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„Starke Zuwanderung unterminiert die Situation der Schwächsten“

Politikredakteur
„Starke Zuwanderung unterminiert die Situation der Schwächsten“

Andreas Nölke, Vordenker der linken „Aufstehen“-Bewegung, hält wenig von starker Zuwanderung und weiterer Machtübertragung an die EU. Nationalstaaten seien demokratischer und sozialer.

Quelle: WELT

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Er ist Vordenker der linken „Aufstehen“-Bewegung – und Befürworter des Nationalstaates. Im Interview sagt Andreas Nölke, warum er einen „europäischen Superstaat“ ablehnt und irreguläre Migration als Problem sieht.

WELT: Herr Nölke, Sie machen sich als linker Frankfurter Politikprofessor für den Nationalstaat stark. Warum das denn?

Andreas Nölke: Das ist tatsächlich für Linke etwas ungewöhnlich, mehrheitlich wollen sie den Nationalstaat überwinden. Ich will das mittelfristig nicht, weil wichtige Funktionen sich im Moment am besten auf Ebene des Nationalstaats realisieren lassen. Die Demokratie, der Sozialstaat und der Rechtsstaat funktionieren im Nationalstaat besser als in der EU. Insofern halte ich Bestrebungen innerhalb der Linken, zu einem europäischen Superstaat und dann zum Weltstaat zu gelangen, für nicht angemessen.

Andreas Nölke ist Professor für Internationale Beziehungen und Internationale Politische Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt
Andreas Nölke ist Professor für Internationale Beziehungen und Internationale Politische Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt
Quelle: MPIfG/Astrid Dünkelmann/unknown

WELT: Sie schätzen also die Funktionen des Nationalstaats – aber aus anderen Gründen als die Rechten?

Nölke: In der Tat gibt es unterschiedliche Motivationen, den Nationalstaat hochzuhalten. Mir geht es nicht um die Überhöhung der deutschen Kultur. Aber der Nationalstaat hat als Sozialstaat die Mittel zur Verbesserung der Lage der Benachteiligten, und er ist die weiterhin wichtigste Instanz zum Schutz von deren Freiheit und Sicherheit.

WELT: Wie lange braucht man ihn noch?

Nölke: So lange, bis es Anzeichen dafür gibt, dass Demokratie auf höherer Ebene besser funktionieren könnte. Wenn sich eine europäische Öffentlichkeit herausbilden würde, die Identifikation mit der EU stiege, die Wahlbeteiligung bei EU-Abstimmungen höher und die Ungleichgewichtung von Stimmen behoben wäre – dann könnten wir darüber nachdenken, den Nationalstaat hinter uns zu lassen.

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WELT: Welche Elemente der EU sind undemokratisch?

Nölke: Ich unterscheide zwischen strukturellen und aktuellen Demokratiedefiziten. Zu letzteren gehört die gravierend geringere Wahlbeteiligung bei EU-Wahlen. Die Legitimität von Demokratie beruht auf der Bereitschaft der Bürger zu wählen. Jener Ebene, auf der die Bürger stärker wählen, würde ich die größte Legitimität zubilligen.

Zudem werden auch bei den kommenden EU-Wahlen wieder die nationalen Themen eine größere Rolle spielen, auch weil wir keine europäische Öffentlichkeit haben und wir viel mehr über Berliner als Brüsseler Politik wissen. Das sind aber alles lösbare Probleme. Die strukturellen Defizite sind schwieriger zu beheben.

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WELT: Welche sind das?

Nölke: Empirisch lässt sich ein enger Zusammenhang zwischen der Größe eines Gemeinwesens und funktionierender Demokratie feststellen. Wie das in Bezug auf die EU gelöst werden soll, weiß ich nicht. Zudem habe ich als Linker Probleme mit der mangelnden wirtschaftspolitischen Neutralität der europäischen Verfassung. Die EU-Verträge waren ja nicht als Verfassung gedacht, sondern sind erst durch das Zusammenspiel von Europäischem Gerichtshof und der EU-Kommission de facto zur Verfassung geworden – von zwei extrem indirekt demokratisch legitimierten Institutionen.

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WELT: Was passt Ihnen inhaltlich nicht?

Nölke: Mit wirtschaftspolitischer Intention wurden die vier Grundfreiheiten für Güter, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräfte in die Verträge aufgenommen, bevor sie schleichend zur Verfassung wurden. So etwas hat aber in einer Verfassung nichts zu suchen, weil damit diese Wirtschaftsfreiheiten der politischen Gestaltung nicht mehr zugänglich sind.

Deswegen ist diese Verfassung für mich nicht akzeptabel. Es gibt Vorschläge, diese Normen aus den Verträgen herauszunehmen, dann wären sie der normalen Gesetzgebung unterworfen, dann hätte ich kein Problem mehr damit.

WELT: Unter den vier Grundfreiheiten ist ja vor allem die unbegrenzte Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU umstritten. Ist dieses Recht auf Mobilität für Europäer sowie die Akzeptanz irregulärer Migration nicht links?

Nölke: Aus meiner Sicht: Nein. Mir als Linkem geht es in erster Linie um den Schutz der Arbeitnehmer. Und starke Zuwanderung unterminiert vor allem die Arbeitsmarktsituation der Schwächsten in unserer Gesellschaft. Weil insbesondere irreguläre Migration Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau zu uns bringt, was die Konkurrenz in diesem Bereich des Arbeitsmarktes erhöht. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass solche Zuflüsse von Arbeitnehmern auf das niedrigqualifizierte Segment problematische Auswirkungen haben. Volkswirtschaftlich betrachtet kann Migration aber auch positive Auswirkungen haben.

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WELT: Auf welche Studien beziehen Sie sich?

Nölke: Es wurde etwa nach der starken Zuwanderung aus Kuba in den Großraum Miami im Rahmen der Mariel-Bootskrise 1980 insgesamt eine Belebung der Wirtschaft festgestellt, aber eine Absenkung des Lohnniveaus von Menschen mit formal niedriger Qualifikation um bis zu einem Drittel beobachtet. Eine weitere Studie lieferte nach der Öffnung Österreichs für Osteuropäer im Jahr 2011 ein ähnliches Bild: Für das Bruttoinlandsprodukt gut, für die Geringqualifizierten katastrophal.

Die Unternehmen haben ein legitimes rationales Bedürfnis, gute Arbeitskraft zu einem möglichst guten Preis zu bekommen. Hohes Angebot bedeutet niedrige Preise. Diese Interessen stehen aber oft nicht im Einklang mit jenen der Aufnahmegesellschaft und auch nicht mit jenen der Gesellschaften, die diese Leute ausgebildet haben. Und oft auch nicht mit denen der Migranten selbst, von denen viele lieber zu Hause leben würden, dort aber kaum Arbeit finden.

WELT: Ist es nicht sinnvoll, wenn viele Menschen aus dysfunktionalen Ökonomien in die starken Wirtschaftsräume ziehen? Damit ist doch zumindest den Migranten und den Unternehmen geholfen?

Nölke: Kurzfristig ja, aber mein Interesse richtet sich eher auf die Unterstützung der dysfunktionalen Wirtschaftsräume. Hier geht es auch um Entwicklungs-, vor allem aber um Außenwirtschaftspolitik. Beispielsweise hat die EU in den letzten 20 Jahren auf eine viel härtere Freihandelspolitik gegenüber Subsahara-Afrika gesetzt. Die Agrarexporte zerstören dort weite Teile der Landwirtschaft. Eine weniger aggressive Wirtschaftsaußenpolitik würde diesen Ländern mehr helfen als die Auswanderung eines Teils der Bevölkerung nach Europa.

WELT: Nun wurden aber zumindest die Importzölle auf afrikanische Waren weitgehend abgeschafft, sodass sie kostengünstig nach Europa exportiert werden können…

Nölke: Ja, aber das Problem sind weniger unsere Importzölle, sondern der Zwang auf die Wirtschaften dieser Länder, ihre Märkte für unsere Produkte zu öffnen. Meine Forschung zu Wirtschaftsmodellen von Schwellenländern ergibt, dass selektiv-protektionistische Länder mit weitem Abstand die erfolgreichsten sind – Stichwort Indien und China. Schwellenländer, die sich freiwillig oder gezwungen sehr stark geöffnet haben, haben häufig die lokale Wirtschaft abgewürgt.

Ich bin übrigens auch der Meinung, dass Deutschland sich etwas zurückhalten sollte mit seiner extremen Exportorientierung. Einerseits aus Rücksicht auf diese Ökonomien, aber auch aus Eigeninteresse. Wir haben die stärkste Exportorientierung aller großen Ökonomien. Langfristig ist das für Deutschland keine gute Idee, weil wir wie keine andere große Volkswirtschaft total abhängig sind von dem, was in der Weltwirtschaft passiert. Wenn es da eine Welle des Protektionismus und von Handelskriegen gibt oder einen globalen Konjunktureinbruch, ist Deutschland viel zu stark gefährdet.

WELT: Sie sind einer der Vordenker von „Aufstehen“, hat diese Gruppierung eine Chance, zu einer relevanten Größe zu werden?

Nölke: Ich halte das für möglich, das wird aber noch etwas dauern. Wir wollen zum einen Leute sammeln, die sozioökonomisch links denken, aber mit den aktuell stark kosmopolitisch-globalistisch ausgerichteten linken Parteien nichts anfangen können. Zum anderen wollen wir ein Umdenken innerhalb von SPD, Linkspartei und Grünen bewirken. Nach einem guten Start ringen wir aber seit zwei, drei Monaten mit organisatorischen Problemen. Im Moment sind wir keine starke Kraft, das kann sich aber in einer kommenden Wirtschaftskrise rasch ändern.

WELT: Was bedeutet der Abgang von Sahra Wagenknecht für "Aufstehen"?

Nölke: Den Rückzug aus der engeren Führung von „Aufstehen“ zugunsten von neuen politischen Gesichtern hatte sie ja schon vor Monaten angekündigt. Ich hatte aber eher damit gerechnet, dass er anlässlich des Kongresses im Juni kommen würde, wenn eine neue Führung gewählt wird. Dann wird die relativ stark von Berufspolitikern geprägte Gründungsphase vorbei sein, und es werden jene das Ruder übernehmen, die die Bewegung auf lokaler Ebene organisieren. Hier liegt ja derzeit auch die Stärke von „Aufstehen“.

Wagenknecht verabschiedet sich aus der eigenen Sammelbewegung

Ein halbes Jahr nach Gründung ihrer linken Sammlungsbewegung „Aufstehen“ will sich Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht aus der Führung zurückziehen. Als Grund nannte sie unter anderem „extremen Stress“.

Quelle: WELT / Sebastian Struwe

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