Herr Kofler bangt um seine Tochter

Den Kaffee hatte ich nicht angerührt. Alleine der Gedanke an den Geschmack verursachte Übelkeit. Ich saß da und starrte ins Leere. Sah die Kellnerin vorbeieilen. Das alte Paar, das am Nebentisch Zeitung las. Und wenn ich mich nach rechts drehte, sah ich die Straßenbahn den Verkehr in Linz in zwei Hälften pflügen. Kein Ton. Kein Geräusch. Alles Watte.

Meine Frau drückte meine linke Hand so fest, dass sie weh tat. Ich zog sie dennoch nicht zurück. Der Schmerz war meine letzte Verbindung zur Realität.

Eine Realität, in der Hannah, unsere Tochter, gerade einmal 14 Jahre alt, nur wenige hundert Meter vom Kaffeehaus entfernt in diesem Moment keinen Herzschlag mehr hatte. Dafür einen geöffneten Brustkorb, in dem ein Chirurg mit Händen und Hightechgeräten zu retten versuchte, was zu retten war. Zwei Herzfehler – Hannah hätte  25, vielleicht 30 Jahre gehabt. Dann wäre sie irgendwann tot umgefallen. Einfach so.

Wieder einmal ließ ich den Film ablaufen. Hatte es Anzeichen gegeben? Nein. Das Kind war Landesmeisterin im Sportklettern geworden und hatte noch wenige Wochen vor der Diagnose mit Halbprofis am Snowboard trainiert. Ein überdurchschnittlich sportliches Mädchen.

Dann kam der Schulwechsel und die Untersuchung bei der neuen Schulärztin. Sie alamierte telefonisch meine Frau: „Ich höre da etwas am Herz.“ Der Krankenhausbesuch zur Abklärung endete im Desaster. „Ihre Tochter muss so schnell wie möglich operiert werden“, sagte der Arzt und klärte uns auf.

Die Wochen bis zum Operationstermin waren wie ein alter Schwamm, der sich mit Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit angesaugt hatte. Meine Frau und ich übten uns in Zweckoptimismus, vor allem, um Hannah ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Tagsüber waren wir stark, nachts weinten wir in unsere Kopfpolster. Vor allem meine Frau war am Limit. Sie hatte in den Jahren zuvor schon mit mir immer wieder Spitalsgeschichten durchmachen müssen: Unfall, Krankheit, Unfall. Irgendetwas war immer. Nun war sie am Ende ihrer Kräfte angelangt.

Hannah selbst ging mit der Situation erstaunlich gut um. Sie wusste, wie ernst die Lage war. Wusste, dass sie jeden Moment sterben konnte. Wusste, dass die Operation das weit geringere Risiko war im Vergleich zur Option, mit den Herzfehlern weiterzuleben. Das Kind in ihr war mit der Diagnose verloren gegangen, in den OP-Saal wurde sie bereits als junge Erwachsene geschoben.

„Der Eingriff wird vier bis fünf Stunden dauern“, hatte sie der Chirurg im AKH Linz zuvor aufgeklärt: „Dein Herz wird in dieser Zeit nicht schlagen. Eine Maschine wird dich am Leben erhalten, bis ich fertig bin.“ Die Offenheit der Worte schockierte mich. „Wenn wir Ihrem Kind in dieser Lage nicht die Wahrheit sagen, wird es Ihnen nie wieder vertrauen“, sagte der Mann mir später unter vier Augen, nachdem ich ihn gefragt hatte, ob das Gespräch in dieser Direktheit nötig gewesen sei.

Der Abend vor der Operation war die schlimmste Zeit überhaupt. Im Krankenzimmer Abschied nehmen von seinem Kind mit dem Wissen, es könnte das letzte Mal sein, dass man es lebend sieht. Und sich nichts anmerken lassen. Es gibt einfachere Aufgaben.

Und nun saßen wir da in diesem Kaffeehaus und warteten darauf, dass das Mobiltelefon läutete. „Ich werde Sie zwischen 11.45 und 12 Uhr anrufen“, hatte der Chirurg in den frühen Morgenstunden gesagt. So, als könnte er auf Minuten genau operieren. So, als wüsste er, dass alles gutgehen wird.

Meine Frau und ich sprachen wenig. Was hätten wir auch sagen sollen? Über Belangloses reden? Einander Mut zusprechen? Das hatten wir wochenlang getan. Über lustige Episoden lachen, die wir mit Hannah erlebt hatten – als ginge es bereits um ihren Nachruf? Wir schwiegen.

Um 11.50 Uhr am 1. Dezember 2011 läutete dann endlich mein Handy. Ich hatte keine Ahnung, dass man so viel Angst verspüren konnte wie in diesem Augenblick. Zwar hatte ich bei drei Motorradunfällen dem Tod ins Auge gesehen, aber das hier, das war größer. Viel größer. Zwei, drei Atemzüge trennten mich von einer Ohnmacht.

Ich war nicht in der Lage, das Gespräch anzunehmen, meine Frau tat es. Sie nickte zwei-, drei Mal mit dem Kopf, ihre Gesichtszüge entspannten sich. Alles war gut gegangen. Genau so unspektakulär ergeben sich manchmal die besten Momente im Leben.

Die nächsten Stunden saßen wir in der Intensivstation und starrten auf unsere Tochter, die uns inmitten von Schläuchen und Geräten wie ein Häufchen Elend vorkam. Wir warteten. Stundenlang. Die monotonen Geräusche der Überwachungsgeräte gaben Sicherheit.

Irgendwann öffnete Hannah dann die Augen. Ihre Schmerzen mussten unermesslich gewesen sein. Aber sie weinte nicht. Vergoss während der gesamten Zeit keine einzige Träne. Und als sie sich erleichtern musste, verweigerte sie die Leibschüssel. „Sicher nicht“, knurrte sie die Schwester an: „Geben’S den Schas da weg, ich gehe jetzt aufs WC.“  So war es dann auch: Nur knapp 30 Stunden nach der Operation wackelte meine Tochter auf eigenen Beinen zur Toilette. Da wusste ich: alles wird gut. Und so kam es auch. Hannahs Herz erholte sich in Rekordzeit, es gibt keine Langzeitfolgen.

Veröffentlicht von kofi2go

Gestatten? Kofler. Herr Kofler. Vater, Ehemann, Schreiber, Zeichner. Manchmal passieren Dinge, dann wieder nicht.

5 Kommentare zu „Herr Kofler bangt um seine Tochter

  1. Hat dies auf ickemich rebloggt und kommentierte:
    Es ist sicher eine Sache, das Heft des Handelns für sein eigenes Leben aus der Hand zu geben. Geben zu müssen. Sich dann in sein eigenes Leben zurückzukämpfen. Kalkuliert und eigenverantwortlich.

    Eine ganz andere Sache ist es dann allerdings, für sein Kind dieses Heft des Handelns in fremde Hände legen zu müssen. Selbst wenn diese Hände noch so ruhig und hochqualifiziert sind. Zusehen zu müssen, ohne eine echte zweite Option.
    Da ist es dann egal, ob man Mutter oder Vater des Kindes ist. Egal, ob das Kind ein Sohn oder eine Tochter ist

    Und selbst als Außenstehender freut man sich, wenn es positiv ausgeht. Als Vater.

    Danke für diesen Einblick und alles Gute für Euch.

  2. Eine ähnliche Geschichte hab ich neulich in nem Buch gelesen, das hat ein 18jähriges Mädchen aus Frankreich geschrieben. Wenn ich mich recht erinnere, hieß sie Aline mit Vornamen. Ihre Schilderungen waren bedrückend.

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Manchmal passieren Dinge, dann wieder nicht. Das Buch: "Früher war ich jünger. 41 Geschichten aus dem Leben eines einfachen Mannes" (Tredition)

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