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Zweifel an US-Unternehmen Entscheidende Corona-Studien könnten auf falschen Daten basieren

Die US-Firma Surgisphere verfügt nach eigenen Angaben über eine internationale Krankenhaus-Datenbank. Auch Corona-Studien basieren darauf. Doch ein Medienbericht weckt nun Zweifel an den Daten.
Besonders wenn es um Corona geht, stehen Forscher unter Zeitdruck

Besonders wenn es um Corona geht, stehen Forscher unter Zeitdruck

Foto: 4X-image/ Getty Images

Die Entscheidung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Studien zur Wirksamkeit von Hydroxychloroquin gegen Covid-19 auszusetzen, basiert womöglich auf fragwürdigen Daten, berichtet der "Guardian" .

Der Wirkstoff Hydroxychloroquin und das eng verwandte Chloroquin sind zur Behandlung von Malaria und Autoimmunerkrankungen zugelassen. Dutzende Studien weltweit prüfen, ob das Mittel auch gegen Covid-19 wirksam sein könnte. Viele Tests wurden jedoch ausgesetzt, nachdem eine Studie im renommierten Fachblatt "Lancet" zu dem Ergebnis kam, die Mittel könnten das Sterblichkeitsrisiko bei Corona-Patienten erhöhen.

Die "Lancet"-Analyse basiert auf einer Datenbank des US-Unternehmens Surgisphere, das sich laut eigenen Angaben auf Gesundheitsanalysen spezialisiert hat. Recherchen des "Guardian" lassen an den Angaben von Surgisphere jedoch zweifeln.

Die Kritik im Überblick:

  • Laut Recherchen des "Guardian" hat das Unternehmen bereits für mehrere Studien Daten geliefert, aber bisher nicht erklärt, woher die Daten kommen und mit welchen Methoden sie erhoben wurden.

  • Zudem sollen die Mitarbeiter keinen ausreichenden wissenschaftlichen Hintergrund haben. Einer der Mitarbeiter soll ein Autor für Science-Fiction sein, eine weitere als Model und Hostess arbeiten.

  • Laut den Unternehmensangaben verfügt Surgisphere über eine der größten Krankenhaus-Datenbanken. Allerdings hatte das Unternehmen bis vor Kurzem so gut wie keine Online-Präsenz.

Die Enthüllungen stellen infrage, wie zuverlässig selbst Studien sind, die in renommierten Fachblättern erschienen sind, der Schaden für die Wissenschaft ist immens. Neben "Lancet" war auch eine weitere Studie im Fachblatt "The New England Journal of Medicine" erschienen, die auf den Daten von Surgisphere beruht. In beiden Fällen wurde der Geschäftsführer von Surgisphere, Sapan Desai, als Co-Autor genannt.

Schon kurz nach der Veröffentlichung hatten unabhängige Forscher Zweifel angemeldet. Im Fall der "Lancet"-Studie reichten 120 Wissenschaftler einen offenen Brief ein, der die Daten und die verwendeten Methoden in zehn Punkten infrage stellt.

Einer der Hauptkritikpunkte: Es ist nicht klar, aus welchen Ländern und welchen Krankenhäusern die Daten stammen. Nur der jeweilige Kontinent wurde angegeben. Auch auf Nachfrage wollte Surgisphere die Informationen nicht preisgeben, weil das den Datenschutzvereinbarungen mit den teilnehmenden Kliniken widerspreche. (Mehr dazu lesen Sie hier.)

Mehr Covid-19-Tote in den Daten als offiziell gezählt wurden

Den Kritikern waren Ungereimtheiten in den Daten aufgefallen. So sollen in die Datenanalyse Informationen von australischen Krankenhäusern eingeflossen sein, an denen 600 Covid-19-Patienten behandelt wurden, 73 von ihnen starben. Laut den Angaben der Johns-Hopkins-Universität hat es in dem angegebenen Zeitraum bis zum 23. April aber nur 67 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 gegeben.

Der "Guardian" hat zudem nach eigenen Angaben sieben Krankenhäuser in Australien kontaktiert, die in der Datenauswertung eine wichtige Rolle gespielt haben müssten, keines von ihnen habe an der Datenbank mitgearbeitet. Sie hätten noch nie von Surgisphere gehört.

Surgisphere wurde 2008 gegründet. Laut Geschäftsführer Desai sammelt die Firma seitdem Gesundheitsdaten. Allerdings ist unklar, wie sie es geschafft hat, die Daten von so vielen Krankenhäusern weltweit zu erhalten und wie sie die verschiedenen Systeme zur Codierung einzelner Krankheiten vereinheitlichen konnte.

Laut Surgisphere speisen die Krankenhäuser die Daten selbst in das System ein. Andere Experten halten das jedoch für unrealistisch. "Ich bezweifle, dass Krankenhäuser dafür überhaupt ausreichende Kapazitäten hätten", sagte Peter Ellis, Datenanalyst bei der internationalen Unternehmensberatung Nous Group, dem "Guardian". Die Datenbank von Surgisphere hält er "mit ziemlicher Sicherheit für einen Betrug".

Die Analysen seien sorgfältig durchgeführt worden, versicherte Surgisphere dagegen in einer Stellungnahme  nach Bekanntwerden der Kritik von Forschern. Zu den aktuellen Vorwürfen hat sich das Unternehmen bisher nicht geäußert.

Geschäftsführer weist Vorwürfe zurück

Geschäftsführer Desai selbst wies die Vorwürfe gegenüber dem "Guardian" zurück. "Es gibt ein grundlegendes Missverständnis darüber, was unser System ist und wie es funktioniert", so Desai. Der "Guardian" stelle Zusammenhänge her, wo es keine Zusammenhänge gebe, mit dem Ziel, das Unternehmen zu diskreditieren.

Tatsächlich ließen die Ergebnisse der "Lancet"-Studie aufhorchen. Laut Surgisphere stammen die verwendeten Daten aus 671 Kliniken weltweit, Informationen von mehr als 96.000 Covid-19-Patienten sollen so ausgewertet worden sein. Die Forscher fanden keinen Hinweis, dass es Patienten, die Hydroxychloroquin erhielten, besser ging als denen, die dies nicht bekamen. Im Gegenteil: Die Sterblichkeitsrate war bei ihnen deutlich erhöht.

Die Studie hatte weitreichende Folgen: Die WHO und mehrere Länder, darunter auch Deutschland, setzten Studien mit dem Wirkstoff aus. (Mehr dazu lesen Sie hier). Die WHO hat mittlerweile angekündigt, die Untersuchungen wieder aufzunehmen. Auch das Forschungsteam am Universitätsklinikum Tübingen war zuversichtlich, dass die klinischen Studien fortgeführt werden können.

Hydroxychloroquin steht auch deshalb so im Fokus, weil US-Präsident Donald Trump mehrfach für Malariamittel mit dem Wirkstoff geworben hatte. Er bezeichnete sie unter anderem als "Geschenk Gottes" und nahm sie über zwei Wochen hinweg selbst ein, um eine Corona-Infektion zu verhindern, obwohl es keinen wissenschaftlichen Hinweis auf eine Wirksamkeit gibt. Laut einer aktuellen Studie  schützt Hydroxychloroquin Kontaktpersonen von Sars-CoV-2-Infizierten nicht vor einer Ansteckung. Mittlerweile hat Trump die Mittel abgesetzt. Laut dem jüngsten Gesundheitsbericht des US-Präsidenten hatte die Selbsttherapie keine Nebenwirkungen.

Die Fachzeitschriften "The Lancet" und "New England Journal of Medicine" haben eine unabhängige Untersuchung der Studienergebnisse angekündigt. Ein erstes Fazit soll in der kommenden Woche vorliegen.

Eigentlich werden Studien vor Veröffentlichung von unabhängigen Wissenschaftlern in einem sogenannten "Peer-Review"-Verfahren überprüft. Doch Experten zweifeln daran, ob der Prozess in jedem Fall einen möglichen Betrug aufdecken kann. "Der Prozess des Peer Review ist weder in der Lage, noch zielt er vom Wesen her darauf ab, die Qualität zugrundeliegender Daten zu prüfen", sagt Ulrich Dirnagl, Direktor für experimentelle Neurologie an der Berliner Charité. In vielen Fällen lägen die Originaldaten selbst den Gutachtern nicht vor. Gerade im klinischen Bereich sei eine Veröffentlichung der Daten aus datenschutzrechtlichen Gründen schwierig. Zudem arbeiteten viele Gutachter ehrenamtlich, ihnen fehle oft die Zeit, sich mit den Arbeiten tiefgehend auseinanderzusetzen.

"Häufig bleibt es bei einer Art 'Reality Check' der wissenschaftlichen Frage, der verwendeten Methodik, und der Resultate. Nur wirklich grobe Verstöße fallen da mit großer Wahrscheinlichkeit auf", so Dirnagl. In der Pandemie stünden Wissenschaftler zusätzlich unter Zeitdruck. "Hierbei handelt es sich um ein hervorragendes Beispiel für den Schaden, den überhastete Wissenschaft hervorrufen kann, die Qualitätsmaßstäbe mit dem Argument 'Wir dürfen keine Zeit verlieren' herabsetzt."