Read the English version of this article here.

Dreißig Jahre sind vergangen, doch ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Am 26. April 1986 hörte ich zum ersten Mal die Gerüchte über den Reaktorunfall in Tschernobyl – damals war ich leitender Wissenschaftler am Institut für Strahlungshygiene im heutigen Sankt Petersburg. Der offizielle Anruf kam erst 48 Stunden später. 

Während der folgenden Stunden dachte wohl niemand, mich eingeschlossen, dass wir gerade Zeugen eines Ereignisses wurden, das Folgen für die nächsten Jahrzehnte haben sollte. Die Erkenntnis kam mir erst, nachdem die ersten Rettungsteams mit Informationen und Eindrücken aus erster Hand zurückkehrten. Im Juni 1986 reiste ich als Leiter des Notfallteams selbst an die Orte in Russland, die am stärksten betroffen waren. Bis heute ist das Wort Tschernobyl traurigerweise für viele Menschen gleichbedeutend mit Katastrophe.  

Zwei Tage nach dem Anruf vor drei Jahrzehnten kamen die ersten 200 Evakuierten aus Pripjat in meine Stadt. Innerhalb weniger Monate stieg ihre Zahl auf 25.000. Die Menschen kamen sowohl aus der Ukraine als auch aus Belarus. 30 Arbeiter starben direkt durch den Unfall, 100 weitere erlitten Strahlenverletzungen.  

1986 evakuierte die sowjetische Regierung ein riesiges Gebiet rund um den Reaktor, 115.000 Menschen mussten ihre Heimat verlassen. Später wurden 220.000 weitere umgesiedelt: aus dem heutigen Belarus, aus Russland und der Ukraine. In diesen drei Ländern waren große Flächen mit radioaktiven Stoffen verseucht und in beinahe allen Ländern der nördlichen Hemisphäre konnten Radionuklide aus Tschernobyl gemessen werden.

Michail Balonow ist Professor für Radiobiologie und hat mehr als 40 Jahre Erfahrung im Bereich Strahlenschutzes. Er trug einen erheblichen Teil zu den UNSCEAR-Berichten über Tschernobyl und Fukushima bei. © privat

Damals war die Welt noch eine andere. Es gab kein Internet, kein Twitter und keine Sofortwarnungen sich in Sicherheit zu bringen. Niemand riet der Bevölkerung in ihren Häusern zu bleiben oder warnte sie davor, verseuchte Lebensmittel zu essen. Das alles hätte Menschen weniger Strahlung ausgesetzt. Noch wichtiger: Es hätte wahrscheinlich verhindert, dass sie Milch trinken, die mit radioaktivem Jod verseucht war. Das war auch der Grund, weshalb später etwa die Zahl der Schilddrüsenkrebserkrankungen unter Kindern in den betroffenen Gegenden dramatisch angestiegen ist.

Nach der Atomkatastrophe im japanischen Kraftwerk Fukushima Daiichi vor fünf Jahren wurden solche Strahlenfolgen weitgehend verhindert. Vor allem, weil rechtzeitig Nahrungsmittelbeschränkungen ausgerufen und die Bevölkerung in Sicherheit gebracht worden ist. Genau das war das größte Problem in Tschernobyl: die Reaktion auf den Notfall. Menschen mussten ihre Häuser kurzfristig verlassen, im Wissen, dass sie vielleicht nie wieder zurückkehren können, wir befragten sie wie viel Strahlung sie ausgesetzt gewesen sein könnten, erkundigten uns also nach ihren Ernährungsgewohnheiten und sonstigen Aktivitäten.   

Mehr als 6.000 Krebsfälle unter Kindern

Ich selbst habe mich als Wissenschaftler vor allem mit dem Schutz der Öffentlichkeit beschäftigt. Während meine Kollegen und ich in die verseuchten Gebiete reisten, um Daten zu sammeln und zu helfen, wo wir konnten, begannen Tag und Nacht zu verschwimmen. Wir waren nur auf bestimmte Arten von Unfällen vorbereitet, auf jene, die man sich vorstellen konnte. Dafür gab es detaillierte technische Anleitungen und Notfallanweisungen. Tschernobyl war kein solcher Unfall, niemand hatte ihn für möglich gehalten. Wir konzentrierten uns darauf die Strahlenwerte zu überwachen und beurteilten die Dosen, denen Menschen ausgesetzt gewesen sein könnten, schlugen Gegenmaßnahmen vor. Doch innerhalb kurzer Zeit wurde es immer komplizierter auf die Krise zu reagieren. Schuld daran waren die enormen ökonomischen, sozialen und politischen Umwälzungen während und nach dem Zusammenbruch der UdSSR. 

Wie ein Gespenst

So breitete sich die Wolke in den ersten Tagen nach dem Unfall aus:

…

Zwischen 1991 und 2005 wurden mehr als 6.000 Krebsfälle unter den Kindern aus den betroffenen Gebieten um Tschernobyl diagnostiziert. Ein wesentlicher Teil davon ist durch die Strahlung verursacht worden. Diese Fälle wurden schnell aufgespürt und die Patienten behandelt.