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SV Darmstadt 98 Marco Sailer

Der furchterregendste Bart des deutschen Fußballs

SV Darmstadt 98 v FC St. Pauli - 2. Bundesliga SV Darmstadt 98 v FC St. Pauli - 2. Bundesliga
Aufstiegsfeier beim Darmstadt 98: Marco Sailer natürlich vorneweg
Quelle: Bongarts/Getty Images
Marco Sailer ist bei Darmstadt 98 eine emotionale Führungsfigur. Mit seinem Bart wuchs im Klub der Glaube an den Aufstieg. Seine Freundin ist Tierschutzaktivistin, seine Mutter arbeitet bei Lidl.

An einem sonnigen Vormittag steht Marco Sailer tropfend und keuchend neben dem Trainingsplatz des SV Darmstadt. Nachdem sein Trainer die kraftraubende Einheit abgepfiffen hat, signiert er ein paar Schultüten und Kindertrikots. Unter seinem Gesicht gerinnt die Anstrengung allmählich zu weißen Kristallen und verfängt sich im furchterregendsten Vollbart, den der deutsche Fußball je gesehen hat.

Mehr als 20 Zentimeter lang ist er, gnadenlos verfilzt und bis zum Duschen ein Sammelbecken für Schweiß, Wasser und Grasfetzen. Sailer streicht sich gedankenverloren durch den haarigen Urwald: „Mich stört das nicht. Und noch viel wichtiger: Meine Freundin auch nicht.“

Mit dem Bart wuchs der Glaube an den Bundesliga-Aufstieg

Die Toleranz von Lara Frank, einer Tierschutzaktivistin, wird auf eine harte Probe gestellt. Seit dem 1. November 2014 habe er sich nicht mehr rasiert, sagt Sailer, den sie in Anlehnung an den österreichischen Ski-Helden nur „Toni“ rufen. Er wird oft danach gefragt, deswegen weiß er die Antwort genau. Es war die Zeit, als er und seine Kollegen das Saisonziel insgeheim von Klassenerhalt zu Aufstieg korrigierten. Mit Sailers Bart wuchs rund um das Stadion am Böllenfalltor der Glaube an den Durchmarsch in die erste Liga, vom „Glücksbart“ war die Rede, ein alter Spruch war plötzlich wieder in aller Munde: Wer rasiert, verliert.

Und es wirkte: Der SV Darmstadt ging fortan nur noch dreimal als Verlierer vom Platz und schrieb das größte Märchen der jüngeren Fußball-Geschichte. Als der Aufstieg im Mai perfekt gemacht und unter der Anleitung von Zeremonienmeister Sailer mit einer dreitägigen Dauerparty gefeiert wurde, sah der Publikumsliebling aus wie eine Kreuzung aus Räuber Hotzenplotz und Bud Spencer. Abgeschnitten hat er sein Baby, wie er das Haar-Ungetüm nennt, trotzdem nicht.

Marco Sailer ist einer der Schlüsselspieler bei Darmstadt 98. Bei der Aufstiegsfeier überzeugte er auch als Partykönig
Marco Sailer ist einer der Schlüsselspieler bei Darmstadt 98. Bei der Aufstiegsfeier überzeugte er auch als Partykönig
Quelle: REUTERS

Im Gegenteil: Um es wieder in Form zu bringen, pflegt er es mit dem Kamm, einer speziellen Spülung und „manchmal auch mit dem Glätteisen“, an den Seiten werden ab und an ein paar Spitzen gestutzt. Ein Achtel seiner Körperlänge ist von den Zotteln bedeckt, da muss etwas Eitelkeit erlaubt sein. Sailer will schließlich gut aussehen, wenn er am 15. August gegen Hannover das erste Bundesliga-Spiel seines Lebens absolviert. Im Alter von 29 Jahren. Er, der wohl überraschendste aller gut 400 Bundesliga-Profis, mit ihm hatte in dieser Liga niemand gerechnet.

Der Trend, in den Sailer passt, muss noch erfunden werden

Fußballer feiern ihr Profi-Debüt immer früher, bei der U-21-EM waren in diesem Sommer Spieler dabei, die schon mehr als 100 Bundesliga-Spiele auf dem Buckel haben. Wer es mit 23 nicht in die höchste Spielklasse geschafft hat, dem gelingt es in der Regel nie mehr. Sailer schon.

Immer voller Einsazu: Marco Sailer im Trainings-Zweikampf mit Michael Stegmayer
Immer voller Einsazu: Marco Sailer im Trainings-Zweikampf mit Michael Stegmayer
Quelle: dpa

Er hat kein Fußball-Internat besucht wie Neuer oder Götze. Er kann nicht sprinten wie Aubameyang oder dribbeln wie Robben. Sein Kopfballspiel hat nichts von Lewandowski, seine Pässe kaum etwas von Xabi Alonso. Selbst sein Vollbart, hat die Umfrage eines Meinungsforschungsinstituts kürzlich ergeben, ist ein Auslaufmodell. Nur noch zwölf Prozent der deutschen Männer tragen ihn, Tendenz stark fallend. Der Trend, in den Marco Sailer passt, muss erst erfunden werden. Die Fans aber, die lieben ihn.

„Genau solche Typen brauchen wir“, sagt sein Trainer Dirk Schuster, der immer versucht, das Außergewöhnliche und manchmal auch Aussortierte nach Darmstadt zu locken: „Bei uns gilt: Erst machen und dann reden. Nicht umgekehrt.“ Sailer verkörpert diese Einstellung wie kaum ein anderer. Ausgebildet beim Regionalligisten Heilbronn, zog er als 18-Jähriger weiter zum VfR Aalen, wo er maßgeblich für den Aufstieg in die Dritte Liga sorgte. Mit 19 war er in der Zweiten Liga angekommen, Greuther Fürth hatte den kampfstarken Offensivspieler mit der vielversprechenden Zukunft verpflichtet. Doch nach nur einem Jahr trennte man sich wieder, Sailers Entwicklung begann zu stagnieren.

Mit Wiesbaden und Heidenheim tingelte er fortan durch die Dritte Liga, wo schon manche Karriere versandet ist. Dann erfuhr er ein Jahr vor dem Ende seines Vertrages, dass er auch beim FCH nicht mehr gebraucht werde. „Ich war ziemlich am Ende“, sagt Sailer: „Ich stand ohne Verein da, mit 28 Jahren. Die Situation war alles andere als toll.“ In diesem Moment rief ihn Schuster an.

Seine Mutter sitzt bei Lidl an der Kasse

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Schnell einigte man sich, es miteinander zu probieren. Der raue Charme, den der damalige Drittligist ausstrahlte, gefiel Sailer: das marode Stadion, die eingeschworene Mannschaft, ein Trainer, der den Fußball in erster Linie als Arbeit versteht – all das passte zu Sailer, dessen Mutter bei Lidl an der Kasse sitzt und dessen Spiel ohnehin eher von Grätschen als von Übersteigern geprägt ist.

Den „Lilien“, qua Selbstverständnis zum Sparen verdammt, wiederum kam ein Mann am Scheideweg seiner Karriere und ohne große Gehaltsforderungen gerade recht. „Dirk Schuster hat mir noch einmal eine Chance gegeben und mich stark gemacht. Er hat den größten Anteil an der Entwicklung meiner Karriere“, sagt Sailer, für den in seiner gesamten Laufbahn noch nie ein Verein eine Ablöse bezahlt hat. Darmstadt ist sein sechster Klub, so glücklich wie hier war er als Fußballer nirgendwo sonst.

Mittlerweile geht es ihm so gut, dass er sich sogar um die Sorgen anderer kümmern kann. An seinem Handgelenk baumelt ein Armband mit der Aufschrift „Du musst kämpfen. Es ist noch nichts verloren“. Den gleichen Schriftzug hat er sich in der vergangenen Saison auf den Oberarm tätowieren lassen. Damit unterstützt er die Kinderkrebsklinik in Frankfurt, vor allem aber ist es ein Gruß an Johnny Heimes, dessen Schicksal die gesamte Darmstädter Mannschaft tief berührt hat.

Der einstige Hessenmeister im Tennis kämpft seit zehn Jahren gegen seine Krebserkrankung, immer wieder werden neue Metastasen in seinem Körper entdeckt. Vom Rollstuhl aus fiebert der 25-Jährige bei jedem Heimspiel im Böllenfalltor-Stadion mit, während der Aufstiegsfeier holte ihn das Team auf die Bühne. Mit Tränen in den Augen sagte unter anderen auch Sailer: „Ohne Johnny würden wir heute nicht hier stehen.“

Gemeinsame kalte Duschen in der angestaubten Kabine

Der Offensivspieler weiß, wovon er redet. Obwohl er in der vergangenen Saison lediglich ein Tor erzielte, ist er nicht wegzudenken aus dem 98er-Gefüge. Mit Kapitän Aytac Sulu und Stoßstürmer Dominik Stroh-Engel bildet Sailer das Rückgrat der Mannschaft, emotional wie fußballerisch. Das Trio spielt seit Drittliga-Zeiten zusammen, hat in der angestaubten Kabine gemeinsam manches Mal kalt geduscht und zusammen den Last-Minute-Triumph im Relegationsspiel gegen Bielefeld bejubelt, der bis heute als identitätsstiftend gilt.

Als die Saison damals in die entscheidenden Wochen ging, hatte sich Sailer schon einmal einen Bart stehen lassen, allerdings nicht so üppig wie den aktuellen. In der Sommerpause rasierte er sich, auf den Panini-Fotos der vergangenen Saison trägt er einen Schnurrbart und eine kleine Haarinsel zwischen Lippe und Kinn. Er sieht aus wie ein entfernter Verwandter seines heutigen Ichs.

Völlig losgelöst: Marco Sailer feiert den Aufstieg mit den Fans
Völlig losgelöst: Marco Sailer feiert den Aufstieg mit den Fans
Quelle: pa/GES-Sportfoto/ZGBZGH

Zumindest hätte er mit dieser Gesichtsfrisur den Job ausüben können, den er parallel zu seiner Karriere erlernt hat. Aktuell dürfte das schwierig werden. Der bärtigste Spieler, den die Bundesliga je gesehen hat, ist ausgebildeter Bankkaufmann. Als es seinerzeit in Heidenheim zu Ende ging, habe er sich konkret mit diesem Plan B beschäftigt, außerdem habe er ein Fernstudium zum Sportmanager abgeschlossen. Dann hat jedoch der Wunsch überwogen, Profi-Fußballer zu bleiben.

Ein Entschluss, der ihn gegen jede Wahrscheinlichkeit und gegen jeden Trend bis in die höchste deutsche Spielklasse führte. „Natürlich gehe ich nebenher nicht arbeiten“, sagt der kommende Bundesliga-Debütant: „Aber wenn es aus irgendeinem Grund von heute auf morgen vorbei wäre mit dem Profifußball, stünde ich nicht mit leeren Händen da. Ich wüsste schon, wie es weitergeht.“ Bevor der Bankkaufmann Marco Sailer aber Kunden zum Kontoabschluss überreden kann, muss er zum Rasierer greifen.

Darmstadt vor "brutal schwieriger Aufgabe"

Früher als alle anderen Fußball-Bundesligaklubs ist Aufsteiger SV Darmstadt 98 in die Vorbereitung auf die neue Saison gestartet. Und die "Lilien" wissen, dass jede Menge Arbeit vor ihnen liegt.

Quelle: SID

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