Jeden Morgen wacht Lea in der Bauhausvilla ihrer Eltern auf und hört den Slow Juicer röhren. Die 18-jährige Abituranwärterin schleppt sich unter die Regenwalddusche und würgt anschließend einen grünen Smoothie runter. Davor, dazwischen und danach checkt sie hundertmal ihr iPhone X, bis es schließlich in einer Tasche ihrer Uniqlo-Ultra-Light-Down-Jacke verschwindet. Die Tennissachen hatte Lea schon am Vorabend gepackt. Jetzt lädt sie Schläger und Klamotten in den Stauraum ihres E-Rollers der Marke Niu, und endlich gurkt sie los Richtung Gymnasium. Es ist ein ganz normaler Tag im Leben der durchschnittlichsten Oberschichtenschülerin aller Zeiten. Bis plötzlich der Neue ins Klassenzimmer schlürft.

Tristan ist morgens im Jugendvollzug aufgewacht, aber das weiß noch keiner. Nach ein paar kleineren und mittelgroßen Konflikten mit dem Gesetz sitzt der verwaiste Diplomatensohn die erste Gefängnisstrafe seines Lebens ab. Für die Schülerinnen und Schüler eines gutbürgerlichen Gymnasiums muss er tatsächlich wie ein Häftling auf Freigang aussehen: Baggy Pants, St.-Pauli-T-Shirt, Schlabberjacke. Die Kapuze tief ins Spitzbubengesicht gezogen. In seiner ersten Stunde zitiert Tristan den Schlachtruf der FLN-Rebellen aus dem Algerienkrieg. In seiner ersten großen Pause blamiert er die Schulhofnazis. Lea sieht das alles, und dann stockt ihr ganz buchstäblich der Atem.

Es vergehen noch ein paar Serienminuten, bis die beiden in Wir sind die Welle auf zwischenmenschlicher und gesinnungstechnischer Ebene zusammenfinden. Bis sie Einkaufszentren und Schlachthöfe infiltrieren, rechtspopulistische Wahlkampfarenen sabotieren und sich schließlich über die Frage verkrachen, ob man die ortsansässige Waffenfabrik besetzen oder gleich in die Luft sprengen sollte. Trotzdem lässt sich schon nach den ersten zehn Minuten der Serie von Headautor Jan Berger sagen: Der nicht mehr ganz zivile Ungehorsam ist auf Netflix angekommen. Die Revolution frisst ihre Streamingdienstabonnenten.

Offiziell basiert Wir sind die Welle auf dem beinahe gleichnamigen Schullektürenklassiker von Morton Rhue. Tatsächlich verkehrt die sechsteilige Serie den Plot des Romans nahezu in sein Gegenteil. Im Buch aus dem Jahr 1981 ist es ein Geschichtslehrer, der die Welle gründet, um seiner Klasse die Verführungskraft des Faschismus anhand eines Praxistests zu erläutern. Im Internetfernsehen von heute sind es fünf Teenager, die mit Social-Media-tauglichen Guerillaaktionen gegen Kapitalismus, Klimapolitik und Rechtsextremismus für Aufruhr sorgen. Tristan ist ihr Anführer und Anstifter. Ein Millennial-James-Dean für die Ereignislosigkeit der westdeutschen Doppelhausrealität.

Nazis, SUV, Markenklamotten – verquirlt zur selben Dagegenseinssoße

So wie die Avengers ihre Superhelden aus allen Winkeln des Marvel-Universums rekrutieren, scheint sich die Welle aus Abgesandten verschiedener aktueller Protestbewegungen zusammenzusetzen. Lea (Luise Belfort) ist eine Fridays-for-Future-Pragmatikerin, der Landwirtssohn Hagen (Daniel Friedl) mehr so der Sitzblockadentyp nach Extinction-Rebellion-Manier. Rahim (Mohamed Issa) würde schon aus eigener Betroffenheit bei jeder Mietenwahndemo mitlaufen, während Tristan (Ludwig Simon) und Zazie (Michelle Barthel) der Welle einen dezenten Schwarzer-Block-Chic verleihen. Es fehlt eigentlich nur ein altkluger Jungtheoretiker, der die konspirativen Lagerhallentreffen der Gruppe mit falsch eingeprägten Marx-Zitaten bereichert.

Schon der kleinste Versuch, verschiedene Beweggründe des Protests zu differenzieren, wäre jedoch zu viel verlangt von Wir sind die Welle. Nazis, Glyphosat, SUV, Markenklamotten – alles ist irgendwie gleich schlimm, alles verquirlt zur selben Dagegenseinssoße. In Windeseile verselbstständigt sich die Bewegung als brandschatzender Mob, und ebenso schnell schrumpft sie zurück auf ihre Kernmitglieder. Dank Wir sind die Welle ist Aktivismus endlich wieder so einfach und billig zu haben wie auf einem H&M-T-Shirt mit "Feminism"-Aufdruck.