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Kunst und Architektur Performance

Wie Lady Gaga Marina Abramović inspiriert

Von der radikalen Performancekünstlerin zur Society-Schamanin. Die Entwicklung von Marina Abramović ist beklemmender als ihre härtesten Aktionen. Jetzt will sie eine Art esoterisches Bauhaus gründen.

Was bleibt? Duchamp erfand eine Miniatursammlung seines Werks, die er in Schachteln und Koffer verpackte. Beuys richtete sein Pharaonengrab in Darmstadt ein, Dalí ließ ein ganzes Museum nach seinen Wünschen bauen. Was aber bleibt, wenn ein Künstler, eine Künstlerin nichts wirklich Vorzeigbares produziert – wie Marina Abramović, deren Kunst nur im Moment der Aufführung existiert?

Bekannt wurde die 1946 in Belgrad geborene Performancekünstlerin mit ebenso durchdachten wie qualvollen Aktionen. So 1974, als sie sich in Neapel von einem Galeriepublikum entkleiden und mit allerlei Gegenständen traktieren ließ. Sie hatte die Aktion „Rhythm 0“ genannt, was ihre völlige Inaktivität zum Ausdruck brachte. Vertraglich hatte sie bestimmt, sich dem Publikum während sechs Stunden wehrlos ausliefern zu wollen und für alle Handlungen, die an ihr vollzogen würden, die Verantwortung selber zu übernehmen.

Nach anfänglichem Zögern zerschnitt man ihre Bluse, verletzte sie dabei, befingerte ihren nackten Körper, beklebte sie, bemalte sie, hielt ihr die Pistole an den Kopf. Stoisch ertrug sie alles, was mit ihr geschah. Ihre Aktion war eine beachtenswerte Meditation über die Fragilität von Moralvorstellungen, die vergessen sein können, sobald Menschen von der Verantwortung für ihr Handeln befreit werden.

Kunstobjekt war immer ihr Körper

Zum Nimbus der Künstlerin trug bei, dass sie zumeist nackt auftrat, was seinerzeit noch skandalisierend wirkte. Und immer war ihr Körper das zentrale Objekt ihrer Kunst, das sie nicht selten über das für sie wie für das Publikum erträgliche Maß hinaus marterte. 1975 verliebte sie sich in den deutschen Performancekünstler und Fotografen Ulay (Frank Uwe Laysiepen).

Mit ihm wurde sie zu einem kongenialen künstlerischen Duo, das die Extreme weiter ausreizte. Er zielte mit einem Pfeil auf ihr Herz. Sie rannten ungebremst ineinander, ohrfeigten sich stundenlang. Während ihrer Performance „Nightsea Crossing“ saßen sie einander wochenlang fastend und schweigend gegenüber, bis Ulay entkräftet aufgeben musste, sie jedoch entschied, alleine auszuharren.

Auch nach der Trennung von Ulay gelangen ihr noch starke Bilder. Wie 1997 auf der Biennale in Venedig, als sie in einem blutgetränkten weißen Gewand auf einem Haufen Rinderknochen saß, Totenlieder sang und damit beschäftigt war, die Knochen von verwesenden Fleischresten und Blut zu reinigen. Ein Statement gegen Gewalt und Krieg in ihrer damals noch jugoslawischen Heimat, das ihr den Grand Prix der Biennale eintrug.

Ihr Vermächtnis ist ein Institut

Über alldem ist die Künstlerin weltberühmt geworden. Gerade hat sie das Magazin „Time“ in die Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt aufgenommen. Dort rangiert sie allerdings nicht bei den Künstlern, sondern bei den Popstars, Schauspielern und Sportlern – einen Platz vor Cristiano Ronaldo. Was durchaus gerecht erscheint. Mehr und mehr nämlich hat sich die harte Performerin dem Stammpersonal des internationalen Celebrity-Zirkus zugeschlagen.

„Ich werde nichts Greifbares hinterlassen“, sagte sie kürzlich dem Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ und erklärte ihr Celebrity-Dasein als PR-Aktion, um für ihr eigenes Vermächtnis zu werben: das nach ihr benannte MARINA ABRAMOVIC INSTITUTE (MAI), ein Institut für „immaterielle und lang andauernde Arbeiten“.

Anfang 2012 hatte sie den Star-Architekten Rem Koolhaas und dessen Partner Shohei Shigematsu beauftragt, Pläne für den Umbau eines ehemaligen Theaters in der Kleinstadt Hudson im Bundesstaat New York zu entwickeln.

Die Vermittlung ihrer Methode

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In dem Gebäude will sie ihr Institut einrichten, das zu einem „Inkubator für Ausbildung und Zusammenarbeit zwischen Geisteswissenschaften, Kunst, Forschung und Technologie“ werden soll, wie man auf der Website des MAI erfährt. Des Weiteren ist zu erfahren, hier werde zukünftig die von ihr entwickelte ABRAMOVIC METHODE vermittelt, eine „Reihe von Übungen, mit denen die Grenzen von Körper und Geist überwunden werden können“.

Im vergangenen Herbst traf ich Marina Abramović, die nach Basel gekommen war, um ihre Pläne und ein begehbares Modell ihres Instituts vorzustellen, den sogenannten MAI-Prototype. Es solle ein neues Bauhaus werden, ein Ort des internationalen Austauschs. In ihrem Institut würden bald schon performative Ausdrucksformen wie Theater, Tanz, Oper oder Musik, aber auch Foto, Film und Video unterrichtet werden.

Vor allem aber ginge es um die Vermittlung ihrer ABRAMOVIC METHODE, mit deren Hilfe das Bewusstsein von Menschen verändert werden könne. Einer Methode, die auf ihren Erfahrungen als Performancekünstlerin basiere. Bei lange andauernden Aktionen habe sie körperliche Probleme bekommen und sei ihnen mit meditativen und physischen Übungen begegnet. Diese Erfahrung wolle sie nun weitergeben.

Yoga und esoterischer Hokuspokus

Ein Selbstversuch im MAI-Prototyp brachte wenig Erleuchtung. Der Kennenlernkurs dauert zwei Stunden. Im Begleittext ist „ein Abenteuer mit sich selbst“ versprochen. Nach etwas Rudimentär-Yoga gibt es im „Wasser-Trink-Raum“ schales Wasser, das gleichwohl „in jede Zelle des Körpers laufen werde“.

Verschiedentlich platzierte Kristalle sollen Energien leiten, das Sitzen oder Liegen auf kantigem Holzmöbeln zu Konzentration verhelfen. Man starrt einander an, bis die Augen zu tränen beginnen, und fuchtelt mit Neonröhren herum, wodurch eine „Resonanz in Körper und Geist” zu erfahren sei.

Nach dieser Erfahrung ist man bestenfalls ratlos, erweist sich der MAI-Prototyp doch als ein zusammenhangloser, mit esoterischem Hokuspokus garnierter Mix aus bruchstückhaften Yoga- und Meditationsübungen. Aber nicht nur wegen des ärmlichen Modells sind hinsichtlich der Pläne Abramovićs Zweifel angebracht.

Sie sieht ihr Institut als „Kultur-Spa“

Wenn Marina Abramović ein Bauhaus verspricht, eine internationale Begegnungsstätte, die wissenschaftliche wie künstlerische Disziplinen beherbergt, und wenn sie verkündet, „das Bewusstsein der Menschen auf diesem Planeten“ verändern zu können, muss man angesichts der tatsächlichen Gegebenheiten, um ihren Realitätssinn fürchten.

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Ohne einen Moment des Zögerns begegnet sie jeder Skepsis. Ihre Methode sei einzigartig. Punkt. In der dekadenten westlichen Gesellschaft sei die Beziehung der Menschen zu sich selbst und damit auch zur Natur verloren gegangen. Kunst könne diese Beziehungen revitalisieren. Ihr Institut sei deshalb als ein „Kultur-Spa“ zu verstehen.

Beuys reloaded. Abgesehen vom Begriff „Spa“ hat Beuys die Aufgabe der Kunst und damit seine Rolle als Heiler ganz ähnlich beschrieben. Beuys wurde auch ihr Mentor, nachdem sie 1973 in Edinburgh erstmals außerhalb ihrer sozialistischen Heimat Jugoslawien aufgetreten war und er sich im Publikum befand.

Abramović hat von Beuys gelernt

Marina Abramović macht keinen Hehl daraus, von Beuys gelernt zu haben. Beuys pflanzte Bäume, sie lässt ihre Schüler Bäume umarmen. Beuys empfand eine religiös zu nennende Berufung, er hatte ein Programm. Sie hat ihre „Methode“, ist zur Sammlerin metaphysischer Phänomene geworden, erfüllt von esoterischen und holistischen New-Age-Ideen.

Mittlerweile bemüht sich Marina Abramović auf irritierende Weise um die Finanzierung ihres Vermächtnisses. Die Gefahr, hierbei nicht nur bissige Kritik zu ernten, sondern ihre künstlerische Reputation vollends zu opfern, scheint sie in Kauf zu nehmen.

„Der Tag, als die Performance Kunst starb“, überschrieb das Internetkunstmagazin „Hyperallergic“ den Kommentar zu einem Video, in dem die Künstlerin mit dem Rap-Superstar Jay Z zu dessen Song „Picasso Baby“ performt. Marina Abramović, eine ältere Dame auf der falschen Party, die um den Superstar tänzelt und ihn mit durchdringendem Blick anstarrt. Ein Desaster.

Lady Gaga als „Inspiration“

Wenig später sorgte ein anderes Video für Schlagzeilen, in dem die Sängerin Lady Gaga nackt über eine Wiese schreitet, auf einem großen Kristall kauert, sich die Seele aus dem Leib schreit und mit einer seltsamen Pokemon-Maske auf den Augen herumsteht. Der zweieinhalb Minuten kurze YouTube-Clip zeigt Lady Gaga bei Ausübung der ABRAMOVIC METHODE. In Interviews erzählte sie, die ABRAMOVIC METHODE habe ihr geholfen, vom Kiffen loszukommen, während Marina Abramović selbst dankbar verlauten ließ, in der Sängerin eine „Inspiration“ gefunden zu haben.

Mit den Popstar-Filmchen wurde für eine Crowdfunding-Aktion geworben, die Geld für das MARINA ABRAMOVIC INSTITUTE erbringen sollte. Es kamen rund 660.000 US-Dollar zusammen. Ein Betrag, der kaum ausreichen wird, die Rechnungen der Star-Architekten zu begleichen. Obwohl sie das Haus bereits 2007 erwarb und die Fertigstellung des MAI für 2014 angekündigt wurde, existiert das Institut bis heute erst virtuell.

Anders als Maler und Bildhauer, die Sammler um sich scharen, fehlt der Performancekünstlerin Marina Abramović der wirtschaftliche Rückhalt. Sie hat es mit Objekten versucht, Minimal-Art-Derivaten, die sich aber nie auf dem Markt durchsetzen konnten. So fehlen ihr die üblichen Geldgeber und wohl auch eigene Mittel, um den auf 20 Millionen Dollar veranschlagten Bau des MAI realisieren zu können.

Abramovićs Tour mit „Biography“

1992 traf sie den Galeristen Sean Kelly, der zunächst die Hinterlassenschaften ihrer Aktionen sichten und vermarkten sollte. Doch diese waren rar, denn Ulay hatte das Foto- und Filmarchiv ihrer gemeinsamen Jahre behalten. Erst 1999 gelang es ihr, das Archiv für 300.000 Mark von ihrem ehemaligen Partner zu erwerben.

Sie musste hierzu ein Darlehen aufnehmen, das sie mit Performance-Auftritten und Lehraufträgen zurückzahlte. Bis heute gibt es Differenzen zwischen Abramović und Ulay, was die prozentuale Beteiligung an den Erlösen aus der Verwertung des Archivmaterials anbelangt.

Ohne Ulay hatte Marina Abramović Mühe, neue Ideen zu entwickeln, und suchte wohl auch deshalb die Hilfe des Regisseurs Charles Atlas, mit dem sie das Bühnenstück „Biography“ realisierte, das ebenfalls 1992 uraufgeführt wurde. „Biography“ ist die um eine Kompilation früherer Performances herum inszenierte, allegorische Darstellung ihrer Vita. Ulay wurde durch einen Schauspieler ersetzt. Sie tourte mit „Biography“ um die Welt, was maßgeblich zu ihrer heutigen Bekanntheit beitrug.

Mit über 40 erfand sie sich neu

„Biography“ wurde zu einem Grundmuster, das sie bis heute nutzt: Sie inszeniert sich selbst, indem sie ihre alten Performances in zeitgemäßem Styling wiederverwendet. Mussten es früher opulente, blutige Akte sein, hat sie sich nunmehr auf aseptische Darstellungsweisen, auf Askese und Reduktion verlegt.

Zu der Zeit, als sie „Biography“ entwickelte, war Marina Abramović jenseits des vierzigsten Lebensjahres und wollte sich nicht nur künstlerisch, sondern auch als Frau neu erfinden. Mit Ulay hatte sie in einem Lieferwagen gelebt, sie trug Jeans und Selbstgestricktes. Nun begeisterte sie sich für Designermöbel und Mode. In Brasilien ließ sie ihre Brüste vergrößern. In Berlin begann sie eine Affäre mit dem deutschen Ausstellungsmacher Klaus Biesenbach. Er wurde ein enger Freund und Spin Doctor ihrer späten Karriere.

Biesenbach, seit Ende der Neunzigerjahre Kurator am Museum of Modern Art (MoMA), hat ein exzellentes Gespür für Kunsttrends und nicht weniger Begabung zum Socializing. Der „New York Times“ gab er zu Protokoll, es sei sein Verdienst, dass sich Marina Abramović heute im Umfeld amerikanischer Celebrities bewege. Auch hat sie ihm ihre große MoMA-Retrospektive zu verdanken, die 2010 mehr als 700.000 Besucher anzog.

736 Stunden, 1565 Menschen

Hauptattraktion der „The Artist is Present“ überschriebenen Ausstellung war, wie kaum anders zu erwarten, Marina Abramović selbst. Im Atrium des Museums hatte sie ein Rechteck abgrenzen lassen. In dessen Mitte verharrte sie, mit einem schmucklosen, bodenlangen Gewand bekleidet, insgesamt 736 Stunden lang auf einem einfachen Holzstuhl, um einzelnen Besuchern in die Augen zu blicken.

Weil sich rasch herumsprach, dass immer wieder auch Stars und Prominente vor ihr saßen, bildeten sich bald lange Schlangen an den Kassen des Museums. Als schließlich Lady Gaga ihren Besuch über Twitter ankündigte, entwickelte sich eine kollektive Hysterie. Zuletzt kampierten viele vor dem Museum in der Hoffnung, sich am nächsten Tag für wenige Minuten von Marina Abramović anstarren zu lassen.

Der gut gemachte Dokumentarfilm „The Artist is Present“ verstärkt diese Aufgeregtheiten noch einmal. Er führt eine kleine, wohlerwogene Auswahl der 1565 Menschen vor, in deren Gesichter sie blickte. Zunächst geben sie sich unbeteiligt und halten ihrem Blick stand. Mit einem Mal jedoch, dies suggeriert der Film, wirkt die Magie von Marina Abramović.

„512 hours“ – Kunst mit nichts

Die Menschen lächeln selig oder weinen oder brechen gleich schreiend zusammen. Der Film wurde von dem Pay-TV-Sender HBO finanziert und erreichte mit seiner TV-Ausstrahlung sowie weltweit in den Kinos ein Millionenpublikum, das kaum etwas über Kunst weiß und nun Marina Abramović als Heilerin begegnet.

Sie war das zu Hysterie neigende Kind sozialistischer Eltern, Opfer einer gefühlskalten Mutter, die schöne, junge Primadonna einer von Männern dominierten Kunstszene. Sie wurde zu einer der berühmtesten Performancekünstlerinnen, ließ sich in Filmen und Theaterstücken feiern. Heute ist Marina Abramović eine durchgestylte, alterslose New-Age-Heilige, die sich mit einer Schar junger, ihr ergebener Helfer umgibt und Anwälte über ihr Image wachen lässt. Mittlerweile kommt es schon mal vor, dass Menschen vor ihr in Tränen ausbrechen oder danach drängen, sie berühren zu können.

Im Mai lässt sie ihr Publikum in Genf ein wenig Zen üben und Reiskörner zählen und kündigt unter dem Titel „512 hours“ bereits eine weitere Marathon-Performance an. Vom 11. Juni bis zum 25. August wird sie sich während sechs Tagen der Woche, von 10 bis 18 Uhr in einem Raum der Londoner Serpentine Gallery aufhalten und dort ihr Publikum erwarten. Sie werde nichts mitbringen und nichts tun. Sie werde sich der Situation mit den fremden Menschen überlassen. Das Publikum werde hierdurch zu ihrem lebenden Material. Durch „512 hours“ werde sie beweisen, dass man Kunst mit nichts machen kann, erläuterte sie der BBC.

Der Weg zur einfachen Künstlerin

Konzeptionell ist „512 hours“ eine Wiederholung von „Rhythm 0“. Doch wer weiß das schon? Es wird wieder Warteschlangen und hyperventilierende Fans geben, die „an einem beispiellosen Moment in der Geschichte der Performancekunst“ teilhaben, wie die Serpentine Gallery schon jetzt in Verlautbarungen jubiliert.

Kunst? Oder doch nur das Nachfolgegeschäft einer ehemals spannenden Künstlerin, die in der intellektuellen Ödnis ihrer Celebrity-Welt ihre Orientierung verloren hat? Wird Marina Abramović nochmals den Weg herausfinden, den Weg zu sich selbst, zur einfachen Künstlerin, wie es sich ihr Freund und Verehrer, der Schauspieler James Franco, in seiner hellsichtigen „Time 100“-Laudatio für sie wünscht?

Von Hans Peter Riegel ist zuletzt „Beuys. Die Biographie“ erschienen.

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