als des machtvollsten Antriebes dazu zu erklären,<br />
sondern war bei den Synoptikern <strong>und</strong> bei Joh. schon lange vorher geplant <strong>und</strong> ins Auge gefasst.<br />
Gleich anfangs vorhanden reift der Gedanke des Mordes immermehr <strong>und</strong> hat tausendfache Gründe<br />
im Lauf der Zeiten <strong>und</strong> Zeichen gef<strong>und</strong>en. Die Verwirrung, die man durch die Vermenguug der Salbungsgeschichte<br />
im Hause des Pharisäers Simon <strong>und</strong> im Hause der Maria <strong>und</strong> Martha angerichtet<br />
hat, die Herbeiziehung des Lazarus in der Parabel, mit dem der Bruder der Schwestern identisch<br />
sein soll, sind alberne Ausflüchte, die man erdichtet, um sich dem mit dem feinsten Detail, der ergreifendsten<br />
Lebendigkeit, der frischesten Wirklichkeit <strong>und</strong> Wahrheit geschriebenen göttlich erhabenen<br />
Bericht des Augenzeugen in hartnäckigem Unglauben zu entziehen.<br />
V. 1-16.<br />
Jesus empfängt in Peräa die Nachricht von des Lazarus tödlicher Erkrankung, verweilt aber <strong>das</strong>elbst,<br />
bis er selbst den Jüngern meldet, <strong>das</strong>s Lazarus gestorben.<br />
Bethanien. Ein anderes Bethanien c. 1,28. Dieses Bethanien lag an der Ostseite des Ölberges,<br />
durch diesen von Jerusalem getrennt. Der Weg von Jericho, also auch vom Jordan, führte <strong>über</strong> diesen<br />
Flecken, welcher selbst am Saum der östlich sich ausdehnenden Wüste liegt. – Unter den Christen-Gemeinden<br />
war Bethanien als die κώμη der Maria <strong>und</strong> Martha bekannt, wie Bethsaida c. 1,45<br />
als die Stadt Simonis <strong>und</strong> Andreae.<br />
Bethanien ist jetzt ein armes Dorf, von den Eingeborenen nach Lazarus el Azarieh genannt. –<br />
Λάζαρος <strong>das</strong> hebr. ,אלעזר Gotthilf.<br />
ἀσθενεῖν wird auch von tödlicher Erkrankung gesagt. Xen. Anab.: ἐπεὶ δὲ ἠσθένει Δαρεῖος καὶ<br />
ὑπώπτευε τελευτὴν τοῦ βίου.<br />
25 Vergl. die Predigt von Kohlbrügge in „die Herrlichkeit des Eingebornen vom Vater,“ Elberfeld 1877.
11. Kapitel. 125<br />
Merkwürdig, <strong>das</strong>s Maria <strong>und</strong> Martha schon V. 1 genannt sind – <strong>das</strong>s Lazarus ihr Bruder war, erfahren<br />
wir erst V. 2. Der Evangelist denkt mehr an <strong>das</strong>, was Maria <strong>und</strong> Martha erfahren sollten, als<br />
was Lazarus erfuhr.<br />
V. 2. Johannes nennt die Maria als den Christen bekannt. Eben <strong>das</strong>, was er V. 2 durch Prolepsis<br />
(cf. c. 12,1 ff.) von ihr erwähnt, hatte nach Jesu eignem Wort ihren Namen in der ganzen Christenheit<br />
verbreitet.<br />
V. 3. ὅν φιλεῖς, V. 5 ἀγαπᾶν. Letzteres ist der stärkere Ausdruck von freier, aus dem innersten<br />
Wesen hervorgehender <strong>und</strong> völliger Liebe; φιλεῖν befre<strong>und</strong>et sein. Die Art der Nachricht hatte für<br />
den Herrn etwas Verletzendes, denn bei ihm galt kein Ansehen der Person, er war für Alle gekommen,<br />
die krank sind <strong>und</strong> liebte nicht wie Menschen lieben. In dem ganzen Kap. ist <strong>das</strong> verkehrte Benehmen<br />
der Jünger <strong>und</strong> Jüngerinnen des Herrn zu beachten, als ein starker Beweis auch für die<br />
Wahrheit der Geschichte.<br />
V. 4. An dem πρὸς θάνατον hat man Anstoß genommen, weil Lazarus ja wirklich gestorben sei;<br />
ist er denn aber im Tode geblieben oder durch diese Krankheit dem Tode wirklich entrissen<br />
worden? Jesus wusste, <strong>das</strong>s der Kranke sterben werde, er aber an ihm einen besonderen Beweis der<br />
Herrlichkeit Gottes geben werde, <strong>und</strong> ob dem Sichtbaren nach Alles zum Tode auslaufen, doch <strong>das</strong><br />
Leben den Sieg behalten werde. cf. <strong>das</strong> hebr. לœמות חœלœה 2. Reg. 20,1. ὑπὲρ τῆς δόξης zur Förderung<br />
der Ehre Gottes. Die δόξα τ. θ. besteht demnach darin, <strong>das</strong>s der Sohn Gottes verherrlicht wird.<br />
V. 5. Eine sehr feine Bemerkung. Gegen<strong>über</strong> der Liebe Jesu zu Lazarus, welche die Schwestern<br />
betonten, heißt es hier, <strong>das</strong>s Jesus vor allem herzlich die Martha geliebt habe (ἠγάπα), die bei Lukas<br />
der Maria nachzustehen scheint, dann ihre Schwester, deren Name nicht genannt wird, <strong>und</strong> erst zuletzt<br />
den Lazarus. Seine Liebe beschränkte sich nicht nur auf den Lazarus.<br />
V. 6. τότε μέν. Dem μέν folgt kein δέ – dem Sinne nach aber enthält es der folgende Satz in<br />
ἔπειτα ματὰ τοῦτο.<br />
V. 7. Wie Cicero: deinde postea, Justin: denique postremum gebrauchen. Obwohl Jesus die<br />
Schwestern <strong>und</strong> Lazarus liebt, zögert er doch nach Judäa aufzubrechen aus keinem anderen Gr<strong>und</strong>e,<br />
als den er selbst V. 14 angibt: der Tod sollte eintreten, mit dem Tode sich der tiefe Unglaube der<br />
Schwestern <strong>und</strong> Jünger offenbaren, <strong>und</strong> Jesus dann allein trotz Tod <strong>und</strong> Unglauben in der Offenbarung<br />
der Herrlichkeit Gottes den Glauben aufs neue schaffen <strong>und</strong> begründen. Jesus zögerte nicht,<br />
weil er auf den Wink seines Vaters wartete, sondern weil er seine Treusten in den Glutofen der<br />
Trübsal führen wollte, damit sie in demselben gedemütigt <strong>und</strong> tief beschämt würden.<br />
In dem τότε μέν <strong>und</strong> ἔπειτα ματὰ τοῦτο liegt der Ernst seiner Liebe, die wartet, damit die Sichtbarkeit<br />
in Tod <strong>und</strong> Unglauben sich enthülle.<br />
V. 8. νῦν jetzt, so eben noch. Es ist nicht nur auffallend, <strong>das</strong>s die Jünger nicht schon früher den<br />
Herrn zum Krankenbett ihres Fre<strong>und</strong>es gedrängt hatten, als auch, <strong>das</strong>s sie ihn jetzt im Unverstand<br />
als einen ansehen, der durchaus seinen Kopf durchsetzen will <strong>und</strong> sich selbst ins Unglück bringen:<br />
wie menschlich wahr <strong>und</strong> blind ist <strong>das</strong>! Wirkliches, nicht erdachtes Benehmen.<br />
V. 9. Der Tag wurde nach 12 St<strong>und</strong>en gezählt (cf. <strong>das</strong> Gleichnis der Arbeiter im Weinberg) <strong>und</strong><br />
es hieß sprichwörtlich: duodecim sunt horae in die et duodecim in nocte. – Bengel bemerkt hierzu:<br />
Iam longe processerat cursus Jesu; iam multa erat hora; sed tamen adhuc erat dies.<br />
Auffallend sind die Worte ὅτι τὸ φῶς οὐκ ἔστιν ἐν αὐτῷ Die griechischen Väter erklären es von<br />
dem <strong>Licht</strong> des tugendhaften Lebens, de Wette von dem des lauteren Handelns. 1. Thess. 5,8. Der<br />
Sinn der ganzen Stelle ist dieser: der Tag ist die Zeit des Berufes, nicht etwa die Lebenszeit, wie<br />
Andere wollen; so viel Zeit des Tages da ist, soll man in Ausübung des Berufes nicht müde werden.
126 11. Kapitel.<br />
Alsdann hat man keinen Anstoß zu fürchten, wie im physischen Leben so lange es Tag ist, auch <strong>das</strong><br />
<strong>Licht</strong> scheint; Anstoß hat nur der zu fürchten, welcher in nicht gesetzmäßigem Berufskreise wandelt,<br />
denn <strong>das</strong> tut nur ein Solcher, der sich selbst nicht klar ist <strong>und</strong> allerlei Gedanken nachgeht, die<br />
<strong>das</strong> Tageslicht nicht ertragen. Sollte Christus, wenn er sich auch zur Zeit verbarg, da wo es die Ausübung<br />
seines licht- <strong>und</strong> gnadenhellen Berufes galt – als ein Dieb oder Mörder gefürchtet haben, offenk<strong>und</strong>ig<br />
vor aller Welt sein Werk zu tun?<br />
V. 11. κεκοίμηται eigentlich vom Schlaf, aber euphemistisch häufig vom Tode gebraucht: 1. Kor.<br />
15,6. 1. Thess. 4,13. cf. Jes. 14,8. LXX. Sir. 46,22. κοίμησις Hebr. .שכב cf. Donytaeus Anal. Sacr. T.<br />
2 p. 59. „Unser Fre<strong>und</strong>“: um die Jünger an die demselben schuldige Liebe zu erinnern.<br />
V. 12. σωθήσεται aus der Gefahr des Todes errettet werden. Die Alten nennen den Schlaf omnium<br />
morborum medicinam. Die Jünger offenbaren in plumper Naivität, <strong>das</strong>s sie nichts von dem verstehen,<br />
was in dem Herrn vorgeht <strong>und</strong> seine Seele erfüllt. Ein greller Zug menschlicher Befangenheit<br />
bei den Gedanken dessen, der den Tod als Schlaf ansieht <strong>und</strong> im Vorgefühl der Offenbarung der<br />
Herrlichkeit Gottes lebt. Wieder ganz aus dem Leben. Der Herr voll Freude <strong>und</strong> erhabensten Gefühlen<br />
nicht für sich, sondern für seine Jünger. Diese unverständig <strong>und</strong> töricht.<br />
V. 15. ἵνα πιστεύσητε: Es kann keinem Zweifel unterworfen sein, <strong>das</strong>s, wenn es einmal gilt, kein<br />
Mensch so fest an Gottes Macht <strong>und</strong> Güte glaubt, <strong>das</strong>s nicht Angesichts des Todes dieser Glaube<br />
ihm entschwände. Die Macht der Sünde <strong>und</strong> des Todes erstreckt sich nicht etwa bloß <strong>über</strong> den Leib<br />
<strong>und</strong> die Glieder, sondern sie macht es auch der Seele des Menschen unmöglich, an Gottes Gerechtigkeit,<br />
Wahrheit <strong>und</strong> Gnade festzuhalten. Dem Sichtbaren nach löst sich Alles zuletzt auf in Untergang<br />
<strong>und</strong> Verderben; Jesus ist der Einzige gewesen, welcher dem Sichtbaren gegen<strong>über</strong> Gottes des<br />
Vaters Güte <strong>und</strong> Wahrheit <strong>und</strong> in ihr aller Verlorenen Leben <strong>und</strong> Seligkeit, aller Sünder Gerechtigkeit,<br />
aller Blinden Erleuchtung, d. i. also die ewigen <strong>und</strong> unverbrüchlichen Tatsachen des Heils geglaubt,<br />
<strong>und</strong> weil allein der Glaube alle Kräfte des Himmels anzieht <strong>und</strong> in Wirksamkeit setzt, eben<br />
durch den Glauben zur Wirklichkeit gebracht hat. Der falsche Glaube ist sehr sicher <strong>über</strong> alle Dinge<br />
des Himmelreichs; es ist ihm so leicht, an Gottes Vatergüte, an Unsterblichkeit, an Tugend etc. zu<br />
glauben, weil er niemals im Leben die Probe macht; der wahre Glaube aber hält sich nicht an<br />
menschliche Gedankenbilder, sondern sucht nach der πλήρωσις des Geglaubten, <strong>das</strong>s es zur vollen<br />
Realität <strong>und</strong> Wahrheit komme. Christus hatte sich als den bezeichnet, der vom Vater gesandt sei, Alles<br />
wiederherzustellen, die Toten ins Leben zu rufen, die Sünde zu tilgen; er hatte sich als den bezeichnet,<br />
der Alles vermag. Es ist leicht, an <strong>das</strong> Jenseits eines Himmels <strong>und</strong> einer Unsterblichkeit zu<br />
glauben – aber zu glauben, <strong>das</strong>s Gott Willen <strong>und</strong> Macht habe, einen Menschen, wenn er vom Tode<br />
bereits aufgelöst ist, dem Leben wiederzugeben, ist so schwer, <strong>das</strong>s z. B. Spinoza erklärt, er wolle<br />
sein ganzes System preisgeben, wenn er von der Wahrheit der Auferweckung Lazari <strong>über</strong>zeugt würde,<br />
<strong>das</strong>s selbst Theologen wie Hase <strong>und</strong> Schweizer es wagen, von einem Scheintode zu sprechen<br />
<strong>und</strong> Lücke u. A. lieber auf die Authentie des Evangeliums für die Wahrheit der Geschichte sich berufen,<br />
als auf des Herrn Christi göttliche Macht <strong>und</strong> Herrlichkeit. Ist Christus der Herr, der Sohn<br />
Gottes – so muss er auch Tote erwecken können. Damit nun der Vater verherrlicht, der Glaube gestärkt<br />
werde – lässt Jesus gleichsam ein Schaf seiner Herde vom Tode sich rauben, um es sodann<br />
auch aus seinem Rachen noch wiederzuholen; er gibt dem Feinde die Stadt preis, um ihn sodann<br />
desto völliger zu beschämen; lässt Gottes Schöpfung, die dem Tode verfallen ist, zerstört werden,<br />
um sie in seiner Macht desto herrlicher herzustellen. Da nun, so lange die Welt steht, Sünde <strong>und</strong> Tod<br />
<strong>über</strong> Alles, was geboren wird, herrschen, so ist für den Glauben nichts so wesentlich, als zu wissen,<br />
<strong>das</strong>s hier auf Erden Einer erschienen ist, welcher mächtiger ist als Tod <strong>und</strong> Sünde, <strong>und</strong> dessen Regiment<br />
dann einmal vor Aller Augen offenbar werden wird, wenn <strong>das</strong> jetzt dem Glauben Gegenwärti-
11. Kapitel. 127<br />
ge wird <strong>über</strong>gegangen sein in Sieg <strong>und</strong> ewiges Leben. – Der Evangelist hat deshalb diese Geschichte<br />
sehr ausführlich erzählt, weil gerade er den Glauben stärken will, <strong>das</strong>s die in Christum Glaubenden<br />
<strong>das</strong> Leben haben; er hat den Glauben Christi geschildert im Gegensatz gegen den Unglauben<br />
nicht bloß der Juden, sondern auch der Martha <strong>und</strong> Maria <strong>und</strong> der Apostel. Geflissentlich hebt es<br />
Joh. hervor, wie sich <strong>das</strong> Wort Gottes <strong>und</strong> der Glaube Christi im Kontrast <strong>und</strong> Widerspiel des Sichtbaren<br />
behauptet. Christus sagt, die Krankheit sei nicht zum Tode – <strong>und</strong> an eben dem Tage stirbt Lazarus.<br />
Er geht hin, ihn zu erwecken, <strong>und</strong> die Jünger sind so voll Furcht vor den Juden <strong>und</strong> glauben<br />
sich unter des Königes Christi Geleit so wenig sicher, <strong>das</strong>s sie meinen, seiner <strong>und</strong> ihrer warte der<br />
Tod. Martha <strong>und</strong> Maria empfangen ihn mit Vorwürfen, welche Zweifel an seiner Liebe <strong>und</strong> seiner<br />
Macht enthalten, <strong>und</strong> der für einen Augenblick in der Martha aufblitzende Glaube erlischt gerade an<br />
dem Worte Jesu, <strong>das</strong> ihn beleben sollte. Jesus kommt, <strong>und</strong> statt <strong>das</strong>s nun die Hoffnung aufleben sollte,<br />
brechen Aller Tränen um so stärker hervor, als sei keine Hilfe gegen den Tod bei Ihm. Da Jesus<br />
inmitten alles dessen sich erschüttert im Geist <strong>und</strong> ergrimmt, so deuten die Juden seine Tränen davon,<br />
als sei auch er ein Kind der Erde, der Hilflosigkeit <strong>und</strong> der Schmerzen. Da er endlich zum Grabe<br />
geht, will die Martha den Stein nicht mal abwälzen lassen <strong>und</strong> fürchtet den Anblick der Grube,<br />
aus der sie <strong>das</strong> Leben soll hervorgehen sehen. Ob aber auch Alle nicht glauben – der Tote hört die<br />
Stimme des Sohnes Gottes <strong>und</strong> kommt aus dem Grabe hervor.<br />
V. 16. Δίδυμος, gemellus: Übersetzung des hebr. ת¦א ©ם Gen. 38,27, Cant. 4,5 aram. .ת¦אמœא Der Tod<br />
von Lazarus ist dem Thomas schon ganz in den Hintergr<strong>und</strong> getreten; er will sich in halber Verzweiflung<br />
für seinen Meister opfern, wo eben dieser seine ganze Macht <strong>und</strong> Gnade hervorleuchten<br />
lassen will. Wieder ein vollendeter Unverstand. συμμαθηταί nur hier im N. T. In dem „Zwilling“<br />
liegt die schwankende Doppelnatur des Thomas ein ἀνὴρ δίψυχος Jak. 1,8.<br />
V. 17. Die gewöhnliche Rechnung ist, der Bote habe einen Tag gebraucht zu Jesu zu kommen; an<br />
demselben Tage sei Lazarus gestorben <strong>und</strong> begraben worden, wie es im Orient Sitte (Jahn Archäol.<br />
I, 2 p. 427, Act. 5,6.10); 2 Tage blieb Jesus in Peräa, am 4. sei er selbst in Bethanien eingetroffen.<br />
Es ist aber wohl mit einem Tage zu wenig Zeit angesetzt für den Weg nach oder von Peräa.<br />
V. 18. 40 Stadien sind gleich einer deutschen Meile. ὡς ἀπό eben so weit als von dem Ende eines<br />
zu 15 St<strong>und</strong>en gemessenen Raumes. S. Winer pag. 64. Die Nähe Jerusalems macht die Auferweckung<br />
für die Hauptstadt bedeutsam.<br />
V. 19. οἱ περὶ Μ. bezeichnet nach griechischem Sprachgebrauch diese Personen selbst nebst ihrer<br />
Umgebung (Act. 13,13), oder auch die Person allein. Matthiä II, 1365. Bernhardy 263. Winer pag.<br />
483. Beispiele bei Wetstein. Die meisten Ausleger nehmen hier <strong>das</strong> Letztere an; es ist indes viel<br />
wahrscheinlicher, <strong>das</strong>s Maria <strong>und</strong> Martha noch von andern Fre<strong>und</strong>innen <strong>und</strong> Verwandtinnen umgeben<br />
waren, welche zusammen die klagende Versammlung bildeten, ganz nach Sitte des Orients,<br />
wozu die kondolierenden Juden kamen. – Die solennen Tröstungen dauern nach Maimonides de<br />
luctu c. 13 § 2 7 Tage.<br />
V. 20. Maria <strong>und</strong> Martha benehmen sich ganz entsprechend dem Bilde, welches die andere Erzählung<br />
Lk. 10 von ihnen gibt. Maria bleibt zu Hause, weil sie nach dem Tode des Bruders nichts<br />
mehr von Jesu erwartet.<br />
V. 21. Ein Vorwurf gegen den Herrn <strong>und</strong> zugleich ein Unverstand, denn Lazarus war nach Gottes<br />
Willen gestorben.<br />
V. 22. Eine ganz katholische Betrachtung des Herrn, der als ein heiliger Mann einen besonderen<br />
Einfluss bei Gott besitzt, den Martha nicht hat. Sie erkennt nicht den Vater in dem Sohne.
128 11. Kapitel.<br />
V. 24. Gegen<strong>über</strong> dem, der die Auferstehung selbst war, hält sie sich an einen Lehrsatz der Kirche.<br />
V. 25. Marthas Glaube erschrak vor dem Gedanken, Jesus werde ihren Bruder erwecken können;<br />
<strong>das</strong> traute sie dem Herrn doch nicht zu <strong>und</strong> ihr Glaube glitt von Christo ab <strong>und</strong> suchte einen Halt im<br />
Dogma <strong>und</strong> allgemeinen Glauben von der Auferstehung am jüngsten Tage. Jesus aber ruft ihren<br />
Glauben vom Dogma zurück an seine Person: Ἐγώ εἰμι ἡ ἀνάστασις. Denn allein in Ihm hat doch<br />
die Auferstehung ihre Wahrheit, <strong>und</strong> allein der Glaube an Ihn ist’s, der einen Menschen zum Leben<br />
behalten kann.<br />
V. 27. πεπίστευκα sie bekennt ihren Glauben an Jesum; <strong>das</strong> Perfekt schließt <strong>das</strong> Präsens ein, aber<br />
in diesem Augenblicke fürchtet sie sich, dieses Glaubens äußerste Konsequenzen zu ziehen, es wird<br />
ihr unheimlich, sie ruft die Schwester herbei. cf. c. 5,24; 6,40; 8,52.<br />
V. 28. λάθρᾳ wohl nicht so sehr eine vertrauliche Begegnung wünschend, wie Tholuck meint, als<br />
weil sie fühlt, <strong>das</strong>s die Ankunft Jesu nicht recht passt in <strong>das</strong> ganze Trauergepränge. – Maria<br />
ἐγείρεται, erhebt sich, indem sie sich zugleich geistig erweckt aus ihrem stummen Schmerz.<br />
V. 30. Jesus zieht langsam in Ruhe <strong>und</strong> Hoheit seinen Weg – seines Vaters gewiss.<br />
V. 31. Die Orientalen besuchen noch jetzt wiederholt <strong>das</strong> Grab der Ihrigen; Niebuhr Reise nach<br />
Arabien I p. 186; im Talmud heißt es, <strong>das</strong>s man 3 Tage <strong>das</strong> Grab des Verstorbenen besuche. cf. Geier<br />
de luctu Hebraeorum c. 7 § 21.<br />
Die Juden wissen selbstverständlich auch von nichts als von Grab <strong>und</strong> Tränen.<br />
V. 32. εἰς gegen <strong>und</strong> gleichsam zwischen die Füße. ἀπέθανε Aor., oben Plusqperf. Wieder ein<br />
Vorwurf gegen den Herrn <strong>und</strong> keine Ahnung, <strong>das</strong>s Gott in diesem Sterben war. Cicero in Verrem V,<br />
39. Mihi obviam venit et ita me suam salutem appellans – filii nomen implorans mihi ad pedes misera<br />
iacuit, quasi ego excitare filium eius ab inferis possem.<br />
V. 33. Welcher Art war die Gemütsbewegung Jesu? Das Wort ἐμβριμάομαι verwandt mit βρέμω,<br />
φριμάω lat. fremo wird gesagt von innerem heftigem Aufwallen <strong>und</strong> Aufbrausen, welches sich in<br />
dumpfen Tönen Luft macht. Der Scholiast zu Aristoph. equit. 851 erklärt βριμᾶθαι durch<br />
ὀργίζεσθαι καὶ ἀπελεῖν; so alle alten <strong>und</strong> neuen Lexikographen, <strong>und</strong> die LXX hat <strong>das</strong> Wort für <strong>das</strong><br />
hebr. זעף, נעם u. dergl. cf. Wetstein zu Mt. 9,30. Kypke zu Mk. 14,5. – τῷ πνεύμαι cf. V. 38. Mk.<br />
8,12. Diese innere Aufwallung wurde so stark, <strong>das</strong>s Jesus ἐτάραξεν ἑαυτον – was Euthym. erklärt,<br />
διέσεισε, συμβαίνει γὰρ τινάσσεσθαι τὰ ἀνωτέρω μέρη τῶν οὕτως ἐμβριμωμένων. Es ist seltsam,<br />
<strong>das</strong>s nachdem Tholuck <strong>und</strong> Lücke diese unzweifelhafte Bedeutung des ἐμβριμάομαι selbst festgestellt<br />
haben, sie dennoch behaupten, <strong>das</strong> Wort könne hier eine andere Bedeutung haben, „vom<br />
Schmerz bewegt werden“, welche es weder irgendwo hat, noch haben kann, so <strong>das</strong>s Strauß <strong>und</strong><br />
Fritzsche hier gewonnen Spiel haben, wenn sie die einzig richtige Bedeutung urgieren. Die meisten<br />
Exegeten nach ihrer Vorstellung von Jesu können es sich nicht anders denken, als er müsse vom<br />
Schmerz ergriffen worden sein entweder <strong>über</strong> <strong>das</strong> allgemeine menschliche Leid <strong>und</strong> Schicksal (August.,<br />
Calvin, Olsh.), oder <strong>über</strong> den Todesfall des Lazarus selbst (Tholuck), oder endlich den Verlust<br />
der Schwestern (de Wette). Ganz im Gegensatz erklären die Kirchenväter, indem sie sich <strong>das</strong> Göttliche<br />
als Negation des Menschlichen denken <strong>und</strong> Christo ἀπάθεια zuschreiben, Jesus habe nach seiner<br />
göttlichen Natur den in ihm aufsteigenden Affekt bedroht <strong>und</strong> in diesem inneren Kampf sich geschüttelt.<br />
– Richtig erklärt Lampe, <strong>das</strong>s Jesus ergrimmte <strong>über</strong> den Unglauben der Schwestern wie<br />
der Juden, <strong>und</strong> so gewiss die Gerechtigkeit aus dem Glauben ist, ist der Unglaube die Erzsünde <strong>und</strong><br />
aller Sünden Quelle. – Die innere heftige Erschütterung macht sich bei Jesu in Tränen Luft. cf. c.<br />
12,27; 13,21; 14,1.27. Gen. 43,30.
11. Kapitel. 129<br />
V. 36. Die Juden in menschlicher Befangenheit <strong>und</strong> Blindheit haben keine Ahnung von dem, was<br />
sich in Jesu bewegte.<br />
V. 37. Die Lästerer verstehen mehr von dem, was hier der Ehre Gottes entsprach.<br />
V. 38. Die reicheren Morgenländer hatten die Gräber in den Felsen gehauen; σπήλαιον bezeichnet<br />
eine solche Felsengrotte. Dieselben gingen entweder horizontal in den Berg oder Felsen hinein,<br />
oder man stieg auf Stufen in sie hinab. Der λίθος war also entweder an- oder aufgelegt; Beides kann<br />
ἐπέκειτο bezeichnen. Gewöhnlich waren die Totenkammern ziemlich geräumig <strong>und</strong> für mehrere<br />
Särge bestimmt; die letzteren standen meist an den Seiten in Nischen. Der Stein wurde ,גולל die einzelnen<br />
Grabnischen כוכין genannt; wenn der Stein vorgewälzt war, wurde <strong>das</strong> Grab so leicht nicht<br />
wieder geöffnet. Ganz Judäa ist voll solcher Felsengräber; besonders am Ölberg waren ihrer unzählige.<br />
τεταρταῖος cf. V. 17. Echt griechischer Ausdruck. Die Verwesung, welche am 3. Tage eintritt,<br />
hatte also schon begonnen nach Marthas Vermuten. Am 3. Tage ändere sich, so glaubte man, aspectus<br />
vultus; bis dahin flattere die Seele um den Leichnam, ob sie zurückkehren könne. Die Klage des<br />
3. Tages sei die größte. – Martha glaubt bei allem Glauben an den Messias doch nichts, sondern<br />
zeigt sich ganz als vom Tode umfangen. Wieder die volle Wahrheit der Geschichte.<br />
V. 41.42. ἤκουσας. Hieraus geht deutlich hervor, <strong>das</strong>s Jesus zuvor es vom Vater erfleht hatte,<br />
<strong>das</strong>s Lazarus auferstehe. Jesus weiß, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Gebet erhört ist, <strong>und</strong> dankt deshalb dem Vater, nicht<br />
aber für seine Person, als ob sein Glaube an den Vater solches Zeichens bedurft hätte – sondern διὰ<br />
τὸν ὄχλον etc. Das εἶπον bezieht sich auf <strong>das</strong> εὐχατιστῶ σοι oder <strong>das</strong> von Anfang Gesagte, Lazarus<br />
werde auferstehen. Der Herr bleibt unerschütterlich in seinem Glauben an seinen Vater, in seiner<br />
Liebe zu seinen Jüngern.<br />
V. 43. Als <strong>das</strong> allmächtige Wort, welches Himmel <strong>und</strong> Erde geschaffen, steht der Herr hier da:<br />
eine neue Schöpfung hervorrufend eben durch <strong>das</strong> Wort. Ganz der ewige Logos in diesem feierlichen<br />
Augenblick.<br />
V. 44. κειρίαι bezeichnen nach dem Etymolog. τὰ σχοίνια τὰ ἐντάρια. Auch die Binden, womit<br />
die Kinder umwickelt werden, heißen so. Apuleius erzählt von einem Vater, der seinen scheintoten<br />
Sohn wieder empfing, wobei er sagt: atque ut erat adhuc feralibus amiculis instrictus atque obditus,<br />
deportatur ad indicium puer. Der Tote wurde zuerst abgewaschen, dann in ein Leinentuch gehüllt<br />
<strong>und</strong> mit Binden an Händen <strong>und</strong> Füßen – bei den Ägyptern sogar an den einzelnen Fingern – umwickelt,<br />
was auch bei den Griechen üblich war <strong>und</strong> wahrscheinlich den Körper länger vor dem Zerfallen<br />
bewahren <strong>und</strong> die zwischengelegten aromata erhalten sollte. Über den Kopf hing ein<br />
σουδάριον oft bis zur Brust hinunter. cf. Midrasch Tillin XVI, 2. Jahn, Archäol. Bd. 2 p. 425. Über<br />
σουδάριον siehe Paulus zu der Stelle. ὄψις ist hier zunächst <strong>das</strong> Auge, daher die Stirn, Gesicht, Antlitz.<br />
LXX Jer. 3,3. Tob. 14,1. Apoc. 1,16. – Das Gesicht wurde wohl verhüllt, weil es durch den Tod<br />
so schnell entstellt wird.<br />
Die κειρίαι heißen 19,40 ὀθόνια.<br />
Basilius, Lampe u. A. sehen auch darin ein W<strong>und</strong>er, <strong>das</strong>s der Geb<strong>und</strong>ene habe gehen können;<br />
aber dies ist irrtümlich. Eben weil er fest eingewickelt nicht gut gehen konnte, lässt Jesus ihn lösen.<br />
Die ganze Geschichte trägt in dem grellen Widereinander des harten Unglaubens <strong>und</strong> des blinden<br />
naiv kindischen Benehmens der Menschen <strong>und</strong> der Herrlichkeit Gottes in Christo den vollem Stempel<br />
der Wahrheit.
130 11. Kapitel.<br />
V. 47-57.<br />
Im Synedrium wird auf den Vorschlag des Hohenpriesters Kaiphas der Rat gefasst, Jesum zu töten.<br />
V. 47 f. ὅτι sc. es muss etwas geschehen, denn. – ὁ τόπος deuten Einige vom Tempel (Act. 6,13;<br />
11,28; 2. Makk. 5,19), Andere von Jerusalem, noch Andere vom ganzen Lande. Mit τὸ ἔθνος verb<strong>und</strong>en<br />
bezeichnet es aber <strong>das</strong>selbe wie unser „Land <strong>und</strong> Leute“. Das Synedrium als oberste Behörde<br />
schrieb sich die Herrschaft <strong>über</strong> <strong>das</strong> Land <strong>und</strong> Volk zu. Würde nun <strong>das</strong> Volk tumultuarisch erregt<br />
werden <strong>und</strong> sich um den Messias sammeln, so fürchteten sie, würden die Römer davon Anlass nehmen,<br />
die gesamte Herrschaft an sich zu nehmen. Sie selbst glaubten es in ihrer Klugheit zu verstehen,<br />
<strong>das</strong> Schiff zu steuern; <strong>das</strong> Königtum Christi kannten sie nicht.<br />
V. 49. Kaiphas war Hohepriester vom Jahr 25-36. Da damals die hohepriesterliche Würde<br />
manchmal schnell wechselte, so waren oft Mehrere, die den Titel führten. Der Name ἀρχιερεῖς war<br />
<strong>über</strong>haupt allgemeiner. ἐνιαυτός ἐκεῖνος heißt nicht etwa, <strong>das</strong>s die Würde nur für dieses Jahr gegolten<br />
hätte – sondern gerade dieses Jahr des Todes Christi kommt dem Evangelisten allein aus seiner<br />
übrigens vieljährigen Amtsführung in Betracht.<br />
V. 50.51. Es ist viel die Frage verhandelt worden, in welchem Sinne gesagt werden könne, Kaiphas<br />
habe etwas geweissagt, was, wie Joh. es erklärt, so von Jenem nicht gemeint war. – In welchem<br />
Sinne nun Kaiphas die Worte gesagt, <strong>das</strong> beachtet Joh. nicht; auch Petrus sagt, wider ihren<br />
Willen hätten die Obern der Juden an Christo den Willen des Vaters <strong>und</strong> <strong>das</strong> Wort aller Propheten<br />
erfüllt <strong>und</strong> so hat auch der Hohepriester, eben weil er Hohepriester war, wider Wissen <strong>und</strong> Willen<br />
dennoch <strong>das</strong> aussprechen müssen, was eigentlich die Ursache <strong>und</strong> der Zweck des Todes Jesu war.<br />
Eph. 2,13.<br />
διασκορπίζω von einer auseinander getriebenen verstreuten Herde gebraucht.<br />
Zu V. 51 vergl. Mt. 26,28. Mk. 14,24. Lk. 22,20.<br />
V. 54. Ἐφραίμ lag nach Euseb. <strong>und</strong> Hieron. nördlich von Jerusalem, näher nach Lightfoots gelehrter<br />
Untersuchung (disquis. chorographica zu Jos. VII, 1) östlich von Bethel in wüster Gegend. –<br />
2. Chron. 13,19. Jos. de b. j. 4, 9. 9. Stelle des Talmud bei Wetstein, wo Ephraim mit Michmasch<br />
zusammengenannt ist.<br />
V. 55. ἐκ τῆς χώρας aus der Landschaft. – Num. 9,10 ff. 2. Chron. 30,17.<br />
V. 56. ὅτι οὐ μὴ ἔλθῃ nicht als Praet. „<strong>das</strong>s er noch nicht gekommen ist,“ sondern als Fut. „ob er<br />
gar nicht wird gekommen sein.“<br />
12. Kapitel.<br />
Die Salbung Jesu durch Maria in Bethanien.<br />
(Vergl. den Commentar von Wichelhaus zur Leidensgesch. S. 60 ff.)<br />
V. 1-8.<br />
Jesus kam wie aus den synoptischen Berichten erhellt, von Jericho her; der Weg von Jericho<br />
nach Jerusalem führte aber <strong>über</strong> Bethanien.<br />
πρὸ ἕξ ἡμερῶν τοῦ πάσχα sechs Tage vor dem Pascha; eine Zeitbestimmung wie c. 11,18 ähnlich<br />
eine Ortsbestimmung. In beiderlei Fällen ist diese Stellung der Präposition, welche man vielfach als<br />
Trajektion betrachtet, bei Späteren ziemlich häufig. Winer p. 641. Das „vor 6 Tagen“ wurde gleich-
12. Kapitel. 131<br />
sam eine feste Bezeichnung, welcher dann die Bestimmung des Zeitpunktes, mit Bezug auf den diese<br />
Tage gezählt waren, im Genitiv beigesetzt wurde. – Da Johannes <strong>über</strong>all eine Sachordnung verfolgt<br />
<strong>und</strong> in unserem Kap. von V. 1-11 erzählt, was im Jüngerkreise in Bethanien vorgegangen ist<br />
<strong>und</strong> V. 12-36 was vor allem Volk in Jerusalem, gibt er mit der Zeitbestimmung nur allgemein an,<br />
<strong>das</strong>s Jesus sechs Tage vor dem Pascha in Bethanien angekommen ist, <strong>und</strong> schließt daran eine Erzählung,<br />
was sich im Lauf dieser Tage in Bethanien zutrug. Die Salbung fällt auf den zweiten Tag vor<br />
dem Pascha, wie die Synoptiker richtig bemerken. Jesus kam Freitag Abend spät in Bethanien an,<br />
ruhte am Sabbat bei den Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> zog dann am folgenden Tage in Jerusalem ein. Am Dienstag<br />
Abend machten ihm seine Fre<strong>und</strong>e in Bethanien ein Mahl: Da es eine feierliche Mahlzeit ist, konnte<br />
der Tag, wie es nach Joh. nur scheint, kein Sabbat sein.<br />
V. 2. ἐποίησαν. Das Gastmahl war nach Mt. 26,6 <strong>und</strong> Mk. 14,3, welche Erzählung ohne Zweifel<br />
mit der unsrigen identisch ist – im Hause Simons des Aussätzigen; <strong>das</strong>s es nicht im Hause des Lazarus<br />
war, geht auch daraus hervor, <strong>das</strong>s dieser als Gast bezeichnet wird. Die Martha ließ es sich nicht<br />
nehmen, bei diesem Mahl zu διακονεῖν. cf. Lk. 10,40. – Ganz irrig ist Schleiermachers Ansicht, es<br />
sei diese Geschichte nicht bloß mit Mt. 26 identisch, sondern auch mit der Mahlzeit im Hause des<br />
Pharisäers Simon, wo eine Sünderin Christo mit ihren Tränen die Füße netzte. Lk. 7,36-50.<br />
V. 3. Maria hatte aufgehoben eine λίτρα d. i. 12 Unzen kostbaren Nardenöls, welches sie in einem<br />
ἀλάβαστρον verschlossen hielt. Alabaster auch im Latein. <strong>das</strong> Ölgefäß. ἀλάβαστρον ist ein fasriger<br />
Kalkstein, von unserm Alabaster verschieden. Nach der Form dieser Salbenbüchsen nennt Plinius<br />
die Kelche der noch nicht geöffneten Rosen alabastros. Mit diesem kam sie, zerbrach <strong>das</strong>selbe<br />
<strong>über</strong> des Herrn Haupt, goss es aus (κατέχειν) nach Markus, <strong>und</strong> salbte (ἤλειψε) damit des Herrn<br />
Füße. Da die Schwestern Jesum diesmal nicht bei sich selbst beherbergten, so wollten sie es sich<br />
doch nicht nehmen lassen, ihm ihre Liebe k<strong>und</strong>zutun; nun galt es aber als Beweis der Achtung <strong>und</strong><br />
Fre<strong>und</strong>schaft, einem Gast beim Mahle <strong>das</strong> Haupt salben zu lassen – ein außerordentlicher <strong>und</strong> allerhöchster<br />
Ehrenbeweis aber war es, gar die Füße nicht bloß zu waschen, sondern zu salben, weshalb<br />
auch Joh. τούς πόδας zweimal setzt. cf. Stuckius, antiqq. convivales 3, 15. Lightfoot zu Mt. 26,7<br />
<strong>und</strong> Lk. 7,44. – Zudem war es für eine ehrbare Jungfrau nur möglich im Drange äußerster Hingebung,<br />
sich <strong>über</strong> <strong>das</strong> der Sitte nach Anstößige <strong>und</strong> Niedrige eines solchen Dienstes hinwegzusetzen;<br />
namentlich die Haare zu lösen <strong>und</strong> mit denselben die Füße zu trocknen, konnte nach der Sitte nur<br />
durch den Augenblick großer Gemütsbewegung <strong>und</strong> innerer Auflösung in Schmerz, Dank oder Hingebung<br />
entschuldigt werden.<br />
μύρον wahrscheinlich ein orientalisches Wort מ ©ר) Myrrhe) ist jeder ausfließende <strong>und</strong> ausgedrückte<br />
Pflanzensaft; wohlriechendes Öl. Dieses wird näher bezeichnet als νάρδος hebr. נרד die kostbarste<br />
Species. Der Nardenstrauch, in Indien <strong>und</strong> Syrien einheimisch, ist von dicker Wurzel, kleinen Blättern<br />
<strong>und</strong> läuft oben in Ähren aus (spica nardi), welche ausgepresst <strong>das</strong> Öl geben. Die Narde wurde<br />
pf<strong>und</strong>weise verkauft, vielfach gemischt mit falscher Narde (ein ähnlicher aber viel größerer<br />
Strauch), auch mit andern Substanzen als Gummi u. dergl., um <strong>das</strong> Gewicht zu mehren. Sincerum<br />
oleum nardi – sagt Plinius H. N. 12, 12 levitate deprehenditur, et colore rufo odorisque suavitate et<br />
gustu maxime siccante os, sapore iuc<strong>und</strong>o.<br />
πιστικός nach Bedeutung <strong>und</strong> Ableitung sehr streitig. Bei den Klassikern kommt es vor abgeleitet<br />
von πιστός im Sinne von zuverlässig, treu, sorgsam, bewährt; <strong>und</strong> ohne Zweifel ist <strong>das</strong> Wort,<br />
wenn auch anderswoher als terminus technicus der echten Narde nicht bekannt, hier eben <strong>das</strong>selbe<br />
wie bei Plinius: oleum sincerum, wie es die griechischen Väter erklären: ἄκρατον, ἄδολον, ματὰ<br />
πίστεως κατασκευασθέν. Eine andere Ableitung von Casaubonus, H. Stephanus, Beza ist jüngst besonders<br />
von Fritzsche (zu Markus <strong>und</strong> in der Hall. Lit.-Ztg. gegen Bretschneider) durchgeführt wor-
132 12. Kapitel.<br />
den; πιστικός von πίνω trinkbar, potabilis. Allerdings nun wird die νάρδος λεπτὴ ὑγρά besonders<br />
gerühmt, auch mag die Narde trinkbar gewesen sein, aber dies Prädikat wäre immer ein seltsames,<br />
keineswegs charakteristisches <strong>und</strong> außerdem kommt πιστικός Adjektiv von πίνω nirgends vor. –<br />
Andere Ableitungen oder versuchte Emendationen = ὀπιστικός (nach einer Stadt) oder πτιστικός<br />
(πτίσσω cont<strong>und</strong>o) etc. etc. siehe bei Lampe.<br />
πολύτιμος. cf. V. 5. Sie wird von Ju<strong>das</strong> auf 300 Denare, d. i. 60 Taler Wert geschätzt.<br />
ἐκ τῆς ὀσμῆς genauer als der bloße Genitiv. V. 6. γλωσσόκομον ursprünglich Behälter, <strong>das</strong> Flötenm<strong>und</strong>stück<br />
aufzubewahren; sodann Kiste, Cistella <strong>über</strong>haupt. Ju<strong>das</strong> hatte die gemeinschaftliche<br />
Kasse, welche nach Lk. 8,3 durch mildtätige Gaben unterhalten wurde, woraus die Bedürfnisse Jesu<br />
<strong>und</strong> der Jünger bestritten wurden; Ju<strong>das</strong> hatte ohne Zweifel auch <strong>das</strong> unter Händen, was für die Armen<br />
bei Seite gelegt wurde.<br />
βαστάζω ist nach Theophylacts Vorgang von den meisten <strong>Neue</strong>ren durch „wegtragen, stehlen“<br />
<strong>über</strong>setzt worden. cf. Joh. 20,15. Allein die Bedeutung clam auferre, entwenden ist trotz aller Zitate<br />
von Kypke, Wolf, Elsner u. A. (besonders aus Josephus) nicht erwiesen; <strong>und</strong> deshalb die gewöhnliche<br />
Bedeutung tragen, unter Händen haben – beizubehalten.<br />
V. 7. τετήρηκεν – aus Missverstand der ἡμέρα ἐνταφιασμοῦ ist eine andere Lesart ἵνα τηρήσῃ<br />
(Lachmann) entstanden, als ob die Salbe noch aufbewahrt werden solle für den Tag des Begräbnisses.<br />
Bei Markus heißt es: προέλαβεν μυρίσαι τὸ σῶμά μου εἰς τὸν ἐνταφιασμόν. Maria hat nicht<br />
selbst diesen Gedanken gehegt, da sie Jesum salbte, sie mochte nur von dem tiefen Gefühl der eignen<br />
Unwürdigkeit <strong>und</strong> des Unglaubens durchdrungen sein; Jesus aber, der seinen nahen Tod vor<br />
Augen hat, weiß sie sehr fein gegen die Anschuldigung des Ju<strong>das</strong> nicht bloß, sondern aller Jünger in<br />
Schutz zu nehmen; denn <strong>das</strong> würde doch Niemand für Luxus, sondern vielmehr für eine heilige<br />
Pflicht der Liebe gehalten haben, ihn, wenn er gestorben, einzubalsamieren.<br />
V. 8. Diese Stelle dient dazu, wahre gute Werke unterscheiden zu lernen von dem, was man gewöhnlich<br />
gute Werke nennt. Die ersteren, Werke aufrichtiger Liebe, Anerkennung <strong>und</strong> Hingebung<br />
werden allezeit verkannt.<br />
V. 9-11.<br />
Da viele Juden des Lazarus wegen an Jesum glauben, so fassen die ἀρχιερεῖς den Beschluss,<br />
auch diesen zu töten.<br />
V. 12-19. Jesu Königseinzug in Jerusalem.<br />
V. 12. Schwierig ist es, die chronologische Folge der Begebenheiten genau zu bestimmen. Nach<br />
den Synoptikern scheint es, als wäre Jesus direkt von Jericho kommend <strong>über</strong> Bethanien <strong>und</strong> Bethphage<br />
in Jerusalem eingezogen. Auch erzählt Matth. den Einzug in Jerusalem schon c. 21, die Salbung<br />
dagegen erst c. 26. Ebenso Markus. Wahrscheinlich ist Jesus von Ephraim kommend durch Jericho<br />
durchgezogen, in Bethanien am Freitag angekommen <strong>und</strong> bis zum Sonntag dort geblieben.<br />
Die Synoptiker erzählen von dem Aufenthalt in Bethanien nichts; Bethanien galt in ihrem Bericht<br />
nur als Zwischenstation auf dem Wege nach Jerusalem. Das τῇ ἐπαύριον wird gewöhnlich vom<br />
Sonntag dem 10. Nisan verstanden, der dominica palmarum. In den folgenden Tagen kam Jesus täglich<br />
nach Jerusalem hinein, blieb aber die Nacht meist in Bethanien. Einen doppelten Einzug in Jerusalem<br />
anzunehmen, kann nur als eine verfehlte Aushilfe betrachtet werden. Nach Mk. 11,11 erfolgte<br />
am Tage nach dem Einzug, welcher spät abends stattfand, die Reinigung des Tempels: Joh. 2.
12. Kapitel. 133<br />
V. 13. τὰ βαΐα (βαΐον = βάϊς) sind die Zweige von Palmen, wie sie auch die Sieger zu tragen<br />
pflegten. Der Artikel steht, da gerade die Palmzweige dazu üblich waren, mit ihnen <strong>und</strong> auf den<br />
Weg ausgebreiteten Kleidern Könige <strong>und</strong> Sieger zu empfangen. 1. Makk. 13,51. 2. Makk. 10,7. Die<br />
Palmzweige sind Bild des Sieges <strong>und</strong> der Herrschaft des Friedens. Die Umgegend von Jerusalem,<br />
hier der Abhang des Ölberges, war reich an Palmen-, Oliven- <strong>und</strong> Feigenbäumen. Robinson erzählt<br />
von einem ganz ähnlichen Empfange, der jüngst zwischen Bethlehem <strong>und</strong> Jerusalem vorgefallen<br />
war. cf. Herod. VII, 54. Targum Esther 6,11: Als Mardochai aus dem Tore des Königs zog, waren<br />
die Straßen mit Myrthen bedeckt <strong>und</strong> die Vorhöfe mit Purpur. – Die gesungene Stelle ist genommen<br />
aus Ps. 118,25.26; sie wurde am Laubhüttenfeste beim Umgehen des Altars, so wie auch beim<br />
großen Hallel des Pascha gesungen – war also eine dem Volk sehr geläufige Doxologie, allgemein<br />
verstanden vom Messias. cf. Mt. 21,42. Act. 4,11. – Parallelen Mt. 21,9. Mk. 11,9.10. Lk. 19,38.<br />
Siehe Grotius <strong>und</strong> Lightfoot zu Mt. 21. Ὡσαννά hebr. נœא .הוש¤יעœה Dass der ganze Psalm, worin sich<br />
kurz vorher die Stelle vom Stein, der von den Bauleuten verworfen, findet, messianisch gedeutet<br />
wurde, sagt Hieron., <strong>und</strong> Kimchi; Jarchi u. A. bestätigen es.<br />
V. 14. ὀνάριον ein Eselsfüllen. Die genauere Beschreibung bei den Synoptikern.<br />
V. 15. Zach. 9,9 eine allgemein vom Messias verstandene Stelle. cf. Rosenm. Schol. ad 1.<br />
V. 16. Joh. will hier nicht etwa sagen, die Jünger hätten zuvor diese Stelle nicht vom Messias gedeutet,<br />
sondern er gesteht hier mit größter Einfalt <strong>und</strong> Aufrichtigkeit, den Zusammenhang von<br />
Weissagung <strong>und</strong> Erfüllung hätten sie vordem nicht verstanden, da sie nicht Auge <strong>und</strong> Mut gehabt,<br />
von dem Jesus, mit dem sie verkehrten, es sich zu denken, <strong>das</strong>s Alles in der Schrift ἐπ᾽ αὐτῷ, in Bezug<br />
auf eben diesen geschrieben <strong>und</strong> nur deshalb auch dieses Faktum mit ihm geschehen sei.<br />
V. 20-36. Jesu Rede von dem Weg zur Herrlichkeit.<br />
V. 20. Ἕλληνες Griechen im Gegensatz gegen die Ἰουδαίοι, doch Solche, welche zu den<br />
ἀναβαίνοντες gehörten, also Proselyten, was Fritzsche irrig leugnen will.<br />
V. 22. Lücke fragt, warum Philippus erst zu Andreas gegangen? Die Antwort ist, weil er sich<br />
nicht recht getraute, solch Begehr vor den Herrn zu bringen.<br />
V. 23. Fast sämtliche Exegeten haben diese Stelle dahin missverstanden, als sei die sciscitatio<br />
Graecorum praeludium instantis gloriae gewesen. Bei dieser Erklärung ist in keiner Weise abzusehen,<br />
wie auch die gezwungenen Deutungen von Tholuck, Lücke u. A. zeigen, warum dann im Folgenden<br />
Jesus lediglich vom Tod spricht als dem einzigen Weg zur Herrlichkeit. Es musste vielmehr<br />
für Jesum unerträglich sein, <strong>das</strong>s er als eine Sehenswürdigkeit nach Menschenart betrachtet wurde;<br />
deshalb sagt er, mit all dieser Verkennung von Seiten der Menschen werde es nun ein Ende haben,<br />
denn es sei die St<strong>und</strong>e seines Todes da, da werde er παρὰ θεῷ, da werde er πνεύματι verherrlicht<br />
werden. Deshalb sagt Jesus V. 24 im Bilde des Weizenkorns, <strong>das</strong>s er bis jetzt sich μόνος, von Niemand<br />
verstanden fühle, aber durch seinen Tod werde er sich eine Gemeinde schaffen; er knüpft daran<br />
V. 25 <strong>und</strong> 26 <strong>das</strong> Gr<strong>und</strong>gesetz seines Reichs, <strong>das</strong>s Jemand in dieser Welt Ehre, Leben, Genuss,<br />
Herrlichkeit, ja die eigene Seele hassen müsse, um zu einem ewigen Leben sie zu erhalten.<br />
V. 24. Eine Parallele des Bildes bei Tholuck, Blütensammlung morgenländischer Mystik.<br />
V. 25. Mt. 16,25. Lk. 9,25; 17,33. cf. <strong>das</strong> griech. φιλοψυχεῖν bei Wetstein. – μισεῖν Lk. 14,26.<br />
V. 27. Jesus, den Sieg vor Augen – ist doch im Kampfe selbst aufs tiefste erschüttert. Der Tod ist<br />
der Weg zur Herrlichkeit – aber der Weg selbst ist ein schrecklicher Zustand des Leidens. Die Worte<br />
πάτερ σῶσόν με werden entweder mit dem Vorigen so verb<strong>und</strong>en: Soll ich etwa diese Bitte aussprechen?<br />
so <strong>das</strong>s sich die Frage damit fortsetzt (so Theoph., Grot., Tholuck), oder sie werden als wirk-
134 12. Kapitel.<br />
liches Gebet gefasst: Vater, rette mich aus dieser St<strong>und</strong>e! – So die meisten Älteren, auch de Wette<br />
<strong>und</strong> Lücke. Das Letztere ist <strong>das</strong> Richtige: V. 28 enthält die Antwort auf dies Gebet.<br />
Sehr verschieden ist <strong>das</strong> διὰ τοῦτο erklärt; de Wette: um zu sterben; Olsh. <strong>und</strong> Thol.: um die<br />
Menschen zu erlösen; Meyer <strong>und</strong> Lücke: um verherrlicht zu werden. Das Richtige ist einfach aus<br />
dem Zusammenhang zu nehmen: Eben deshalb, um diesen Kampf des Glaubens auszukämpfen, bin<br />
ich in diese St<strong>und</strong>e gekommen. Ebenso bei dem Gebet in Gethsemane: Ist’s möglich, so gehe dieser<br />
Kelch an mir vor<strong>über</strong>, aber nicht mein, sondern Dein Wille geschehe. – Das πάτερ mit Nachdruck.<br />
Deshalb nimmt auch Jesus ganz willig Alles <strong>über</strong> sich, nicht <strong>das</strong>s er, sondern <strong>das</strong>s der Name des Vaters<br />
verherrlicht sei inmitten der Welt <strong>und</strong> aller Schrecken des Todes.<br />
V. 28-30. Von Jesu <strong>und</strong> den Jüngern, nicht aber vom Volk wurden die Worte der himmlischen<br />
Stimme verstanden. Ganz ebenso Act. 9,7; 22,9. Es liegt in der Natur der himmlischen Stimme<br />
selbst, <strong>das</strong>s sie nur von denen verstanden wird, denen sie gilt, ebenso wie auch die Predigt Christi in<br />
den Ohren der Menge nur ein dumpfer Donner oder eine fremdartige Engelstimme war, während<br />
<strong>das</strong> Wort selbst bei ihnen nicht Raum fand. – Die seit Grotius übliche Form des rabbin. בÚת־קול als<br />
die innere Deutung eines physisch hörbaren aber unartikulierten Schalles, z. B. des Donners, ist mit<br />
<strong>Recht</strong> von Tholuck zurückgewiesen, <strong>das</strong> בת־קול bezeichnet eine wirkliche Stimme. cf. Lubkert, Etwas<br />
<strong>über</strong> Bath-Kol: Stud. u. Kr. 1835, 3 H.<br />
V. 31. cf. Lk. 10,18. Das ἐκβληθήσεται ἔξω soll nach Olsh. (cf. Apoc. 12,9-12) bedeuten „aus<br />
dem Himmel.“ Andere erklären „aus der Welt“ oder „aus der Herrschaft.“ Am einfachsten: da heraus,<br />
wo er sich hineingedrängt hat <strong>und</strong> Herr ist.<br />
V. 32. ὐψωθῶ nach V. 33 von der Kreuzigung zu verstehen. cf. Röm. 6. Dies die Verherrlichung,<br />
wovon V. 28 die Rede.<br />
V. 34. Dass der Messias ewiglich bleiben werde, entnahm man aus Jes. 9,7. Dan. 7,14 etc.<br />
ἠκούσαμεν (Mt. 5,21) aus dem Gesetz – wie es in den Schulen erklärt wurde.<br />
V. 35. ἐν ὑμῖν unter euch.<br />
V. 36. υἱοὶ φωτός Lk. 16,8. Auf die Frage der Juden geht Jesus nicht ein; gibt aber ihnen zu verstehen,<br />
<strong>das</strong>s für sie eine Begrenzung der Zeit, <strong>und</strong> es eben jetzt noch an dem sei, durch den Glauben<br />
an ihn Kinder des <strong>Licht</strong>s zu werden – so würden sie durch die St<strong>und</strong>e der Finsternis wohl hinaufkommen<br />
zum ewigen <strong>Licht</strong>.<br />
V. 37-50. Schluss der öffentlichen Lehrtätigkeit Jesu vor dem Volk.<br />
Mit dem 12. Kap. schließt der erste Hauptteil des Evangeliums. Nachdem der Apostel in dem<br />
Prolog die Gr<strong>und</strong>linien der Geschichte Christi, des Worts, welches Fleisch geworden – gegeben –<br />
hatte er sodann Kap. I des Messiä Ankündigung <strong>und</strong> die Bildung der ersten Gemeinschaft der Jünger<br />
um ihn beschrieben. Von da an hat nun Joh. fortwährend von Seiten Jesu die Entfaltung der<br />
δόξα in Tat <strong>und</strong> Wort im Auge – von Seiten der Menschen den Kampf der Finsternis gegen <strong>das</strong><br />
<strong>Licht</strong> dieser δόξα; c. 2 gibt eine doppelte φάνερωσις der δόξα; c. 3 eine Erklärung dessen, was in<br />
dem Worte Χριστός <strong>und</strong> υἱὸς τοῦ θεοῦa liegt im Gegensatz gegen alles <strong>das</strong>, was in der Welt ist. Inmitten<br />
nun aber einer Gott entfremdeten Welt geht Christus umher, <strong>das</strong> Wort verkündend <strong>und</strong> Wohltaten<br />
jeglicher Hilfe erweisend. c. 4. Sein Werk <strong>und</strong> Wort ist Heilung, Barmherzigkeit, Hilfe, Leben,<br />
wo rings um ihn Tod ist; aber eben deshalb fühlt die Welt mit ihm <strong>das</strong> Gericht kommen <strong>und</strong> entzieht<br />
sich seiner Stimme, welche die Toten zum Leben ruft. c. 5. Ob aber nicht verstanden, verkannt <strong>und</strong><br />
nur aus fleischlichen Rücksichten aufgesucht, predigt er es um so lauter, <strong>das</strong>s er Fleisch <strong>und</strong> Blut<br />
deshalb angenommen, um durch sein Kommen, ja zuletzt durch die Hingabe seines Lebens in den
12. Kapitel. 135<br />
Tod einer verlorenen Menschheit <strong>das</strong> zu geben, was er selbst sei: <strong>das</strong> Leben, die Gnade, die Herrlichkeit,<br />
die Versöhnung mit Gott in Ihm. c. 6. Was ist aber sein Tod anders als der Hingang zum<br />
Vater, als ein ὑψωθῆναι ἐκ τῆς γῆς, als seine Verherrlichung, ohne welche der Geist nicht kommen<br />
kann. Denn damit der Glaube an ihn völlig wisse, was er an ihm habe, muss er selbst <strong>und</strong> an ihm<br />
alle Welt offenbar werden, als <strong>das</strong>, was sie sind. c. 7. Er, der barmherzige Hohepriester, der Abgesandte<br />
des Vaters, der aus der Höhe, <strong>das</strong> einzige <strong>und</strong> völlige Heil derer, die an ihn glauben, der Sohn<br />
des Hauses, welcher von der Knechtschaft der Sünde frei macht – auf Erden aber Macht der Finsternis,<br />
der Lüge; <strong>und</strong> <strong>das</strong> ganze Volk Gottes ihm gegen<strong>über</strong> der Wahrheit feind <strong>und</strong> gegen den Sohn<br />
Gottes sich erbitternd, ihn zu töten aus Eifer um Gott. c. 8. Deshalb Er derjenige, der die Blinden<br />
sehend macht <strong>und</strong> den Verworfenen sich offenbart, an dessen Tat <strong>und</strong> Wort aber alle Eigenweisheit<br />
sich geradezu verblenden muss. c. 9. Aber auch Er allen blinden Leitern gegen<strong>über</strong> der einzig treue<br />
Hirte, der allmächtige Fürst <strong>und</strong> Behüter seiner Gemeinde. c. 10. Er inmitten von lauter Unglauben<br />
derjenige, der Sein Wort <strong>und</strong> des Vaters Ehre zum Siege führt <strong>und</strong> den Toten aus dem Grabe erweckt.<br />
Ob dann auch der Hohepriester selbst den Beschluss fassen lässt, den Fürsten des Lebens zu<br />
töten, so ist er doch gerade darin der Diener des Vorhabens Gottes zum Heil seiner Gemeinde. c. 11.<br />
So wird denn Er, der Gesalbte, nunmehr gesalbt zum Begräbnis; als der Friedenskönig zieht er ein<br />
zum Passah in Jerusalem, die St<strong>und</strong>e naht, <strong>das</strong>s er durch Tod <strong>und</strong> Leiden zur Herrlichkeit eingeht,<br />
der Fürst der Welt hinausgeworfen wird, <strong>und</strong> Jesus Alle durch den Tod mit sich hindurchzieht <strong>und</strong><br />
von der Erde heraufhebt zum Leben. Ist es freilich wahr, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Volk an ihn nicht geglaubt, so ist<br />
doch auch dieses der Schrift gemäß gewesen, <strong>und</strong> es ist lediglich die Wirkung der Herrlichkeit<br />
selbst, <strong>das</strong>s sie <strong>das</strong> unreine Auge blendet. Wer nicht glaubt, den richtet <strong>das</strong> Wort, <strong>das</strong> er verworfen:<br />
denn dieses Wort ist nach dem Willen <strong>und</strong> Gebot des Vaters <strong>das</strong> Leben dessen, der es glaubt. – So<br />
ist Gott gerechtfertigt, Jesus als der Christ erwiesen, als der, den der Vater gesandt hat, in dem alle<br />
Verheißungen erfüllt sind. c. 12.<br />
V. 38. Jes. 53,1. – cf. Röm. 10,16.<br />
V. 39. διὰ τοῦτο beziehen Luther, Grot., de W. u. A. auf <strong>das</strong> Vorhergehende: weil jene Weissagung<br />
sich erfüllen musste, konnten sie nicht, denn an einer andern Stelle sagt Jes. etc. Besser aber<br />
beziehen wir es auf <strong>das</strong> Folgende ὅτι – deshalb, weil.<br />
V. 40. Jes. 6,10. Beim Propheten steht statt τετύφλωκεν der Imperativ als Anrede an den Propheten;<br />
sofern aber der Prophet damit Gottes Willen vollziehen soll, ist es Gott selbst, der es tut – oder<br />
wie hier mit Bezug auf die Vergangenheit getan hat. cf. Röm. 11,7 f.<br />
V. 41. Jesaja schaute Jehovah, wie seine כœבוד den Tempel erfüllte, wie er also unter dem Volke<br />
Wohnung nahm. Deshalb sagt Joh., er habe von Christo geredet, in welchem Gott seine Herrlichkeit<br />
unter den Menschen hat offenbar werden lassen. Die δόξα selbst war die Macht, welche von dem<br />
Propheten, als er vor ihrer Herrlichkeit seiner Unreinheit inne wurde, diese hinwegnahm. Die δόξα<br />
Jesu ist, <strong>das</strong>s er als der allein Heilige gekommen ist Allen, die sich als Sünder vor ihm anerkennen,<br />
den Frieden <strong>und</strong> <strong>das</strong> Leben zu geben. Eben aber dieser Macht der Gnade wegen <strong>und</strong> weil sie Allen<br />
gilt, muss sich ihr gegen<strong>über</strong> der Mensch entscheiden, <strong>und</strong> wer sich ihr nicht unterwirft, der muss<br />
gerade an ihr sich verhärten <strong>und</strong> verblenden.<br />
V. 44-50. Die meisten neueren Exegeten nehmen diese Verse als eine Rekapitulation der Reden<br />
Jesu <strong>und</strong> <strong>über</strong>setzen die Aoriste als Plusquamperfecta. Es sind aber offenbar Worte Jesu selbst, welche<br />
er gerade in Bezug auf den Unglauben des Volks schließlich ausgesprochen hat. Wer sich vor<br />
dem großen Gott fürchtet, der schaue mich an, so wird er blicken in Gottes eignes Herz, ihn aus mir<br />
sehen, denn er spricht durch mich, dadurch <strong>das</strong>s ich unter euch bin, <strong>das</strong>s ich unter euch rede <strong>und</strong><br />
seine Werke tue.
136 12. Kapitel.<br />
ἔκραξε s. oben.<br />
V. 45. θεωρεῖν ist ein Schauen mit geöffneten Augen. c. 6,40.<br />
V. 46. cf. V. 35.<br />
V. 48. ἀθετεῖν von der Stelle, da Jemand steht, ihn herabsetzen, ihn also <strong>das</strong> nicht sein lassen,<br />
was <strong>und</strong> wo er ist.<br />
V. 50. Gottes Gebot ist der Menschen Seligkeit. Wer also Gottes, des treuen Vaters seiner Geschöpfe,<br />
Willen tun will – der nehme <strong>das</strong> Heil <strong>und</strong> Leben, welches er bereitet <strong>und</strong> gegeben hat.<br />
13.–16. Kapitel.<br />
Jesu letzte Reden vor seinen Jüngern. Die Passahfeier Jesu <strong>und</strong> der Todestag.<br />
(Vergl. den ausführlichen Commentar von Wichelhaus zur Leidensgeschichte, Halle 1855.)<br />
Das Passah wurde bei den Juden gegessen am 14. Nisan abends; der 15. Nisan galt als der erste<br />
Festtag, der aber eben mit jenem Abend begann <strong>und</strong> <strong>das</strong> Fest wurde sodann 7 Tage gefeiert. Ex.<br />
12,30. Num. 33,3. Es wurde ἑορτή τῶν ἀζύμων genannt, weil diese ganze Zeit hindurch nur Ungesäuertes<br />
genossen wurde. Die Synoptiker erzählen nun genau, wie Jesus <strong>das</strong> Passahlamm mit seinen<br />
Jüngern genossen habe Mt. 26,17.19.20. Mk. 14,12.16.17. Lk. 22,7.11.13, in der Nacht darauf verraten<br />
<strong>und</strong> am folgenden Tage, also dem 15. Nisan, gekreuzigt wurde. Am Sabbat lag er im Grabe<br />
<strong>und</strong> am Sonntag früh war die Auferstehung. Nun hat aber schon im Altertum sich die Meinung geltend<br />
gemacht, Jesus sei an dem Tage gestorben, wo <strong>das</strong> Passah geschlachtet worden sei, also am 14.<br />
Nisan; diese Meinung schien durch Joh. 18,28 begünstigt <strong>und</strong> wurde auch damit verteidigt, <strong>das</strong>s am<br />
ersten Festtage Gericht zu halten <strong>und</strong> zu kreuzigen nach jüdischem Gesetze nicht angegangen wäre.<br />
Tert., Clem. Orig., Chrysosth., Calmet, Cappellus, Lampe, Kuinoel, Movers u. A. glaubten demnach,<br />
<strong>das</strong>s Jesus <strong>das</strong> Passahlamm mit seinen Jüngern einen Tag zuvor, also am 13. Nisan, genossen<br />
habe. Diese Meinung ist aber damit widerlegt, <strong>das</strong>s es dann gar kein Passah gewesen wäre, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s<br />
die Evangelisten ausdrücklich den ersten Tag der ὄζυμα bezeichnen. Mt. 26,17. – Statt dessen nun<br />
behaupten die meisten reform. <strong>und</strong> luther. Ausleger Calvin, Beza, Bucer, Gerh., Calov, nicht Christus<br />
hätte <strong>das</strong> Passah einen Tag zu früh – sondern die Juden hätten es einen Tag später angesetzt, auf<br />
den Abend nicht vor dem Freitag, sondern vor dem Sabbat, um nicht zwei gleich aufeinanderfolgende<br />
hohe Festtage zu haben; Jesus hätte sich indessen an den gesetzmäßigen Tag gehalten. Wenn nun<br />
auch solche Auskunft bei den jetzigen Juden wohl getroffen wird (cf. Iken dissert. III Bynaeus de<br />
morte Chr.) – so zeigt sich doch im Altertum keine Spur von solcher Verlegung (Coccejus, Bochart),<br />
<strong>und</strong> <strong>über</strong>dies deuten die Evangelisten mit keiner Silbe an, <strong>das</strong>s nicht Jesus ganz zu gleicher Zeit mit<br />
allen andern Juden <strong>das</strong> Passah gegessen habe.<br />
Andere Annahmen einer doppelten, zweitägigen Passahmahlzeit siehe bei Thol. p. 297.<br />
Es steht mithin fest, <strong>das</strong>s Jesus am 14. Nisan Donnerstag Abend <strong>das</strong> Passahlamm genossen <strong>und</strong><br />
am 15. gekreuzigt worden ist. Die dagegen erhobenen sachlichen Bedenken sind folgender Weise<br />
zu beantworten: 1) Wäre Jesus an dem Tage gekreuzigt, an dessen Abend <strong>das</strong> Passah gegessen wurde<br />
– so wäre er nicht <strong>das</strong> πάσχα für uns geschlachtet; denn mit dem Abend begann der neue Tag; so<br />
aber ist er wirklich an eben dem Tage verurteilt, gefangen, gekreuzigt <strong>und</strong> gestorben, an dem <strong>das</strong><br />
Passah geschlachtet wurde, d. h. vom Abend des 14. bis zum Abend des 15. Nisan. 2) Nach dem Essen<br />
des Passahlammes war die Hauptfeier vor<strong>über</strong>; der 15. Nisan galt als Festtag, doch keineswegs<br />
gleich dem folgenden Sabbat, welcher der größte Tag des ganzen Festes war <strong>und</strong> in Bezug auf den<br />
der vorhergehende Tag nur als Rüsttag betrachtet wurde. Es konnte kein Bedenken haben, <strong>das</strong>s Je-
13.–16. Kapitel. 137<br />
sus in der Nacht nach Gethsemane hinausging, da dieser Garten im Bezirk der Stadt lag; am Festtage<br />
<strong>das</strong> Synedrium zu versammeln, war <strong>über</strong>haupt gestattet; in <strong>das</strong> römische Gerichtshaus zu gehen,<br />
hüteten sich die Juden; die Geißelung <strong>und</strong> Kreuzigung wurde von Römern vollzogen. Im Traktat<br />
Sanhedrin heißt es freilich, die Mitglieder des Synedriums, welche ein Todesurteil gesprochen, hätten<br />
des Tages keine Speise zu sich nehmen dürfen; ob dies aber damals Gesetz gewesen, muss sehr<br />
fraglich erscheinen. Keinenfalls ist aber daraus eine Folgerung zu entnehmen – denn <strong>das</strong> hätte dann<br />
den einen Tag so gut gegolten, wie den andern. Überhaupt ging die Verurteilung tumultuarisch zu,<br />
unter dem Drang der Umstände, eigentlich gegen den Willen der Hohenpriester, welche <strong>das</strong> Fest<br />
erst wollten vor<strong>über</strong>gehen lassen; außerdem galt sie als geschehen zur Ehre Gottes, <strong>und</strong> da war es<br />
sogar gewöhnlich, an den großen Festen Todesstrafe zu exequieren zur Warnung des ganzen versammelten<br />
Volks. Act. 12,3.4. Tr. Sanhedrin c. 10 ed. Cocc. p. 297. Lightf. opp. II p. 384. 465. cf.<br />
auch Deut. 21,21. Endlich hätte Pilatus gar nicht nach des Festes Gewohnheit vor <strong>das</strong> Volk heraustreten<br />
können, einen Gefangenen los zu geben, hätte nicht <strong>das</strong> Fest bereits begonnen gehabt.<br />
Nach Beseitigung dieser sachlichen Schwierigkeiten bleibt nun nur noch übrig: die fraglichen<br />
Stellen bei Joh. damit in Einklang zu bringen, welches auch längst durch die gründlichsten Kenner<br />
des jüdischen Altertums: Lightfoot, Bochart, Bynaeus, Reland ganz befriedigend geschehen ist. Die<br />
Gegengründe finden sich hauptsächlich bei Movers, Zeitschr. für Phil. <strong>und</strong> kath. Theol. Heft VII<br />
<strong>und</strong> VIII, 1883, bei Lücke <strong>und</strong> Bleek, Beiträge etc. p. 110 ff. zusammengestellt.<br />
1) Die Worte πρὸ δὲ τῆς ἑοτῆς τοῦ πάσχα c. 13,1 <strong>und</strong> die Einkäufe der Jünger 13,29 erklären sich<br />
daraus, <strong>das</strong>s die Fußwaschung am 13. Nisan geschah, wir also in diesem Kapitel vor dem Passahmahl<br />
stehen. Es ist ein einfaches δεῖπνον mit den Broten der gewöhnlichen Mahlzeit, was c. 13 gehalten<br />
wird. Vergl. Commentar zur Leidensgeschichte S. 154 ff. 2) c. 18,28. Diese Stelle wird besonders<br />
von den Gegnern urgiert, <strong>das</strong>s die Formel φαγεῖν τὸ πάσχα nichts anderes bedeuten kann,<br />
als <strong>das</strong> Passahlamm essen, <strong>das</strong>s also dieses an jenem Tage noch müsse bevorgestanden haben. Dagegen<br />
ist nun aber erstlich mit <strong>Recht</strong> eingewandt worden, <strong>das</strong>s eine Verunreinigung durchs Eingehen<br />
ins Richthaus nur für jenen Tag, nicht aber für den Abend würde gegolten haben, mit dem schon<br />
der folgende Tag begann. Judith 12,7-9. Ganz entscheidend wird aber durch die Stellen Deut. 16,2<br />
„sie schlachteten Pascha: Schafe <strong>und</strong> Rinder“ <strong>und</strong> 2. Chron. 30,22 „sie aßen <strong>das</strong> Fest 7 Tage lang“<br />
dargetan (cf. 2. Chron. 35,7.8.9), <strong>das</strong>s die Formel: <strong>das</strong> Paschah essen keineswegs bloß von dem Essen<br />
des Passahlammes, sondern von dem Essen all der Opfer galt, welche die 7 Tage hindurch dargebracht<br />
wurden, wozu unter andern die sog. Chagiga gehörte. Nachdem der 14. Nisan vor<strong>über</strong>,<br />
verstand es sich von selbst, <strong>das</strong>s am 15. Nisan die Formel in diesem weiteren Sinn genommen werden<br />
musste. So hieß im engsten Sinn der 14. Nisan τὸ πάσχα, in weiterem Sinn <strong>das</strong> ganze Fest; <strong>und</strong><br />
der Ausdruck פצס Paschah kommt bei den Rabbinen auch vom Essen der ungesäuerten Brote vor.<br />
Alle Genießungen die 7 Tage hindurch galten als heiliges Mahl des Festes vor dem Angesicht des<br />
Herrn. 3) Joh. 19,14.31. Der Ausdruck παρασκευὴ τοῦ πάσχα bedeutet keineswegs den Rüsttag für<br />
<strong>das</strong> Passah, sondern den ins Paschah fallenden Rüsttag auf den Sabbat; wie ganz ähnlich bei Ignatius<br />
σάββατον τοῦ πάσχα der in <strong>das</strong> Passahfest fallende Sabbat. Am Vorabend des Sabbat musste Al-<br />
עãרוב¦תœא aram. Ex. 16,5); deshalb hieß diese Zeit הכין) les für den folgenden Tag zubereitet werden<br />
ähnlich unserm Sonnabend oder Vigilie, griech. παρασκευή. Dieser Ausdruck wurde so stehend,<br />
<strong>das</strong>s der ganze Tag geradezu so genannt wurde Lk. 23,54. Mk. 27,62. Jos. antiq. XVI, 6, 2 <strong>und</strong> besonders<br />
Mk. 15,42 παρασκευὴ ὅ ἐστι προσάββατον. Der in <strong>das</strong> Fest fallende Sabbat war der größte<br />
Tag c. 19,31; der vorangehende Tag, ob auch der erste Festtag, trat gegen ihn ganz zurück. Denn als<br />
Ruhe- <strong>und</strong> Feiertag behauptete immer der Sabbat unbedingt die oberste Stelle; wie es auch heißt:<br />
Den Sabbat <strong>über</strong> hielten sie sich stille nach dem Gesetz.
138 13.–16. Kapitel.<br />
Dass Christus zu gleicher Zeit mit den Juden <strong>das</strong> Pascha gegessen <strong>und</strong> am 15. Nisan gekreuzigt<br />
ist, geht auch unzweifelhaft aus der ältesten kirchlichen Tradition hervor. Mit den ältesten Passah-Streitigkeiten<br />
hat es aber folgende Bewandtnis. Weil Christus am 14. Nisan abends <strong>das</strong> Passah<br />
genossen – so hielten an dieser Sitte die Klein-Asiaten fest, indem sie jedesmal mit den Juden den<br />
14. Nisan feierten. Die römische Kirche dagegen ließ den Monatstag <strong>und</strong> <strong>über</strong>haupt <strong>das</strong> alttestamentliche<br />
Passah fallen <strong>und</strong> feierte den Karfreitag als πάσχα σταυρώσιμον, den Sonntag als πάσχα<br />
ἀναστάσιμον. Dabei geschah es denn lediglich aus Unbekanntschaft mit den jüdischen Gebräuchen<br />
<strong>und</strong> falscher Deutung einiger Stellen der Evangelien, wenn einzelne Kirchenlehrer, wie Claudius<br />
Apollinaris (Chron. pasch. ed. Bonn. Vol. I p. 14) u. A. zu der Meinung kamen, Jesus habe mit den<br />
Jüngern den Tag vorher <strong>das</strong> Passah genossen <strong>und</strong> sei am 14. N. gekreuzigt worden.<br />
Die Zuversicht, womit die neuesten Kritiker behauptet haben, es finde sich zwischen den Synoptikern<br />
<strong>und</strong> dem Joh. eine unauflösliche Differenz wegen des Todestages Christi, wobei dann entweder<br />
die Synoptiker (Lücke, de Wette, Bleek, Neander) oder Joh. (Bretschneider) des Irrtums geziehen<br />
wird – muss dem nüchternen Fre<strong>und</strong>e der Wahrheit unter solchen Umständen großes Misstrauen<br />
erwecken.<br />
V. 1-20. Die Fußwaschung.<br />
V. 1. Mt. 11,27. <strong>Recht</strong> haben die, welche <strong>das</strong> hier erwähnte δεῖπνον von der Passah-Mahlzeit unterscheiden<br />
wollen: es würde sonst der Artikel τοῦ δεῖπνου erwartet. Auf dem Höhepunkte der Passah-Feier<br />
konnte es keinem Jünger in den Sinn kommen, Jesus wolle die Bedürfnisse des Festes eingekauft<br />
oder den Armen etwas gegeben haben.<br />
λέντιον <strong>das</strong> lat. linteum. Im Morgenlande, wo die Straßen nicht gepflastert waren <strong>und</strong> man mit<br />
bloßen Sandalen ging, war der erste <strong>und</strong> niedrigste Dienst, wenn man ein Haus betrat, die Füße zu<br />
waschen. So David Ps. 60 sagt „Über Edom werf ich meinen Schuh, Moab ist mein Waschbecken.“<br />
Jesus leistete also hier seinen Jüngern den allerniedrigsten Sklaven-Dienst. Von Nero wird erzählt,<br />
als die äußerste Schmach, die er angesehenen Männern angetan, <strong>das</strong>s er sich von ihnen habe die<br />
Füße waschen lassen.<br />
V. 8. μέρος ἔχειν μετά τινος Mt. 24,51. Lk. 12,36; 12,46. 2. Kor. 6,15. Act. 8,21. LXX. Deut.<br />
12,12; 14,27. Da wo Christus seine Stelle, sein Erbe, sein Besitztum hat, mit ihm einen Anteil haben,<br />
also Teil haben an den ewigen Gütern, deren Erbe <strong>und</strong> Ausspender Jesus ist, also mit ihm selbst<br />
Gemeinschaft haben. 2. Sam. 20,1: Wir haben kein נהלה mit David. Die Erklärungen bei Lücke:<br />
„Nur Reine haben Gemeinschaft mit mir“ oder „wer die demütige Liebe, wovon ich <strong>das</strong> Beispiel<br />
gebe, nicht dulden will, hat keinen Teil an meiner Gemeinschaft“ haben nicht von ferne den Sinn<br />
gefasst. Jesus sagt vielmehr, wer nicht auf alle Ansprüche verzichtet, seinerseits mir etwas leisten zu<br />
können, <strong>und</strong> wer nicht vielmehr in tiefster Anerkennung, <strong>das</strong>s ihm anders nicht geholfen sei, sich<br />
mir ergibt, durch meine Hingebung für ihn die Reinigung zu empfangen – wird nimmermehr dessen<br />
teilhaftig werden, was ich besitze, d. i. der Gerechtigkeit, Wahrheit <strong>und</strong> göttlicher Gnade.<br />
V. 10. Dieser sehr vielfach gedeutete Spruch ist nicht ohne Schwierigkeit. Die meisten Erklärer<br />
machen einen Unterschied zwischen λελουμένος <strong>und</strong> νίψασθαι <strong>und</strong> beziehen sich darauf, <strong>das</strong>s die<br />
Gäste vor Tische ein Bad genommen, sodann bei der Ankunft zum Mahle selbst nur nötig gehabt<br />
hätten, <strong>das</strong>s ihnen die unterwegs wieder beschmutzten Füße gewaschen worden seien, ehe sie sich<br />
auf dem Divan niedergelegt. Es könnten dann diese Worte sprichwörtlich sein. Man versteht dann<br />
unter dem λελουμένος die Taufe oder Wiedergeburt – unter dem νίψασθαι der Füße die Reinigung<br />
von der auch dem Getauften noch anhaftenden Unreinigkeit; die katholische Kirche speziell dies sacramentum<br />
der poenitentia. – Zu dieser Erklärung wollen aber die Worte ἀλλ᾽ ἔστι καθαρὸς ὅλος in
13.–16. Kapitel. 139<br />
keiner Weise passen, denn diese können nur so verstanden werden, <strong>das</strong>s mit der Reinheit der Füße<br />
die Reinheit des ganzen Menschen zugleich gegeben sei. Wer die Füße gewaschen hatte, galt als<br />
λελουμένος; ein Solcher hatte auch eine weitere Waschung nicht notwendig – er galt ganz wie er<br />
war für καθαρὸς. Jesus sagt mithin, wenn Einer ein λελουμένος sein müsse – so sei darunter nichts<br />
anders gemeint <strong>und</strong> nichts anders dazu notwendig, als <strong>das</strong>s die Füße gewaschen seien. Es ist also<br />
nicht von einem Gegensatz einer Taufe <strong>und</strong> sodann einer außerdem notwendigen poenitentia die<br />
Rede – sondern davon, <strong>das</strong>s in dem νίψασθαι der Füße die Waschung <strong>und</strong> Reinheit des ganzen Menschen<br />
gesetzt sei; wie es ähnlich heißt, wenn <strong>das</strong> Auge <strong>Licht</strong> ist, so wird der ganze Körper <strong>Licht</strong><br />
sein.<br />
Als Jesus diese Worte sprach, hatte er wahrscheinlich die Fußwaschung bei Petrus eben beendet,<br />
deshalb λελουμένος.<br />
Die Bedeutung der Fußwaschung ist bei den meisten Exegeten sehr unklar gefasst. Sie soll eine<br />
sakramentliche Bedeutung haben entweder der Reinigung fürs Apostelamt (Jes. 52,7) Theophylact,<br />
Lampe, oder einer Allen notwendigen Abwaschung. Mit Bezug auf sie werden seit dem 4. Saec. den<br />
Neugetauften die Füße gewaschen. Bingham antiqq. IV p. 394. Daher auch die Zeremonie des<br />
Papstes <strong>und</strong> katholischer Monarchen am Gründonnerstage. – In der Tat ist aber von einem Sakrament<br />
hier gar nicht die Rede. Es war dies ein Beweis der äußersten Hingebung der Liebe Jesu, er erniedrigt<br />
sich zu dem geringsten Dienst, die Füße derer zu waschen, welche den Weg gehen sollten,<br />
der aus dieser Welt hin<strong>über</strong>führt in <strong>das</strong> Erbteil der Heiligen im <strong>Licht</strong>; ein Wanderer bedarf nichts anderes,<br />
als <strong>das</strong>s seine Füße gewaschen werden, ehe er bei Tische aufgenommen sein kann; <strong>und</strong> indem<br />
nun Jesus sich gleichsam selbst mit aller seiner Liebe <strong>und</strong> Aufopferung <strong>über</strong> die Seinen ausbreitet<br />
<strong>und</strong> ergießt, so sind sie eben in dieser alle ihre Sünden <strong>und</strong> Unreinigkeit durch sich selbst tilgenden<br />
Liebe rein. Eben deshalb aber war der Verräter nicht rein, weil er gegen diese Liebe in Eigengerechtigkeit<br />
sich erbitterte zu tödlichem Hasse.<br />
V. 12. ἱμάτια sind die Oberkleider.<br />
V. 13. διδάσκαλος καὶ κύριος, רÚב¤י <strong>und</strong> א ,מœרÜ . Das ὁ διδ. in der Anrede ist zu fassen: der Meister<br />
bist Du.<br />
V. 15. Darin besteht demnach <strong>das</strong> Apostelamt <strong>und</strong> dessen hohe Würde, ein Diener zu sein der<br />
Brüder zum Heil <strong>und</strong> Errettung der Seelen. Mt. 10,24. Lk. 6,40. Joh. 15,20.<br />
V. 19. Ps. 41,10.<br />
V. 20. Mt. 10,40. Lk. 9,48. – Diesen Vers haben Viele so wenig dem Zusammenhang einreihen<br />
können, <strong>das</strong>s Kuinoel ihn für ein Glossem gehalten, Strauß ihn ganz zufällig angeknüpft findet. Der<br />
Zusammenhang ist aber dieser. Der Herr will die Apostel durch sein Wort zurüsten zu ihrem Beruf.<br />
In dessen Ausübung würde ihre eigene Seligkeit sein V. 17. Dass sie von ihm erwählt seien, daran<br />
sollten sie nicht irre werden, wenn Einer unter ihnen sich als Verräter zeige V. 18. Er sage ihnen dies<br />
zuvor, damit sie aufs neue in dem Glauben an ihn bestärkt seien V. 19. Und sie sollten ganz getrost<br />
in die Welt ausgehen; wer sie aufnehme, würde ihn selbst aufgenommen haben.<br />
V. 21-30. Des Ju<strong>das</strong> Entfernung.<br />
V. 23. Man lag auf breiten Polstern in der Weise zu Tische, <strong>das</strong>s die Füße nach hinten an die<br />
Wand gerückt wurden, vorn aber der Kopf auf den linken Arm gestützt war, während man sich der<br />
<strong>Recht</strong>en bei Tische bediente. So lag denn der Nebenmann, wenn er seinen Kopf zu diesem umbog,<br />
in dessen Busen. Es war dies Johannes. Plin. ep. IV, 32 Coenabat Nura cum paucis, Veiento proximus<br />
atq. etiam in sinu recumbebat.
140 13.–16. Kapitel.<br />
V. 26. βάψας andere Lesart ἐυβάψας; statt ἐπιδώσω hin-, dabeireichen V. 1 δὡσω. Ein eingetunkter<br />
<strong>und</strong> geweichter Bissen konnte beim Passahmahl gar nicht vorkommen. Es ist hier <strong>das</strong> Brot der<br />
gewöhnlichen Mahlzeit, welches Jesus in eine Öl- oder Fleischbrühe tauchte.<br />
V. 27. τάχιον Komparativ bälder, als du es sonst möchtest tun. Winer p. 279.<br />
Ju<strong>das</strong> war des Herrn Tischgenosse cf. V. 18; noch zum letzten Male reicht ihm Jesus den Bissen;<br />
indem aber nach dem Vorhergegangenen eben daran Ju<strong>das</strong> sich erkannt sieht, wo er bisher noch immer<br />
geglaubt hatte, Jesum zu hintergehen – so ist er nun zum Äußersten bereit <strong>und</strong> wirft sich dem<br />
Satanas in die Arme. An den Worten „was du tust, tue bald“ hat man vielfach Anstoß genommen<br />
<strong>und</strong> sie nach allen Seiten zu wenden <strong>und</strong> zu mildern gesucht. Jesus sagt aber nur „er möge <strong>das</strong> sofort<br />
tun, was er ohnehin tun werde.“ Ist mal der Krieg <strong>und</strong> <strong>das</strong> Urteil entschieden, wozu dann zögern<br />
mit der Ausführung?<br />
V. 30. Das Mahl musste jetzt fast beendet sein. ἦν νὺξ, ὅτε ἐξῆλθε – so wie er sich der Gewalt<br />
der Finsternis ergeben hatte, die schwärzeste Tat zu vollbringen.<br />
V. 31-38. Christus spricht zu den Seinen, als der nun bald von ihnen scheiden wird.<br />
V. 31. Der Sohn des Menschen ist verherrlicht in der K<strong>und</strong>gebung einer Liebe, welche auch <strong>das</strong><br />
Leben hingibt für die Seinen; <strong>und</strong> eben damit ist Gott in ihm verherrlicht, denn Gott ist die Liebe.<br />
V. 32. ἐν ἑαυτῷ hat Lampe auf θὐτόν bezogen, es gehört aber zu θεός. Ist in diesem Werk <strong>und</strong><br />
Leiden Christi Gott im Himmel verherrlicht, so wird auch dieser in sich selbst, in seinem ewigen<br />
Wesen als der Gott <strong>und</strong> Vater aller Macht <strong>und</strong> Gnade den Sohn verherrlichen.<br />
V. 33. ἔτι μικρόν = עוד מ¦עÚט Ps. 37,10. cf. 7,33; 8,21.22.<br />
V. 34. ἐντολὴ καινή. Da <strong>das</strong> Gebot der Liebe im Gesetz klar gegeben ist, so kann mit Bezug darauf<br />
dieses Gebot nicht neu genannt werden Mt. 22,39. Man hat aber viele Limitationen versucht; die<br />
griechischen Kirchenväter, unter den <strong>Neue</strong>ren Knapp, Lücke <strong>und</strong> Thol. finden <strong>das</strong> <strong>Neue</strong> in dem Zusatz:<br />
καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς, d. h. mehr als sich selbst solle man den Bruder lieben. Grotius meint die<br />
Art, Clericus der Umfang der gebotenen Liebe seien hier andere. Wolf will καινός im Sinne von<br />
vortrefflich, Olsh. von ewig jung, nie veraltend nehmen. Der Gegensatz des alten <strong>und</strong> neuen Gebots<br />
ist aber gerade wie der Gegensatz der alten <strong>und</strong> neuen διαθήκη durchaus anders zu fassen. Es ist gar<br />
nicht von einer Weise die Rede, welche bis dahin geherrscht habe, <strong>und</strong> von einer neuen, welche jetzt<br />
beginnen solle, sondern von zweierlei Gebot <strong>und</strong> B<strong>und</strong>, welche so lange die Welt steht, nebeneinander<br />
gehen. Das alte Gebot, der παλαιός ἄνθρωπος, die παλαιότης γράμματος Röm. 7,6. 2. Kor. 3 ist<br />
<strong>das</strong> Gesetz nach Auffassung des Menschen, der ohne Kraft <strong>und</strong> Leben des Guten in sich zu haben,<br />
mit Gott entzweit – durch Werke <strong>das</strong> zu ersetzen sucht, was er selbst weder ist noch hat; ist <strong>das</strong><br />
Streben des Menschen, wie er Gotte feindselig ist, sich selbst in Eigengerechtigkeit zu behaupten<br />
<strong>und</strong> für sich durch Werke die Seligkeit zu erwerben. Das neue Gebot ist <strong>das</strong> Gesetz, so wie Christus<br />
dessen Endziel ist: τὸ πνεῦμα τῆς ζωῆς Christo; der lebendige Quell aller Tugend, Liebe <strong>und</strong> Gnade<br />
in Ihm, die wahrhafte Ausübung <strong>und</strong> Anwesenheit dessen, was <strong>das</strong> Gesetz will; aus Ihm der Ausfluss<br />
<strong>und</strong> die Darstellung dessen, was er selbst getan <strong>und</strong> dargestellt, in denen, welche ihm durch<br />
den Glauben verb<strong>und</strong>en sind, die sich selbst als Sünder anerkennen <strong>und</strong> in seinem Gehorsam die<br />
Gerechtigkeit gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> anerkannt haben, welche allein vor Gott gilt. Es ist <strong>das</strong> Gebot Christi,<br />
von allen Erzvätern <strong>und</strong> Propheten gekannt <strong>und</strong> geübt, die καινότης τοῦ πνεύματος, im Glauben <strong>und</strong><br />
der Anerkennung der von Gott uns widerfahrenen Liebe <strong>und</strong> Gnade <strong>das</strong> Eigene hintansetzen <strong>und</strong><br />
drangeben, damit dem Andern geholfen <strong>und</strong> gedient sei, so wie Gott uns geholfen <strong>und</strong> gedient hat.<br />
Dieses Gebot ist nicht schwer; denn die Liebe Christi selbst ist es, welche die Herzen erfüllt. Sehr
13.–16. Kapitel. 141<br />
markiert ist <strong>das</strong> καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς, wie es in Wahrheit <strong>das</strong> antecedens ist – so auch im Satz vorangestellt.<br />
V. 37. Das hatte Petrus allerdings Jesu abgefühlt, <strong>das</strong>s es eben jetzt in eine äußerste Probe des<br />
Lebens gehe.<br />
V. 38. cf. Mt. 26,34 etc. Der Hahnenschrei ist <strong>das</strong> Zeichen des anbrechenden Morgens; eine dreifache<br />
Verleugnung – wie es ein dreifaches Zeugnis gibt. In eben dieser Nacht machte sich die ganze<br />
Gewalt des Sichtbaren geltend.<br />
14. Kapitel.<br />
Die Verheißung des heiligen Geistes; die Gemeinschaft im Geiste mit dem Vater <strong>und</strong> mit<br />
dem Sohn.<br />
V. 1-5.<br />
V. 1. ταράσσεσθαι c. 11,33; 13,21; 12,27. Von den beiden πιστεύετε ist <strong>das</strong> erste als Indikativ genommen<br />
von Luther „Glaubet ihr an Gott – so glaubet ihr auch an mich;“ von Erasm., Beza, Grotius,<br />
Olsh.: „Ihr glaubet ja an Gott – so glaubet auch an mich.“ πιστεύετε ist aber beide Male Imperativ;<br />
es komme, was da wolle, die Furcht bemächtige sich eurer nicht; setzet fest euer Vertrauen in<br />
Gott <strong>und</strong> in mich setzet es. πιστεύειν εἰς heißt in Jemanden hinein, in sein Wesen, Wort <strong>und</strong> Wahrheit<br />
seinen Verlass senken.<br />
V. 2. μοναί dicebantur, sagt Steph. de Moyne, ubi viatores coenabant, decumbebant et somnum<br />
quietemq. capiebant. μονή kommt vor mit ἡσυχία oder στάσις verb<strong>und</strong>en – bei Phavorinus ist es<br />
gleich κατοικία. Der Wanderer, der viel Umhergetriebene, der Fremdling sucht nach einer μονή. In<br />
dem πολλαί liegt sowohl, <strong>das</strong>s für πολλαί Raum ist, als <strong>das</strong>s sie vor allerlei Not, Irrung <strong>und</strong> Wallfahrt<br />
eine Zuflucht <strong>und</strong> Stätte gewähren. – Das Bild ist ohne Zweifel hergenommen von dem sichtbaren<br />
Hause des Vaters, dem Tempel, mit seinen Höfen, seinen vielen ,ל¦שœכות Hallen <strong>und</strong> Gemächern.<br />
Die Worte εἰ δὲ μή etc. haben Euthym., Erasm., Luther mit dem folgenden πορεύμαι verb<strong>und</strong>en,<br />
wie denn auch einige Handschriften ὃτι einschieben. Es ist aber mit πορεύομαι ein neuer Satz zu beginnen.<br />
V. 3. Das καὶ vor ἑτοιμάσω lassen viele Handschriften aus, so <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Letztere den Nachsatz zu<br />
πορευθῶ abgäbe. Die recepta ist aber vorzuziehen. Das ἔσχομαι ist weder speziell von der Auferstehung,<br />
noch von dem Kommen im Gericht (Kirchenväter, Lampe) zu verstehen – sondern allgemeiner,<br />
ähnlich wie c. 21,23.<br />
V. 6-14.<br />
V. 6. Die drei Worte ὁδός etc. werden von Luther <strong>und</strong> Calvin erklärt: Ego sum principium (rudimenta<br />
fidei), medium (perfectio fidei) et finis (beatitudo). Grotius nimmt ὁδός vom Vorbilde,<br />
ἀλήθεια von der Lehre, ζωή vom Erfolge. Es sind aber die Worte genauer im Zusammenhang so zu<br />
fassen. Der Mensch kann zu Gott nicht kommen der Sünde wegen; der nun nach Gerechtigkeit Hungernde<br />
fragt zuerst nach dem Wege; in diesem Wege kann er aber nicht beharren ohne die Gewissheit<br />
der Wahrheit, <strong>und</strong> bei aller Erkenntnis der Wahrheit würde er endlich dennoch vor Gott nicht<br />
erscheinen können ohne die ζωή. Dieses Alles ist Christus den Seinen, <strong>und</strong> deshalb haben sie in ihm<br />
den Zugang mit aller Freudigkeit zu Gott.
142 14. Kapitel.<br />
V. 7. ἐγνώκειτε wenn ihr erkannt hättet. γινώσκετε ist nicht als Futur, sondern als Präsens zu nehmen.<br />
Es ist ein dreifacher Satz in diesem Verse enthalten. An <strong>und</strong> für sich haben die Jünger kein<br />
Verständnis; von jetzt aber, dadurch <strong>das</strong>s Jesus vor ihren Augen den Vater verherrlicht, haben sie die<br />
Erkenntnis; sie haben dieselbe eben dadurch, <strong>das</strong>s sie ihn, Jesum, in ihrer Mitte gehabt <strong>und</strong> gesehen<br />
haben.<br />
V. 10. ῥήματα <strong>und</strong> ἔργα sind keineswegs identisch, wie Calvin u. A. wollen; sie gehören aber<br />
wesentlich zusammen. – In V. 11 die Stellung des αὐτά zu beachten.<br />
V. 12. Die Bedeutung des μείζονα ist streng festzuhalten <strong>und</strong> es ist nicht etwa mit Thol., Lücke,<br />
de Wette an die Stiftung <strong>und</strong> Ausbreitung der Kirche zu denken. Christus macht seinen Jüngern<br />
Mut; seine ἔργα waren ein Hervorführen des Heils, der Hilfe <strong>und</strong> des Lebens aus Tod <strong>und</strong> Untergang;<br />
würden nun auch sie die Macht der Finsternis, des Sichtbaren <strong>und</strong> der Welt erfahren, so würde<br />
dennoch Seine Macht – auch ihre Macht sein, <strong>und</strong> da diese keine Grenzen hat, würden sie noch<br />
größere Werke tun denn er; denn der Vater würde <strong>das</strong> Gebet in Seinem Namen erhören, d. h. <strong>das</strong><br />
Gebet in dem Glauben <strong>und</strong> Namen dessen, der auf Erden die Gnade, die Errettung <strong>und</strong> <strong>das</strong> Leben<br />
angebracht hat zur Verherrlichung Gottes des Vaters V. 13; ja er selbst werde es tun V. 14.<br />
V. 15-21.<br />
Da aber Jesus wohl weiß, <strong>das</strong>s dieser Geist des Glaubens <strong>und</strong> des Gebets, des Festhaltens an<br />
Gott, <strong>das</strong>s er allein die Wahrheit ist – <strong>das</strong>s auch die Erkenntnis seiner selbst (V. 21) niemals aus einem<br />
Menschenkinde hervorgehen oder in demselben sich entwickeln könne, so muss Gott selbst es<br />
sein, welcher Solches im Menschen darstellt. Er verheißt darum den παράκλητος. Falsch ist dieses<br />
Wort von Theod. Mops., Ernesti u. A. durch Lehrer <strong>über</strong>setzt; auch nicht ganz richtig von Luther<br />
<strong>und</strong> Erasm. durch „Tröster“. παράκλητος ist passive Form = advocatus <strong>und</strong> wird vom <strong>Recht</strong>sbeistande<br />
gesagt, in dessen Geleit der Angefochtene vor dem Richter sich sicher weiß. Asconius zu Cicero:<br />
„Qui defendit alterum in iudicio, aut patronus dicitur si orator est; aut advocatus, si aut ius<br />
suggerit aut praesentiam suam commodat amico.“ In der jüdischen Sprache war <strong>das</strong> Wort viel in<br />
Gebrauch; in den Pirke Aboth heißt es z. B.: „Quicunq. facit praeceptum unum, comparat sibi<br />
παράκλητον unum; qui autem transgreditur transgressionem unam, comparat sibi κατήγορον<br />
unum.“ – Die Engel wurden als παράκλητοι der Menschen betrachtet. cf. Philo de vita Mosis bei<br />
Wetstein.<br />
V. 18. ὀρφανούς. cf. 2. Reg. 2,12. „Vae mihi tua causa, domine mi et magister, – sagt R. Akiba<br />
dem ihm nach seinem Tode erschienenen Eleazar – quia totam hanc gentem reliquisti orphanam.“<br />
V. 21. ὁ ἔχων etc. Aug. „qui habet in memoria et servat in vita.“<br />
V. 22-27.<br />
V. 22. Ju<strong>das</strong> Thaddäus. Mt. 10,3. τί γέγονεν ὅτι. Kohel. 7,10. Was ist <strong>das</strong> geschehen – wir sagen:<br />
was ist <strong>das</strong> gesagt.<br />
V. 23. μονὴν ποιήσομεν. Ez. 37,27. Apoc. 21,3 Lev. 26,11. μονὴν ποιεῖσθαι bei Josephus in mehreren<br />
Stellen bei Kypke, observationes.<br />
V. 26. Das διδάξει <strong>und</strong> ὑπομνήσει stehen in der Beziehung zueinander, <strong>das</strong>s in allen Fällen, wo<br />
sie der διδαχή bedürftig sein würden, würde der Geist sie zurechtweisen eben durch Erinnerung an<br />
<strong>das</strong> Wort Jesu selbst.
14. Kapitel. 143<br />
V. 27-31.<br />
V. 27. c. 20,19.21.26. Im A. T. <strong>das</strong> לœכæם .שœלום Im Syr. sie geben einander<br />
Frieden. Es ist nicht bloß ein Hinterlassen von Frieden, was Jesus verheißt; da wo kein Friede ist,<br />
gibt er auch den eignen Frieden. Was die Welt gibt, ist trügerisch <strong>und</strong> vergänglich.<br />
V. 28. Der Vater ist größer als ich. Dieser Spruch ist Hauptstützpunkt der Arianer <strong>und</strong> Socinianer.<br />
Athanasius bezog ihn auf die ἀγεννησία des Vaters; richtig aber die Reformatoren, <strong>das</strong>s hier nicht<br />
κατ᾽ οὐσίαν, sondern κατ᾽ οἰκονομίαν der Vater als μείζων bezeichnet ist; der Sohn hat es freiwillig<br />
auf sich genommen, den völligen Gehorsam darzustellen, in diesem Gehorsam sich in den Tod zu<br />
begeben, also die ἀσθενεία auf sich zu nehmen.<br />
V. 30. οὐκ ἔχει kann nicht durch vermögen <strong>über</strong>setzt werden; de W.: er kann mir nichts anhaben.<br />
Die meisten Älteren ergänzen nihil iuris. Er hat nichts in mir, was er sein nennen, was er halten<br />
könnte; er muss also dar<strong>über</strong>, <strong>das</strong>s er mich dennoch in seine Gewalt bringen will, zu Schanden werden.<br />
V. 31. Es ist anzunehmen, <strong>das</strong>s Jesus hier wirklich aufgestanden, <strong>und</strong> dann sich nach Jerusalem<br />
zur Feier des Passahfestes begeben hat am Donnerstag-Nachmittag; c. 15 <strong>und</strong> 16 sind auf dem<br />
Wege nach Jerusalem <strong>und</strong> während des Passahmahles gesprochen.<br />
Das ganze Kap. kann seinem Inhalt nach in den Spruch zusammengefasst werden: Die Gnade<br />
Jesu Christi, die Liebe Gottes <strong>und</strong> die Gemeinschaft des heil. Geistes sei mit euch. Christus scheidet<br />
von den Seinen; aber in Ihm werden sie der Gemeinschaft des Vaters teilhaftig werden. Wie aber<br />
<strong>das</strong>? Zuerst ist hier zu erkennen, <strong>das</strong>s im Sohne der Vater; die Werke bezeugen dies. Eben deshalb<br />
aber geht der Weg des Sohnes zum Vater zurück V. 8-12 (εἰς θεὸν πιστεύετε); diese Werke werden<br />
auch, wo der Glaube an ihn ist, sich erneuern; <strong>das</strong> Gebet im Namen Jesu wird so erhört werden,<br />
<strong>das</strong>s Christus selbst es tun wird zur Ehre des Vaters V. 12-14. Aber nicht bloß die Werke, auch die<br />
Worte Jesu werden sich erneuern. Oben der Glaube V. 12, hier die Liebe V. 15. Christus kann die<br />
Seinen nicht verlassen, es wird ein anderer παράκλητος kommen V. 15-20. Diese Gemeinschaft aber<br />
im Geist mit dem Vater <strong>und</strong> dem Sohne (1. Joh. 1,3) ist durch <strong>das</strong> Wort, also nur, wo der Glaube <strong>und</strong><br />
die Bewahrung der Gebote; <strong>und</strong> in dem Wort ist der Friede Gottes V. 22-27. Alles dieses ist aber allein<br />
dadurch geschehen, <strong>das</strong>s Jesus den vollkommenen Gehorsam geleistet, den Satan <strong>über</strong>w<strong>und</strong>en,<br />
zu Gott mit dem ewigen Opfer eingegangen V. 27-31.<br />
15. Kapitel.<br />
Der Gläubigen Stellung zu Christo, zueinander <strong>und</strong> zu der Welt; – der ganze Inbegriff ihrer<br />
κλήσις.<br />
V. 1-6.<br />
Christus der Weinstock, seine Jünger die Reben. – Man hat vielfach nach einer äußeren Veranlassung<br />
zu diesem Bilde gesucht, als habe ein Weinstock sich ins Zimmer gerankt (Knapp, Lücke),<br />
oder als habe Jesus auf den großen goldnen Weinstock <strong>über</strong> dem Eingang des Tempels gedeutet<br />
(Rosenmüller), oder als sei er an einem Weinberg in Gethsemane vor<strong>über</strong>gegangen (Lampe), obwohl<br />
damals der Weinstock nicht mal recht belaubt war, – welches aber alles sehr gesucht erscheinen<br />
muss. Das Bild des Weinstocks <strong>und</strong> Weinbergs ist im A. T. geläufig, Jes. 5. Ps. 80,9 – 12. Ez.<br />
19,10 ff. Jer. 2,21. Mt. 21,33 ff.; im Talmud (Berachoth fol. 89) heißt es: qui videt per somnium pal-
144 15. Kapitel.<br />
mitem vitis, videbit Messiam (Ps. 80). Vor allem ist aber <strong>das</strong> hervorzuheben, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Bild in sich<br />
selbst im höchsten Grade zutreffend ist für <strong>das</strong>, was Christus aussprechen wollte.<br />
γεωργός = ἀμπελουργός Lk. 13,7.<br />
V. 2. κλῆμα ist der eigentliche Ausdruck von der Rebe, wie vom Ölbaum θαλλός gesagt wird,<br />
von der Palme βαΐον.<br />
Cicero Cat. maj. 15 Vitis – quam serpentem multiplici lapsu et erratico, ferro amputans coercet<br />
ars agricolarum, ne silvescat sarmentis et in omnes partes nimia f<strong>und</strong>atur. Hor ep. II, 1, 216. Epodon<br />
II, 9. Ergo aut adulta vitium propagine Altas maritat populos, Inutilesque falce ramos amputans, Feliciores<br />
inserit. Columella IV, 24. Sarmenta lata, vetera, male nata, contorta, deorsum spectantia recidito:<br />
novella et fractuaria recta summittito, brachia tenera et viridia servato; arida et vetera falce<br />
amputato. – Die zarteren Ranken wurden mit der Hand weggenommen, die härteren mit dem Messer<br />
weggeschnitten.<br />
αἴρειν <strong>und</strong> καθαίρειν bilden eine Paronomasie. de Wette meint, der Gedanke, <strong>das</strong>s die Reben<br />
fruchtbar sein sollten, dränge sich zu früh hervor. Man denke sich aber einen Weinstock; seines Anblickes<br />
Pracht ist die, <strong>das</strong>s er voll Trauben hängt; um der Trauben willen wird er gepflegt. Die Rebe<br />
an <strong>und</strong> für sich kommt gar nicht in Betracht – nur sofern sie Frucht trägt, wird ihr eine Stelle gelassen<br />
am Weinstock.<br />
V. 3. Bei solchen Worten dachten die Jünger von sich selbst gleich <strong>das</strong> Schlimmste; deshalb tröstet<br />
sie der Herr <strong>und</strong> nennt sie rein – nicht zwar in sich, aber des Worts wegen, <strong>das</strong> er gesagt c. 13<br />
bei der Fußwaschung.<br />
V. 4. Bleibt die Rebe am Weinstock, so verfehlt dieser nicht, seinen Saft <strong>und</strong> Kraft in sie hineinzuleiten.<br />
V. 6. Die Aor. ἐβλὴθη – ἐξηράνθη (Kühner II p. 78) bezeichnen die Folge als so eng mit der Ursache<br />
verb<strong>und</strong>en, <strong>das</strong>s mit dem Einen <strong>das</strong> Andere schon geschehen, schon abgetan ist. – cf. Mt.<br />
6,30; 22,12; 25,30. Für <strong>das</strong> ganze Bild vom Weinstock ist zu vergl., wie Paulus <strong>das</strong> Verhältnis der<br />
Gläubigen zu Christo als <strong>das</strong> der Glieder zum Haupte darstellt Kol. 2,19. Eph. 5,23.<br />
V. 7-11.<br />
Denselben Übergang wie von V. 6 zu 7 finden wir wieder in V. 16. Statt des ἐγώ in V. 5 haben<br />
wir hier τὰ ῥήματά μου – <strong>und</strong> <strong>das</strong>s die Frucht, von der oben <strong>und</strong> im Folgenden die Rede, keine andere<br />
ist, als <strong>das</strong> dem Gebet Gewährte, <strong>das</strong>s also die Jünger Mut fassen sollten, wenn sie sich an<br />
Frucht <strong>und</strong> Gerechtigkeit ganz leer fühlten, dieses Alles sei von Gott zu erbitten, beweist der Zusammenhang<br />
mit V. 5 <strong>und</strong> 8.<br />
V. 8. ἐν τούτῳ – ἵνα; es ist eben dies der Wille, die Absicht des Vaters. – Statt γενήσεσθε will<br />
Lachm. γένησθε lesen. – Eben durch <strong>das</strong> Fruchttragen würden sie also zu seinen Jüngern werden;<br />
sie würden es von ihm entnommen <strong>und</strong> gelernt haben, was sie tun würden.<br />
V. 9. ἡ ἀγάπη ἡ ἐμή die Liebe, welche die meine ist; aktiv zu nehmen. Darin bleiben heißt aber<br />
keineswegs, wie de W. will, sich derselben würdig machen; denn die Liebe Christi ist eine freiwillige<br />
Liebe; wer sich der Liebe würdig machen will, der bleibt nicht in ihr, sondern sucht sie erst zu<br />
erringen. In der Liebe bleiben heißt vielmehr, im Gefühl der eignen Torheit <strong>und</strong> des Unglaubens<br />
sich daran halten, <strong>das</strong>s Christus mit allen seinen Worten nichts im Auge hat als unsere Errettung,<br />
Heil <strong>und</strong> einziges Glück.
15. Kapitel. 145<br />
V. 10. Des Menschen Herz traut Gott nie <strong>das</strong> Gute zu <strong>und</strong> fühlt sich immer schuldig; aber in Jesu<br />
ist Friede <strong>und</strong> Freude eben damit, <strong>das</strong>s er die Gebote des Vaters bewahrte <strong>und</strong> in seiner Liebe blieb.<br />
Falsch erklären Augustin, Lampe, Bengel, Lücke: meine Freude, die ich an euch habe. cf. 14,27. 1.<br />
Joh. 1,3.<br />
V. 12-17.<br />
In vielerlei Wendung hat Jesus es ausgeführt, was <strong>das</strong> heiße, in ihm bleiben <strong>und</strong> er in ihnen. Im<br />
Folgenden wird nun ausgeführt, mit welcher Frucht sie sodann geschmückt sein würden. Es ist dies<br />
die Liebe untereinander V. 12-17, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s sie von der Welt gehasst, wider der Welt Unglauben von<br />
ihm zeugen würden. V. 18-27.<br />
V. 13. ἵνα cf. oben V. 8. 3. Joh. 4. Es steht dieser Vers keineswegs in Widerspruch mit Röm. 5,6,<br />
da diejenigen, welche hier φίλοι genannt werden, φύσει ἐχθροί sind. – Eben so wenig widerspricht<br />
<strong>das</strong> οὐκέτι V. 15 der Stelle Lk. 12,4.<br />
V. 16. ἔθηκα ist nicht gleich ἐφύτευσα, sondern: Diese Stellung, diesen Beruf habe ich euch gegeben;<br />
dazu euch gesetzt; 1. Tim. 1,12. 1. Thess. 5,9.<br />
ὑπάγειν hingehen in euren Beruf, euren Kreis, den ihr in der Welt habt. Mt. 5,16.<br />
V. 17. ταῦτα bezieht de Wette auf <strong>das</strong> Vorhergehende, Andere auf <strong>das</strong> folgende ἵνα = τοῦτο. Winer<br />
p. 137. Es liegt wohl darin: In diesem Allen trage ich euch <strong>das</strong> Eine auf, <strong>das</strong>s ihr etc. Jesus gebraucht<br />
nicht die Ausdrücke κελεύειν oder νόμον τιθέναι oder dergleichen, sondern ἐντέλλομαι.<br />
τέλλω heißt eigentlich zu Stande bringen, zu Ende bringen; τέλλομαι heißt eben so wohl anvertrauen<br />
als beauftragen; ἐντέλλομαι eigentlich: dieses ist’s, was ich in euch zu Stande gebracht haben<br />
will, was ich in euch niederlege; deshalb auch ἐντολάς τηρεῖν.<br />
V. 18-27.<br />
Eben darin, <strong>das</strong>s sie Christi sind, liegt es begründet, <strong>das</strong>s die Welt sie verfolgen wird. Zu V. 18 cf.<br />
1. Petr. 4,12 ff.<br />
V. 20. cf. 13,16. Mt. 10,24.<br />
Das εἰ – εἰ entfaltet den Gedanken nach zwei Seiten; <strong>das</strong> zweite ist dem Sinne nach negativ zu<br />
nehmen.<br />
V. 22. Die Erklärung der meisten <strong>Neue</strong>ren, es sei von der Sünde der Unwissenheit oder aber von<br />
dem Hasse wider Christum die Rede, ist nicht statthaft. Die Alten erklären ἁμαρτία hier richtig vom<br />
Unglauben. cf. V. 23. In Betreff ihrer Sünde, gerecht sein zu wollen <strong>und</strong> durch Werke gerecht zu<br />
werden, was sie doch nicht wurden – haben sie keinen Vorwand, da ihnen Christus als der wahrhaft<br />
Gerechte gegen<strong>über</strong>getreten, nicht um sie zu richten, sondern um sie durch sich selig zu machen; sie<br />
haben ihrer erlogenen Heiligkeit wegen keinen Vorwand mehr, da ihnen die Gerechtigkeit, welche<br />
vor Gott gilt in der Gnade <strong>und</strong> Wahrheit Christi mit aller Langmut <strong>und</strong> Gelindigkeit angetragen ist.<br />
V. 24. καί – καί cf. 6,36.<br />
V. 25. ἐν τῷ νόμῳ αὐτῶν. Röm. 3,19. – Ps. 35,19 <strong>und</strong> 69,5. cf. c. 13,18.<br />
Joma f. 9, 2 heißt es: „In sec<strong>und</strong>a domo sancta novimus omnes fuisse laborantes in lege et praeceptis<br />
ac benignitate, cur ergo vastata est? quod erant odientes alii alios odio gratis.<br />
V. 26. Diesen Spruch hat die griechische Kirche dafür benutzt, die processio Spiritus sancti a patre<br />
daraus zu beweisen. Es ist aber hier nicht von der ewigen Subsistenz-Form, sondern von der
146 15. Kapitel.<br />
Ausgießung des Geistes <strong>über</strong> die Jünger die Rede; sodann enthält <strong>das</strong> πέμψω in sich eingeschlossen,<br />
<strong>das</strong>s der Geist zugleich vom Sohne ausgeht.<br />
Der Geist <strong>und</strong> die Jünger. Act. 15,28. – μαρτυρεῖν Act. 1,8. Mt. 24,14. – ἀπ᾽ ἀρχῆς Act. 1,21.22.<br />
1. Joh. 1,1. – Das Präsens ἐστέ <strong>und</strong> μαρτυρεῖτε bezeichnet, <strong>das</strong>s eben dies der Charakter der Apostel<br />
ist, <strong>das</strong>s ihre ganze Person gleichsam darin aufgeht.<br />
16. Kapitel.<br />
Nachdem Jesus zu Ende des vorigen Kapitels von dem Kampfe gesprochen, der sich aus der<br />
Welt gegen die Jünger erheben wird, so sucht er sie nun um so mehr nach allen Seiten hin zu befestigen,<br />
zu trösten, ihren Glauben zu stärken. Das Eine tut Not, <strong>das</strong>s sie in ihm mit allen Wurzeln <strong>und</strong><br />
Fasern ihres Lebens eingesenkt seien durch den Glauben; ist aber dies, so wird eben dann sich der<br />
Kampf erheben. Das große Werk, <strong>das</strong> Christus vollführt, es soll nun fortleben in seinen Aposteln;<br />
aber werden sie denn Mut haben, den Namen Christi zu bekennen <strong>und</strong> die Welt bei all ihrer Gerechtigkeit<br />
davon zu <strong>über</strong>führen, <strong>das</strong>s sie dennoch sündigt, weil sie an Christum nicht glaubt; wird auch<br />
wohl in ihnen Geist <strong>und</strong> Lebenskraft sein, die Gerechtigkeit in allen Stücken zu erkennen <strong>und</strong> aufrecht<br />
zu erhalten, wenn Christus von ihnen genommen ist: werden sie <strong>das</strong> Gericht durchführen können<br />
zum Siege? Die Jünger trauten sich selbst in keinem Stücke, hatten bis dahin nicht mal ihren<br />
Meister verstanden; ihr einziger Trost war, <strong>das</strong>s Er redete, <strong>das</strong>s Er handelte, <strong>das</strong>s Er in ihrer Mitte<br />
war; sie waren eben jetzt unfähiger, unklarer, aller Zuversicht lediger denn je – <strong>und</strong> welcher Beruf<br />
war gleichwohl ihnen zugeteilt! Man hat den Inhalt dieser Kapitel gar zu kindlich, zu herablassend<br />
gef<strong>und</strong>en; aber man erwäge den unermesslichen Abstand zwischen Christo <strong>und</strong> den Jüngern, <strong>und</strong><br />
man wird es verstehen, <strong>das</strong>s gerade diese w<strong>und</strong>erbaren Troststimmen es gewesen sind, welche die<br />
Apostel aus Unmündigen zu Weisen <strong>und</strong> aus Kindern zu Löwen an Stärke gemacht haben. Jesus bereitet<br />
sie fürs erste darauf vor, <strong>das</strong>s sie den furchtbarsten Widerstreit würden zu bestehen haben V.<br />
1-4, <strong>das</strong>s er sie zwar verlassen, <strong>das</strong>s aber gerade so er, ihr Herr, zu seiner Herrlichkeit eingehen <strong>und</strong><br />
von dem Thron des Vaters herab ihnen eben <strong>das</strong> senden werde, was ihnen fehle <strong>und</strong> Not tue – einen<br />
Geist, den sie bis dahin nicht besessen, einen Beistand, der ihnen helfen werde in ihrem Kampf <strong>und</strong><br />
die ganze Welt werde in Fesseln schlagen, sie aber den Weg der Gerechtigkeit lehren <strong>und</strong> die Gewalt<br />
des Fürsten dieser Welt brechen durchs Gericht V. 5-12. Dieser Geist werde kein fremder Geist<br />
sein oder ein eigner; er werde gerade Ihn, ihren Herrn, ihnen verherrlichen V. 13-15. Daran schließt<br />
sich dann V. 16-28 eine genauere Verkündigung Christi von seinem Tode <strong>und</strong> der ihnen bevorstehenden<br />
Traurigkeit V. 19-22, sodann aber von seiner Auferstehung, <strong>und</strong> der Freude <strong>und</strong> Freimütigkeit<br />
des Gebetes zu Gott, welche die Jünger dadurch empfangen würden, endlich von seiner Himmelfahrt<br />
V. 22-28. Indem nun aber unter solchen Tröstungen <strong>und</strong> herrlichen Verheißungen die Apostel<br />
ganz zuversichtlich werden, bedarf es für sie mit Bezug auf die nahe bevorstehende Erfahrung,<br />
die sie von sich selbst <strong>und</strong> der eingebildeten Stärke ihres Glaubens machen werden, der letzten Weisung,<br />
<strong>das</strong>s sie nicht in sich selbst, sondern lediglich in Christo <strong>und</strong> der ewigen Tat seiner Überwindung<br />
den Gr<strong>und</strong> ihrer Zuversicht <strong>und</strong> somit ihres Friedens suchen sollen V. 29-33.<br />
V. 1. Mt. 13,21.<br />
_______________<br />
V. 2. Das ἀλλά steht in dem Sinne von vielmehr; ja; <strong>das</strong> nicht nur, sondern sogar. 2. Kor. 7,11. –<br />
ἵνα steht hier seiner ursprünglichen Bedeutung „wo“ sehr nahe. c. 12,23.
16. Kapitel. 147<br />
λατρεία cf. עבד Jes. 19,21. προσφέρειν von Opfern gesagt. Quisquis eff<strong>und</strong>it sanguinem impii,<br />
idem facit ac si sacrificium offerat. S. Wetst., auch die Stellen aus Cicero pro domo sua 42 <strong>und</strong> Plin.<br />
H. N. 30, 4.<br />
V. 4. ταῦτα δὲ ὑμῖν steht keineswegs in Widerspruch mit Mt. 5,10. Entschieden wie hier darauf<br />
vorbereitet, <strong>das</strong>s sie in solcher Art würden verfolgt werden – hatte Jesus seine Jünger noch nicht; er<br />
hatte bisher nur von der Verfolgung gesprochen, die ihn treffen würde.<br />
V. 5. Scheinbar widerspricht dieser Vers c. 13,36 <strong>und</strong> 14,5. Dort aber hatten die Jünger gefragt,<br />
wohin Christus gehe, mit Bezug auf sich selbst, was dann aus ihnen werden würde, <strong>und</strong> eben deshalb<br />
waren sie betrübt, weil er von ihnen scheiden würde; was aber aus Christo werden, wo denn Er<br />
sein werde, <strong>das</strong>s ihr Meister eben auf diesem Wege zu seiner Herrlichkeit eingehe, sie also selbst,<br />
als seine Jünger, davon Gewinn haben würden, diese Frage wollte <strong>und</strong> konnte bei ihnen nicht aufkommen.<br />
V. 7. συμφέρει, ἵνα cf. 11,50.<br />
V. 8. ἐλθών nämlich zu den Aposteln; in <strong>und</strong> aus ihnen wird er also die Welt ἐλέγχειν, <strong>über</strong>führen,<br />
convincere; einen Alles niederschlagenden Beweis der Wahrheit liefern, so <strong>das</strong>s Jeder es anerkennen<br />
muss, er möge wollen oder nicht. Zu V. 8 geben V. 9-11 die Erklärung; unter diesen aber ist<br />
V. 10 fast allgemein missverstanden. Die ἁμαρτία ist offenbar der Unglaube V. 9 trotz de W’s. Widerspruch<br />
– aber was ist die δικαιοσύνη V. 10, <strong>und</strong> was bedeutet der doppelte Zusatz mit ὅτι. –<br />
Chrysosth., Euthym., Lücke, Thol. fassen es von der durch den Geist eben damit bewiesenen Gerechtigkeit<br />
Christi, <strong>das</strong>s er auferstanden <strong>und</strong> gen Himmel gefahren sei. Aber diese Erklärer fühlen es<br />
selbst, <strong>das</strong>s dazu <strong>das</strong> οὐκέτι θεωρεῖτέ με in keiner Weise passen will. Cyrill, die Reformatoren,<br />
Lampe u. A. verstehen <strong>das</strong> διακαισύνη von der Gerechtigkeit des Glaubens im Gegensatz gegen die<br />
ἁμαρτία, wissen damit aber den Nachsatz auch nicht in Einklang zu bringen. Das Richtige ist dieses:<br />
Es wäre damit nicht geholfen, wenn der Geist eine Überführung bloß gäbe in Betreff von Sünde;<br />
die Jünger mussten, wenn sie die Welt <strong>über</strong>führten, für sich selbst auch wissen, was Gerechtigkeit<br />
wäre; indem sie durch den Geist die Welt davon nun <strong>über</strong>führen würden, sollte ihnen dieses zu<br />
gute kommen, <strong>das</strong>s sie selbst wissen würden, woran sie sich zu halten hätten, <strong>und</strong> also würde für sie<br />
selbst gesorgt sein, weil ja doch nun Christus zum Vater gehe <strong>und</strong> von ihnen nicht mehr würde gesehen,<br />
also auch nicht mehr <strong>das</strong> ihnen sein könne, was er ihnen bis dahin gewesen.<br />
V. 11. c. 12,31. Die Welt wird <strong>über</strong>führt vom Gericht, nicht <strong>das</strong>s, sondern weil der Fürst dieser<br />
Welt gerichtet ist. 1. Joh. 5,4.5. Apg. 11,15; 12,10 etc. Der Fürst dieser Welt gebärdete sich als Gott,<br />
<strong>und</strong> seine Diener als Engel des <strong>Licht</strong>s; da ihm aber nunmehr die Larve genommen, die Macht ihm<br />
geraubt, er hinausgeworfen ist, so ist nun eben dieses <strong>das</strong> Gericht, <strong>das</strong>s die Welt einem Solchen sich<br />
fortwährend ergibt zum Dienst, der doch vor ihren Augen gerichtet <strong>und</strong> zu Schanden <strong>und</strong> machtlos<br />
gemacht ist.<br />
V. 12. βαστάζειν ebenso Epictet enchir. 29, 5. Christus hat noch Vieles den Jüngern zu sagen,<br />
nicht als ob dies Viele in dem nicht schon enthalten wäre, was er gesagt c. 15,15 – aber es war noch<br />
Vieles zu sagen, weil sie noch so wenig verstanden.<br />
V. 13. Ps. 25,5 LXX ὁδήγησόν με ἐπὶ τὴν ἀλήθείαν σοῦ. – ἀφ᾽ ἑαυτοῦ 5,19. – τὰ ἐρχόμενα der<br />
Dinge Zukunft <strong>und</strong> Auskunft, <strong>das</strong>s ihr in Not Gewissheit erlangt, welchen Verlauf <strong>und</strong> welches<br />
Ende es mit einem Dinge nehmen wird. Act. 10; 11,27 f.; 13,2; 16,6.9. – Die Apokalypse des Johannes.<br />
So wie Jesus, da er in der Welt war, in Allem, was er gelehrt <strong>und</strong> getan, sich gehalten an <strong>das</strong> Wort<br />
<strong>und</strong> den Willen des Vaters, <strong>und</strong> der Schrift untertan gewesen ist in Allem, so beweist sich der heil.
148 16. Kapitel.<br />
Geist auch eben darin als den Geist der Wahrheit, <strong>das</strong>s er nichts aus dem Eigenen hervorholt, <strong>das</strong>s er<br />
Christi Ehre allein sucht <strong>und</strong> <strong>das</strong>s er aus der Fülle Christi Alles hervorgenommen hat <strong>und</strong> nimmt,<br />
worin aufgeschlossen liegen alle Schätze der Erkenntnis. Wie Jesus, da er auf Erden war, in allen<br />
Dingen mit Gebet <strong>und</strong> Flehen gehorcht <strong>und</strong> gelauscht hat nach dem Willen des Vaters, so der Geist<br />
horcht <strong>und</strong> lauscht nach dem Worte Christi. Es ist aber so gewiss der Geist selbst Gott, als nur er die<br />
Tiefen der Gottheit erforscht, die Gnaden Christi 1. Kor. 2, wie denn auch Niemand Christum<br />
κύριον nennen kann ohne durch den heil. Geist.<br />
V. 17-28.<br />
V. 19. Das πάλιν μικρὸν καὶ ὄψεσθέ με ist ohne Zweifel von der Auferstehung zu verstehen, wie<br />
richtig Theoph., Lampe u. A. erklären. Lücke <strong>und</strong> zum Teil auch Tholuck wollen hier wiederum von<br />
einem Schauen im Geist <strong>das</strong> Ganze verstanden haben.<br />
V. 21. Die St<strong>und</strong>e der Schmerzen ist Geburtsst<strong>und</strong>e eines neuen Lebens.<br />
V. 23. Alle Fragen ihres Herzens drängten sich doch in der einen Frage zusammen – wer Jesus<br />
sei, welches seine Wege, <strong>und</strong> was sie selbst in <strong>und</strong> durch ihn wären; in der einen Frage, wie sie in<br />
Christo <strong>das</strong> Leben <strong>und</strong> die Gerechtigkeit möchten gef<strong>und</strong>en haben, durch ihn zu Gott gebracht sein.<br />
Aller dieser Fragen Antwort lag ἐν τῷ ὀνόματι Ἰησοῦ; war dieser Name ihnen verherrlicht – da würde<br />
ihnen der freie Zuzug zu Gott selbst mit einem Mal geöffnet sein – da würden sie bitten <strong>und</strong> nehmen,<br />
<strong>und</strong> ihre Freude zum vollen Maße gebracht sein, <strong>das</strong>s nichts mehr ihnen fehlte.<br />
V. 25. Das ἐν παροιμίαις ist ebenso zu erklären, wie wenn Paulus sagt: βλέπομεν δι᾽ ἐσόπτρου ἐν<br />
αἰνίγματι; eben des Dunkels wegen, <strong>das</strong> die Seele des Menschen erfüllt, kann der <strong>Licht</strong>strahl nur in<br />
Brechungen, in Schattenrissen, in Bildern <strong>und</strong> Sprechweisen eintreten.<br />
V. 26-28. Auch hier zum Schlusse vor den Jüngern wie vor dem Volk Kap. 12 ist Jesus nur der<br />
Diener, der Abgesandte, der Bote des Vaters; eben darin erweist er sich als den Sohn <strong>und</strong> als <strong>das</strong><br />
ewige Leben, <strong>das</strong>s er von nichts weiß als von Gott, dem lebendigen Gott, <strong>und</strong> all sein Wort <strong>und</strong> Tun<br />
Offenbarung des einigen Gottes <strong>und</strong> Vaters ist.<br />
V. 30. χρείαν ἔχειν, ἵνα cf. Winer p. 540 u. συμφέρει, ἵνα,<br />
V. 31. Das ἄρτι πιστεύετε ist nicht geradezu mit de W. für zweifelnde Frage zu nehmen, sondern:<br />
Freilich für den Augenblick glaubt ihr, aber auch eben nur für den Augenblick etc.<br />
V. 32. ἴδια ganz irrig von de W. erklärt durch „Haus.“ Jeder würde suchen sich selbst zu retten,<br />
auf sich <strong>und</strong> sein Eigenes zurückgeworfen werden – Jesum aber würden sie allein lassen. c. 8,29.<br />
17. Kapitel.<br />
Das in diesem Kap. von Joh. mitgeteilte Gebet Jesu wird seit Chytraeus die oratio sacerdotalis<br />
mit <strong>Recht</strong> in der Kirche genannt. Zanchius: „Vere et merito precatio haec dicitur esse f<strong>und</strong>amentum<br />
totius ecclesiae a condito orbe ad finem usq. saeculorum. Habuit enim haec Christi precatio iam a<br />
condito orbe, habet et habitura est suam in omnibus electis, e quibus constat ecclesia, efficacitatem<br />
et plena est maximis consolationibus.“ Augustinus tract. c. IV in Joh.: „Poterat dominus noster unigenitus<br />
et coaeternus Patri in forma servi et ex forma servi, si hoc opus esset, orare silentio; sed ita<br />
se Patri exhibere voluit precatorem, ut meminisset, nostrum se esse doctorem. Proinde eam, quam<br />
fecit orationem pro nobis, notam fecit et nobis: quoniam tanti magistri non solum apud ipsos sermocinatio<br />
sed etiam ipsius pro ipsis ad patrem oratio discipulorum est aedificatio.“ Es ist <strong>das</strong> Gebet,<br />
welches der einige Mittler Gottes <strong>und</strong> der Menschen in der Welt ausgesprochen hat in jener St<strong>und</strong>e,<br />
wo sich der Tod <strong>und</strong> alle Gewalt der Finsternis <strong>über</strong> ihn aufgemacht hatte, wo Alles den Anschein
17. Kapitel. 149<br />
hatte, als sei diese Welt auf ewig von Gott losgerissen, Christus <strong>und</strong> sein ganzes Werk dem Untergange<br />
preisgegeben. Deshalb ist dieses Gebet auch <strong>das</strong> Gebet der Kirche in allen Zeiten der Finsternis,<br />
der Not <strong>und</strong> des Verderbens, wo es den Anschein hat, als werde die Erkenntnis Gottes <strong>und</strong><br />
Christi nimmermehr oben kommen, wo Alles sich zerstreut <strong>und</strong> verliert, wo Sünde <strong>und</strong> Verderben<br />
<strong>über</strong>hand nimmt, wo nichts denn Schmach <strong>und</strong> Ertötung zu sehen ist. Dieses Gebet eröffnet der Kirche<br />
<strong>das</strong> Herz ihres Herrn <strong>und</strong> Heilandes, was er für sie tut <strong>und</strong> was er für sie bittet; wessen sie sich<br />
zu ihm versehen darf; wie er als ihr Hohepriester zu Gott für sie eingegangen; <strong>und</strong> so gewiss Christus<br />
aus dem Todesleiden erhöhet ist zur <strong>Recht</strong>en des Vaters, so gewiss kann die Kirche in diesem<br />
Gebet ergreifen die auch ihr selbst bevorstehende Herrlichkeit, welche gerade dann nahe ist geoffenbart<br />
zu werden, wenn alle Gewalten <strong>über</strong> sie hereinbrechen, sie von Gott <strong>und</strong> ihrer Seligkeit<br />
wegzureißen <strong>und</strong> zu verschlingen.<br />
V. 1-8. Jesu Gebet für sich selbst.<br />
V. 1. ταῦτα ἐλάλ. bezieht sich auf die vorigen Reden. Das Gebet ist als Schluss der vorigen Reden,<br />
als <strong>das</strong> Gebet <strong>und</strong> der mächtigste Trost des Abschieds zu betrachten. – ἡ ὥρα die St<strong>und</strong>e, die<br />
entscheidende, in welcher aller Propheten Worte erfüllt werden sollten.<br />
V. 2. Man vergegenwärtige sich die Lage der Dinge. Der ewige Sohn des Vaters, der allein Heilige<br />
<strong>und</strong> Herrliche, liegt im Staube <strong>und</strong> ringt mit dem Tode, von der ganzen Welt verkannt, von dem<br />
Volke Gottes verworfen, <strong>und</strong> die furchtsamen Jünger um sich her, deren Herzen voll Traurigkeit, deren<br />
Augen voll Schlafs. Dennoch, wenn nicht Er bei Gott verherrlicht wurde, wenn nicht Er in den<br />
Himmel einging, wenn nicht Er den Tod <strong>über</strong>wand <strong>und</strong> aus der Tiefe die Kreatur wieder mit <strong>und</strong> in<br />
Sich emporhob in <strong>das</strong> ewige <strong>Licht</strong> der Herrlichkeit <strong>und</strong> Seligkeit des Vaters – so hatte der Tod gesiegt,<br />
die Hölle gewonnen. Er musste verherrlicht werden, sollte je die seufzende Kreatur der verlorenen<br />
Güter wieder teilhaftig werden. Wenn nicht der Mensch Jesus Christus in Herrlichkeit aufgenommen<br />
wurde – so blieb die ganze Welt im Abgr<strong>und</strong>e der Verlorenheit unrettbar liegen. Wie war<br />
denn aber Er, der Sohn, hineingekommen in diese Tiefen, diese Schmach, diesen Fluch? Er hat sich<br />
freiwillig hineinbegeben, im Gehorsam des Vaters – deshalb hineinbegeben, um den verkannten <strong>und</strong><br />
entehrten Namen seines Vaters inmitten des Ungehorsams <strong>und</strong> der Verkennung aller Welt, inmitten<br />
des Unglaubens, der Not <strong>und</strong> des Zagens, inmitten aller Zweifel <strong>und</strong> Lügen wieder zu Ehren zu<br />
bringen als den allein heiligen, guten <strong>und</strong> Seligkeit in sich bergenden <strong>und</strong> schließenden Namen, als<br />
den Namen des Vaters seiner Geschöpfe. Jesus spricht so von dem Sohn – als ob er selbst es nicht<br />
wäre, wie auch in der Rede an Nikodemus; er stellt die Wahrheit vor sich <strong>und</strong> vor Gott <strong>und</strong> die Seinen<br />
hin, <strong>das</strong>s der Sohn müsse verherrlicht werden – solle je Gott unter den Menschen seine Ehre<br />
wieder gegeben sein – solle je <strong>das</strong>, was Gottes ist – <strong>das</strong> ist die verlorene Kreatur – des Lebens wieder<br />
teilhaftig geworden sein. So liegt denn Alles darin, <strong>das</strong>s ὁ υἱὸς δοξασθῇ. – 2. Thess. 1,10. Der<br />
Nachsatz καθώς gibt an, in welcher Eigenschaft, mit dem Hinblick worauf Jesus von einer Verherrlichung<br />
redet.<br />
V. 3. Es ist nicht von ferne wahr, <strong>das</strong>s hier Jesus von der fides universalis an Einen Gott <strong>und</strong> seinen<br />
Abgesandten, Jesum Christum spräche. Das ist eben der Welt größter <strong>und</strong> todbringender Irrtum,<br />
<strong>das</strong>s alle von Gott reden, auch an einen Gott glauben – den Gott aber, der der einzig wahrhaftige<br />
ist, so nicht erkennen, wie er die ganze Fülle seines <strong>über</strong>strömenden Lebens, aller Herrlichkeit,<br />
Gottheit <strong>und</strong> Gnade in Jesu Christo geoffenbart hat. Jesus kennt den Vater – wie aber er ihn kennt,<br />
sieht er ihn von Niemand gekannt; Ihn den Menschen kennen zu lehren, ist er gekommen, <strong>und</strong> welcherlei<br />
Leben es auch geben mag, <strong>das</strong> ewige Leben ist allein dieses, den Gott zu erkennen, den<br />
Christus hier angeredet hat. – cf. Calov, Bibl. illustr. – Es heißt nicht, <strong>das</strong>s sie erkennen, μόνον εἶναν
150 17. Kapitel.<br />
τὸν θεόν. Da man dies nicht verstanden, hat man sich auch in den Zusatz καὶ ὃν ἀπίστειλας nicht<br />
finden können. Der von Bretschn. <strong>und</strong> de W. gemachte Einwurf ist, Jesus würde von sich selbst so<br />
nicht gesprochen haben. Die Arianer leugneten daraus die Gottheit Christi. Ambros., August.,<br />
Hilarius wollten deshalb anders konstruieren: <strong>das</strong>s sie Dich <strong>und</strong> den Du gesandt hast – als den allein<br />
wahren Gott erkennen; Clericus dagegen, Nösselt u. A. wollen <strong>das</strong> Χριστόν als Prädikat „als den<br />
Christus“ nehmen. Es ist aber offenbar, <strong>das</strong>s wenn hier, wo von dem allein wahren Gott die Rede –<br />
in gleiche Reihe damit Jesus Christus gestellt ist, <strong>das</strong>s dann die Erkenntnis des μόνος ἀληθινός θεός<br />
gerade <strong>und</strong> allein in Jesu Christo gegeben ist; Beides ist eins. – 1. Joh. 5,20.<br />
V. 4.5. Phil. 2,7. 2. Kor. 8,9.<br />
V. 8. Indem die Jünger Jesum in ihrer Mitte gehabt, seine Worte in ihr Herz gedrungen waren,<br />
seine Werke ihnen die Macht Gottes enthüllten, alles herzustellen zum Leben <strong>und</strong> eine Fülle <strong>und</strong><br />
Überfluss aller Dinge zu schaffen – da haben sie es erkannt, <strong>das</strong>s von dem unsichtbaren <strong>und</strong> ewigen<br />
Gott selbst der ausgegangen war, den sie vor sich hatten, ja <strong>das</strong>s Gott selbst ihn zu ihnen gesandt<br />
hatte, seinen Sohn, den Ausdruck seines Wesens, in dem sie Gottes des Vaters eigne Liebe, eignes<br />
Herz, Macht <strong>und</strong> Herrschaft als mit den Händen tasten konnten.<br />
V. 9-21.<br />
Jesus hatte um seine Verherrlichung gebeten; er hatte dieselbe damit begründet, <strong>das</strong>s also der<br />
ewige Ratschluss Gottes seiner Verherrlichung in der Erlösung des Verlorenen erreicht werde V. 1-<br />
3. Er auf der Erde hat den Namen des Vaters verherrlicht – Gott im Himmel möge nun den Sohn<br />
verherrlichen V. 4.5. Bei Welchen ist aber der Name des Vaters verherrlicht auf Erden <strong>und</strong> in welcher<br />
Weise? V. 6-8. So geht denn jetzt <strong>das</strong> Gebet <strong>über</strong> in die Bitte für diejenigen, welche Jesus auf<br />
Erden zurücklässt. Sie sind <strong>das</strong> Eigentum des Vaters V. 9; so lange Jesus in der Welt war, hat er sie<br />
bewahrt im Namen des Vaters, <strong>und</strong> so bittet er noch jetzt für sie, <strong>das</strong>s die Freudigkeit zu Gott in ihnen<br />
völlig gemacht sei V. 10-13. Sind sie nicht aus dieser Welt, so müssen sie doch etwas haben in<br />
dieser Welt, darin sie aufgehoben <strong>und</strong> Gotte heilig sind – <strong>das</strong> ist <strong>das</strong> Wort Gottes V. 14-18. In diesem<br />
Worte ruht auch ihr Beruf in der Welt: zu stehen aus allem Verderben <strong>und</strong> Nichtigkeit herausgehoben<br />
(ἡγιασμένοι) zur Predigt <strong>und</strong> zum Zeugnis V. 19-21.<br />
V. 9. 1. Joh. 5,16.<br />
V. 14. Der Gegensatz zwischen Christo <strong>und</strong> der Welt ist also keineswegs in der Weise aufgehoben,<br />
<strong>das</strong>s die Welt nicht mehr bestände oder ganz sollte geheiligt werden. Obwohl nicht aus der<br />
Welt – sind doch die Gläubigen in der Welt, <strong>und</strong> in ihnen regiert Christus, durch die Predigt fortwährend<br />
zum Glauben zu gewinnen <strong>und</strong> auch die Welt selbst, ob sie auch Welt bleiben will, dennoch<br />
davon zu <strong>über</strong>führen zu einem Zeugnis wider sie, <strong>das</strong>s Gott in Christo Allen <strong>das</strong> Heil gesandt.<br />
ὁ κόσμος; ist hier die Welt im Ganzen – insbesondere <strong>das</strong> in Eigengerechtigkeit feindselige jüdische<br />
Volk.<br />
V. 17. cf. 1. Kor. 7,14. Eph. 4,4. 1. Thess. 4,7. 2. Thess. 2,13. – V. 11 hieß es πάτερ ἅγιε τήρησον<br />
– hier ἁγίασον. Heilig ist <strong>das</strong> Unantastbare, <strong>das</strong> in sich Unverletzliche, Herrliche, Hohe <strong>und</strong> Selige;<br />
gerade in seiner Heiligkeit ruft deshalb Christus den Vater an, <strong>das</strong>s er die Glaubenden in der Welt<br />
bewahren möge; ja er möge sie selbst unverletzlich, allem Verderben, Sünde <strong>und</strong> Untergang unantastbar<br />
machen in seiner Wahrheit. Das ἁγιάζω V. 19 hat man mit Bezug auf <strong>das</strong> hebr. הקדיש Lev.<br />
22,2. Deut. 15,19. Röm. 15,16. Hebr. 9,14 vom Opfer verstanden, <strong>und</strong> <strong>über</strong>setzt „ich weihe mich für<br />
sie dem Tode.“ Dann macht aber <strong>das</strong> folgende ἡγιασμένοι Schwierigkeit, welches Einige zwar auch<br />
vom Märtyrertum, die Meisten aber von der wahren Heiligung des Lebens verstehen, <strong>das</strong> ἐν
17. Kapitel. 151<br />
ἀλήθεία im Gegensatz gegen die bloß typische Reinigung durch <strong>das</strong> Opfer des A. T. Es ist aber von<br />
der Gr<strong>und</strong>bedeutung des ἁγιάζειν auszugehen. Gott ist allein ἅγιος, herrlich, unverletzlich. Was nun<br />
einem Könige, einem Mächtigen angehört, nimmt als sein Eigentum an seiner Unverletzlichkeit teil.<br />
Deshalb sagt Christus, <strong>das</strong>s er sich für die Seinen in völligem Gehorsam hingebe, sich vor der ganzen<br />
Welt als den Sohn, den Knecht Gottes bewähre, als denjenigen also, der Gotte ganz zu eigen ist<br />
– damit die Seinen eben in diesem seinem Willen <strong>und</strong> Gehorsam als Gott Angehörige, von ihm Erkaufte,<br />
geheiligt seien in Wahrheit, der Sünde <strong>und</strong> dem Verderben unantastbar, aufgenommen in die<br />
Herrlichkeit des Vaters. Was einer dem andern als sein Eigentum, als sein Liebstes auf die Seele geb<strong>und</strong>en<br />
– <strong>das</strong> ist diesem heilig, unantastbar.<br />
V. 21. ἑνότης τοῦ πνεύματος. Eph. 4,13. Phil. 1,27.<br />
V. 22-26. Des Gebetes Schluss.<br />
V. 22. Die δόξα ist hier sehr verschieden bestimmt worden. Augustin deutet sie von der Unsterblichkeit;<br />
Chrys., Grotius von der W<strong>und</strong>erkraft; viele Andere unterscheiden die dreifache δόξα der<br />
Lehre, der W<strong>und</strong>er <strong>und</strong> der Eintracht; Calvin versteht darunter die innere Herrlichkeit. Das Wort<br />
δόξα nimmt eine wesentliche Stelle ein im Sprachgebrauch der Apostel. cf. c. 1,14. Röm. 2,10;<br />
3,23; 8,18 ff.; es ist verb<strong>und</strong>en mit τιμή, εἰρήνη, ἀφθρσία, χάρις, ἀλήθεία <strong>und</strong> steht gegen<strong>über</strong> der<br />
φθορά, der ματαιότης, der θλῖψις. Vergleichen wir die verschiedenen Verbindungen, in denen δόξα<br />
V. 22 <strong>und</strong> 24 vorkommt (1. Joh. 3,2), so kann es hier nur der <strong>Licht</strong>glanz <strong>und</strong> die Abspiegelung sein<br />
aller Tugenden <strong>und</strong> Vollkommenheiten Gottes. Durch <strong>das</strong> Anschauen der in Christo offenbarten<br />
Gnade <strong>und</strong> Wahrheit – werden die Glaubenden selbst verklärt in dieses Bild; Gott ist Alles in Allem,<br />
deshalb gilt hier auch nur Eines, deshalb bittet auch Christus, ἵνα ὦσι τετελειωμένοι εἰς ἕν – dieses<br />
Eine ist, die Erkenntnis Gottes, die aus Ihm ausströmende Fülle – <strong>das</strong> πλήρωμα dessen, der sich Alles<br />
in Allen erfüllt. Eph. 1. cf. 2. Tim. 1,9.<br />
V. 24. 2. Tim. 2,12. Apoc. 3,21. Eph. 2,6. 1. Petr. 4,13.<br />
V. 25. Das πάτερ δίκαιε καὶ erklären Lampe, Augustin u. A. „Du bist gerecht, deshalb hast Du<br />
der gottlosen Welt Deine Erkenntnis entzogen.“ Neander nimmt δίκαιος gleich ἅγιος „heiliger Vater<br />
<strong>und</strong> den die Welt nicht erkannt, also heilig <strong>und</strong> unerkannt.“ de Wette <strong>und</strong> Tholuck ziehen <strong>das</strong> καὶ<br />
nicht zum Vorhergehenden, sondern nehmen es mit dem folgenden δέ = καὶ, καί – was aber nicht<br />
angeht. Richtig Winer καί in adversativer Bedeutung „<strong>und</strong> doch.“ Es ist nämlich aus dem δίκαιε<br />
πάτερ zu ergänzen: Gerecht bist Du <strong>und</strong> verdienst alles Zutrauen zu Deiner Wahrheit <strong>und</strong> Güte; die<br />
Welt aber misskennt Dich <strong>und</strong> weiß nicht um Deine Liebe.<br />
Die Leidens-Geschichte. Kapitel 18 <strong>und</strong> 19.<br />
Zur Ergänzung vergleiche den Kommentar von Wichelhaus zum Matth. <strong>und</strong> seinen ausführlichen<br />
Kommentar zur Leidens-Geschichte. Ferner Steinmeyer, die Leidens-Geschichte des Herrn, Berlin<br />
1868. Nebe, die Leidens-Geschichte, Wiesbaden 1881/82. Passionspredigten von Kohlbrügge, Elberfeld<br />
1874/75.<br />
18. Kapitel.<br />
V. 1-11. Die Gefangennehmung.<br />
V. 1. Statt τοῦ Κεδρών lesen B. C. <strong>und</strong> andere Handschriften τῶν κέδρών, wahrscheinlich nur<br />
aus Missverständnis. ק¤ד¦רון der schwärzliche heißt auch in der LXX, 2. Sam. 15,23, <strong>und</strong> bei Josephus<br />
arch. 8, 1. 5 χείμαῤῥος Κεδρών – die Talschlucht bei Letzterem φάραγξ τοῦ Κεδρῶνος.
152 18. Kapitel.<br />
V. 3. σπεῖρα eine römische Kohorte, oder vielmehr eine Patrouille derselben. cf. V. 12. φανοί <strong>und</strong><br />
λαμπάδες gehören nach Dionys. Halic. zu den Soldaten-Utensilien bei nächtlichen Märschen. φανός<br />
bezeichnete bei den Attikern die Fackel, <strong>das</strong> <strong>Licht</strong> selbst, bei den Späteren aber die Leuchte, Laterne,<br />
so auch hier. cf. Wetstein. λαμπάδες sind dann die <strong>Licht</strong>er <strong>und</strong> Fackeln.<br />
V. 5. Der von den Synoptikern erzählte Verrat des Ju<strong>das</strong> reiht sich hier leicht ein.<br />
V. 6. Die Geschichte liefert Beispiele eines ganz außerordentlichen Eindrucks, den die Unerschrockenheit<br />
<strong>und</strong> Ruhe eines Mannes auf eine tobende Schar gemacht, so bei Antonius (Valerius<br />
Max. VIII, 9. 2), Marius (Velleius II, 19, 3), dem Admiral Coligny – aber <strong>das</strong>s hier die Truppen sogar<br />
zu Boden stürzen, kann nur durch den Eindruck einer göttlichen Macht erklärt werden.<br />
V. 9. Auf den ersten Blick erscheint diese Anwendung des Wortes Christi aus c. 17 (cf. V. 32) gar<br />
zu äußerlich, was auch Schweizer u. A. dem Evangelisten zu großem Vorwurf machen. Es beginnt<br />
hier aber <strong>das</strong> Leiden Christi; dieses Leiden war stellvertretend; <strong>und</strong> so tritt gleich von vornherein<br />
Christus für die Seinen vor, es Alles für sie durchzumachen, damit sie frei ausgehen können.<br />
V. 10. ὠτίον andere Lesart ὠτάριον.<br />
V. 11. ποτήριον cf. Mt. 26,39.<br />
V. 12-17. Das Verhör vor dem Hohepriester <strong>und</strong> des Petrus Verleugnung.<br />
V. 15. Die Codd. B. C. u. A. lesen zwar ὁ ἄλλος μαθητής wie c. 20,2.3.4, wo Johannes gemeint<br />
ist; diese Lesart ist aber wahrscheinlich nur der Konformität mit jenen Stellen wegen entstanden<br />
<strong>und</strong> die andere Lesart ἄλλος ohne Artikel vorzuziehen. Es ist dann durchaus kein Gr<strong>und</strong> vorhanden,<br />
<strong>das</strong>s dieser Jünger Johannes sollte gewesen sein.<br />
V. 16. Die Einrichtung der jüdischen Häuser war der Art, <strong>das</strong>s sie meistens im Quadrat gebaut in<br />
der Mitte einen Hof mit r<strong>und</strong> herumlaufenden Hallen hatten, aus welchen man in die Zimmer eintrat.<br />
Der Eingang in den Hof geschah durch <strong>das</strong> προαύλιον, πρόθυρον, in dessen Seitengemächern<br />
Pförtner <strong>und</strong> Dienerschaft verweilten. Die Hebräer hatten auch Türhüterinnen. 2. Sam. 4,6. LXX.<br />
Jos. arch. 7, 2. 1. Act. 12,13. Anus hic solet cubitare custos, ianitrix. cf. Wetstein.<br />
V. 18. Die δοῦλοι sind die Dienerschaft; die ὑπηρέται cf. V. 12 die Tempelwache, oder Polizei.<br />
V. 20. ἐπερωτᾶν befragen.<br />
V. 23. Eurip. fragm. 372. Ἤ δεῖ μ᾽ ἐλέγχειν, ἢν τι μὴ καλῶς λέγω ἢ τοισιν εὖ λεχθεῖσι συγχωρεῖν<br />
λόγοις.<br />
V. 24. Dieser Vers hat der Harmonistik große Mühe gemacht. Denn die andern Evangelien melden<br />
nur, <strong>das</strong>s Jesus in die αὐλή des ἀρχιερεύς d. i. des Kaiphas geführt sei; dort fanden auch die drei<br />
Verleugnungen des Petrus statt – hier aber hat es den Anschein, als sei Jesus zuerst schon bei Hannas<br />
verhört, dann erst jetzt zu Kaiphas geführt worden. Die gangbare Annahme ist jetzt die (Calvin,<br />
de Dieu, Meyer, Lücke, de W., Thol.), V. 24 sei eine nachträgliche Notiz <strong>und</strong> der Aor. als Plusquamp.<br />
zu <strong>über</strong>setzen; der Zeitordnung nach gehöre V. 24 zu V. 14. Einige haben ihn wirklich dorthin<br />
versetzen – Andere als Glossem ihn auswerfen wollen. Diese Annahme bestätigt sich dadurch,<br />
<strong>das</strong>s auch V. 25 V. 15 wieder aufnimmt; der Gr<strong>und</strong> dieser nachträglichen Bemerkung ist in dem<br />
δεδμένον gegeben; Hannas, den man damit geehrt hatte, <strong>das</strong>s man Jesum zuerst zu ihm geführt, hatte<br />
dem Gerechten die Bande nicht abgenommen. Petrus hatte wohl nicht gedacht, <strong>das</strong>s die Gefangennehmung<br />
von den Obersten des Volks selbst ausgegangen sei – so war er denn schon hierdurch<br />
betroffen, <strong>das</strong>s Hannas diese räuberische <strong>und</strong> gewaltsame Gefangennehmung durch sein eignes Benehmen<br />
guthieß.
18. Kapitel. 153<br />
V. 26. συγγενὴς ὤν: dies mochte sich in den Gesprächen, welche die Diener miteinander geführt,<br />
gezeigt haben; dadurch war nun Petrus um so mehr eingeschüchtert.<br />
V. 28-40. Jesus im Prätorium.<br />
V. 28. πραιτώριον. Zu Phil. 1,23 ist ein gelehrter Streit zwischen Nuber <strong>und</strong> Perizonius geführt<br />
worden, ob praetorium den Palast des Prätor oder Proprätor an sich, oder dessen Wohnung innerhalb<br />
des Lagers bezeichne. In Jerusalem war die Wohnung des Pilatus in der Burg Antonia, welche<br />
nördlich an den Tempelhof stieß, diesen beherrschte <strong>und</strong> wo zugleich die römischen Truppen ihre<br />
Standquartiere hatten.<br />
πρωΐα. Lachm. <strong>und</strong> Griesb. lesen <strong>das</strong> Adv. πρωΐ.<br />
V. 31. Das jus gladii ging nach römischem Staatsrecht auf den römischen Statthalter <strong>über</strong> in dem<br />
Augenblicke, wo Judäa römische Provinz wurde; also nach dem Tode des Archelaus. Nach der talmudischen<br />
Tradition wäre <strong>das</strong>selbe 40 Jahre vor der Zerstörung des Tempels den Juden genommen<br />
worden.<br />
V. 32. Nach jüdischem <strong>Recht</strong>e wäre Christus gesteinigt worden; bei den Römern war die Strafe<br />
der Kreuzigung üblich, womit insbesondere auch Aufrührer belegt wurden. Lips. de cruce 1, 14.<br />
V. 37. Die Formel οὺ λέγεις ist eine in der rabbinischen Sprache übliche Bejahungsformel<br />
(Schoettg. hor. Hebr. zu Mt. 26,25) – für die sich im A. T. (Ex. 10,29; 1. Reg. 20,40) <strong>und</strong> der klassischen<br />
Sprache (S. Wetstein zu Mt. 26,25) nur unvollkommene Parallelen finden. Das ὅτι, welches<br />
folgt, wird von Einigen (Erasmus, Dan. Heinsius) durch „<strong>das</strong>s“, von Andern durch „denn“ <strong>über</strong>setzt<br />
(direkte oder indirekte Rede).<br />
V. 38. Das wenigstens war eine Wahrheit für Pilatus, <strong>das</strong>s Christus unschuldig <strong>und</strong> nur aus Neid<br />
<strong>über</strong>antwortet war.<br />
V. 39. Woher <strong>und</strong> wann diese Sitte entstanden, lässt sich nicht bestimmen. Bei den Römern<br />
pflegten am Fest der Lektisternien (Liv. 5, 23), bei den Griechen an den Thesmophorien Gefangene<br />
freigelassen zu werden. – cf. Mt. 27,17. Bei diesem Gespräch des Pilatus waren wohl einige Personen<br />
zugegen, welche <strong>das</strong>selbe erzählt haben, so <strong>das</strong>s es weiter bis zu den Aposteln gekommen ist.<br />
Es ist aber <strong>über</strong>haupt zu beachten, wie – selbst wenn Pilatus allein war – dergleichen geheime Unterredungen<br />
doch fast immer laut werden; Pilatus wird wohl selbst davon erzählt haben.<br />
Die Juden, von den Pharisäern aufgewiegelt, verlangten von Pilatus eigentlich nur die Exekution;<br />
Pilatus aber nach der so sehr gerühmten römischen Justizpflege wollte doch eine cognitio causae<br />
vornehmen <strong>und</strong> <strong>das</strong> Volk, teils verspottend, teils aber ihren Andrang fürchtend – will er seine Macht<br />
nicht gebrauchen, Christum zu retten, möchte sich aber auch nicht zum bloßen Werkzeug der Leidenschaft<br />
<strong>und</strong> Ungerechtigkeit hergeben.<br />
19. Kapitel.<br />
V. 1-15. Die Geißelung Jesu, <strong>das</strong> zweite Verhör, welches Pilatus anstellt, <strong>und</strong> die<br />
Überantwortung zur Kreuzigung.<br />
V. 1. Nach Lukas hat Pilatus in der Ungewissheit, was mit Jesu zu tun, ihn auch zu Herodes geschickt,<br />
der sich damals in Jerusalem zum Fest aufhielt. – Den Gr<strong>und</strong> der Geißelung gibt Lk. 23,16<br />
an. Die Geißelung, bei den Prokonsuln von den Liktoren, hier von den Soldaten ausgeführt, war<br />
eine an sich schwere Strafe, Philo ad Flacc. Tom. II (Mang.) p. 528; danach wollte Pilatus Jesum<br />
entlassen. Die Anklage der Juden war aber gewesen (cf. Lukas), <strong>das</strong>s Jesus <strong>das</strong> Volk dem Kaiser ab-
154 19. Kapitel.<br />
wendig gemacht <strong>und</strong> sich zum König aufgeworfen. An diese Anklage hatte Pilatus sein erstes Verhör<br />
geknüpft; hieran knüpft sich der Spott der Soldaten. Aber indem Pilatus Jesum als einen König<br />
mit der Dornenkrone dem Volke vorführte, glaubte er doch ihre Anklage zu entkräften: ob wohl ein<br />
solcher König könnte angemaßter Herrschaft wegen verurteilt werden oder dem Lande gefährlich<br />
sein? – Dass bei Matthäus <strong>und</strong> Markus die Geißelung in anderem Zusammenhange erzählt wird, ist<br />
kein Widerspruch; Jene fassen nämlich die ganze Verhandlung des Pilatus zusammen <strong>und</strong> erzählen<br />
die Geißelung dann besonders; <strong>das</strong>s sie aber diese letztere als einen Vorakt der Kreuzigung erzählen,<br />
wie Viele behaupten, ist nicht der Fall.<br />
V. 2. ἱμάτον πορφοοῦν bei Matth. κλαμὺς κοκκίνη war wahrscheinlich ein Soldatenmantel vornehmerer<br />
Art. Paulus zu Mt. 27,28. – Die ἐσθὴς λαμπρά, womit Jesus bei Herodes Antipas auch<br />
zum Hohn umhangen wird – ist etwas ganz Anderes, ein Hofkleid.<br />
V. 3. cf. was Vopiscus von Proculus erzählt bei Tholuck.<br />
V. 5. Die Worte Ἴδε ὁ ἄνθρωπος: Sehet doch, dieser Leidensmensch, dieser Unglückliche, sind<br />
ohne Zweifel in dem Sinne von Pilatus gesprochen, <strong>das</strong>s er, selbst von des Unglücklichen <strong>und</strong> Verhöhnten<br />
Anblick ergriffen, ihre Wut gegen einen Solchen entwaffnen wollte.<br />
V. 7. Da die Juden mit ihrer Anklage einer Auflehnung wider den Kaiser <strong>und</strong> <strong>das</strong> römische Gesetz<br />
nicht durchdringen, so berufen sie sich nun darauf, <strong>das</strong>s er nach ihrem Gesetz des Todes schuldig<br />
sei.<br />
V. 9. πόθεν εἶ συ; den Eindruck hatte Pilatus bekommen, <strong>das</strong>s dieser Mensch nicht ein Mensch<br />
war wie andere Menschen; vor der inneren Hoheit <strong>und</strong> Herrlichkeit fühlte er sich selbst innerlich<br />
aufgeregt.<br />
V. 10. Ulpian <strong>und</strong> Paulus (bei Wetstein): qui damnare potest, is absolvendi quoque potestatem<br />
habet.<br />
V. 11. ἄνωθεν hat Usteri erklären wollen vom Kaiser – es ist aber ohne Zweifel gemeint „von<br />
Gott.“ Das nun folgende διὰ τοῦτο hat aber den Auslegern große Mühe gemacht. Die neueste Erklärung<br />
von de W. „Du bist nur ein willenloses Werkzeug in der Hand der Vorsehung; darum haben<br />
aber die Juden eine viel größere Schuld“ (Neander, Tholuck) legt einen ganz fremden Gedanken der<br />
Entschuldigung in diese Worte. Pilatus steht da als die rechtmäßige, von Gott verordnete Obrigkeit;<br />
<strong>und</strong> eben deshalb hat ὁ παραδιδούς eine größere Sünde, nicht etwa als Pilatus, sondern eine um so<br />
größere Sünde, darin, <strong>das</strong>s er <strong>das</strong> von Gott zur Rache des Bösen geordnete Schwert dazu aufruft,<br />
den Reinen <strong>und</strong> Unschuldigen zu töten. So lag in diesen Worten die schärfste Mahnung für Pilatus<br />
selbst.<br />
V. 12. Amicus Caesaris war Ehrentitel der Legaten <strong>und</strong> Präfekten.<br />
V. 13. Pilatus, als Richter, setzt sich auf den Richtstuhl, den er hinausbringen lässt auf einen dort<br />
befindlichen mit Steinen belegten Boden. Es ist nicht notwendig, darunter einen Mosaikboden zu<br />
verstehen, ein pavimentum tessellatum, dergleichen Caesar transportierbar mit sich herumführte.<br />
Sueton Caes. c. 46. Γαββαθᾶ in vielen Handschriften mit einem β geschrieben <strong>und</strong> danach von Tholuck<br />
(Beitr. zur Spracherklärung des N. T. p. 119) von גÚב¦תœא Rücken abgeleitet, Erhöhung, suggestus.<br />
Lampe verstand darunter den sog. Xystus, einen großen freien nördlich an den Tempel stoßenden<br />
Platz; Conr. Iken den gepflasterten Vorhof der Heiden, Krafft einen vor der Antonia befindlichen<br />
Platz, da nach des Jos. Angabe der Hügel, worauf diese Burg stand, von unten auf mit glatten Steinen<br />
gepflastert war. Der Letztere leitet <strong>das</strong> Wort mit Faber von גÚבÚח¦תœא calvities ab, glatter Ort. – Die<br />
Prätoren konnten ihr Tribunal aufschlagen, wo sie wollten; Jos. de B. T. II, 9. 3; II, 14, 8; in Cäsarea<br />
hatte Pilatus den Richtstuhl im Stadium stehen. (cf. act. 25,6).
19. Kapitel. 155<br />
ὥρα ὡσεὶ ἕκτη. Petrus von Alex. in Chron. Alex. will als die echte Lesart des zu seiner Zeit noch<br />
aufbewahrten αὐτόγραφον – τρίστη lesen. Nach Bezas Vorgang haben sich auch viele Kritiker <strong>und</strong><br />
Chronologen für diese Lesart erklärt; sie ist indes in den codd. nur sehr schwach unterstützt. cf.<br />
Wetstein. Die Lesart ἕξτη scheint nun aber Markus zu widersprechen, welcher 15,25 angibt, <strong>das</strong>s<br />
Christus um die 3. St<strong>und</strong>e gekreuzigt sei. Schon Kirchenväter nahmen eine Verwechselung des Γ<br />
<strong>und</strong> Σ an; – oder aus Mt. 27,45 sollte <strong>das</strong> ἕκτη eingeflossen sein. Wetst. schlägt den Ausweg vor,<br />
<strong>das</strong>s man <strong>über</strong>haupt nur die 3., 6. <strong>und</strong> 9. St<strong>und</strong>e gezählt, <strong>das</strong> dazwischen Liegende also leicht zu der<br />
3. oder 6. St<strong>und</strong>e habe gezählt werden können. Das vorausgehende παρασκευή <strong>und</strong> <strong>das</strong> beigesetzte<br />
ὡσεί gibt aber Anleitung zu einer andern Erklärung. Joh. zählt nicht nach gewöhnlicher Tagesst<strong>und</strong>e,<br />
sondern mit Bezug darauf, <strong>das</strong>s es Rüsttag war <strong>und</strong> Alles zur Eile drängte, bemerkt er, <strong>das</strong>s man<br />
so unruhig die St<strong>und</strong>e, wo Alles beendet sein musste, im Auge gehabt habe, als ob es die 6. St<strong>und</strong>e<br />
bereits gewesen wäre. παρωΐ ist vor Sonnenaufgang.<br />
V. 15. Pilatus hatte durch mancherlei Gewalttätigkeiten die Juden schon gegen sich eingenommen;<br />
Phil. ep. ad Cajum p. 1053; er musste selbst eine Anklage fürchten (cf. Jos. antiq. XVIII, 4. 2);<br />
der Argwohn der römischer Kaiser, wo irgend ihre maiestas angetastet schien, war bekannt; Pilatus<br />
wollte, da die Juden so eifrig sich zeigten für die maiestas des Kaisers, nicht selbst des Gegenteils<br />
verdächtig sein.<br />
V. 16-37. Die Kreuzigung.<br />
V. 17. Die Kreuzigung wurde (cf. Herz, Freib. Zeitschr. V, p. 11) nach römischem Gebrauch, wie<br />
nach jüdischem Gesetz vor der Stadt vollzogen. Dass die Verurteilten <strong>das</strong> Kreuz selbst tragen mussten,<br />
berichtet auch Plutarch. Γολγοθᾶ. für <strong>das</strong> chald. גðל¦גÚל¦תœא der Schädel. Für die Form cf. Lightfoot<br />
<strong>und</strong> Ges. im Thes. Dass der Hügel von der Schädelform so genannt wäre (Bengel, Thenius), ist in<br />
keiner Weise glaubhaft. Die Ableitung von Hengst. <strong>und</strong> Krafft „Hügel Goah“ ist zu verwerfen. Über<br />
die Lage cf. Robinson.<br />
V. 19. τίτλον cf. Wetstein. – Über <strong>das</strong> Kreuz Lipsius de cruce. – Die Annagelung der Füße hatte<br />
Paulus bestritten, sie ist darauf durch Hug <strong>und</strong> Bähr erwiesen.<br />
V. 23. Ein römisches Kommando pflegte aus vier Mann zu bestehen. Act. 12,4. Der χιτών bestand<br />
gewöhnlich aus zwei Stücken, die an den Seiten zusammengenäht wurden. Dieser aber war<br />
ganz durchgewebt, wie <strong>das</strong> Kleid des Hohenpriesters. Jos. antiq. 3, 7. 4 (cf. Wetstein). Die Ägypter<br />
webten von unten – alle anderen Völker aber ἄνωθεν. Her. II, 35. cf. Braunius de vest. sacerd. I c.<br />
16. Nach Isid. Pelus. sollen die ärmeren Klassen in Palästina gerade solche ungenähte Röcke getragen<br />
haben; indes scheint es doch im Gegenteil als eine Auszeichnung des Gewandes hier erwähnt<br />
zu sein.<br />
V. 24. Ps. 22,19. Den Wörtern בגדים (Kleider im Allgemeinen) <strong>und</strong> ל¦בוש (<strong>das</strong> eigentliche Hauptgewand,<br />
die tunica) entsprechen hier ἱμάτια <strong>und</strong> ἱματισμός. – Der Zusatz οἱ μὲν οὖν στρατιῶται<br />
lässt sich nicht so erklären, <strong>das</strong>s er die Erzählung bloß abschließen, abr<strong>und</strong>en solle (de Wette) – sondern<br />
es ist mit Absicht gesagt, <strong>das</strong>s die Soldaten, welche doch nach strenger Kriegs-Disziplin Solches<br />
nicht hätten tun dürfen, sich der Kleider auf solche Weise bemächtigt hätten. Es lässt sich denken,<br />
mit welchem Schmerz die Jünger Solchem zugesehen haben. Dass die Kleider den Soldaten<br />
rechtens zugefallen wären, ist zwar behauptet, aber nicht bewiesen.<br />
V. 25. Mt. 27,55. – Die Vermutung, Κλωπᾶς sei = ,חלפי Alphäus, Vater des Jakobus, ist gr<strong>und</strong>los.<br />
V. 27. εἰς τὰ ἴδια heißt auch hier nicht geradezu: in sein Haus. Er nahm sie zu Sich <strong>und</strong> in <strong>das</strong><br />
Seine auf.
156 19. Kapitel.<br />
V. 28. Es ist fraglich, ob <strong>das</strong> ἵνα τελειωθῇ zu τετέλεσται (Semler, van Hengel) – oder zum folgenden<br />
λέιγει zu ziehen ist. Im letzteren Falle (c. 14,31) zitiert man Ps. 22,16 <strong>und</strong> 69,22. (cf. c.<br />
13,1). In diesem großen Augenblick, wo Jesus von dem Bewusstsein durchdrungen ist, <strong>das</strong>s Alles<br />
vollendet, damit nun auch die Schrift in einem letzten Worte noch erledigt sei (τελειωθῇ nicht<br />
πληρωθῇ) – da entzieht er sich auch dieser Schwachheit nicht des sich hervordrängenden Bedürfnisses;<br />
Er, der einzig Demütige <strong>und</strong> Niedrige, sagt: ich dürste.<br />
Von den 7 Worten am Kreuz teilt eins Matthäus, drei Lukas <strong>und</strong> drei Johannes mit.<br />
V. 29. Schon bei der Ankunft auf dem Richtplatze war Jesu ein betäubender Mischtrank geboten<br />
worden, den er abgewiesen hatte. Ein verhöhnendes Anbieten von Essig siehe Lk. 23,36. – Parallel<br />
ist Mt. 27,48. Mk. 15,36.<br />
Der Ysopstengel erreicht eine ansehnliche Höhe; er dient z. B. heute in den orientalischen Kirchen<br />
dazu, mit einem daran befestigten <strong>Licht</strong>e oder Hütchen die <strong>Licht</strong>er in den Kirchen anzuzünden<br />
oder zu löschen.<br />
V. 30. παρέδωκε cf. Lk. 23,46.<br />
V. 31. Deut. 21,22 f. Das crurifragium war bei der Kreuzigung gewöhnlich als letzter Akt der<br />
Strafe besonders bei Sklaven. cf. Lipsius de cr. II, 14.<br />
Cic. Phil. XIII, 12: Illud tamen verum, quod in hoc piano proverbii loco dici solet, perire eum<br />
non posse, nisi ei crura fracta essent.<br />
V. 34. Der Soldat gibt Christo noch den Stich in die Seite als letzten üblichen Todesstoß. Cruces<br />
subruuntur, percussos sepeliri carnifex non vetat (Quintilian). νύττειν ist nicht bloß ritzen, sondern<br />
beschneiden, stoßen, stechen, mit Stichen durchbohren; dann <strong>über</strong>haupt mit etwas Spitzem, Scharfen<br />
ritzen, verw<strong>und</strong>en, stacheln. Nach Orig. comment. in Mt. 27 geschah die percussio sub alas corporis<br />
(Hug: Achselhöhlen). cf. c. 20,27. λόγχη Hesych. ὁ τοῦ δόρατος σίδηρος.<br />
Der Tod war erst eben eingetreten; so fing <strong>das</strong> Blut eben an sich zu scheiden in Blutkuchen <strong>und</strong><br />
Wasser; so traf nun der tiefe Lanzenstich teils sugillierte Stellen, wo <strong>das</strong> serum ausfloss – teils große<br />
Venen oder Blutgefäße, aus denen <strong>das</strong> noch flüssige Blut hervorkam. – Es hat demnach nichts auf<br />
sich, wenn Strauß u. A. urgieren, <strong>das</strong>s eine St<strong>und</strong>e nach dem Tode gar kein Blut mehr fließe. Wetstein<br />
denkt an die τρόωσις καρδίας, die immer tödlich ist; bei dem ὕδωρ an den liquor pericardii;<br />
aber πλευρά heißt Seite. Graner meint, es sei der Herzbeutel getroffen, wo sich bei starker Beängstigung<br />
ein Dunst sammelt, der dann als Wasser ausfließt. Conring (bei Lampe) wies auf die agonia,<br />
den Todes-Kampf Jesu, dessen Folgen <strong>das</strong> Blutschwitzen, der schnelle Tod <strong>und</strong> die Zersetzung des<br />
Bluts, die Ansammlung von Wasser. Ähnlich Ebrard.<br />
V. 37. Die Juden wollten ihren Sabbat nicht geschmäht haben, deshalb baten sie Pilatus, dem Leben<br />
<strong>und</strong> der Strafe der Gekreuzigten ein schnelles Ende zu machen durch <strong>das</strong> crurifragium. Da nun<br />
Jesus schon tot war, unterließen es die Soldaten bei ihm; Einer aber, um ein Übriges zu tun, griff zu<br />
der sonst üblichen Weise, dem Leben der Gekreuzigten vollends ein Ende zu machen, der percussio,<br />
der τρώσις καρδίας. Blut <strong>und</strong> Wasser. 1. Joh. 5,6. – Mystische Deutung – cf. ein Beispiel aus den<br />
actis sanct. bei Neander pag. 709. Indem Joh. dieses nachdrücklich hervorhebt, hat er weder die Absicht,<br />
den wirklichen Tod dadurch außer Zweifel zu setzen (Beza, Seml., Rosenm., Neander), noch<br />
gegen die Doketen den wahren Leib Christi zu behaupten (Rosenm.) – sondern er gibt selbst den<br />
Gr<strong>und</strong> an, die Erfüllung der Schrift. Ex. 12,46. Num. 9,12. – Sach. 12,10 (דקר) in wortgetreuer<br />
Übersetzung. Apoc. 1,7. 1. Kor. 5,7. Ps. 34,21.<br />
Conteruntur ossa eius – war eine gewöhnliche Fluchformel. Jes. 53,4. Ps. 22,18. Ps. 69,18.<br />
_______________
19. Kapitel. 157<br />
Dass gerade hier Joh. auf sein Zeugnis dessen, was er gesehen, so großes Gewicht legt, erklärt<br />
sich durch die Wichtigkeit dessen, was vor seinen Augen geschah. Man wird sich schwerlich einen<br />
Begriff davon machen können, welche Nacht der Hoffnungslosigkeit <strong>und</strong> des Irrewerdens an allen<br />
Verheißungen Gottes, an Christo <strong>und</strong> an Gott selbst <strong>über</strong> die Jünger hereinbrach, als Jesus gekreuzigt<br />
wurde. War <strong>und</strong> blieb doch auch dies <strong>das</strong> σκάνδαλον. Jesus, ein Gekreuzigter. Indem nun den<br />
Aposteln die Augen hinterher dar<strong>über</strong> geöffnet wurden, wie Alles so hatte geschehen müssen, als<br />
nun <strong>das</strong>, was sie selbst angesehen, ihnen mit einem Male enthüllt wurde als die buchstäbliche Erfüllung<br />
aller Worte Gottes, da haben sie gerade diese einzelnen Umstände, was geschehen sei an dem<br />
Leibe Christi, als die unverbrüchlichen Zeugnisse hingestellt des Glaubens, der nach ewigen <strong>und</strong><br />
gewissen Gr<strong>und</strong>lagen sucht <strong>und</strong> auf Gottes wahrhaftiges Wort allein sich verlässt. Denn was an dem<br />
Leibe Christi geschehen ist, <strong>das</strong> ist nichts Zufälliges, <strong>und</strong> nicht etwa ist den Aposteln <strong>das</strong> Passahlamm<br />
als solches die Hauptsache <strong>und</strong> Christus gleichsam nur <strong>das</strong> Nachbild, sondern was vom<br />
Passahlamm Gott gesagt hatte, <strong>das</strong> galt ihnen als eine Wahrheit des einigen Opfers, welches sollte<br />
dargebracht werden für unsere Seelen, <strong>und</strong> demgemäß hat Joh., da Solches mit dem Leibe des Erhenkten<br />
geschah, in dem tiefsten Schmerz seiner Seele zu einem ewigen Trost gerade darin Gottes<br />
eigne Weisung <strong>und</strong> Wort an ihn <strong>und</strong> alle Aufrichtigen erkannt, <strong>das</strong>s eben hier <strong>das</strong> Opfer für unsere<br />
Sünden gebracht ist dessen, der als ein unschuldiges Lamm sich ganz hat aufzehren lassen bis auf<br />
die Knochen, doch wiederum durch Gottes Gnade also unversehrt geblieben ist, <strong>das</strong>s auch nicht eins<br />
seiner Gebeine ist gebrochen worden. Und wiederum hält er sich an eine andere Schrift, welche<br />
sagt, <strong>das</strong>s aller Welt mal werden die Augen geöffnet werden zu sehen, wie aus der W<strong>und</strong>e dessen,<br />
dem sie <strong>das</strong> Herz durchbohrt mit ihrem Widersprechen <strong>und</strong> ihrer Feindseligkeit, hervorgeflossen ist<br />
Blut <strong>und</strong> Wasser, d. i., <strong>das</strong>s er nicht mit dem Wort allein, sondern auch der Tat <strong>und</strong> Wahrheit ganz,<br />
was er lebte, für sie gelebt <strong>und</strong> seine Seele zur Erde ausgegossen hat. Jes. 53,12.<br />
V. 38-42. Die Grablegung.<br />
V. 38. cf. Mt. 27,57-61 etc. – Die Lage von Arimathia fraglich; ist es <strong>das</strong> Rama, Ramathaim im 1.<br />
Buch Samuel, so lag es nördlich von Jerusalem. Andere halten es für <strong>das</strong> jetzige Ramleh. – αἴρειν<br />
abnehmen vom Kreuz (καθελών Mk. 15,46) oder: hinnehmen <strong>und</strong> wegtragen. – Besonders bei den<br />
Juden war es gewöhnlich, die Leichname abzunehmen <strong>und</strong> zu begraben. Jos. de b. J. 4, 5. 2. Philo c.<br />
Fl. Mang. II pag. 529. 2. Sam. 21,12 f.<br />
V. 39. Über die σμύρνη, hebr. מר cf. Plinius h. h. XIII, 2: myrrham arboribus gigni, in silvis, inprimis<br />
multis in locis Arabiae, ipsas autem arbores bis incidi; der herausfließende Saft hieß dann<br />
stacte. – Aloe gab’s eine doppelte Art, eine Pflanze <strong>und</strong> ein Holz. Hier wahrscheinlich die ξυλαλόη<br />
gemeint.<br />
Myrrhe <strong>und</strong> Aloe, weil sie sehr bitter waren <strong>und</strong> auftrockneten – waren die Hauptgewürze bei<br />
dem ἐνταφιασμός. – Jos. <strong>über</strong> <strong>das</strong> Begräbnis des Herodes. antiq. 17, 8. 3. – Sir. 38,8. Die λίτρα im<br />
Werte von 10 Denaren cf. Wetst. Das μῖγμα nach Einigen Myrrhe <strong>und</strong> Aloe zerrieben <strong>und</strong> mit wenig<br />
Wasser gefeuchtet. Besser aber trockene Mischung. ὀθόνη ist feine Leinwand; ὀθόνια die Leinentücher.<br />
V. 41. Das Grab war Eigentum des Joseph. Mt. 27,60.<br />
20. Kapitel. Die Auferstehung.<br />
Steinmeyer, die Auferstehungs-Geschichte, Berlin 1871. Nebe, die Auferstehungs-Geschichte,<br />
Wiesbaden 1882.
158 20. Kapitel. Die Auferstehung.<br />
Der Bericht des Johannes <strong>über</strong> die Auferstehung Jesu verfolgt denselben Zweck, wie die Mitteilungen<br />
der übrigen Evangelisten, nicht <strong>über</strong> die besondere Art der Auferstehung zu erzählen, die<br />
sich jedem menschlichen Auge entzogen hat, sondern uns <strong>das</strong> Benehmen der Jüngerinnen <strong>und</strong> Jünger<br />
zu schildern, welche auch an dem Tage der Auferstehung ihren Unglauben <strong>und</strong> die Schwachheit<br />
ihrer Herzen offenbaren <strong>und</strong> selbst aus deutlichen Anzeichen des leeren Grabes keine Hoffnung<br />
schöpfen können. Wenn irgendwo <strong>das</strong> Evangelium Evangelium ist, so hier in den letzten Kapiteln<br />
des Joh., wo sich noch einmal die ganze Menschlichkeit des Schülerkreises Jesu zeigt, in dessen<br />
Mitte allein der Herr selbst die Wahrheit <strong>und</strong> <strong>das</strong> Leben ist. Darin liegt denn auch der größte Beweis<br />
der Wirklichkeit der Auferstehung, denn der spätere Glaube der Apostel an dieselbe ist nur<br />
durch eine Tatsache erklärlich, die sich ihnen trotz ihres Unglaubens unwiderleglich aufdrängte. Die<br />
Schilderung des menschlich naiven <strong>und</strong> töricht blinden Tuns der Jüngerinnen <strong>und</strong> Jünger ist darum<br />
von dem größten apologetischen Werte: sowohl was die Wahrheit desselben betrifft als was damit<br />
für die Zukunft des freudigen Bekenntnisses der Auferstehung erwiesen wird. In diesem Sinne ist<br />
die ganze Auferstehungs-Geschichte zu behandeln.<br />
V. 1-10. Der Morgen des Ostertages.<br />
V. 1. τὰ σάββατα bezeichnen die Woche; τῇ μιᾷ die Kardinal- statt der Ordinalzahl wie im spätem<br />
Hebräischen <strong>und</strong> Aramäischen. cf. Winer pag. 287.<br />
V. 2. οὐκ οἴδαμεν. Maria ist also mit andern Frauen zum Grabe hingegangen – hat sich dann aber<br />
schnell zu den Jüngern begeben, eben so schnell wie sie den Fre<strong>und</strong>innen mag vorangeeilt sein. –<br />
Auch sie, die erfahrene vielgeprüfte Frau, glaubt nur an einen Diebstahl der Leiche <strong>und</strong> ist ohne<br />
Hoffnung zum Grabe gegangen <strong>und</strong> ohne Hoffnung weggeeilt.<br />
V. 3. Petrus <strong>und</strong> Joh. gehen mit keinen anderen Gedanken zum Grabe, als <strong>das</strong>s Maria sehr wahrscheinlich<br />
recht geredet hat. Beide denken an keine Auferstehung, sondern nur an neuen Verlust.<br />
Petrus <strong>und</strong> Joh. hier vereint wie auch später.<br />
V. 4. Joh. läuft schneller als Petrus, nicht weil er jünger war, sondern weil dieser durch seine Untreue<br />
sich gebrochen fühlte. Joh. berichtet dies als ihm selbst auffällig.<br />
V. 5. Aber obwohl er eher zum Grabe kommt, treibt ihn dies doch nicht an, als Erstangekommener<br />
auch zuerst hineinzugehen, sondern wie er immer vorsichtig zögerte, so war ihm auch schon ein<br />
bloßer Blick in <strong>das</strong> Grab <strong>und</strong> die Entdeckung, <strong>das</strong>s Leinen zusammengelegt seien, genug, um ihn<br />
von der Wahrheit der Aussage der Weiber zu <strong>über</strong>führen. Er ist also wirklich gestohlen – <strong>das</strong> lag in<br />
seiner Seele <strong>und</strong> hielt ihn von aller weiteren Untersuchung zurück.<br />
V. 6. Jetzt kommt auch Petrus nach <strong>und</strong> hält es doch der Mühe wert in <strong>das</strong> Grab hineinzugehen<br />
καὶ θεωρεῖ, schaut <strong>und</strong> beobachtet die zusammengelegten Leintücher <strong>und</strong> <strong>das</strong> nicht allein: V. 7, er<br />
schaut auch <strong>das</strong> Schweißtuch, mit dem <strong>das</strong> Haupt bedeckt war, nicht bei den Binden gelegt, sondern<br />
gesondert (χωρίς adverbiell) zusammengewickelt an einem Ort liegend εἰς ἕνα όπον an einem Ort<br />
für sich (zu κείμενον gehörend): ein gewisses des Nachdenkens wertes Zeichen, <strong>das</strong>s hier bei der<br />
Entkleidung des Toten Sorgfalt <strong>und</strong> Behutsamkeit gewaltet hat, nicht rücksichtsloser, schnell gewalttätiger<br />
Raub. Dies alles schaut Petrus – <strong>und</strong> glaubt doch nichts. Bei allem Schauen ist er blind.<br />
V. 8. Dieser auffällige Bef<strong>und</strong> des Grabes bewegt auch Joh. hineinzugehen – er, der doch gleich<br />
anfänglich hätte hineingehen sollen, aber im Unglauben <strong>und</strong> Verzagtheit zauderte – <strong>und</strong> der Mann<br />
mit dem Adlerblick sieht, was Petrus sah <strong>und</strong> glaubt, was die Weiber <strong>und</strong> Petrus glaubten, <strong>das</strong>s die<br />
Leiche gestohlen sei.
20. Kapitel. Die Auferstehung. 159<br />
καὶ ἐπίστευσεν: Die richtige Erklärung bei August., Erasm., Luther, Grot., Bengel u. A., <strong>das</strong>s<br />
Joh. geglaubt habe, was die Weiber ausgesagt; denn um dar<strong>über</strong> gewiss zu werden, war er mit Petro<br />
zum Grabe gerannt. Gr<strong>und</strong>falsch ist die Erklärung: Joh. habe an die Auferstehung geglaubt, welche<br />
Chrys., Euthym., Tholuck, Lücke, Luthardt, Keil vertreten. In größter Einfalt berichtet hier Joh. von<br />
sich selbst, was er geglaubt hat, wie er auch sonst seinen <strong>und</strong> der Jünger Unglauben hervorhebt. Am<br />
Tage der Auferstehung hat auch ein Joh. nur an Diebstahl geglaubt. Nirgends wird in der Auferstehungs-Geschichte<br />
der Glaube durch die Beschaffenheit des Grabes hervorgerufen, sondern <strong>über</strong>all<br />
durch die Erscheinung des Herrn selbst: durch sein Wort <strong>und</strong> seinen Geist. Der Auferstandene<br />
weckt den Glauben.<br />
V. 9. Joh. gibt den Gr<strong>und</strong> seines törichten Glaubens an den Leichenraub an – οὐδέπω γάρ – sie<br />
hatten noch kein Verständnis für die Weissagung der Schrift <strong>und</strong> für die göttliche Notwendigkeit der<br />
Auferstehung. Der Auferstandene hat ihnen erst <strong>das</strong> Verständnis der Schrift geöffnet. Dieser Unglaube<br />
der Apostel, so offen ausgesprochen, ist der größte Beweis der Wahrheit der Geschichte <strong>und</strong><br />
der Wahrheit der Auferstehung. Hier sind keine Schwärmer, sondern nüchterne, tieftraurige Männer.<br />
V. 10. Die beiden Jünger gingen nun – was sollten sie auch anderes tun – nachdem sie auch <strong>das</strong><br />
Letzte verloren, was sie von dem Herrn besaßen, nach Hause, gerade so wie Lukas von Petrus berichtet,<br />
c. 24,12, der sich auch dort voll Verw<strong>und</strong>erung in sein Heimwesen zurückzieht. Etwas desperat<br />
kehren auch die Juden c. 7,53 in ihre Häuser zurück. cf. 16,32. εἰς τὰ ἴδια. Joh. <strong>und</strong> Petrus,<br />
die Säulen der Kirche, haben sich vom Grabe ohne allen Trost hinweggestohlen. Warum glaubten<br />
sie nachher?<br />
V. 11-18.<br />
V. 11. Maria, <strong>das</strong> Weib, welche inzwischen zum Grabe zurückgekehrt ist, kann sich in der Macht<br />
ihrer Liebe von der Stätte, wo sie <strong>das</strong> Letzte verloren, nicht wegreißen, während die Männer verzweifelt<br />
sich nach Hause geschlichen haben.<br />
V. 12. In ihren törichten Tränen sieht sie sich bückend wieder in <strong>das</strong> Grab hinein.<br />
V. 13. ἐν λευκοῖς sc. ἱματίοις. Die Farbe des Sieges <strong>und</strong> Triumphes. Die Engel umgeben die Stätte,<br />
wo der heilige Leib Jesu geruht <strong>und</strong> waren ein Beweis, <strong>das</strong>s hier der König gelegen <strong>und</strong> hier auferstanden<br />
war. Diese Engelerscheinung ist von der von den Synoptikern berichteten verschieden<br />
<strong>und</strong> geschah, nachdem die Gefährtinnen der Maria sich vom Grabe entfernt hatten, denn sonst hätten<br />
diese auch die sich gleichanschließende Erscheinung des Herrn erlebt, während sie nur von einem<br />
Gesicht von Engeln (Lk. 24,23) zu erzählen wissen. Maria hat den Auferstandenen allein <strong>und</strong><br />
zuerst gesehen, <strong>und</strong> die Erscheinung der Engel hat hier nur den Wert einer Vorbereitung auf die Erscheinung<br />
des Herrn. Der Verlauf des Auferstehungstages vollzieht sich so: Die Weiber gehen zum<br />
Grabe; Maria eilt, als sie <strong>das</strong> leere Grab sieht, zu Petrus <strong>und</strong> Joh.; diese brechen zum Grabe auf; inzwischen<br />
haben die Gefährtinnen der Maria sich entfernt, nachdem sie die Erscheinung <strong>und</strong> die<br />
Botschaft der Engel vernommen; die Apostel wenden sich darauf auch wieder nach Hause; Maria,<br />
zum Grabe zurückgeeilt, schaut die Engel <strong>und</strong> gleich darauf den Herrn selbst. Wenn Mt. 28,9-10 die<br />
Erscheinung Jesu allen Frauen zuteil werden lässt, so verallgemeinert er nach seiner Art <strong>das</strong>, was allein<br />
der Maria begegnet war, indem er einen kurzen summarischen Bericht gibt von dem, was die<br />
Weiber erlebten.<br />
V. 13. Zu Tränen war an diesem Tage allerdings keine Ursache. – Es war erklärlich, <strong>das</strong>s sie nicht<br />
wusste, wo sie ihn hingelegt haben – aber sie redet in ihrem Schmerz <strong>und</strong> in ihrer Ratlosigkeit <strong>und</strong><br />
ist gerade in dieser naiven weiblichen Weise ein Bild der vollsten Wirklichkeit. Dass die Engel kei-
160 20. Kapitel. Die Auferstehung.<br />
nen besonderen Eindruck auf sie machen, ist nicht <strong>über</strong>trieben, sondern ein Beweis ihrer unsagbaren<br />
Trauer. Auch Engel konnten sie nicht trösten, sie verlangte nach ihrem Herrn.<br />
V. 14. Es war die Macht der geistigen Gemeinschaft, die die Maria sich umwenden ließ. Einfach<br />
<strong>und</strong> wahr schildert Joh. die Unkenntnis der Maria. Der große Schmerz hat sie blind gemacht.<br />
V. 15. In dem Unbekannten den Gärtner oder den Eigentümer des Gartens zu vermuten, lag auch<br />
nicht fern, jedenfalls für die ganz betrübte Frau näher, als Jesum sogleich zu erkennen.<br />
κἀγὼ αὐτὸν ἀρῶ: ob sie ihn tragen könne oder ob ihr <strong>das</strong> gezieme, daran denkt sie nicht: wie<br />
ganz aus dem Leben verzweifelter Frauen.<br />
V. 16. Mit dem Wort erweckt Jesus ihren Glauben. Es war dieselbe Stimme, die sie einst von den<br />
Teufeln befreit hatte <strong>und</strong> drang unwiderstehlich in ihre Seele. στραφεῖσα: sie hatte sich schon wieder<br />
mit ihrem Blick dem Grab zugewandt, indem sie in ihrer Aufregung auf keine Antwort des Gärtners<br />
wartete. Jeder Zug aus der Wirklichkeit. Ῥαββουνί: Joh. gibt <strong>das</strong> hebräische Wort, weil darin<br />
ר¤בונ¤י willen. der ganze Ausdruck der Seele der Maria tönt <strong>und</strong> um des bedeutsamen Augenblickes<br />
domine mi, andere halten <strong>das</strong> i für paragogicum, weil Joh. <strong>über</strong>setzt διδάσκαλε. Respektvoller als<br />
<strong>das</strong> einfache Rabbi.<br />
V. 17. Die Worte μή μου ἅπτου haben unzählige Erklärungen gef<strong>und</strong>en. Diejenigen, welche von<br />
der Bedeutung „berühren“ ausgehen, wie Schleierm., Olsh., Weisse <strong>und</strong> dies als prüfendes Betasten<br />
fassen (was <strong>das</strong> Wort nicht bedeutet) <strong>und</strong> nun erklären: berühre mich nicht, denn ich bin noch im<br />
Verklärungsprozess begriffen, oder sogar – ich bin noch körperlos, sind von vorneherein abzuweisen.<br />
ἅπτεσθαί τινος kommt nicht selten in der Bedeutung vor, etwas erfassen (πόδων, γονάτων).<br />
Auch aus der Lage der Dinge selbst lässt sich hier von Maria erwarten, <strong>das</strong>s sie den Verlorenen jetzt<br />
festhalten wollte, wie es bei Matth. an der Parallelstelle heißt: προσελθοῦσαι ἐκράτησαν αὐτοῦ τοὺς<br />
πόδας. Sie durfte ihn jetzt nicht mehr loslassen <strong>und</strong> wollte ihn für immer bei sich behalten. In der<br />
Freude ihrer Seele klammerte sich Maria an den Herrn, damit er ihr nicht wie eine plötzliche Erscheinung<br />
wieder verschwinde. Darin lag aber ein Mangel des Verständnisses für die Aufgabe, die<br />
Jesus jetzt hatte: nämlich aufzufahren zu seinem Vater, von dem her er dann eine unzertrennliche<br />
Gemeinschaft mit der Maria knüpfen werde. So erklärt sich <strong>das</strong> οὔπω γάρ. In dem Perfekt<br />
ἀναβέβηκα liegt keine Verbindung der Auferstehung mit der Himmelfahrt: als wolle der Herr jetzt<br />
gleich auffahren. – In den Worten πορεύου δέ etc. wird der eigentliche Zweck der Erscheinung<br />
Christi hervorgehoben: Maria soll eine Botin der Freude an seine Brüder werden. Der Herr nennt<br />
die Jünger Brüder im Hinblick auf Ps. 22,23, wo der vom Kreuz errettete <strong>und</strong> von seinen Feinden<br />
befreite in der Gewalt seiner Dankbarkeit <strong>und</strong> Liebe in dem Volke, <strong>das</strong> Gott dient, nur seine Brüder<br />
sehen kann. Durch den Tod <strong>und</strong> die Auferstehung Christi ist jetzt sein Gott <strong>und</strong> sein Vater völlig unzertrennlich<br />
der Gott <strong>und</strong> der Vater der Gemeine geworden, die darum aus Brüdern Christi besteht.<br />
Der Ausdruck Bruder kommt hier zum erstenmal vor. Er ist ein Siegel auf die Liebe Jesu zu den<br />
Jüngern. Hebr. 2,12. 1. Mos. 46,31-34; 47,1-6.<br />
V. 19-28. Der Auferstandene in Mitten des Jüngerkreises am Abend des Ostertages.<br />
Dieser Offenbarung geht die an Petrus <strong>und</strong> die Emmausjünger voran. Parallel sind die Berichte<br />
bei Mk. 16 <strong>und</strong> Lk. 24.<br />
V. 19. συνηγμένοι ist von Lachmann <strong>und</strong> Tischendorf beseitigt. θύραι auch von einer Tür, weil<br />
sie aus zwei Flügeln bestand. Beides liegt in dem Zusatz: sowohl in welcher Verzagtheit sich die<br />
Jünger befanden als auch, <strong>das</strong>s die Verschlossenheit der Tür Jesum nicht hinderte, plötzlich in der
20. Kapitel. Die Auferstehung. 161<br />
Mitte des Zimmers dazustehen. Das W<strong>und</strong>er wird nicht dadurch begreiflicher, <strong>das</strong>s man sagt, die<br />
Tür sei vor dem Herrn gewichen oder <strong>das</strong>s man von seiner verklärten Leiblichkeit redet.<br />
V. 20. c. 16, 22 f.<br />
V. 21. c. 17,18. Der Gruß des Friedens hebt die Jünger aus allen Schrecknissen heraus <strong>und</strong> zeigt<br />
ihnen ihren Beruf: Diener der Botschaft des Friedens zu sein. In dem πέμπω liegt <strong>das</strong> nahe Bevorstehende.<br />
V. 22. Gen. 2,7. Ez. 37,5.10. Die Redensart spiritu et numine afflari ist eine im Altertum allgemein<br />
verbreitete. Cyrill sagt, <strong>das</strong>s es Gewohnheit gewesen, Kraftlose anzuhauchen. Jesus nun, der<br />
als der Heilige Verwesung nicht gesehen hat <strong>und</strong> auferweckt war in der Kraft des Vaters, des Odem<br />
also der Odem eines ewigen Lebens ist – haucht von seinen Lippen den fast entseelten Jüngern von<br />
dem Leben zu, welches in ihm atmet. πεῦμα ἅγιον ohne Artikel: heiligen Geist im Gegensatz gegen<br />
den unheiligen Geist der Furcht <strong>und</strong> des Unglaubens. λάβετε ist nicht Futurum, sondern gegenwärtige<br />
reale Mitteilung, wie sich denn durch die Gabe alsbald die Stimmung der Jünger wandelt. Hier<br />
haben wir wieder den Logos in seiner Schöpfermacht. Mit der Ausgießung des Geistes am Pfingstfeste<br />
vereinigt sich aber dieser Empfang des Geistes so, <strong>das</strong>s wie schon vor der Auferstehung des<br />
Herrn der Geist in den Jüngern wirkte (ihr kennet ihn), er hier in besonderer Kraft sie ergreift, bis<br />
sie ihn zu Pfingsten in voller Gewissheit <strong>und</strong> Zuversicht empfangen, um nun öffentlich als Zeugen<br />
dazustehen, womit nicht ausgeschlossen ist, <strong>das</strong>s sie auch nach Pfingsten einer steten Erneuerung<br />
<strong>und</strong> Wiederbelebung durch diesen Geist bedurften. Der Geist aber ist stets ein <strong>und</strong> derselbe.<br />
V. 23. ἀφίενται, andere von Griesb. <strong>und</strong> Tisch. bevorzugte Lesart ἀφίενται entsprechend dem<br />
κεκράτηνται. κρατεῖν festhalten, so <strong>das</strong>s sie in der Schuldhaft bleiben. Wie der Herr in der Anhauchung<br />
mit dem Geiste die Jünger von aller Sünde lossprach, so würden sie auch durch die Predigt<br />
des Evangeliums von Sünden lossprechen <strong>und</strong> bei den Ungläubigen diese behalten. Sowohl in der<br />
Gabe des Geistes als auch in der besonderen Berufung der Apostel lag die Vollmacht zu solcher unvergleichlichen<br />
Stellung. Johannes bleibt sich in seinem Bericht von der Auferstehung des Herrn<br />
gleich: nur <strong>das</strong> Wort <strong>und</strong> der Geist des Auferstandenen schaffen den Glauben an denselben bei denen,<br />
die von Furcht <strong>und</strong> Unglauben beherrscht sind. Der Herr haucht die Wahrheit in sie hinein.<br />
V. 24-29. Die Offenbarung an Thomas.<br />
V. 24. Thomas hat sich von seinen Genossen entfernt, indem er an Allem verzweifelnd auch von<br />
diesen nichts erwartete. Er ist ein δίδυμος, eine schwankende Doppelnatur, vergl. 11,16.<br />
V. 25. Gegen<strong>über</strong> den heiligsten Versicherungen beharrt Thomas in seinem hartnäckigen Unglauben,<br />
denn als Mensch will er sehen <strong>und</strong> fühlen. Auch ein berufener Apostel glaubt ohne die Gnade<br />
des Herrn nichts. Thomas spricht hier in großer Vermessenheit, <strong>und</strong> indem er mit den W<strong>und</strong>en des<br />
Herrn beschäftigt ist, glaubt er nicht, <strong>das</strong>s ein solchen W<strong>und</strong>en Erlegener auferstehen könne. Er<br />
treibt die Sache auf die Spitze. Statt τύπον haben die ältesten Codd. in zweiter Stelle τόπον.<br />
V. 26. ἦσαν ἔσω: drinnen im Hause – wohl in demselben ihnen gewöhnlichen <strong>und</strong> gemeinsamen<br />
Versammlungsorte. Jesus erscheint an seinem Tage, am Tage der Auferstehung. Dass die Türen auch<br />
diesmal verschlossen waren, beweist, wie langsam <strong>das</strong> volle Vertrauen in die Jünger wiederkehrte<br />
<strong>und</strong> ist wieder ganz aus der Wirklichkeit des Lebens genommen. Der Gruß des Friedens zeigt den<br />
treuen Hirten, der nicht mit Vorwürfen kommt, sondern indem er die ganze Versammlung mit diesem<br />
Frieden umschließt auch den Thomas mit demselben umfasst. Es ist eine wichtige Beobachtung<br />
in der Auferstehungs-Geschichte, <strong>das</strong>s Jesus als ganz derselbe auftritt, wie vor der Auferstehung:<br />
als der sich stets gleichbleibende Hirte. Die völlige Identität der Persönlichkeit <strong>und</strong> ihres Wesens,
162 20. Kapitel. Die Auferstehung.<br />
<strong>das</strong> nirgends in dem ungewöhnlichen Glanz der w<strong>und</strong>erbaren Tatsache erscheint, ist ein starker Beweis<br />
der Wahrheit.<br />
V. 27. Der Herr redet in unendlicher Herablassung. μὴ γίνου – wer sich so selbst gestemmt hat in<br />
seinen Zweifeln, für den ist es kein leichter Kampf, nun mit einem Mal vor der Wahrheit dahinzusinken.<br />
Gerade diese Liebe Jesu aber <strong>und</strong> <strong>das</strong> Wort: Werde nicht ein Ungläubiger, sondern ein Getreuer!<br />
brach sein Herz.<br />
V. 29. Thomas nennt Jesum seinen Gott. Calvin: fatetur Thomas Christum esse Dominum suum:<br />
denique altius conscendit ac Deum quoque nominat. Es war nicht allein die Überführung von der<br />
Wahrhaftigkeit der Auferstehung als vielmehr auch die Macht der Gnade Jesu gegen ihn, den Ungläubigen,<br />
die dieses Bekenntnis aus dem Herzen <strong>und</strong> M<strong>und</strong>e des Thomas hervorpresste. Allein<br />
Gott ist so herablassend <strong>und</strong> gütig! Wenn Joh. diesen Ausruf gerade zu Ende seines Evang. gesetzt<br />
hat, so gewinnt er dadurch ein um so größeres Gewicht. Es war übrigens selbstverständlich für den<br />
Juden Thomas, <strong>das</strong>s Jesus nicht ein jetzt etwa werdender Gott war, sondern der ewige Jehova. Der<br />
Gedanke einer allmählichen Vergöttlichung des Messias gehört ins Heidentum.<br />
V. 29. Die Participia des Aorists ἰδόντες, πιστεύσαντες erklären sich daraus, <strong>das</strong>s Beides der Seligpreisung<br />
ja musste vorangehen. 1. Petr. 1,8.<br />
V. 30.31. σημεῖα erklären Theoph., Kuinoel, Lücke, Olsh. unrichtig von den τεκμήρια der Auferstehung<br />
– vielmehr <strong>über</strong>blickt hier der Evangelist seine ganze Schrift <strong>und</strong> deren Inhalt. ἐν τῷ βιβλίῳ<br />
– Joh. hat allerdings der Kirche nichts hinterlassen als ein Buch, <strong>und</strong> es kommt alles darauf an, wie<br />
man zu diesem Buche steht. Mit dem Worte, welches im Anfang war, hat Joh. begonnen, <strong>und</strong> er<br />
schließt nun mit dem Glauben <strong>und</strong> mit dem ewigen Leben in demselben, ἐν τῷ ὀνόματι αὐτοῦ.<br />
21. Kapitel.<br />
Soweit die kirchliche Tradition hinaufreicht, ist dieses Kap. mit dem Evang. verb<strong>und</strong>en gewesen<br />
<strong>und</strong> als von Joh. selbst verfasst angesehen worden. Alle Handschriften <strong>und</strong> alten Versionen enthalten<br />
<strong>das</strong>selbe. Zuerst Grotius kam durch die letzten Verse zu der Annahme, <strong>das</strong>s hier der Schreibende<br />
ein Anderer als der Apostel sein müsse <strong>und</strong> vielleicht dieses Kapitel von der ephesinischen Gemeine<br />
oder dem Presbyter Johannes zugesetzt sei, zu dem Zwecke, <strong>das</strong>s die Weissagung Jesu von dem langen<br />
Leben des Joh. <strong>und</strong> dem gewaltsamen Tode des Petrus als erfüllt nachgewiesen werde. Dieser<br />
Ansicht haben sich Cleric. Semler, Paulus, Lücke, de Wette, Credner, Schweizer, Bleek, Baur <strong>und</strong><br />
seine Schule, neuerdings Keim <strong>und</strong> B. Weiss angeschlossen. Für johanneisch erklären <strong>das</strong> Kapitel<br />
Calov, Wetstein, Lampe, Hug, Frommann, Tholuck, neuerdings Hengstenberg, Luthardt, Godet,<br />
Steinmeyer, Keil, indem man nur die zwei letzten Verse als Zusatz einer anderen Hand betrachtet.<br />
Die Gründe für die Echtheit sind diese: 1) die Sprache ist so johanneisch, <strong>das</strong>s Credner urteilt:<br />
dieses Kapitel weist fast alle Eigentümlichkeiten des johanneischen Stils auf; 2) <strong>das</strong> Kapitel knüpft<br />
unmittelbar als Fortsetzung an <strong>das</strong> Frühere an <strong>und</strong> will V. 14 die dritte Offenbarung Jesu nach seiner<br />
Auferstehung von den Toten sein, es ist also als ein Zusatz zu c. 20 anzusehen von derselben Hand,<br />
welcher geschehen konnte, wenn auch V. 30 <strong>und</strong> 31 den Eindruck eines förmlichen Schlusses machen.<br />
Richtig sagt Steinmeyer, <strong>das</strong>s dieser Zusatz seine besondere Bedeutsamkeit für die Hirten hatte<br />
<strong>und</strong> nicht so sehr für die Herde; 3) der Behauptung, <strong>das</strong>s der Abschnitt V. 15-23 erst nach dem<br />
Tode des Joh. geschrieben sei, liegt die Leugnung zu Gr<strong>und</strong>e, <strong>das</strong>s Jesus den Kreuzestod des Petrus<br />
<strong>und</strong> <strong>das</strong> lange Leben des Joh. habe voraussagen können; 4) es bedurfte keiner langen Zeit, in der<br />
sich die Rede unter den Brüdern verbreitete, <strong>das</strong>s Joh. nicht sterben werde – dies konnte gleich nach<br />
dem Worte des Herrn geschehen <strong>und</strong> dann weiterhin bei dem Alter des Joh. an Bestand gewinnen;<br />
5) <strong>das</strong> Kapitel enthält den Bericht eines Augenzeugen <strong>und</strong> ist in dem, was von Petrus <strong>und</strong> Joh. ge-
21. Kapitel. 163<br />
sagt wird, so zarter <strong>und</strong> feiner Natur, <strong>das</strong>s es nur von einem Apostel niedergeschrieben sein kann; 6)<br />
V. 24 entspricht so sehr der Art, wie Joh. von sich selbst spricht, c. 19,35, <strong>das</strong>s unter Beachtung des<br />
Präsens μαρτυρῶν <strong>und</strong> unter Vergleichung von 1. Joh. 1,4 <strong>und</strong> Apoc. 1,1 f. dieser Vers als Selbstzeugnis<br />
des Verfassers betrachtet werden muss: er steht noch mitten in der Gemeinde drin als der<br />
große Zeuge. Das οἴδαμεν spricht eine Gewissheit nicht nur aus der Seele des Joh., sondern der ganzen<br />
Gemeinde aus. Vergl. 3,11. Joh. ruft mit diesen Worten alle die zu Zeugen heran, die ihm geglaubt<br />
haben. Über die Art von V. 25 siehe die Erklärung.<br />
V. 1-14. Der Fischzug <strong>und</strong> <strong>das</strong> Mahl.<br />
V. 1. πάλιν τοῖς μαθηταῖς weist auf 20,19 <strong>und</strong> 26 hin.<br />
V. 2. Die Jünger waren auf die Weisung des Herrn nach Galiläa zurückgekehrt <strong>und</strong> warteten in<br />
aller Einfalt <strong>und</strong> auf die Winke des Herrn harrend ihres alten Berufes. Dies ein Zeichen der Wirklichkeit<br />
der Geschichte. Es werden die Namen der Jünger genannt, um nachher mitzuteilen, wie aus<br />
dieser Schar zwei mit besonderen Aufträgen von dem Herrn betraut werden.<br />
V. 3. Simon Petrus hat schon hier eine gewisse Führerschaft <strong>über</strong>nommen, auch war er wohl am<br />
meisten ein geschäftsmäßiger Fischer.<br />
εὐθύς: Da dem ganzen Fischzug eine Symbolik auf <strong>das</strong> apostolische Amt unterliegt, so zeigt dies<br />
εὐθύς, <strong>das</strong>s alle menschliche Bereitwilligkeit noch nicht ausreicht, um den Segen des Amtes zu erlangen.<br />
V. 4. Der Herr erscheint, wenn alle Mühe umsonst war. εἰς τὸν αἰγιαλόν: wo sich die Wellen brechen.<br />
Dass die Jünger den Herrn nicht alsbald erkennen, beweist ihre Befangenheit in der sinnlichen<br />
Welt, die den Herrn dem Auge <strong>und</strong> den Empfindungen entrückt.<br />
V. 5. παιδία nennt er sie, weil er sie als seine Diener vergeblich arbeiten sieht. προσφάγιον ist im<br />
Allgemeinen die Zukost (nur hier im N. T.), während ὀψάριον dieselbe ist als am Feuer bereitet.<br />
Der Herr bittet seine Jünger darum um die Zukost, um ihnen die Erfolglosigkeit ihrer Arbeit ans<br />
Herz zu legen. In dem μήτι liegt schon, <strong>das</strong>s er eine abschlägige Antwort erwartet.<br />
V. 6. εἰς τὰ δέξια μέρη – in die glückbringenden Seiten. Der Erfolg ist eine Verheißung für die<br />
Zukunft, in der nicht ihre eigene Arbeitstreue, sondern allein <strong>das</strong> Wort des Herrn sie zu Menschenfischern<br />
machen würde.<br />
V. 7. ἀκούσας – klingt fast naiv – erkannte er ihn denn nicht selbst? γυμνός – so kann er genannt<br />
werden, auch wenn er noch ein Unterkleid anhatte. ἐπενδύτης ist eine Art leinerner Kittel mit Taschen<br />
versehen.<br />
V. 8. Enthält einen bescheidenen Tadel Petri, der Schifflein <strong>und</strong> Fische verlässt – <strong>und</strong> dies noch<br />
dazu bei so nahem Ufer. Die anderen Jünger waren bedachtsamer. 200 Ellen = 120 Meter. Hier ist<br />
der Augenzeuge <strong>und</strong> der geübte Fischer, der die Distanzen kennt.<br />
V. 9. Aus dem artikellosen ὀψάριον <strong>und</strong> ἄρτον kann man nicht sicher schließen, <strong>das</strong>s es nur ein<br />
Fisch <strong>und</strong> ein Brot gewesen. Die Zubereitung ist eine w<strong>und</strong>erbare. Es wird den Jüngern mit diesem<br />
Empfange angedeutet, <strong>das</strong>s der, der sie zu seinen Fischern gemacht hat, auch für ihre Stärkung <strong>und</strong><br />
Erquickung nach der Arbeit sorgt, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s der Arbeiter seines Lohnes wert ist.<br />
V. 10. Um sie von der vollen Wirklichkeit des Mahles <strong>und</strong> damit seiner eigenen Gegenwart zu<br />
<strong>über</strong>zeugen, fordert er sie in großer Herablassung auf, nun auch von der Zukost (von der Speise<br />
also), die sie selbst eben jetzt gefangen haben, herbeizutragen zu dem gemeinsamen Mahle. Er<br />
schreibt dabei ihrer Arbeit zu, was er selbst durch sein Wort ihnen verschafft.
164 21. Kapitel.<br />
V. 11. Die Zahl 153 hat sehr verschiedene Deutung erfahren. Es ist fraglich, ob sie <strong>über</strong>haupt<br />
eine Symbolik enthält <strong>und</strong> nicht allein die Geschichtlichkeit des w<strong>und</strong>erbaren reichen Fanges bezeugt.<br />
Es ist nicht erwiesen, <strong>das</strong>s die Alten 153 Fischarten zählten.<br />
V. 12. ἐξετάσαι ist ausfragen. Auf dem ganzen Mahle ruht Majestät <strong>und</strong> Feierlichkeit.<br />
V. 13. Dies geschieht zu einem Beweise, <strong>das</strong>s er immer als ihr Hausvater für sie sorgen werde.<br />
V. 14. Diese drei Offenbarungen Jesu hatten ihren besonderen Zweck für die Jünger als seine<br />
Zeugen <strong>und</strong> Evangelisten. Die feine Charakterisierung des Petrus <strong>und</strong> Joh., die Anschaulichkeit der<br />
Situation, die heilige Ehrfurcht vor dem Herrn, der selbst in völliger Gleichheit der Person <strong>und</strong> der<br />
Handlung wie vor der Auferstehung erscheint, beweisen die geschichtliche Wahrheit dieser dritten<br />
Offenbarung. So sind diese Dinge am Gestade des Sees von Tiberias geschehen.<br />
V. 15-23. Petri Demütigung, Trost <strong>und</strong> Ende.<br />
V. 15. Wie der Fischzug die Jünger an ihr Amt erinnert hatte, so kommt jetzt Jesus durch seine<br />
Fragen an den, der ihn dreimal verleugnet hatte, zu der neuen Bestätigung desselben in seinem Berufe,<br />
seine Schafe zu weiden. Der Gedanke der Wichtigkeit <strong>und</strong> Aufgabe des apostolischen Amtes<br />
waltet auch hier vor, <strong>das</strong> aber nicht in dem Geiste des Herrn zu führen ist, wenn man nicht allen<br />
Stolz <strong>und</strong> alle Vergleichung mit Andern ablegt. Statt Σίμων Ἰωνᾶ lesen Lachm. <strong>und</strong> Tisch. Ἰωάννου.<br />
Der Herr redet Petrus nach seiner menschlichen Herkunft in besonders zärtlicher Weise an. Das<br />
πλεῖον τούτων erweckte in zarter Weise die Erinnerung an den falschen Ruhm des Petrus <strong>und</strong> sein<br />
heutiges sich ins Meer stürzen. φιλεῖν ist die fre<strong>und</strong>schaftliche zärtliche Liebe, mehr gewöhnlich,<br />
menschlich einfacher, weiter als ἀγαπᾶν, welches als ein besonderes N. T.-Wort die heilige, hingebende<br />
Liebe bedeutet, mit der man Gott <strong>und</strong> die Brüder umfasst. Siehe Cremers Wörterbuch unter<br />
ἀγαπᾶν. Petrus sagt nichts von den Übrigen <strong>und</strong> erniedrigt den Ausdruck ἀγαπᾶν zu dem φιλεῖν: er<br />
ist der ergebene Fre<strong>und</strong> des Herrn. Nur ein solcher kann die Schäflein Jesu weiden. βόσκειν ist hüten.<br />
V. 16 Der Herr, scheinbar nicht zufrieden mit dem φιλεῖν, will ein ἀγαπᾶν haben, aber Petrus in<br />
Selbsterkenntnis bejaht wohl seine Liebe, aber nur in der Art des φιλεῖν. Er fühlt sich unten <strong>und</strong> hält<br />
sich unten. ποιμαίνειν mehr als βόσκειν: die vollständige Leitung der Herde, darum auch τὰ<br />
πρόβατά μου. Das βόσκειν der ἀρνία ist übrigens ebenso schwer <strong>und</strong> oft noch mühevoller als <strong>das</strong><br />
παιμαίνειν der Schafe.<br />
V. 17. Der Herr fragt nun zum drittenmal, ob Simon denn auch wirklich menschlich herzlich ihm<br />
ergeben sei – indem er den Mann ganz zerschlagen <strong>und</strong> demütigen will.<br />
σύ γινώσκεις – du erkennst es im Sinne von Ps. 139. Für πρόβατα lesen Tischend., Meyer, Weiss<br />
πρόβάτια: Schäflein, was wieder die besonders Schwachen der Sorge Petri empfehlen würde. Und<br />
dazu bereiten allein die Demütigungen des Herrn <strong>und</strong> <strong>das</strong> tiefste Gefühl des eigenen Elendes.<br />
V. 18. νεώτερος – ein Jüngerer war Petrus die Zeit seines Lebens mit dem Herrn, wo er sich<br />
selbst gürtete, (wie er es eben bei dem Sprung ins Meer gezeigt hatte), <strong>und</strong> wo er seinen Willenstrieben<br />
folgte. Aber im vollen Gegensatz zu diesem der Jugend eigentümlichen Tun enthüllt ihm der<br />
Herr <strong>das</strong> Schicksal seines Alters, indem er dabei die Tätigkeit des Petrus als Apostels <strong>über</strong>geht. Die<br />
jetzige Selbstleitung <strong>und</strong> die so verschiedene Leitung im Alter treten gegen<strong>über</strong> als ein Beweis, <strong>das</strong>s<br />
in dem Dienste des Herrn <strong>das</strong> Ich des Menschen getötet wird.<br />
Die ἔκτεισις τῶν χειρῶν war nach Artemidos <strong>das</strong> Charakteristikum der Kreuzigung. Wer dies<br />
Äußerste erleiden musste, war willenlos in die Gewalt eines Anderen preisgegeben. Diese Probe der<br />
Liebe hatte Petrus zu bestehen. Die Weissagung des Herrn an seine Apostel sind Leiden wie Mt. 24
21. Kapitel. 165<br />
an die ganze Gemeine. Welch eine zarte Güte <strong>und</strong> doch wieder welch ein erschütternder Ernst ruht<br />
auf dem ganzen Abschnitt. Vergl. 2. Petr. 1,14. Gegen die Deutung auf die Kreuzigung hat man angeführt,<br />
<strong>das</strong>s dann die Umgürtung <strong>und</strong> Abführung der Ausstreckung der Hände vorangehen müsse,<br />
doch konnte sehr leicht <strong>das</strong> bezeichnende Wort vorangestellt werden <strong>und</strong> dann zwei Nebenakte folgen,<br />
die allerdings auf bestimmte Vorgänge bei der Kreuzigung zu deuten sind, da <strong>das</strong> ganze Ereignis<br />
gegenwärtig vor den Augen des Herrn steht. ζώσει – auf die Gürtung mit einem Strick oder mit<br />
dem Schamtuch oder auf die Anbindung am Pfahl zu beziehen. οἴσει – ein Wegführen <strong>und</strong> Wegschleppen<br />
war die ganze Handlung.<br />
V. 19. θανάτῳ δοξάζειν τὸν θεόν – dies aus unserer Stelle später der Sprachgebrauch für die Leiden<br />
der Märtyrer. Petri Kreuzestod allgemeine Tradition bei den Kirchenvätern, obgleich schon verb<strong>und</strong>en<br />
mit mönchischen Albernheiten (wie bei Euseb. h. eccl. IV, 1). ἀκολούθει μοι – nicht nur in<br />
dem Sinne ihm jetzt zu folgen, indem der Herr von dem Mahle aufbricht, sondern wie Mt. 10,38. cf.<br />
Ev. Joh. 13,36 <strong>und</strong> V. 22 in unserm Kapitel. Der Herr verkündet ihm die Gleichheit seines Todes mit<br />
ihm selber.<br />
V. 20-23. Die Zukunft des Johannes.<br />
V. 20. Johannes hebt in seiner schüchternen <strong>und</strong> zarten Weise es hervor, <strong>das</strong>s er lediglich darum<br />
bei dieser feierlichen Offenbarung sich dem Herrn angeschlossen habe, weil er es auf die große Liebe<br />
Jesu zu ihm wagen durfte, die ihm ja selbst einmal erlaubt hatte, bei dem Mahle sich an seine<br />
Brust niederzulassen <strong>und</strong> ihn in Einfalt <strong>und</strong> Vertrauen die Frage nach dem Verräter wagen ließ. Er<br />
war in diesem Augenblick so ergriffen von der Majestät des Herrn, <strong>das</strong>s nur die alte Liebe Jesu ihn<br />
reizte, sich wenn auch zaghaft, in der Nähe des Herrn zu halten. Ganz nach Joh. Sinn, <strong>und</strong> darum<br />
voll geschichtlich. Jedes sich Vordrängen lag ihm fern. Von einem Rangstreit kann hier nur die kritische<br />
Rohheit reden.<br />
V. 21. Gerade in seiner Ergriffenheit war Petrus leidenschaftlich bewegt, <strong>und</strong> so fragt er unbedacht<br />
<strong>und</strong> hart, was mit diesem sein werde. Zu der Frage ist ἔσται zu ergänzen. Es ist ein Ausbruch<br />
der alten Natur, die selbst bei einem Petrus die tiefste Demütigung noch nicht gebrochen hatte.<br />
Ganz gemäß der Erfahrung des Lebens. Es lag auch in dem vorschnellen Worte etwas Eifersüchtelei.<br />
Petrus hätte leicht begreifen können, weshalb der vorsichtige Joh. sich in der Nähe des Herrn zu<br />
halten den Mut hatte.<br />
V. 22. Ein Tadelwort dessen, der allein <strong>über</strong> <strong>das</strong> Los seiner Jünger zu bestimmen hat. Wie Markus<br />
<strong>und</strong> Lukas (es geziemt euch nicht zu wissen) auch nach der Auferstehung den Meister als ernst<br />
strafend <strong>und</strong> tadelnd darstellen, so auch Joh. Und darin liegt ein unumstößlicher Beweis der Wahrheit<br />
der Geschichte. Auch die Apostel bleiben unter dem züchtigenden Regimente des Herrn, wie<br />
dies Petrus später zu Joppe <strong>und</strong> zu Antiochien erfuhr. In diesem Tadel ist auch die hypothetische<br />
Form des Wortes begründet, in der der Herr seine freiwaltende Souveränität behauptet, aber doch<br />
genugsam andeutet, <strong>das</strong>s Joh. wirklich seine Wiederkunft erleben werde. Soll Petrus durch den Tod<br />
Gott verherrlichen, also dem Sichtbaren nach nichts schauen, so wird Joh. die Wiederkunft Christi,<br />
also eine Offenbarung der Herrlichkeit desselben, erleben. αὐτόν mit besonderem Nachdruck hervorgehoben.<br />
Bei der Wiederkunft haben wir an <strong>das</strong> Kommen des Herrn zum Gericht <strong>über</strong> Jerusalem<br />
zu denken, mit dem er gerade nach unserem Evangelium einen so heißen Kampf gehabt hat. Dieses<br />
Gericht ist aber ein Vorspiel des Weltgerichts <strong>und</strong> darum Mt. 24 prophetisch damit zusammengefasst.<br />
μένειν ist am Leben bleiben. Joh. hat in der Offenbarung <strong>das</strong> Kommen Jesu zum Gericht <strong>über</strong> Jerusalem<br />
vorausbeschrieben <strong>und</strong> ist wohl gleich nach der Zerstörung Jerusalems als dem gewaltigen
166 21. Kapitel.<br />
Abschluss der apostolischen Zeit entschlafen, denn <strong>über</strong> ein längeres Leben desselben haben wir<br />
nur Sagen der Kirchenväter. Übrigens hat sowohl der Herr selbst als auch <strong>das</strong> Verständnis des Joh.<br />
in dem: „bis ich komme“ etwas viel Gewaltigeres gesehen als etwa nur die Befreiung vom Martyrium<br />
oder Tode. Es war dem Joh. nicht um ein Gut für sich zu tun, sondern um die Erkenntnis der Erfüllung<br />
der Gerichtsworte des Herrn <strong>über</strong> Jerusalem <strong>und</strong> die Welt. οὺ ἀκολούθει μοι – du sei mit<br />
deinem Wege <strong>und</strong> deiner Bestimmung zufrieden, nämlich die Schmach meines Kreuzes zu erfahren.<br />
V. 23. Diese Rede verbreitete sich von dem Worte Jesu aus, <strong>und</strong> konnte sich sehr bald verbreiten.<br />
Joh. sollte also nach der Meinung der Brüder eine Wiederkunft Christi erleben, bei der er dem Tode<br />
entging, also verwandelt wurde. Joh. hat aber diese Wiederkunft anders aufgefasst denn als eine Befreiung<br />
vom Tode. Viel wichtiger als die Befreiung vom Tode war für Joh. die ihm mit den Worten<br />
des Herrn auferlegte gläubige Erharrung seines Kommens, die er in der Offenbarung so heiß erfleht<br />
<strong>und</strong> auf die ausschauend er hier sein Evangelium schließt.<br />
V. 24. Die Gründe, <strong>das</strong>s dieser Vers von Joh. selbst noch geschrieben, sind folgende: 1) schlösse<br />
<strong>das</strong> Evangelium mit V. 23, so würde es den Eindruck eines abgerissenen Bruchstückes machen; 2)<br />
die Worte hängen eng mit V. 23 zusammen, denn eben der noch lebende <strong>und</strong> im Glauben die Zukunft<br />
des Herrn erharrende Jünger steht in seinem Alter als ὁ μαρτυρῶν inmitten der Gläubigen; 3)<br />
Joh. nennt sich mit derselben Zuversicht hier ὁ μαρτυρῶν, wie er c. 19,35 <strong>und</strong> Offb. 1,2 sein Zeugnis<br />
betont; 4) gerade am Schluss des Evang. ist ein solches Wort an seiner Stelle <strong>und</strong> kann hier nach<br />
c. 19,35; 20,31 als drittes Siegel der Wahrheit folgen. – περί τούτων: nicht nur <strong>über</strong> die letzte Erscheinung<br />
des Herrn, sondern <strong>über</strong> alles im Evangelium Berichtete. γράψας ταῦτα: Joh. hat dies<br />
also wirklich geschrieben – <strong>und</strong> nun hat man die Freiheit, entweder der Anmaßung der Kritik zu folgen,<br />
welche Solches frech ableugnet, oder dem von dem Herrn durch die Erfahrung seiner Wiederkunft<br />
beglaubigten Apostel <strong>und</strong> Zeugen. οἴδαμεν – hier fasst Joh. sein Zeugnis mit dem der gläubigen<br />
Gemeinde zusammen, denn er hatte in seinem langen Leben nicht vergeblich gearbeitet, sondern<br />
sein Zeugnis hatte Glauben gef<strong>und</strong>en, wie er denn V. 23 von seinen Brüdern reden kann. Das<br />
Wissen bei Joh. war nicht bloß ein geschichtliches Wissen, sondern ganz wie <strong>das</strong> der Gemeine ein<br />
Wissen im heil. Geist. Und der Apostel schreibt es sich selbst zur Freude nieder, <strong>das</strong>s die Gemeinde<br />
weiß, <strong>das</strong>s sein Zeugnis wahr ist.<br />
V. 25. Dieser Vers fehlt in Codex α <strong>und</strong> ist von Tischendorf aus dem Texte gestrichen; er kommt<br />
aber in allen übrigen Handschriften vor. καὶ ἄλλα πολλὰ ἁ ἐποίησεν ὁ Ιησ. bezieht sich auf die Taten<br />
Jesu während seines Erdenlebens. Wenn diese große Menge Tat für Tat geschrieben würde, οὐδὲ<br />
αὐτὸν τὸν κόσμον – nicht einmal die Welt. Statt χωρῆσαι liest Lachmann χωρήσειν: es würden die<br />
Bücher nicht Raum finden, was doch nicht von der capacitas intellectus sondern loci zu verstehen<br />
ist. οἶμαι soll diesen gewaltigen Ausspruch etwas mäßigen. Man muss sagen, <strong>das</strong>s dieser Vers ein<br />
späterer Zusatz von Jemandem ist <strong>und</strong> kaum der apostolischen Nüchternheit entspricht, aber betrachtet<br />
von dem Gesichtspunkt eines, der <strong>über</strong> die unendliche Fülle der Heilstaten Jesu staunt <strong>und</strong><br />
so seiner starken Empfindung einen Ausdruck gibt, ist er auch nicht ungereimt. Calvin, der die Worte<br />
als des Joh. auffasst, sagt: Scimus ut se ad communem loquendi modum accommodet Deus ruditatis<br />
nostrae causa, immo interdum quodammodo balbutiat. Jedenfalls stimmt aber dieser Zusatz<br />
völlig mit der Absicht Joh. <strong>über</strong>ein, in seinem Buch eine Auswahl der Machttaten Jesu zu geben,<br />
also nicht Ideen, sondern Tatsachen, welche den Seinen zum Leben, der Welt aber zum Gericht werden.