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Erika Mustermann: Die Frau im Ausweis

Passbildphantom Wer ist Erika Mustermann?

Mythos auf dem Plastik-Perso: Als Erika Mustermann 1982 ihren großen Auftritt auf den Mustern des neuen Personalausweises hatte, wurde sie zur Kultfigur. Fans machten ihr Heiratsanträge, widmeten der Blondine eine der ersten Internetseiten - und fahndeten nach der wahren Erika.

Ein schlichtes Holzhaus an der nördlichen Stadtgrenze von Augsburg, umgeben von Schatten spendenden Bäumen, wurde 1983 zum neuen Zuhause einer Handvoll Aussteiger. Statt eingeschweißten Rindfleischs vom Discounter und Tütensuppen bevorzugten die Mitglieder der schwäbischen Kommune Gemüse aus dem eigenen Garten und Milch vom benachbarten Bauernhof. Alles war paradiesisch für die WG. Nur eine Sache störte das Hippie-Idyll: der Stress mit dem Bürokratiemonster Bundespost.

Ständig wechselten die Bewohner der Flowerpower-WG und immer wieder mussten sie ihren Meldenamen ändern - und die Post verdiente dank entsprechender Gebühren kräftig an der Rotation. Gerne wollten die Aussteiger auch noch aus diesem Papierkrieg aussteigen. Aus der Zeitung hatten sie von der Einführung eines neuen Personalausweises gehört, die Beispielexemplare zeigten eine blonde Frau, daneben in Maschinenschrift ihren Namen: Erika Mustermann. Die Gruppe entschloss sich spontan, ihre WG auf diesen Namen anzumelden. Mit Erfolg: Die Post begrüßte Frau Mustermann als neuen Teilnehmer, wenig später wurden auch Rechungen für Gas, Wasser, Müllabfuhr, die Brandschutzversicherung und sogar die Grundsteuerbescheide an die erdachte Erika adressiert.

Die Geschichte ist nur eine Episode in der Biografie dieser merkwürdigen deutschen Berühmtheit. Seit drei Jahrzehnten sinnieren Feuilletonisten über Erika Mustermann, Satiriker nehmen den Hype um die Unbekannte aufs Korn, Wissenschaftler und Fans gehen der Identität, der Herkunft und den Familienverhältnissen ihrer Ikone nach.

Die bizarre Existenz der blonden, braven Biederen begann 1982, als die Bundesregierung die Einführung eines neuen Personalausweises beschloss: Nur 10,5 mal 7,4 Zentimeter klein sollte der künftig sein, eingeschweißt in robustes Plastik - und auf dem ersten Muster prangte 1987 das Schwarzweiß-Bild einer Blondine mit schulterlangem Haar und Pony: 1,60 Meter groß, grünäugig, geboren am 12. September 1945 in München. Vorname: Erika. Nachname: Mustermann. Zumindest der war nicht völlig neu. Schon 1978 hatte eine gewisse Renate Mustermann erste Abbildungen des neuen deutschen Passes geprägt. Aber erst ihrer Nachfolgerin gelang der Durchbruch.

"Beginn einer glanzvollen Karriere"

Zehn Jahre lang war Erika Mustermann die deutsche Ausweis-Ikone, dann wechselte die Bundesdruckerei sie 1997 gegen eine jüngere Kollegin aus: Erika II, Ausweis Nummer 1220000016, war auf der neusten Version des Passes zu sehen, erstmals in Farbe. Und schon 2001 war erneut ein neues Mustermann-Bild fällig, weil die Ausweise nun mit Hologrammen gesichert wurden. Seit im November 2005 der Perso im Scheckkartenformat eingeführt wurde, ist nun die vierte Erika im Amt. Doch keine der Nachfolgerinnen kam an den Mythos des Originals von 1982 heran.

Denn als die Bundesregierung 1982 in Anzeigen und auf Werbeplakaten mit dem Konterfei der Unbekannten für den neuen Ausweis warb, war die Neugier groß: Die Boulevardpresse ging der Frage nach, wer die unbekannte Schönheit ist. Mit Erfolg. Die "Bunte" behauptete, hinter Erika Mustermann verberge sich Renate P., eine Mitarbeiterin in der Produktion der Bundesdruckerei. Es folgte ein skurriler Hype: Massenweise erhielt die Enttarnte Briefe, Männer baten um ein Treffen und schickten Heiratsanträge. Die unbekannte Frau aus der Produktionsabteilung der Bundesdruckerei wurde über Nacht zum Star.

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Erika Mustermann: Die Frau im Ausweis

Die Bundesdruckerei, die mit dem Fotomodell aus den eigenen Reihen eigentlich nur Kosten sparen wollte, reagierte mit einem Informationsembargo: die Identitäten aller Erikas wurden fortan zum wohlbehüteten Geheimnis, Heiratsanträge nicht mehr weitergeleitet. Die Fans reagierten mit der Verehrung Erika Mustermanns als "ideale Schwiegermutter" und "eine der beliebtesten Personen Deutschlands", wie es auf Fanseiten im Internet heißt.

Nachdem es einigermaßen ruhig um die Erikas geworden war, fachte ausgerechnet die Bundesdruckerei den Hype wieder an. In einer kuriosen Mitteilung erklärte die Pressestelle Erika Mustermann 2001 zur "Modellbürgerin". Sie sei "eine junge dynamische Frau mit frechem Kurzhaarschnitt, die nun am Beginn einer glanzvollen Karriere steht", tönte die Druckerei, und: "Sie blickt strahlend in die Zukunft." Die Pressemittelung war Teil eines skurrilen PR-Coups - denn es kam noch besser.

Ihr Bruder heißt Erik, der Adoptivvater Franz-Xaver

Mitte November betrat eine zierliche Blondine ein kleines Büro in Berlin-Kreuzberg. Sie lächelte verschmitzt, dann sagte sie zu den anwesenden Journalisten: "Guten Tag, Mustermann." 19 Jahre nach der Erfindung ihrer ersten Vorgängerin stand sie in den Räumen der Bundesdruckerei leibhaftig vor der Presse: Erika, Version Nummer drei. Und sie begann zu plaudern: Eigentlich sei sie nur "eine gute, anständige Bürgerin". Und ganz bescheiden fügte sie hinzu: "Wenn mich jemand auf der Straße wiedererkennen würde, dann wäre ich stolz."

Doch dann nahm die Berühmtheit den neuen Ausweis in die Hand, auf dem ihr Gesicht zu sehen war, und sagte lächelnd einen schockierenden wie verwirrenden Satz: "Bis auf meine Nationalität stimmt hier nichts."

Doch die Erika-Gläubigen wurden mit noch mehr Ungereimtheiten konfrontiert: Warum hatte die zierliche Blondine blaue Augen, wo die bei den anderen Erikas doch grün war? Und wieso war sie laut Pass plötzlich 16 Zentimeter kleiner als noch vor vier Jahren? Vor allem aber hatte Erika III eine böse Überraschung für ihre männlichen Verehrer: Sie war verheiratet - und Mutter. Hat Erika Mustermann etwa Familie?

Über die Familienverhältnisse der Ausweis-Ikone wurde schon länger spekuliert. Schließlich stand in jedem der Musterausweise der Vermerk "geb. Gabler" unter ihrem Namen, irgendwo musste also ein Herr Mustermann herumlaufen - ihr Ehegatte? Fanseiten und Zeitungen rekonstruierten diverse Familienmodelle: Die "taz" behauptete 2010, Franz-Xaver Gabler sei Erikas Vater. Allerdings habe der Erika nur adoptiert. Denn anders ließe sich nicht erklären, dass auch ein Erik Mustermann existiert: Geburtsname, Größe, Augenfarbe und Geburtstag identisch mit den Daten Erikas. 2003 tauchte zur allgemeinen Verwirrung auch noch Leon Mustermann auf dem Muster des Kinderreisepasses auf, er komplettierte offenbar die Mustermann-Familie. Vorläufig.

"Alle anderen sind Fälschungen"

Ausgerechnet im März desselben Jahres erblickte im niedersächsischen Quakenbrück ein weiterer realer Mustermann die Welt, Vorname: Max. Dabei hatte bislang als sicher gegolten, dass Max Mustermann der Mann von Erika sein muss, darauf deuteten zahllose Lohnsteuerkarten, Vordrucke und Ausweise hin. Schnell fand sich eine Erklärung für das Kuriosum: Die Eltern des heute Neunjährigen wussten schlicht nicht, dass der Name ihres Babys bereits abertausendfach auf Ausweisvordrucken kusierte. Als ein Bankangestellter das junge Paar vor der Geburt darauf aufmerksam machte und zu einem anderen Vornamen riet, winkte das Paar ab. Die "Süddeutsche Zeitung" jubelte: "

Max Mustermann gibt es wirklich!"

Doch die Liebe der hartgesottenen Fans gilt nur dem Original: Erika I, dem Star von 1982. Deshalb zimmerten am 7. September 1995 vier Forscher an der Universität Bremen eine der ersten Internetseiten zusammen, ein Geburtstagsgeschenk für "ihre" Erika. Denn die wurde ihrem berühmten Pass zufolge fünf Tage später 50 Jahre alt. Der Informatiker Uwe Haupt war damals Kopf des Quartetts und ärgerte sich maßlos, als zwei Jahre nach dem runden Geburtstag eine andere Erika seine Angebetete ersetzte. "Alle anderen sind Fälschungen, üble Fälschungen", sagte Haupt Jahre später der "Berliner Zeitung". Da war die Frau Mustermann der achtziger Jahre längst von drei Nachfolgerinnen abgelöst worden.

Die Karriere von Erika I endete 1997 - auch in der Hippie-Kommune im Norden Augsburgs. Ein Gewerbegebiet hatte sich immer näher an die von Pappeln flankierte Holzhütte herangeschoben, die auf den Namen Erika Mustermann registriert war. 1998 verschwand das Häuschen schließlich, verdrängt von der Filiale eines Elektronikkonzerns. Doch wieder erwies sich die Bürokratie des Telefonanbieters als hartnäckig: Als Redakteure der "Süddeutschen Zeitung" vor einigen Jahren Erika Mustermann im Telefonbuch suchten, stießen sie auf die Telefonnummer in Augsburg - und wurden fündig. Pia Palazzi meldete sich, eine der Gründerinnen der Kommune. Ihre Zweitidentität ist die einstige Aussteigerin nie wieder losgeworden: Erika Mustermann steht bis heute im Augsburger Telefonbuch.