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Flüchtlinge sind Hoffnung für aussterbende italienische Dörfer

An einem milden Februarmorgen knien neun junge Männer auf kleinen Teppichen in einem dämmrigen Esszimmer in einem Palazzo aus dem 18. Jahrhundert. Die Betenden stammen aus Pakistan, Somalia und...

(Bloomberg) -- An einem milden Februarmorgen knien neun junge Männer auf kleinen Teppichen in einem dämmrigen Esszimmer in einem Palazzo aus dem 18. Jahrhundert. Die Betenden stammen aus Pakistan, Somalia und Mali. Sie haben weite Reisen hinter sich gebracht, um in Satriano in der italienischen Region Kalabrien anzukommen. Den Flüchtlingen ging es um ein besseres Leben, oder sogar ums blanke Überleben. Für Satriano könnten sie die Rettung vor dem Aussterben sein. Die Region mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 60 Prozent ist zu einem Land der Alten geworden. 

“Ich danke Gott, dass er uns diese Menschen geschickt hat", sagt Luigi Marotti, 68, der sich als Küster um die katholische Kirche vor Ort kümmert. "Satriano war tot. Dank ihnen lebt es jetzt wieder. Das Dorf kann wieder wachsen. Wenn sie gehen, dann weiß ich nicht, wo wir hin sollen." 

Während in weiten Teilen Europas der Zustrom meist muslimischer Flüchtlinge Ressentiments und Ängste auslöst, werden sie in Orten wie Satriano vorsichtig willkommen geheißen - stellen sie doch eine Chance dar, aussterbende Dörfer in ländlichen Gegenden des Kontinents wiederzubeleben. Tausende Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Syrien, aus Afrika und anderswo klopfen an die Tore Europas, und Staaten reagieren auf den Zustrom mit Stacheldrahtzäunen und der Wiedereinführung von Grenzkontrollen. 

Allein in den ersten sechs Wochen des Jahres erreichten mehr als 80.000 Flüchtlinge und Migranten Europa per Boot, berichtete die UN-Flüchtlingsagentur am 12. Februar, mehr als in den ersten vier Monaten des Vorjahrs. Die UN fordert von den EU- Mitgliedsstaaten, die Identifizierung und Verteilung von 160.000 Menschen zu beschleunigen, die sich bereits in Griechenland und Italien aufhalten. 

Leerestehende Häuser

Obwohl seit Sommer 2014 nur 21 Migranten nach Satriano gekommen sind, werden die Neuankömmlinge als Gottesgeschenk empfunden. Beim Spaziergang durch die Gassen erlebt man ein Dorf, das in den letzten Zügen liegt. An leerstehenden Häusern hängen verblichene "Zu verkaufen"-Schilder, die Kunden in den wenigen verbliebenen Geschäften sind meist Senioren. 

Satrianos Einwohnerzahl, die in den 60-er Jahren knapp 4000 erreichte, ist in den letzten 50 Jahren um 75 Prozent geschrumpft. Auf der Suche nach Arbeit zogen die Menschen nach Norditalien oder ins Ausland. 

Die Armut Kalabriens und seine Jugendarbeitslosigkeit, die die höchste in Italien ist, prädestinieren die Region nicht gerade als neue Heimat für Flüchtlinge. Der Unterschied beim Pro-Kopf-Einkommen gegenüber der Lombardei im wohlhabenden Norden ist größer als zwischen dem europäischen Kraftzentrum Deutschland und Griechenland, das kurz vor dem Zahlungsausfall stand. 

‘Christliche Traditionen’

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Und trotzdem braucht die Region Arbeiter für Tätigkeiten, die nur wenige Italiener übernehmen wollen. Oliven und Orangen pflücken etwa. Deshalb hat man in Kalabrien seine Ressentiments gegenüber Flüchtlingen zurückgestellt, und nun füllen sie Lücken am Arbeitsmarkt. In vielen anderen Teilen Italiens dagegen ist die Bevölkerung entschieden gegen Flüchtlinge eingestellt. In der norditalienischen Stadt Pontoglio etwa verkündet ein Schild: "Tief in der westlichen Kultur und in christlichen Traditionen verwurzelte Stadt; wer vorhat, lokale Kultur und Traditionen nicht zu respektieren, wird aufgefordert, zu gehen". 

“Als sie ankamen, gab es einige Vorurteile", sagt Satrianos Bürgermeister Michele Drosi. “Dann begann die Sozialisierung, und mit der Integration geht es allmählich voran. Sie spielen Fußball mit den einheimischen Jugendlichen, sie nehmen an den örtlichen Festen teil, sie arbeiten in der Straßenerhaltung." 

Das Dorf ist Teil eines nationalen Netzwerks von 382 Gemeinden namens "SPRAR - Schutzsystem für Flüchtlinge und Asylsuchende", das von der italienischen Regierung ins Leben gerufen wurde. Die Gruppe will Menschen ansiedeln, Orten wieder Leben einhauchen und Europa ein Modell bieten, wie man Problemen bei der Integration großer Zahlen von Migranten beikommen kann.

Nicht nur rumsitzen

Ministerpräsident Matteo Renzi sagte in einer Rede vor dem Unterhaus in Rom am 18. Februar, die Bürgermeister seien bereit, Asylbewerber aufzunehmen, aber sie wollten nicht, dass sie "auf den Plätzen herumsitzen und den ganzen Tag nichts tun als zu rauchen oder in der örtlichen Bar zu wetten". Man müsse ihnen "einen Weg zeigen, ein Projekt, eine Perspektive". 

In Satriano haben einige Flüchtlinge solche Projekte gefunden. Adnan Sajjad, 24, der vor zwei Jahren aus Pakistan nach Italien kam, erntet Orangen und Gemüse auf einem Feld, das Concetta Mongiardo gehört, vierfache Mutter und Vizevorsitzende des Seniorenvereins. 

Sajjad war in seiner Heimat fünf Jahre lang Friseur gewesen. In Satriano erhielt er eine staatlich subventionierte befristete Stelle im örtlichen Friseursalon, danach pflückte er Oliven und übernahm andere Jobs auf dem Land. 

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Freundliche Leute

"Es gibt zu viele Probleme in Pakistan", sagt Sajjad. Auf seiner Reise nach Italien durchquerte er Dubai und Libyen und überquerte schließlich das Mittelmeer auf einem Boot. "Ich möchte gerne in Satriano bleiben, weil die Leute hier freundlich sind und ich eine Chance habe zu arbeiten." 

In einer kommunalen Küche für die Migranten kocht der 28- jährige Muhammad Afzal Ajaz aus Lahore in Pakistan Reis mit Safran, Zwiebeln, Tomaten, Pfefferkörnern und Kalbfleisch für die Flüchtlinge und ein paar Senioren aus dem Ort, die zu Besuch sind. Mongiardo steuert Zeppole bei, frittierte Teigkugeln aus Kartoffeln, Sardellen und Mehl. 

Die Flüchtlinge "sind viele, sie sind jung und können uns helfen", sagt Mongiardo, deren Ehemann letztes Jahr seine Stelle in einer Mozzarellafabrik verloren hat. 

Zu teuer

Trotzdem hat Satriano seit Juli 2014, als die Kooperative ihre Arbeit aufnahm, nur 21 Flüchtlinge aufgenommen. Drei von ihnen zogen später zu Verwandten in Großbritannien, so dass nun noch 18 Migranten und Flüchtlinge zwischen 19 und 33 Jahren im Dorf leben. Fünf von ihnen konnten bei örtlichen Firmen arbeiten, dank einem staatlichen Programm, das den Arbeitgebern Erleichterungen bei Sozialleistungen bietet und den Flüchtlingen für drei Monate ein Monatsgehalt von etwa 400 Euro sichert. Zwei Flüchtlinge aus Mali erhielten danach reguläre befristete Stellen. 

Doch solche Fälle seien selten, weil es sich die meisten Arbeitgeber nicht leisten könnten, die Migranten nach der subventionierten Drei-Monats-Zeit weiterzubeschäftigen, sagt Francesco Liberale, Besitzer einer Baufirma in Satriano, der einen Flüchtling als Teilzeitkraft beschäftigt hat. 

"Ich war froh, obwohl er keine Qualifikationen mitbrachte, und ich hätte ihn weiterbeschäftigt, weil es schwer ist, einen jungen Mitarbeiter aus Satriano zu finden, der ihn ersetzt", sagt der 47-Jährige. "Aber ich musste ihn entlassen wegen der Sozialversicherungsbeiträge und der Kosten für die Arbeitsunfallversicherung bei einem nicht subventionierten Vertrag. Ich konnte mir das einfach nicht leisten." 

Brüder

Ein Gemeindefonds im Besitz von Einheimischen und Flüchtlingen, mit Startfinanzierung durch die EU und Regionalfonds, könnte helfen, sagt Khalid Elsheikh. Der 47- Jährige kam vor 27 Jahren aus dem Sudan nach Italien und ist heute stellvertretender Leiter von Mediazione Globale, einer örtlichen Kooperative mit 200.000 Euro Jahresbudget, die die Flüchtlinge unterbringt, ihnen bei den Asylanträgen hilft und Italienischkurse und Aushilfsstellen vermittelt. 

"Wir könnten nutzen, was uns die Natur bietet - den Fluss etwa für eine Fischzucht, oder die Kaktusfeigen, die hier zwei Mal im Jahr blühen", sagt Elsheikh, der vor zwei Jahren nach Satriano zog, um das Flüchtlingszentrum aufzubauen. "Wir könnten Nischenprodukte herstellen, Marmeladen und Säfte, Kosmetiksalben oder Heilprodukte." 

Während der Ort nach Wegen sucht, wie die Neuankömmlinge zu integrieren sind, richtet Küster Marotti eine Botschaft an seine Landsleute: "Als wir Italiener nach Argentinien und anderswohin auswanderten, mit Pappkoffern in der Hand, hat uns niemand weggeschickt. Früher sind wir weggegangen. Jetzt kommen sie zu uns. Wir müssen alle Brüder sein."

Überschrift des Artikels im Original: Italian Villages Reach Out to Refugees as Oblivion Fear Mounts

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