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Psychologie Biomedizin

Wie Stress unser Überleben sichert

Kein Säbelzahntiger in Sicht? Macht nichts – unser Körper verhält sich trotzdem oft noch so, als ob ein Raubtier hinter uns her wäre Kein Säbelzahntiger in Sicht? Macht nichts – unser Körper verhält sich trotzdem oft noch so, als ob ein Raubtier hinter uns her wäre
Kein Säbelzahntiger in Sicht? Macht nichts – unser Körper verhält sich trotzdem oft noch so, als ob ein Raubtier hinter uns her wäre
Quelle: Infografik Die Welt
Schon frühe Bakterien brauchten Stress, um sich zu entwickeln. Bis heute werden archaische Stresssysteme in allen Lebewesen aktiv. Solange sie nicht überschießen sind sie unverzichtbar für den Alltag.

Hartmut Schächinger braucht erst einmal eine Minute Bedenkzeit, bis er sagen kann, was ihn stresst. Papiere stressen ihn, Papiere und Vorgänge, die sich auf dem Schreibtisch häufen, die unnötig kompliziert sind, aber erledigt sein wollen. Administrative Vorgänge, letztlich Zeugnis kultureller Entwicklung, setzen bei ihm Prozesse in Gang, die tief in der Evolution verwurzelt sind.

Der Psychobiologe von der Universität Trier lacht ein wenig darüber, dass gerade sie in ihm Stressreaktionen freisetzen. Schächinger ist Stressforscher – das Thema beschäftigt ihn tagein, tagaus. Wie kompliziert es ist, zeigt sich schon darin, dass er sich genau wie alle anderen Forscher nicht auf eine einfache Definition des Begriffs festlegen will. Schächinger formuliert es lieber indirekt: „Stress ist das, was Stresssysteme aktiviert.“

Diese Stresssysteme sind uralt, wahrscheinlich halfen sie schon den ersten Säugetieren vor über 250 Millionen Jahren beim Überleben. Seither haben sie sich weiterentwickelt und verfeinert. Die Systeme unterstützen Verhaltensoptionen in Notfallsituationen: Kampf, Flucht, Verstecken oder Totstellen („Fight, Flight, Freezing“). „Alle diese Reaktionen verbrauchen Energie, die der Körper vorsorglich bereitstellen muss“, sagt Schächinger.

Über eines der Stresssysteme, das sympathische Nervensystem, wird beispielsweise der Kreislauf angetrieben, von der Leber wird Zucker zur Verfügung gestellt und aus Fettzellen werden Fettsäuren freigesetzt. Das alles sind hochwertige Energieträger. „Zudem wird über ein weiteres Stresssystem, die sogenannte Hypothalamus-Hypophysen-Nebenniere-Achse, beim Menschen Cortisol ausgeschüttet, das sich im gesamten Körper verbreitet und vor allem im Kern einer Zelle die Genexpressionen verändert. Dieses Hormon wirkt praktisch auf jede Körperzelle und auf von Genen. Es sorgt unter anderem dafür, dass der Körper auch mittel- oder langfristig mit einer anhaltenden Stresssituation zurechtkommt.“

Aber auch für unser Gehirn ist Stress prägend. „In Stresssituationen merken wir uns wichtige Dinge wesentlich besser“, erklärt Schächinger. „Ob ich beim nächsten Mal eine ähnliche Situation von vorneherein vermeide oder ob ich vielmehr verstanden habe, dass ich in der Lage bin, die Situation zu meistern, kann überlebenswichtig sein.“

Stresssysteme werden im sozialen Kontext relevant

Die vielen verschiedenen Reaktionen des Körpers auf Stress sind hochkomplex. Stresssysteme werden längst nicht mehr angeworfen, wenn ein Rudel Säbelzahntiger aus dem Gestrüpp hervorspringt. „Bei der Evolution der Säugetiere wurden Stresssysteme zunehmend im sozialen Kontext relevant. Hier geht es nicht um die Abwehr des attackierenden Fressfeindes, sondern um den Reproduktionsvorteil“, sagt Schächinger.

Bei der Weitergabe der Gene spiele die soziale Stellung innerhalb der Gruppe eine wichtige Rolle. „Sicherlich waren schon unsere Vorfahren gestresst, wenn die von ihnen erlebte soziale Stellung, ihr soziales Selbst, in Gefahr war. Auch heute werden bei Menschen Stresssysteme besonders im sozialen Stresssituationen aktiv, eigentlich archaische Mechanismen, Relikte alter Zeit, die uns aktuell überflüssig erscheinen.“

Tatsächlich ist es so, dass uns das, was uns früher gerettet hat, heute umbringt. „In Zeiten, in denen wir Angst vor wilden Tieren haben mussten oder auch später, in innerartlichen Kämpfen und Kriegen, war es günstig, dass in der Stresssituation die Durchblutung zentralisiert und die Blutgerinnung erhöht wurde. Das schützte vor Blutverlust“, erklärt Schächinger. Auch die Bereitstellung von viel Glucose in Stresssituationen kann langfristig schädlich sein. Denn die Gefäße verändern sich dadurch, es kommt zu Bluthochdruck und Arteriosklerose. „In der Welt, in der wir heute leben dürfen, begünstigen diese Reaktionen aber den Herzinfarkt.“ Es wäre besser, wenn das Blut heute nicht so schnell gerinnen würde – Autounfälle sind seltener als Herzinfarkte.

Das Gehirn reift mit dem Stress

Ob das aber in fünfzig oder hundert Jahren auch noch so ist, weiß keiner. „Wenn wir die Wahl hätten, würde ich eher für die Beibehaltung der über Jahrmillionen erprobten Stressmechanismen plädieren“, sagt Schächinger. Auch weil zunehmend häufig Forscher „positive“ Aspekte von „negativem“ Stress finden. Ein Beispiel dafür ist, dass Stress die Gedächtnisbildung für das Stressereignis begünstigt. Ein weiteres Beispiel ist das Heranreifen einer menschlichen Persönlichkeit durch Überwindung von relevanten Herausforderungen, besonders auch von „negativen“ Stressereignissen.

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Mit der Erfindung des Lebens kam auch der Stress in die Welt. Sobald ein Organismus lebt, sind Veränderungen unumgänglich. So verändert sich die Umwelt ständig – und ständig muss darauf reagiert werden. Schon niedere Lebewesen wie Bakterien müssen Energie gewinnen und vermehren sich. Da kann Nahrung schnell knapp werden – und schon ist der Stress da. Auch Einflüsse von außen, UV-Strahlung, Temperatursprünge, Dürren oder Überschwemmungen, können Lebewesen schnell aus dem Gleichgewicht bringen. Für die frühe Evolution war das ein Motor. Ein einfaches Beispiel: Die Strahlung der Sonne sorgte im Erbgut niederer, im Wasser lebender Organismen für Mutationen.

Kam dann ein weiterer Stressor, etwa Trockenheit hinzu, konnte ein Teil dieser Organismen dank seines veränderten Gencodes besser überleben. Eine komplizierte Kette von Reaktionen wird aktiviert – und die hitzeresistenten Organismen vermehren sich und geben die zufällig ins Erbgut geschriebene Zusatzinformation an ihre Nachkommen weiter. Der Trockenheitsstress hat diese Lebewesen zu Gewinnern im akuten Kampf ums Überleben werden lassen. Die echten Gewinner dieser Stresssituation sind aber die, die beide Optionen zur Bewältigung haben, die also mit Feuchtigkeit und Dürre bestens klarkommen. Die Evolution begünstigt diejenigen, die sich am besten den sich verändernden Lebensumständen anpassen können.

Archaische Systeme der Stressregulation

Bis heute haben sich archaische System der Stressregulation gehalten, auch in den Zellen der Menschen. Aber sie haben sich auch weiterentwickelt. Deshalb blicken Forscher, die die Stressantworten des menschlichen Körpers untersuchen, heute auf ein kompliziertes Zusammenspiel von genetischen, epigenetischen und psychologischen Reaktionen. Nicht selten erleben sie dabei Überraschungen.

So auch Alexander Choukèr. Er beschäftigt sich seit Jahren mit den Auswirkungen von Dauerstress auf die Physiologie des Menschen. Dazu nutzt er die nahezu perfekten Bedingungen, die beispielsweise bei Expeditionen in die Antarktis herrschen: Wenige gesunde und gut durchgecheckte Teilnehmer brechen für einen begrenzten Zeitraum an einen lebensfeindlichen Ort auf.

Sie begeben sich in eine Stresssituation und führen hier ein standardisiertes Leben. Alle „Probanden“ haben einen ähnlichen Tagesablauf, essen das Gleiche, sind in der gleichen Situation. Ein Leben unter Laborbedingungen. Eines der wohl medienwirksamsten dieser Projekte, an denen die Mediziner der Klinik für Anästhesiologie der Universität München beteiligt waren, war die Mars-500-Mission: Sechs Probanden wurden dabei 520 Tage lang auf einen simulierten Flug zum Roten Planeten geschickt.

Marsonauten im Dauerstress

Während des Experiments, als die „Marsonauten“ wegen des (freiwilligen) Freiheitsentzugs und der sozial anspruchsvollen Situation schon ziemlich gestresst waren, mussten sie sich gegenseitig Blut abnehmen. Sie übergaben es durch eine Schleuse den Forschern. Choukèr und sein Kollege Gustav Schelling interessierte dabei vor allem, wie und ob sich die Stresssysteme im Körper der Probanden verändert hatten. „Dabei erlebten wir eine Überraschung“, sagt er. „Wir wissen ja, dass durch Stress der Cortisolspiegel stark steigt, und die Teilnehmer von Mars 500 hatten in Fragebögen auch angegeben, dass sie sich angespannt und belastet fühlten.“ Doch im Labor zeigte sich ein anderes Bild. „Die Cortisolspiegel war zwar leicht erhöht, aber nicht so stark, wie wir es erwartet hatten. Auch das Immunsystem der Teilnehmer, das eigentlich schlechter hätte werden müssen, wie wir aus Versuchen mit Astronauten wissen, erschien zunächst kaum verändert .“

Als Choukèr und sein Team die Körperabwehr in den Blutproben mit diversen Antigenen reizten, zeigte sich aber, dass die Immunzellen viel stärker als normal auf diese „Eindringlinge“ reagierten. „Das kam völlig überraschend. Wir wissen noch nicht genau, warum es so ist. „Die Marsonauten leben in einer fremdartigen und ungewohnten Umgebung. Vielleicht erweist es sich als Vorteil, dass das Immunsystem hier empfindlicher auf eine Stimulation reagiert. Es scheint so zu sein, dass das Stresslevel im Container, das ja eher so am oberen Rand des normalen Stresses lag, eine schützende Funktion hat. Ich stelle es mir so vor wie einen Bogenschützen, der mit gespanntem Bogen wartet. Sobald eine Gefahr droht, kann er den Pfeil abschießen.“ Welche genauen Mechanismen das Immunsystem der Marsonauten zu Bogenschützen werden lässt, es also in ständiger Alarmbereitschaft hält, ist allerdings noch unklar.

Stress kann Organe schützen

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Alarmsignale können überlebenswichtige Prozesse im Körper auslösen. Setzt man eine Maus beispielsweise einem starken Schock aus, lässt sie beispielsweise vor einer Operation in Narkose zehn Minuten lang ein Luftgemisch mit sehr wenig Sauerstoff einatmen, so ist ihre Leber danach wesentlich besser vor Schäden geschützt. Forscher sprechen von Präkonditionierung. „Es ist wie der erste kalte Tag im Herbst. Danach wird es wieder wärmer, aber die Natur ist gewarnt, dass der Winter bald kommt“, erklärt Choukèr. „Dass kurze, extreme Gefahren dazu führen, dass der Organismus sich schnell auf metabolischer Ebene anpasst, ist wahrscheinlich ein archaisches Erbe der Evolution.“

Stress wirkt sich aber nicht nur auf das einzelne Lebewesen aus. Auch die Nachkommen können davon beeinflusst werden, wie Studien zu Posttraumatischen Belastungsstörungen zeigen. Rachel Yehuda und ihre Kollegen von der Mount Sinai School of Medicine in New York erforschen beispielsweise, ob die Stresssysteme von Nachkommen von Holocaust-Opfern, Vietnam-Veteranen und Zeugen des Anschlags auf das World Trade Center verändert sind. Erste Hinweise darauf gibt es: Starker Stress ruft tatsächlich epigenetische Veränderungen hervor, die an Kinder und Enkel weitergegeben werden. Man bekommt zwar einen Genpool von den Eltern mit, aber der reicht offenbar nicht aus, um alle notwendigen Proteine zu codieren. Die Informationen passen nicht auf unsere Festplatte. Die epigenetischen Phänomene sind nicht kurzlebig, sondern vererbbar – was vermutlich einer der größten Hebel der Anpassungsfähigkeit ist.

Choukèr stresst übrigens das Ungewisse am meisten. Dabei hat erst der Stress uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Und ohne die archaischen Stresssysteme wären wir mit Sicherheit tot.

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