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Gesundheit Coronavirus

„Alle Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen“

Experten informieren über Gefährlichkeit des Coronavirus

Experten der Charité, darunter der Virologe Christian Drosten, informieren über Entstehung und Ansteckungsfähigkeit des Coronavirus und die erwartete Entwicklung in den nächsten Monaten. Verfolgen Sie hier noch einmal die Pressekonferenz.

Quelle: WELT

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China meldete quasi über Nacht einen enormen Anstieg der Neuinfektionen mit dem Coronavirus: mehr als achtmal so viele Fälle wie an anderen Tagen. Die Begründung lieferte die Gesundheitskommission in Peking. Deutsche Experten äußern offen weitere Zweifel.

Die Lage schien sich zumindest zu stabilisieren: Tagelang war die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus gleich geblieben – zumindest hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dies beobachtet. Über Nacht aber, von Mittwoch auf Donnerstag, meldeten die Behörden in China 15.000 und damit mehr als achtmal mehr neue Fälle als an anderen Tagen. Die Begründung lieferte die Gesundheitskommission in Peking: Neue Kriterien ermöglichen Ärzten jetzt eine erleichterte Diagnosestellung aufgrund von Lungenaufnahmen, dem physischen Zustand und Vorerkrankungen. Zuvor waren Ergebnisse aus Labortests maßgeblich für eine Diagnose – und dafür brauchte es schon mal drei oder vier Tests, bis eine Sars-CoV-2-Infektion erkannt wurde.

Das Ergebnis der neuen Diagnosemethode: Die Zahl erfasster landesweiter Todesfälle in China verdoppelte sich innerhalb eines Tages. Damit sind mehr als 1300 Tote zu beklagen. Die Zahl neuer Infektionen versiebenfachte sich im Vergleich zu den Tagen davor: Landesweit stieg die Zahl der Fälle auf fast 60.000.

Ohnehin vermuten Experten eine sehr hohe Dunkelziffer. Die täglich berichteten Zahlen würden eher die Fähigkeiten repräsentieren, Fälle zu identifizieren und zu melden, als das wirkliche Ausmaß der Epidemie. „Alle Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen“, erklärte Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), bei einer Pressekonferenz in Berlin. Dem pflichtete Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Charité, bei: Auch er konstatierte „eine vollkommen falsche Einschätzung der Zahlen in China“, die eher die Kapazität des Meldesystems wiedergeben würden und nicht die tatsächliche Zahl der Infektionen.

Für RKI-Chef Wieler erklärt sich die Diskrepanz daraus, dass „die Chinesen mit so einem riesigen Ausbruch extrem gefordert und mit Sicherheit nicht in der Lage sind, alle möglichen Zahlen zu liefern“. Sicher sei „der Ausbruch nicht von vornherein ganz konsequent behandelt worden“, doch hinterher wisse man immer, was hätte geschehen sollen.

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Unzufrieden ist offensichtlich auch die chinesische Führung mit Politikern vor Ort. Darauf lassen einige personelle Konsequenzen schließen: In der Provinz und der Metropole Wuhan wurden die Parteichefs abgelöst, und der Parteichef der Provinz wurde durch Shanghais Bürgermeister Ying Yong ersetzt, der wiederum als Schützling von Staats- und Parteichef Xi Jinping gilt. Am Dienstag verloren die Chefs der Gesundheitskommission der Provinz ihre Posten.

In Europa wächst die Angst, dass Medikamente knapp werden. In China würden wichtige Wirkstoffe produziert, die für viele Medikamente nötig seien, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei einem Sondertreffen mit seinen EU-Kollegen in Brüssel. China ist ein Schlüsselland für die Herstellung von Medikamenten. Viele dortige Firmen haben jedoch wegen des Virus die Produktion unterbrochen, um ihr Personal zu schützen und die Ausbreitung des Erregers einzudämmen.

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Spahn sagte, Medikamentenengpässe könnten mit Zeitverzögerung eintreten. Container aus China seien rund vier Wochen nach Europa unterwegs. „Das heißt, es kommt jetzt noch etwas an“, sagte er. Dies könne sich aber demnächst ändern, wenn sich die chinesischen Produktionsstopps auswirkten. Die französische Akademie für Pharmazie erklärte, 80 Prozent der wichtigsten pharmazeutischen Wirkstoffe würden außerhalb Europas produziert, davon wiederum ein Großteil in Asien.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte sieht derzeit keine Engpässe, prüft aber das Risiko mittelfristiger Einschränkungen. In einer gemeinsamen Erklärung forderten die Gesundheitsminister die EU-Kommission nach ihren Beratungen auf, die „Sicherheit von Lieferketten zu untersuchen“ und die Möglichkeiten „gemeinsamer Beschaffung“ auszuloten, um „potenzielle Engpässe zu minimieren“.

Außerdem wollen die EU-Länder die Einreisekontrollen verschärfen. Bei Ein- oder Durchreise aus betroffenen Gebieten sollen künftig umfassende Befragungen von Reisenden nach persönlichen Kontakten erlaubt sein, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Darauf hätten sich die Minister beim Sondertreffen geeinigt. Die Länder bereiten sich zudem auf Engpässe auch bei Schutzkleidung vor. „Der Großteil der Hersteller dieser Ausrüstung sitzt in China und hat nun selbst keine Vorräte mehr“, sagte Frankreichs Gesundheitsministerin Agnès Buzyn. Wie ihre Kollegen aus den Niederlanden und Belgien sprach sie sich für eine „gemeinsame Beschaffung von Schutzkleidung auf europäischem Niveau aus“.

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Tschechiens Gesundheitsminister Adam Vojtech schloss bei einer Verschärfung der Situation aber Reisebeschränkungen im Schengenraum nicht aus, in dem es keine Grenzkontrollen gibt und dem die meisten EU-Staaten angehören. „Ich denke nicht, dass wir Schengen jetzt beschränken sollten“, sagte er. „Aber das kann sich in naher Zukunft ändern.“

Italiens Gesundheitsminister Roberto Speranza sorgt sich um die Entwicklung in Afrika. Die Gesundheitssysteme vieler afrikanischer Länder seien „sehr viel verletzlicher“ als die europäischer Staaten, sagte er. Breite sich das Virus dort aus, könne dies auch „ernsthafte Folgen“ für Europa haben.

Die Weltgesundheitsorganisation will nun die Suche nach einem Impfstoff und wirksamen Medikamenten beschleunigen. Es gebe vier mögliche Kandidaten für einen Impfstoff, von denen sich hoffentlich zwei als vielversprechend herausstellen, sagte Soumya Swaminathan, Chefwissenschaftlerin der WHO. In drei bis vier Monaten könnten erste Impfstoff-Tests an Menschen beginnen. Ein zugelassener Impfstoff für den weitreichenden Einsatz stehe aber wahrscheinlich erst in anderthalb Jahren zur Verfügung. Mehrere bereits existierende Medikamente würden zurzeit daraufhin geprüft, ob sie Covid-19-Kranken helfen können. „Wir sind von Impfstoffen und Medikamenten weit entfernt“, sagte auch der Virologe Christian Drosten bei der Pressekonferenz in Berlin. „Wir verstehen gerade erst die Eigenschaften der Krankheit im Menschen.“

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Zu den drängendsten Aufgaben gehört laut WHO auch die Entwicklung einfacherer Tests zum Nachweis von Infektionen. Ein US-Schnelltest zur Diagnose des Coronavirus, der innerhalb von vier Stunden eine Diagnose liefern soll, funktioniert jedoch nicht richtig. Das räumte die US-Gesundheitsbehörde CDC ein, die den Test entwickelt hat.

In Bayern wurde am Mittwoch der erste von 14 Coronavirus-Patienten aus dem Krankenhaus entlassen. Die Person sei wieder vollständig gesund und nicht mehr ansteckend, teilte die München Klinik Schwabing mit. Acht weitere Patienten seien in der Klinik zur Überwachung isoliert untergebracht, klinisch stabil, weitestgehend symptomfrei und könnten voraussichtlich zeitnah ebenfalls entlassen werden.

Christian Drosten
Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Charité
Quelle: REUTERS

Doch wann gilt ein Patient als symptomfrei? Für Christian Drosten ist das eine Frage der Methodik – aber auch eine pragmatische Entscheidung. Molekularbiologische Nachweismethoden wären sehr empfindlich. „Sie zeigen das Virus noch an, wenn der Patient nicht mehr infektiös ist“, so der Virologe. Tests in Zellkulturen jedoch würden schon deutlich früher negativ ausfallen. Wenn Krankenhausbetten für Patienten im Frühstadium der Erkrankung gebraucht würden, könnten früher Infizierte auch zunächst ins häusliche Umfeld entlassen werden, beschränkt auf den unmittelbaren Familienkontakt.

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„Jeder in Deutschland sollte mitdenken und sich einmal mit der Krankheit befassen“, lautet sein sachlicher Rat für alle Bundesbürger. Doch „für die meisten wird die Infektion als Erkältungserkrankung in Erscheinung treten“.

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Auch Gesundheitsminister Jens Spahn verbreitet nicht viel Optimismus: Es sei nicht ausgeschlossen, „dass aus der regional begrenzten Epidemie in China eine weltweite Pandemie werden kann“, sagte er. Die Lage könne „erst noch schlechter werden wird, bevor es besser wird“.

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Quelle: WELT


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